Totgespielt - S. B. Sasori - E-Book

Totgespielt E-Book

S.B. Sasori

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Beschreibung

Hongkong 2038
 
In den Bordellen Kowloons verbreitet sich eine neuartige Droge. Unter ihrem Einfluss lassen sich die Shivas auf qualvolle Weise zu Tode spielen.
Joseph Wakane, der Inhaber des renommierten Begging Monk, versucht, seine Leute vor diesem Übel zu beschützen.
Doch dies ist nicht das Einzige, das ihm Sorgen bereitet.
Sein ehemaliger Besitzer und späterer Geschäftspartner Nimrod Gage stellt ihm ein Ultimatum: Dean im Austausch gegen alles, was Joseph heilig ist.
Joseph nimmt die Herausforderung an.
Bis sein Geliebter Liam O’Farrell zwischen die Fronten gerät.
 
 
»Totgespielt« ist der zweite Band der Hongkong-Trilogie und schließt an »Rattenfänger« an.

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Prolog
Das Übel des Lotosgartens
Zugeständnisse
Nur ein Angebot
Weitreichende Entscheidungen
Tod eines Shivas
Epilog
Weitere Romane von S.B. Sasori

totgespielt

Hongkong Storys

Band 2

S.B. Sasori

Copyright © 2022 S.B. SASORI

Erstveröffentlichung 2018

Alle Rechte vorbehalten

E-Books dürfen nicht kopiert oder weiterverkauft werden. Bitte haltet euch daran und wertschätzt mit eurem fairen Verhalten die Arbeit der Autoren, die viel Mühe und Zeit in ihre Geschichten stecken.

Wie bei allen fiktiven Geschichten gilt auch bei dieser: Sämtliche Personen und Ereignisse sind frei erfunden.

Impressum:

www.sbnachtgeschichten.com

Bildmaterial: stock.adobe.com; tverdohlib

Korrektorat: Alexandra Balzer

»Du wirst niemals gehen.« Mit breiter Zunge leckt mir Joseph über die Kehle. »Kowloon hat dich geschluckt. Es wird dich nicht mehr hergeben.«

»Was ist mit dir? Würdest du mich hergeben?«

Irgendwann, wenn der Whiskey und der tägliche Anblick von Leid ein Wrack aus mir gemacht haben?

»Was ich besitze, behalte ich.«

Seine Finger in meinen Haaren, seine Lippen auf meinem Mund.

»Sag es«, flüstert er dagegen.

»Was denn?«

Sein Raubkatzenblick lässt mich grinsen.

»Sag, dass du mir gehörst.«

Liam O’Farrell, Arzt im Begging Monk, Kowloon 2038, Hongkong

Prolog

– Dean –

Der grimmige Blick des Samurai ist das Einzige, auf das ich mich konzentriere. Ein Tattoo auf Josephs nacktem Rücken. Nicht mehr. Es schützt mich vor den Menschen, vor der Enge der Gassen, den neugierigen Augen, dem Flüstern. Mittlerweile ist mein Chinesisch gut genug, um ein bisschen davon zu verstehen.

Stolz und Dankbarkeit liegen darin, weil ich jetzt keiner mehr von außen bin, sondern zu ihnen gehöre. Zu jedem Einzelnen. Zu den Männern mit nackten Oberkörpern, zu den zur Hälfte kahlrasierten Mafia-Schlägern, zu den Straßenhändlern, den Shivas, den Bordellbesitzern, den vor sich hinfaulenden Citric-Smash-Junkies. Bis auf Dad war niemand jemals stolz auf mich. Schon gar nicht ein kompletter Bezirk.

Ich will trotzdem nicht angestarrt werden. Ich will nicht, dass über mich geflüstert wird, ich will nicht der Junge aus Zimmer drei sein und ich will ganz bestimmt nicht berührt werden.

Joseph bahnt eine Schneise ins Gedränge.

Nur wegen ihm fasst mich keiner an. Nur wegen ihm hält jeder einen Mindestabstand von zwei Schritten. Dazu muss er nichts weiter tun, als er selbst zu sein. Niemand bewegt sich so wie er. So dynamisch, so absolut entschieden, als hätte er schon immer gewusst, dass er in diesem Moment diese eine Bewegung ausführen wird und sich sein Leben lang darauf vorbereitet hat.

Seine Kraft, seine muskulösen Schultern, sein kerzengerader Rücken, seine Geschmeidigkeit, die jeden anderen neben ihm plump wirken lässt. All das rettet mich. Vor der Angst, das Monk verlassen zu haben, vor den Menschen, die mich unbedingt anfassen wollen, obwohl ich keine Ahnung habe, warum.

Liam meint, das gäbe sich mit der Zeit.

Und wenn nicht? Brauche ich dann immer jemanden, der mir den Weg freimacht?

Nicht jemanden. Ihn.

Jeder kennt Joseph Wakane. Jeder kennt das Begging Monk, jeder kennt Liam O’Farrell. Jeder kennt mich. Seit sieben Monaten.

Der Köder für Marvin Jones.

Der Konzernchef von Zendo Pharm peitschte mir alles weg, was ich war. Nicht einfach so zum Spaß, sondern weil Hao Jun mich ihm zur Verfügung stellte und es filmte.

Und wenn der Triadenboss zehnmal dachte, ich wäre ein Shiva; ich werde ihm niemals verzeihen. Wegen ihm bin ich der Star eines Erpressungsvideos, wegen ihm sah sich Sun Haidong, der neue Verwalter Hongkongs, gezwungen einzulenken. Sonst hätte er eine beschissene Blockade errichtet und die Gesichtslosen zusammen mit ihrer Angst, ihrer Armut und all der Gewalt sich selbst überlassen.

Wegen eines toten Jungen. Er war der Sohn von Haidongs Vorgänger. Die Rattenfänger hatten ihn erwischt. Genau wie mich. Doch er überlebte die Drogen nicht. Joseph nahm ihn mit, als er mich kaufte, und ließ ihn zu seinem Vater zurückbringen. Der zog sich vor Trauer von seinen Pflichten zurück und überließ seinem Vize das Feld. Joseph meint, Sun Haidong hätte nur auf eine Gelegenheit gewartet, den Schandfleck Hongkongs loszuwerden.

Vor einigen Jahren hatte die Regierung schon einmal diese Schwachsinnsidee. Damals ging es übel aus. Wie übel genau, weiß ich nicht. Joseph redet nicht darüber, aber als er sagte, Kowloon hätte sich zerfleischt, klang das nicht nach einer Metapher.

So gesehen hat Hao Jun die Halbinsel vor dem Untergang gerettet.

Durch meine Schreie.

Seitdem schreie ich nicht mehr.

Seitdem sehe ich Liam und Joseph beim Sex zu, statt mich zwischen sie zu legen und mich abwechselnd von ihnen ficken zu lassen.

Als ob ich das jemals getan hätte. Ich wollte es nur.

Eine meiner Fantasien.

Meine Sexerlebnisse beschränken sich auf einmal im Drogenrausch in den Irrsinn gevögelt werden und einen Blowjob. Beides von Joseph, beides werde ich niemals vergessen.

Wahrscheinlich muss ich wegen Marvin Jones bis zum Ende meines Lebens von den Erinnerungen zehren.

Ich will Jones’ Namen mit Scheiße an die Wand schmieren. Leider darf ich das nicht. Ich musste Joseph schwören, ihn niemandem zu verraten. Bis auf ihn, Liam und den Security Abraham weiß keiner, wer der Mann auf dem Video ist, auf dessen Gesicht ständig ein Schatten fällt. Hao Jun und seine Bodyguards ausgenommen.

Und Sun Haidong, schätze ich. Sonst hätte er nicht versucht, den Chef des größten Konzerns Hongkongs vor einem Skandal zu schützen.

Joseph ist sicher, mein Leben hängt an meiner Verschwiegenheit. Er muss es wissen. Er kennt sich mit so was besser aus als ich.

Kowloon macht schlau. Charleston nicht.

Bin in der falschen Gegend geboren worden.

Komisch, dass mich Marvin Jones töten lassen will. Andersherum wäre es logischer. Ein kleiner Trost, zu wissen, dass ich nur mit ein paar Worten das Leben eines so mächtigen Mannes zerstören könnte.

Vielleicht komme ich irgendwann darauf zurück.

Ein Gefühl, als ob mein Hals zuschwillt. Es ist ständig da. Mal mehr, mal weniger schlimm. Manchmal nimmt es mir die Luft. Dann bin ich sicher, ersticken zu müssen. Das sollte mir Angst machen. Tut es aber nicht. Ich will in diesen Momenten nur nicht allein sein. Nicht allein sterben. Nicht so wie Dad. Ist Liam in der Nähe, sprüht er mir sein Asthmaspray in den Rachen, bevor mir die Lichter ausgehen. Das hilft ein bisschen. Wenn er nicht da ist, wache ich plötzlich auf dem Fußboden auf und mir fällt erst nach ein paar Minuten wieder ein, was ich dort mache.

Nicht nachdenken. Das hilft am besten. Mein Hirn produziert die meiste Zeit ohnehin nur Mist.

Sun Haidongs Gesicht. Riesengroß auf einem Folienmonitor. Die Knicke sehen aus wie Falten.

… unerklärliche Vorkommnisse …

Es gibt kaum noch intakte Häuserfassaden in Kowloon. Wer kam auf die Idee, sie mit diesen Media-Folien zu behängen? Und wer, die Nachrichtensprecher und Politiker englisch reden zu lassen?

Liam meint, die Meldungen der öffentlichen Sender wären in erster Linie für Insel-Hongkong bestimmt und nicht für Kowloon, obwohl die Leute hier auch damit klarkämen.

In den klimatisierten Büros und Appartements beherrscht jeder meine Muttersprache, allerdings mit einem britischen Schliff, der mir abgeht.

Das Englisch in Kowloon klingt so wie derjenige tickt, der es spricht. Bei Josephs Securitys nach Straßen-Amerikanisch, obwohl zwei von ihnen aus Russland stammen, bei Kun so, wie ein Chinese in einem alten Hollywood-Streifen, bei den Shivas nach Singsang und bei Joseph wundervoll. Er ist Halbjapaner und liebt seine Muttersprache. Er wurde in Kowloon geboren, hat aber den japanischen Akzent bis heute nicht abgelegt.

Die Gesichtslosen außerhalb des Monk reden untereinander Chinesisch. Klar, die meisten von ihnen sind Chinesen, weshalb ich bloß Brocken von dem mitbekomme, was sie sagen.

Den Mann mit dem Knitterfolien-Gesicht würde ich am liebsten auch nicht verstehen.

… Verständnis für die eingehende Untersuchung mithilfe von Medi-Scans, ohne die kein Vergnügungstourist mehr die Fähren verlassen …

Mir ist egal, mit welchen neuen Sicherheitsregeln er den Leuten auf die Nerven fällt, welche Zugeständnisse er macht oder welche Versprechen er hält oder bricht. Er lebt auf der anderen Seite der Meerenge. Da, wo es sicher und sauber ist.

So wie ich. Früher. Mein Job bei Zendo Pharm in Peter Lemarques Abteilung liegt in einem anderen Universum. Das alles hat nichts mehr mit mir zu tun.

Sun Haidongs Gesicht verschwindet, dafür taucht eine Frau vor einer Wetterkarte auf. Eine Unwetterwarnung mit Starkregen und Gewittern soll in den nächsten Tagen über Hongkong hinwegziehen.

Schätze, das gilt ebenso für Kowloon.

Ich stoße gegen Joseph.

Warum ist er stehen geblieben? Sind wir schon da?

Ein paar Kinder lachen mich aus.

Ist mir egal, auch wenn ich auf meine Füße hätte achten sollen, statt auf die Folie zu starren.

Ein Mann versperrt Joseph den Weg. Er zeigt auf mich, holt einen dicken Bund New-Hongkongdollar aus der Hosentasche.

Joseph geht an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten.

Würde ich auch gern, aber der Kerl starrt mich auf eine Weise an, die mich nicht wegsehen lässt.

Er kommt zu mir, hält mir das Geld hin und redet auf mich ein.

Er ist zu nah. Sein Chinesisch zu schnell.

Er wechselt auf Englisch.

Zu spät.

Mein Herz donnert drauflos, mein Verstand flackert wie eine kaputte Neonreklame. Ich verstehe nur Vertrag und exklusiv.

Der Samurai. Direkt vor mir. Er packt das Handgelenk des Mannes, dreht es, bis es knackt.

Nein. Es ist Joseph.

Ist für mich dasselbe.

Der Mann brüllt auf, Joseph gibt ihn frei. Allerdings nicht mit dem Blick, der klebt an dem Kerl, bis er fluchend in der Menge verschwindet.

Das Flackern in meinem Kopf lässt langsam nach.

Ich sollte mich schämen. Für die schweißnassen Hände, meinen flatternden Puls, die Wackelbeine.

Habe ich aufgegeben. Es bringt nichts. Mein Körper macht, was er will und mein Verstand zieht nach. Musste mich schon länger daran gewöhnen, dass ich in meinem eigenen Leben nichts mehr kontrollieren kann.

»Alles in Ordnung?« Josephs Blick checkt meine Seele. Sie versteckt sich zwar vor mir, aber mit ihm scheint sie noch verdrahtet zu sein.

Ich nicke und tische ihm damit eine fette Lüge auf.

»Was wollte er?«

»Dich kaufen. Er hält dich für einen Shiva.« Er weist mit einer lässigen Geste in die Menge. »Wie alle anderen auch.«

»Das bin ich nicht.« Ich war nur einmal ein Shiva. Wegen eines Missverständnisses. Niemand hat es bemerkt. Nicht Hao Jun hinter der Multi-Kom-Kamera, nicht Joseph, nicht Liam. Obwohl mich jeder sah und hörte.

Ich hatte mir die Haare schwarz gefärbt. Wegen der Mafiaschläger die überall die Vergnügungspendler aufgriffen und als Geiseln nahmen. Joseph meinte, ich sollte das Monk nicht verlassen. Liam gab mir neue Kleidung und das Haarfärbemittel. Naturblond wäre zu auffällig für Kowloon. Wenn ich als Shiva durchginge, wäre es sicherer für mich.

Er konnte nicht ahnen, dass mich Rodja für genau den hielt. Er konnte auch nicht ahnen, dass mich der Türsteher zu Hao Jun und seiner ganz persönliche Geisel brachte. Niemand ahnte es. Joseph hat mich erst erkannt, als es vorbei war und ich Marvin Jones’ Pisse auskotzte.

Danach war ich der Junge aus Zimmer drei.

»Woher soll er das wissen?« Josephs Hand legt sich auf meinen Rücken, dirigiert mich durch Mongkok.

Das Vergnügungsviertel Kowloons ist ein Labyrinth. Ohne Joseph würde ich mich in Sekunden verlaufen. Ist mir schon einmal passiert. An diesem Tag begann meine Katastrophe, die bis heute nicht aufgehört hat. Sie hält die Füße still, solange ich nicht über sie nachdenke. Das ist fair.

»Für das Geld hätte ich mir ein Haus in den New Territories leisten können.« Mit einem knappen Nicken scheucht er eine Frau aus dem Weg. »Dein Preis steigt täglich.« Er lenkt mich in eine Gasse, die ein bisschen weniger nach Abfall und Fäkalien stinkt. »Er ist nicht der erste Bieter und wird nicht der letzte sein. Mich erreichen seit Wochen verlockende Angebote.«

Sein Seitenblick ist in etwa so leicht zu deuten wie der einer Sphinx. Wobei mir nicht klar ist, was eine Sphinx ist. Allerdings geht es mir mit Joseph ähnlich.

»Der Junge aus Zimmer drei wäre für jeden Klub in Kowloon das perfekte Aushängeschild«, plaudert er. »Das gilt auch für das Monk.«

Er ist ein Freund. Er kümmert sich um mich. Er lässt mich bei sich wohnen, er beschützt mich vor allem, was mir Angst macht, und das ist eine Herausforderung. Trotzdem käme ich nie auf die Idee, mir einzubilden, ihn zu kennen. An manchen Tagen ist er freundlich und fürsorglich zu mir, als wäre ich sein kleiner Bruder, an anderen sieht er mich auf eine Weise an, die mein Herz stocken lässt.

»Keine Bange.« Er führt mich mit einem eleganten Schlenker um eine Pfütze Erbrochenes herum. »Du gehörst mir.«

Weiß nicht, ob mich der Satz beruhigen oder in Panik versetzen soll.

»Klingt, als wäre ich eine Wertanlage für dich.«

»Nicht nur«, sagt er ernst genug, um mich an seiner Freundschaft zweifeln zu lassen. »Doch ich bin mir deiner Kostbarkeit bewusst.« Er bleibt stehen, berührt mich flüchtig an der Wange. »In jeder Hinsicht.«

Sehnsucht. Sie zeigt sich nur einen Moment in den dunklen Augen.

Ich weiß wonach, aber ich kann sie ihm nicht erfüllen.

Weiche seinem Blick aus, spüre seine Enttäuschung ebenso wie seine Fingerspitzen auf meiner Haut. Er erwartet nicht, dass ich es ihm erkläre. Er kennt alle Gründe für meine ständige Flucht zurück statt nach vorn.

Schweigend setzen wir unseren Weg fort.

Fühle mich kläglich und klein. Dementsprechend motiviert trotte ich hinter ihm her, dabei lerne ich gleich eine der wichtigsten Persönlichkeiten Kowloons kennen. Meister Hiato. Der Mann, dem Joseph den Samurai auf seinem Rücken verdankt.

Und die Narben darunter.

Liam meint, meine wären zu frisch. Ich meine, dass es mir scheißegal ist. Was zählt, ist weder seine noch meine Meinung. Meister Hiato bestimmt, wen er wann tätowiert.

Ich weiß nicht, was ich mache, wenn er mich ablehnt. Er wird mich für alles Mögliche halten, aber niemals für würdig, eines seiner Kunstwerke spazieren zu tragen.

Ich bin nicht wie Joseph. Ich bin auch nicht mehr wie ich.

Nach einer Weile bleibt er erneut stehen. »Wir sind da.«

Ein flacher Holzbau mit Papierwänden. Auf der Terrasse blühen Zweige in schmalen Vasen und von einem Balken hängt ein Windspiel.

Ein Stück Klischee-Japan inmitten von Chaos. Zu schön, um daran zu glauben. Mein Herz fühlt sich trotzdem leichter an.

»Das Kendo-Dojo Meister Hiatos.« Joseph versinkt eine Weile im Anblick der Zweige. »Ich war lange nicht hier.«

»Ich dachte, er wäre ein Künstler.« Im Sinne von malen, zeichnen und tätowieren, nicht von kämpfen.

»Das Tätowieren ist lediglich eine Liebhaberei von ihm.«

Liebhaberei? Die Kirschblüten auf Josephs Unterarm wirken so zart, als würden sie jeden Moment von einer Frühlingsbrise von den Zweigen geweht.

»Bist du dir sicher?« Er fragt, ohne den Blick von der unwirklichen Idylle zu nehmen. »Er wird dir kein Schablonentattoo verpassen, sondern ein Werk, das deinen gesamten Rücken zieren wird.«

»Ja. Ich bin mir sicher.« Ich brauche den Phönix. Ich will wieder ich sein und mit den Narben schaffe ich das nicht.

Verrückter Gedanke. Als wäre es cool, der schüchterne Junge zu sein, der von einer Katastrophe in die nächste stolpert. Als ob der sich jemals hätte tätowieren lassen, aber das, was ich jetzt bin, geht gar nicht.

»Du kennst Liams Meinung. Wenn er sagt, deine Haut wäre noch nicht bereit für ein Tattoo, dann solltest du auf ihn hören.«

Liam ist ein guter Arzt. Das weiß ich.

Ich will den Phönix trotzdem.

Joseph sieht mich an. Mit diesem ernsten Blick, der gleichzeitig schützt und tadelt. »Es ist keine Sache, die nach ein paar Stunden vorbei ist.«

»Ist mir klar.« Ein Tattoo dieser Größe wird nicht auf einmal gestochen. Und es schmerzt. Aber es wird mein Schmerz sein. Ich habe ihn mir ausgesucht. Ich will ihn. Kein Vergleich mit der Nacht in Zimmer drei. Kein Ausgeliefertsein. Keine Todesangst. Keine bis in die Knochen ätzende Scham, kein Gestank nach Pisse.

»Wie du meinst.« Joseph streift sich die Schuhe von den Füßen.

Ich stelle meine neben seine.

Für einen Augenblick sind wir einander so nah, dass mich sein Duft umgibt.

Ich atme tief ein, sehne mich für eine Sekunde unter ihn.

Will seinen harten Griff um meine Handgelenke spüren, dabei habe ich das noch nie. Will, dass er diese Mauer durchbricht, hinter der ich mich ständig verstecke. Will seine Lust fühlen, riechen, schmecken, bis es nichts anderes mehr für mich gibt. Will mich komplett darin verlieren.

Sie ist da. Ich sehe sie seinen Blicken. Zusammen mit der Frage, wann ich mich ihm endlich ausliefere.

Gedanklich spiele ich es jeden Tag durch. Bis zu dem Moment, wo ich panisch davonlaufe.

Marvin Jones ist ein Arschloch.

»An was denkst du?« Joseph fasst mich am Kinn, hebt es an.

Solch kleine Berührungen kriege ich wieder hin. Eine miese Bilanz nach sieben Monaten.

»Dass ich dir gehören will.« So richtig. Ihm alles überlassen, jede Entscheidung, jede Verantwortung für mich. Ich kann sie nicht übernehmen und je mehr mir das klar wird, umso gruseliger sollte es sich anfühlen.

Tut es aber nicht. Ich könnte vor eines der stinkenden, klapprigen Autos laufen, ohne ein Problem damit zu haben.

Ich war unzählige Male kurz davor, so etwas Beschissenes zu tun.

Ging es Dad so?

Falscher Gedanke.

Manchmal beneide ich die Shivas. Das sind die Tage, an denen ich mich selbst ohrfeigen möchte.

»Dann tu es.« In seine Augen tritt ein Glanz, den ich ebenso fürchte wie liebe. »Ein Wort von dir genügt.« Die tiefe Stimme klingt nach Samt.

Ich müsste nur sagen: Joseph, fick mir diese Scheiße aus der Seele. Er würde es tun. Hier und jetzt, mitten auf der Straße. Er wartet darauf. Ich sehe es ihm an.

Deshalb schlafe ich in Liams Appartement und nicht in seinem.

»Ich will dich berühren.« Er lässt mein Kinn los. »Nicht mit zwei Fingern, nicht mit deiner Erlaubnis, sondern absolut.«

Vor mir steht Joseph Wakane. Der Mann, der jeden in die Knie zwingt.

Bis auf Liam, doch das ist etwas anderes.

Wer bin ich, dass ich mir einbilde, ihn von mir fernhalten zu können? Ich will es nicht einmal. Ich bräuchte nur ein bisschen Mut, aber den hat Maybe in Zimmer drei zusammen mit Blut und Pisse mit ihrem zerfledderten Mopp aufgewischt und den Rinnstein hinuntergespült.

»Meister Hiato ist in der Auswahl seiner Kunden ebenso streng wie in der Auswahl seiner Schüler.«

»Ich weiß.« Keine Ahnung, ob er mir diese Ehre zuteilwerden lässt. Ich würde es an seiner Stelle nicht tun. Den Phönix will ich trotzdem.

Ein Mann in schwarzem Kimono schiebt die Tür auf, verneigt sich tief und lang vor uns.

Joseph erwidert die Begrüßung weniger tief und weniger lang.

Ich mache es ihm nach. Ob das für einen wie mich angemessen ist oder nicht.

Alles, was mit Japanern zu tun hat, ist kompliziert. Liam verflucht diese Tatsache jedes Mal, wenn er sich mit Joseph streitet, was oft geschieht. Einer der Gründe bin ich, ein anderer der, dass sich Liam auch außerhalb des Monk um die Menschen kümmert. Er sagt, einer müsste es tun, aber er kommt kaum noch zum Schlafen.

Joseph sieht das anders. Liams Job wäre bei ihm, im Monk. Und nur dort. Der Rest hätte ihm egal zu sein. Er könnte nicht jeden in Kowloon retten.

Genau das will Liam. Er sagt es nicht. Nicht mir und auch nicht Joseph. Aber sein Blick verrät es mir, wenn er seine Tasche packt und loszieht. Er versucht, etwas wieder gutzumachen. Es hat mit mir zu tun und dem, was in der Oase geschehen ist.

Es ist nicht seine Schuld.

Der Mann im Kimono sagt etwas, das ich nicht verstehe. Joseph weist zu mir, antwortet etwas, das ich ebenfalls nicht verstehe.

Japanisch. Die Sprache ist so kompliziert wie ihre Besitzer.

Auch eine von Liams Meinungen.

»Meister Hiato erwartet Sie«, sagt der Japaner auf Englisch.

Derselbe Akzent wie bei Joseph. Er verleiht den Worten viel mehr Bedeutung, nur deshalb, weil er sie schöner klingen lässt.

Der Mann verlässt die Terrasse, geht auf einem Kiesweg am Haus vorbei. Wir folgen ihm durch einen Garten, der zur Terrassenidylle passt. Geometrische Sandflächen, kunstvoll geschichtete Steine, Mini-Bäumchen, ein angelegter Wasserlauf zu einem kleinen Teich.

Kois. War ja klar.

Am hinteren Ende steht ein Pavillon. Ein Mann tritt aus dem Schatten. Die grauen Haare sind kurz, der Kimono schlicht, aber der Stoff glänzt wie Seide. Faszinierendes Gesicht. Hager, faltig, doch auf seltsame Weise schön.

»Nicht anstarren«, raunt Joseph und verbeugt sich so tief wie damals vor Liam, als ich im Monk aufgewacht bin.

Der Morgen, nachdem mich Joseph gekauft hat.

Offiziell gehöre ich ihm. Liam sagt, ich soll den Scheiß vergessen. Ich würde nur Kowloon gehören. So wie sie alle. Ansonsten wäre ich frei wie ein Vogel und ich dürfte mir von einem arroganten Halbjapaner nichts anderes einreden lassen.

Meister Hiato verneigt sich fast ebenso tief vor Joseph.

Wie weit er es bei mir macht, kann ich nicht sehen. Ich klappe in einen geschätzten rechten Winkel nach vorn und zähle langsam bis fünf, bevor ich mich wieder aufrichte.

»Dean Fitzgerald.« Hiato lächelt freundlich. »Nicht nur Mongkok kennt deinen Namen.«

Ich wünschte, es wäre anders.

»Es ist mir eine Freude, Joseph und dich als meine Gäste begrüßen zu dürfen.« Er weist auf ein paar Sitzkissen, wartet, bis wir Platz genommen haben.

Der Mann im schwarzen Kimono bringt ein Tablett mit Tee. Hiato füllt ihn in zierliche Porzellanschalen, reicht ihn uns. So kultiviert, so freundlich. Dabei ist er derjenige, dem Joseph endlosen Stunden Schmerz verdankt.

Joseph war Hiatos bevorzugter Shiva. Damals, als er als Teenager in Nimrod Gages Bordell gearbeitet hatte. Er hat mir nur einmal davon erzählt. Sein Blick war dabei so ausdruckslos wie seine Miene gewesen.

Mittlerweile hasst er Gage.

Hiato verehrt er. Trotz allem.

Japaner ticken anders. Liams Kommentar zur Situation.

»Ich weiß von deinem Anliegen.« Hiatos Blick erfasst mich im Bruchteil einer Sekunde, bevor er sich seiner Teeschale widmet. »Ein Phönix ist ein starkes Motiv. Sein Träger sollte sich dessen bewusst sein.«

»Er brachte mich nach Kowloon.« Ich stolperte dem Mann mit dem Phönixtattoo einfach hinterher und landete auf einer der Schnellfähren. Als würde er mich von dem Selbstmord meines Vaters wegführen können.

»Und zu den Geschehnissen, die dich aus dir herausgeschleudert haben.« Er sagt es, als wäre es keine große Sache. »Der Phönix stieß dich in die Tiefe und du wünscht dir, durch seine Stärke wieder emporzusteigen.«

Sicher erwartet er, dass ich mich dazu äußere. Schlau und kompetent.

Geht nicht.

Ich nippe am Tee, um Zeit zu schinden.

»Dean?«

Er schmeckt bitter, holzig und ein bisschen nach Blüten.

»Willst du stark sein?« Meister Hiatos Stimme klingt noch tiefer als Josephs, aber nicht nach Samt. »Oder sehnst du dich danach, deine Schwäche auszuloten?«

Joseph hält mitten in der Bewegung inne. Seine Lider sinken, während er Hiato ansieht.

»Meine Schwäche ausloten?« Ich bestehe aus nichts anderem. »Das liegt hinter mir.«

Hiato schüttelt lächelnd den Kopf. »Du hast dich von Gewalt und Schmerz zerbrechen lassen. Mit ausloten hat das nichts zu tun.«

Ich bin zerbrochen? Deshalb fühle ich mich so kaputt.

Er erhebt sich, tritt hinter mich. »Zeige mir deinen Rücken.«

Ich will mein Hemd nicht ausziehen. Ich will gar nichts ausziehen.

»Du möchtest dich von mir tätowieren lassen. Das funktioniert nicht durch Stoff.«

Es war dumm von mir, herzukommen.

»Schämst du dich für die Narben?«

Ich schäme mich dafür, was sie aus mir machen.

»Steh auf.«

Kein Befehl. Ich gehorche trotzdem.

Seltsam, es fühlt sich gut an. Als wäre mein Herz leichter geworden.

»Glaub mir, Dean Fitzgerald, da ist nichts an dir, das mich erschüttern könnte.«

Aber mich.

Brauche einen Moment, um mich zu fangen.

Hiato scheint es nicht zu stören. Er wartet geduldig, bis ich das Hemd in der Hand halte.

»Kommst du bitte?«

Offenbar meint er Joseph, denn der steht auf und tritt ebenfalls hinter mich.

Schließe die Augen. Wäre gern unsichtbar.

»Der Mann, der ihm das angetan hat, ist ein Stümper«, klingen Hiatos Worte zu mir. »Kein einziger präziser Hieb. Kreuz und quer hat er diesem jungen Rücken seinen Zorn zugemutet.«

Josephs Schweigen kriecht mir unter die Narben.

»Keine Geschmeidigkeit im Handgelenk. Kein Geschick im Umgang mit Dynamik und Kraft.«

Offenbar ist es eine Kunst, jemandem die Haut vom Rücken zu schlagen.

»Zweifellos hat Hao Juns Herz geblutet, während dieser Rücken geschändet wurde.«

»Ich möchte Deans Narben laserbehandeln lassen.« Joseph fährt mir mit zwei Fingern über den Nacken bis hinunter zum Hosenbund.

Die Berührung dringt mir in sämtliche Nerven. Ich will mehr davon, dabei würde ich es nicht aushalten.

»Mr. O’Farrell riet uns, damit noch ein halbes Jahr zu warten.«

Die Finger lassen mich allein.

Ich will sie zurück.

»Er ist ein fähiger Arzt«, stellt Hiato das fest, was jeder in Kowloon weiß. »Wir sollten uns seiner Meinung fügen. Vielleicht ist es auch möglich, dass sich Dean in nicht allzu ferner Zukunft einer Behandlung mit einem Hautregenerator unterzieht. Ich hörte, Hao Jun sei sehr findig im Organisieren medizinischer Geräte.«

»Ich kann nicht mehr warten.« Ich brauche den Phönix. Mit oder ohne regenerierter Haut. Auch tote Seelen wollen fliegen, und wenn ich der Leiche in mir diesen Gefallen verweigere, beginnt sie zu stinken.

»Es wäre ein unverzeihlicher Fehler meinerseits, deine Haut vor der Zeit zu reizen.« Hiato tritt vor mich, deutet eine Verneigung an. »Vergib mir, aber ich begehe keine unverzeihlichen Fehler.«

»Sie haben Joseph gemartert.« Ich rede nicht mehr viel. Wenn, sage ich das, was in meinem kranken Kopf vorgeht. »Das war ein unverzeihlicher Fehler.«

Sollte ich ihn damit beleidigt haben, zeigt er es nicht.

»Du irrst.« Er sieht Joseph an, nicht mich. »Es war tiefe Hingabe auf beiden Seiten. Ich kostete seine Tränen und sein Blut und stillte beides jedes Mal, wenn er sich mir anvertraute. Keinen der Hiebe führte ich mit Zorn oder Hass im Herzen aus. Ich hätte niemals sein Vertrauen missbraucht.«

Josephs Blick weitet sich, bevor er hinter den Lidern verschwindet.

»Die Zeit für deinen Phönix wird kommen.« Federleicht legt Hiato die Hand auf meine Schulter.

Bei jedem anderen Fremden wäre ich zurückgewichen, doch etwas in seinen Augen verspricht mir, dass alles in Ordnung ist.

»Aber nicht nur deine Haut muss für ihn bereit sein. Auch du.«

Das bin ich. Schon lange.

»Manche Menschen zerstört der Schmerz. Andere vervollständigt er. Finde heraus, was er mit dir gemacht hat und wenn du es weißt, komm wieder.«

»Er hat mich zerstört. Das haben Sie selbst gesagt.«

»Bist du dir dessen sicher? Vielleicht habe ich nur geraten.«

Ich will nicht mehr reden.

»Wenn dem so ist, sehen wir uns heute zum letzten Mal. Wahre Schönheit findet auf einer zerstörten Leinwand keinen Platz. Aber sollten wir uns irren …« Sein Lächeln verwandelt das strenge Gesicht in etwas unglaublich Attraktives. »… wird es mir ein außerordentliches Vergnügen sein, Zeuge deines selbst gewählten Leidens zu werden.« Die winzige Geste seiner Hand strotzt vor Anmut. »Bis du eine Entscheidung getroffen hast, übe dich an dem Motiv und bedenke, dass es nicht nur dich, sondern auch mich zufriedenstellen muss.«

»Ich soll den Phönix zeichnen?« Ein Strichmännchen mit Flügeln. Das wäre alles. »Das kann ich nicht.«

»Du hast genug Zeit, zu lernen und ich hörte, dass Mr. O’Farrell in der Zeichenkunst sehr talentiert ist. Nimm bei ihm Unterricht.«

Er meint es ernst.

In Josephs Mundwinkeln zuckt es.

Klar, er wollte von Anfang an, dass ich mit dem Tattoo noch warte.

Hiato bittet uns, wieder Platz zu nehmen und unterhält sich mit Joseph über Alltägliches. Einfach so. Als wäre die Welt normal und keine Katastrophe kurz vor dem Ausbruch. Ist sie für die beiden vielleicht auch nicht. Aber für mich und ich will aus diesem Zustand raus. Ist mir egal, dass Hiatos Entscheidung vernünftig ist. Mein Leben hat mit Vernunft schon lange nichts mehr zu tun.

Ich sehe den beiden Männern zu, die plaudernd beieinandersitzen und Tee schlürfen. Als wäre Joseph nie der Shiva gewesen, Hiato nie sein Freier mit der Peitsche oder Gerte oder sonst was in der Hand.

Wie kann er von Hingabe reden?

Weil er sie kennt. Mit ihr vertraut ist.

Ist das das Geheimnis der Shivas? Lebt deshalb ihre Seele noch? Trotz all der Qualen?

Wie ist das, sich jemandem im Schmerz hinzugeben? Einverstanden mit dem zu sein, was einem angetan wird? Der Hand, die einen schlägt, zu vertrauen? Sie zu lieben?

Josephs liegt locker auf seinem Oberschenkel.

Wäre sie fähig, mir Leid zuzufügen?

Es ist Joseph Wakanes Hand. Sie ist zu ebenso vielen Dingen fähig wie ihr Besitzer.

Ich streiche mit dem Zeigefinger darüber, spüre die Erhebung der Adern, die Sehnen, die Knochen. Ihre Kraft, ihre Güte.

Ihre Unerbittlichkeit.

Die Unterhaltung versiegt.

Ich will nicht hochsehen, will mich nicht erklären müssen. Ich will nur diese Hand berühren, weil ich zu mehr nicht imstande bin.

»Hebe sie an deine Lippen.« Hiato sieht mich an. »Du willst sie liebkosen. Warum verwehrst du dir dieses Vergnügen?«

Weil es so ist.

»Hält dich dein Schmerz davon ab?«

»Mein Rücken tut nicht mehr weh.« Nur wenn das Wetter umschlägt. Liam meint, das wäre normal.

»Weil dein Schmerz nicht mehr in deinem Rücken wohnt. Er ist tiefer gedrungen. Bis zu dir. Er wartet darauf, dass du ihn zu einem Teil von dir werden lässt, aber du verweigerst dich ihm.«

»Ich will ihn nicht.«

»Er will dich.«

»Ist nicht mein Problem.« Doch, ist es. Werde das vor diesem kultivierten Japaner in seiner kultivierten japanischen Mini-Welt ganz sicher nicht zugeben.

»Er trägt keine Schuld an dem Ungeschick deines Peinigers.« Nebenbei füllt er frischen Tee in meine Schale. »Du hast nur seine Bitterkeit gekostet. Nie seine Süße. Begegne ihm das nächste Mal mit offenen Armen und gestatte ihm, dich zu mehr zu machen als zu Marvin Jones’ Opfer.«

Mir fällt erst jetzt auf, dass er es weiß. Woher?

Von Hao Jun. Wahrscheinlich schlürfen die mächtigsten Männer Kowloon regelmäßig Tee zusammen.

»Es wird kein nächstes Mal geben«, stelle ich klar.

Hiato neigt sich zu mir, so nah, dass ich die Maserung seiner Iriden erkenne. »Doch. Bei mir.« Sein Atem duftet nach Tee. »Während ich dir den Phönix steche.«

Ein Blick wie ein Raubtier. Fehlt nur, dass er sich die Lippen leckt.

Er will mein Leid und er wird es genießen.

Ebenso wie Joseph. Seine Augen sind auf Hiato gerichtet, während sein Kehlkopf nach oben und unten gleitet.

Er ist erregt.

Ich spüre es wie ein Gewitter, das die Luft knistern lässt.

Hiatos Lächeln gehört allein ihm. Es breitet Wünsche vor ihm aus, die längst erfüllt wurden.

Plötzlich halte ich Josephs Hand in meiner, schmecke den Hauch Tabak zwischen den Fingern.

»Dean?«

Für einen Moment treffen sich unsere Blicke.

Ein Gefühl, als bliebe mir das Herz stehen.

Ich lasse seine Hand sinken, ohne sie freizugeben.

»In dem Haufen Asche, den Jones zurückließ, regt sich neues Leben«, höre ich Hiato durch ein seltsames Rauschen in mir. »Der erste Funke glimmt bereits.« Er beugt sich näher zu mir. »Überlasse dich Joseph und gestatte ihm, das zu zerstören, was das stümperhafte Werk dieses Mannes aus dir gemacht hat. Gönne dir selbst den köstlichen Zustand der Selbstaufgabe. Nur so kannst du dich aus der Asche erheben und der werden, der du wirklich bist.«

Josephs Pupillen werden zu schwarzen Seen. Ich stehe an ihren Ufern, weiß nicht, in welchem ich mich zuerst ertränken soll.

»Vergebt mir die Unhöflichkeit, aber ich muss meinen Aufgaben nachgehen.« Hiato erhebt sich, lächelt, als wäre nichts gewesen. »Euer Besuch war mir eine Freude und ich hoffe, der nächste lässt nicht allzu lang auf sich warten.«

Josephs Finger schließen sich um meine. Er steht auf, ich ebenfalls.

»Danke für deine Gastfreundschaft.« Seine Stimme kratzt über die Silben.

Er wartet, bis der Japaner den Garten durchquert hat. »Ich kann dir helfen.« Sein Blick zu mir ist todernst. »Aber dazu musst du mir vertrauen.«

Ich will nicken, bringe es jedoch nicht über mich.

»Komm zu mir, wenn du es kannst und warte nicht, bis ich dich hole.« Er lässt mich los, folgt Hiato ins Vorderhaus.

Ich will ihm hinterher. Mich an ihn klammern, ihn bitten, mich zu retten. Stattdessen sehe ich ihm nach, ohne einen Finger zu rühren.

~*~

Das Übel des Lotosgartens

 

 

– Liam –

 

»Kann es sein, dass Ihnen gleich die Augen zufallen?« Mein Patient schiebt mir die Schale mit Tee näher. »Trinken Sie!«

»Streichhölzer zur Hand?« Die würden das Zufallen verhindern.

Mein wievielter Einsatz? Bin mir nicht sicher. Ein Mann starb, als ich seine aufbrechenden Wunden versorgte, eine junge Frau während der Geburt ihres Babys. Der Kindsvater hatte mich zu spät gerufen. Sie hatte bereits aufgegeben. Keine Kraft mehr. Weder zum Pressen noch um am Leben zu bleiben. Ich holte ihr Kind, doch der Vater hielt es wie etwas Schimmliges von sich weg. Was er mit einem Baby ohne Frau sollte?

Ich drohte ihm, ihn fertigzumachen, wenn er dem Kleinen ein Leid antun würde. Er wäre der Vater, er müsste sich kümmern.

Wahrscheinlich bietet er das Kind früher oder später den Rattenfängern an.

Ich hätte es mitnehmen und Maybe in den Arm drücken sollen. Als Chefin der Putzkolonne im Monk hat sie garantiert schon schlimmere Probleme bewältigt.

Das Mädchen mit der Überdosis. Hätte ich beinahe vergessen. Sie lag am Straßenrand und lächelte mich selig an, während ihr Herz aufhörte zu schlagen. Was immer sie genommen hat, es bescherte ihr einen sanften Tod.

Ich bilde mir ein, dass sich seit Sun Haidongs Blockade die Drogenopfer häufen. Eine Flucht vor der Angst. Ein halbes Jahr ist für die Gesichtslosen zu kurz, um den angedrohten Schrecken zu vergessen.

Nur ein paar Tage. Sie forderten zu viele Opfer, aber niemand auf der anderen Seite der Meerenge macht sich die Mühe, sie zu zählen. Ohne Überwachungsdrohnen und Zwangs-Volkszählungen ist das unmöglich. In Kowloon existiert kein einziger Netzhautscanner. Weder die mobile Variante, noch die fest installierte.

Jesus, bin ich dankbar dafür.

Nur nicht in Nächten wie dieser.

Zwischen meinen Fingern steckt plötzlich eine glühende Zigarette. Keinen Schimmer, wie sie dorthin gekommen ist.

»Selbstangebauter Tabak.« Der Mann, der dank mir nur knapp dem Erstickungstod entkommen ist, zündet sich ebenfalls eine an. »Rauchen Sie! Das macht glücklich!« Er saugt ebenso vehement an ihr wie vor fünf Minuten an dem Inhalator mit dem Asthmaspray.

Der Smog in Kowloon setzt immer mehr Menschen zu. Ich bin einer von ihnen, käme jedoch nicht auf die Idee, direkt nach einem Anfall zu rauchen.

»Lassen Sie das sein.« Ich pflücke sie ihm aus der Hand, drücke sie zusammen mit meiner aus. »Das macht es schlimmer, glauben Sie mir.«

Bestürzt sieht er auf die angeschlagene Untertasse, nickt nur aus Höflichkeit.

Wenn ich die Hütte verlasse, wird er wahrscheinlich beide hintereinander aufrauchen. Hoffentlich bin ich bis zu seinem nächsten Anfall weit genug weg, um weder sein Röcheln noch die Hilferufe des Nachbarn zu hören.

Innerlich ohrfeige ich mich für meinen Egoismus. Es hilft nichts. Ich brauche eine Pause. Dringender als alles andere. Vielleicht reicht auch eine Tasse von Kuns herzzertrümmerndem Kaffee.

»Was schulde ich Ihnen?« Er tastet seine Taschen ab.

»Nichts. Ist in Ordnung.« So ärmlich, wie die Hütte ausgestattet ist, fehlt es ihm an allen Ecken und Kanten. »Hier, aber nur im Notfall.« Ich reiche ihm den Sprayer, entfalte meine eingeschlafenen Beine aus dem Schneidersitz. Kaum richte ich mich auf, stoße ich mit dem Kopf an das Wellblechdach.

»Sie sind zu groß für Kowloon.« Er grinst bis zu den dreckigen Ohren. »Aber sehr freundlich, wirklich, sehr, sehr freundlich.«

Dank meiner horrenden Rechnungen, die ich Joseph zumute, kann ich mir diese Freundlichkeit leisten.

Er hasst es, dass ich mich in den Slums herumtreibe. Dummerweise ist dort der Bedarf an medizinischer Betreuung am größten. Vor allem dann, wenn sie umsonst ist.

Vor der Tür wartet die Nacht. Muss mich eine Weile orientieren, bevor ich eine Ahnung habe, in welcher Richtung das Monk liegt. Dieses Labyrinth aus Gassen wäre selbst für einen Pfadfinder eine Herausforderung.

Hoffentlich ist im Klub noch nicht viel los. Ich hätte längst dort sein sollen.

»Sie sind der Doktor?« Eine alte Frau humpelt mir entgegen. »Schnell! Sie müssen helfen!«

Bevor ich dazu komme, ja oder nein zu sagen, packt sie mich am Handgelenk und zieht mich mit sich.

Erstaunlich, ihre Kraft. Ich müsste ihr wehtun, um mich aus ihrem Klammergriff zu befreien.

»Um was geht es und wo passiert es?«

Der Gestank nimmt zu, die Gassen werden enger und dunkler.

»Sham Shui Po«, keucht die Alte, ohne auch nur einen Deut langsamer zu werden. »Schnell! Schnell!«

Sham Shui Po. Ein Slum. Ebenso wie Tai Kok Tsui. Joseph wird alles andere als begeistert sein.

Es wird immer finsterer. Ich erkenne kaum, wo ich die Füße hinsetze. An das Lichtmodul des Kommunikators komme ich nicht ran. Das befindet sich wie mein Handgelenk in den Klauen der Frau.

Die Hütten werden kleiner, die offenen Abwasserkanäle breiter. Daneben kauern Schatten, stoßen Laute aus, die fern jeder menschlichen Sprache sind. Ein fauliger Zitronengeruch steigt von ihnen auf. Ich brauche kein Licht, um zu wissen, dass ihnen Lippen und Finger fehlen und die Haut ihrer Beine in Fetzen hängt.

Das Grauen streift mich beim Vorübereilen.

Sinnlos, stehen zu bleiben. Ihnen ist nicht mehr zu helfen. Citric Smash verschlingt seine Opfer bei lebendigem Leib. Zu billig und einfach in der Herstellung und für jeden zu haben, der sich keinen anderen Seelenfresser leisten kann.

Eine Autobahnbrücke über uns. Aus den Rissen im Beton wachsen meterlange Flechten. Sie wehen im Wind wie Vorhänge. Dazwischen flattern die Reste bunter Bänder. Segenssprüche und Gebete, um die Geister milde zu stimmen oder ihre Gunst zu erlangen.

Ihre Ohren müssen verstopft und ihre Augen blind sein. Wie könnten sie sonst Kowloons Leid mitansehen, ohne zu verzweifeln?

Falsche Einstellung. Es liegt an dieser Nacht. Sie meint es nicht gut mit mir.

Ein Trümmergrundstück. In dessen Mitte ragt der Rest eines Hochhauses empor. Aus den Mauern gellen Schreie, werden erstickt, schwellen von Neuem an. Sie fressen sich in meine Nerven, klingen zu jung, zu verzweifelt.

Neben dem Eingang brennt eine Tonne. Die Flammen enthüllen eine breite Gestalt. Sie tritt uns entgegen, schiebt die Kapuze zurück.

Vor knapp zwanzig Jahren brach in Kowloon eine Lepra-Epidemie aus. Vor mir steht einer der Überlebenden.

Damals saß ich in meinem Studentenzimmer vor dem Monitor und verfolgte die Auswirkungen dieses mittelalterlichen Schreckens aus sicherer Entfernung. Kowloon war für mich der exotischste Ort, den ich mir vorstellen konnte. Kein Gedanke daran, dass es mich eines Tages hierher verschlagen würde.

Der Anblick des Mannes ist eine Herausforderung. Es liegt nicht an dem, was früher ein Gesicht gewesen war. Es ist sein Blick. Ihm fehlt jegliche Wärme. Selbst Hao Juns Schläger strahlen mehr Mitgefühl aus.

»Zweihundert für eine Stunde.« So, wie er klingt, hat die Krankheit auch seine Stimmbänder befallen. »Fünfhundert für die ganze Nacht.«

Ein No-Name-Bordell. Daher die Schreie. Was soll ich in diesem Höllenloch ausrichten? Die Shivas, die hier arbeiten, haben längst mit ihrem Leben abgeschlossen.

Die Alte redet auf den Türsteher ein, steckt ihm etwas zu.

Er betrachtet es, verzieht den Mund und nickt zur Tür.

Ich will da nicht rein. Alles, aber auch alles in mir sträubt sich dagegen.

Was bin ich für ein erbärmlicher Feigling. Kowloon verlangte mir schon eine Menge ab und ich bin jedes Mal damit zurechtgekommen. Aber wie soll ich es über mich bringen, diese Schreie aus nächster Nähe zu ertragen und nichts dagegen unternehmen zu können?

»Bist du der einzige Security in diesem Laden?« Wenn er nickt, versuche ich mein Glück, schlage ihn hoffentlich nieder und nach ihm jeden Freier, der mir über den Weg läuft.

Und dann? Hier wachsen täglich neue No-Names aus dem Boden.

»Sicherlich nicht.« Er mustert mich von oben bis unten. »Wenn du Ärger machen willst, nur zu. Ist eine gute Nacht zum Sterben.«

»War nur ein Versuch.«

Kaum setze ich den Fuß über die Schwelle, schlägt mir der Geruch von Todesangst entgegen. Eine Mischung aus Blut, Schweiß, Erbrochenem und Fäkalien

Ein dunkler Gang, rechts und links Kammern, nur mit einer nackten Glühlampe beleuchtet.

Ich will nicht hineinsehen. Will nicht wissen, wer warum schreit, wer stöhnt, wer bereits schweigt.

Ich mache es dennoch. Es geht nicht anders.

Ein Knebel zwischen fransig gebissenen Lippen, ein verzerrtes Gesicht, Hände, die gegen Fesseln kämpfen.

Männer in schäbiger Kleidung. Ölflecken, Hafengeruch, dumpfe Gier in den Augen, Zigaretten in heruntergezogenen Mundwinkeln, Glut auf narbiger Haut. Der Gestank verbrannten Fleisches, versengter Haare. Lachen, das zu grausam klingt, um von einem Menschen zu stammen.

Will mir die Ohren zuhalten. Will blind und taub sein.

Vielleicht will ich auch zu einem Mörder werden.

Meine katholisch erzogene Seele zuckt bei diesem Gedanken bloß mit den Schultern. Kowloon hat sie geschafft. Sie, mich und als Nächstes ist mein Herz dran.

Ein Mädchen taumelt an mir vorbei. Ein Mann folgt ihm. Seiner Kleidung nach könnte es auch ein Gast des Monk sein. Der Anzug sitzt akkurat, das Hemd schimmert seidig, die Schuhe glänzen.

Was sucht jemand wie er in einem Drecksloch wie diesem?

Die beiden betreten eine der Nischen, das Mädchen beginnt sich auszuziehen.

Das Licht fällt auf den zu jungen, zu mageren Körper.

Wunden, die noch lange nicht verheilt sind. Einige sind entzündet. Bilde mir den Geruch von Eiter ein. Sind seine Augen deshalb glasig? Oder hat der Besitzer des Mädchens ihm etwas gegeben, um die Tortur durchzuhalten?

Die Pritsche hinter der Kleinen ist nass von Blut. Es muss von dem Vorgänger stammen. Dennoch setzt sie sich darauf und sieht dem Mann mit teilnahmslosem Blick zu, wie der sich für ein Schmerzinstrument entscheidet.

Sie hängen an Nägeln an der Wand. Sind ebenso dreckig wie der Rest in dem Verschlag.

Das Mädchen scheint die Schreie der anderen nicht wahrzunehmen. Es wartet einfach darauf, bis es an der Reihe ist.

Meine Augen beginnen zu brennen, mein Herz klopft so hart, dass ich kaum atmen kann.

Die Hand aus dem Griff der Alten winden. Dieses Dreckschwein von Freier niederschlagen. Danach den Inhaber.

Das einzig Richtige.

»Es ist mein Enkel«, ruft mir die Frau durch das Inferno zu. »Er stirbt.«

So wie es um mich herum klingt, ist er heute Nacht nicht allein damit.

Sie zerrt mich weiter, an peitschenden Männern und wimmernden Shivas vorbei. An Nadeln in zu jungem Fleisch, an zuckenden Leibern in Ketten. Links von mir rasselt ein Schmerzstimulator. Nur ein Sekundenbruchteil später folgt ein gellender Schrei.

Im Begging Monk sind elektronische Folterwerkzeuge verboten. Sie richten zu viel Schaden in Hirn und Nerven an, lassen das Leid der Shivas unkontrolliert in die Höhe schnellen.

An einem Ort wie diesem achtet niemand darauf, wer die Verschläge lebend verlässt und wer nicht.

Mir wird schlecht.

Die letzte Maueröffnung, bevor der Gang endet. Die Alte zieht mich hinein, eilt zu einer Pritsche.

Ein Junge. Ich gebe ihm keine vierzehn Jahre.

Juen ist zwanzig, auch wenn er wie sechzehn aussieht. Joseph würde nie dulden, dass Kinder bei ihm arbeiten.

Der saure Geruch von Erbrochenem erfüllt die Luft.

»Er stirbt!« Die Alte schlägt die Hände vors Gesicht.

Ob sie hinsieht oder nicht, macht es für ihren Enkel nicht besser. Sein Körper ist ein einziger Krampf.

Beuge mich über ihn, stemme ihm die Kiefer auseinander und zwänge ein Verbandspäckchen zwischen die Zähne. Er beißt sie sich sonst kurz und klein.

»Halten Sie ihn fest!«