Jedermanns Sohn - S. B. Sasori - E-Book

Jedermanns Sohn E-Book

S.B. Sasori

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Beschreibung

Till van Doorns Zukunft ist gesichert. Er wird als Handelsvertreter die Welt bereisen und ersehnt den Tag, an dem er ein Segelschiff besteigen und Gent verlassen darf. Er weiß, dass er bis auf seinen kleinen Neffen Davy niemanden vermissen wird. In der Nacht seiner Abschiedsfeier offenbart ihm sein Bruder jedoch ein Geheimnis. Es zerschlägt Tills Zukunft während eines Augenblicks. Nacht für Nacht schreckt Davy aus dem Schlaf. Um seiner diffusen Ängste Herr zu werden, flüchtete er sich in sinnliche, doch verbotene Fantasien. Eines Tages erfährt er von einem verschollen geglaubten Onkel. Allen finsteren Gerüchten und Warnungen zum Trotz beschließt Davy, ihn aufzusuchen. Und sieht sich dem Mann gegenüber, der seine Fantasien ebenso schürt wie seine dunkelsten Ängste.

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Erster Teil
1774 – Seehafen in Brest, Strafanstalt
1785 – Elternhaus der Brüder Davy und Norin van de Brink, Brügge (zehneinhalb Jahre später)
1774 – Weihnachten – Brest, Strafanstalt
1785 – Kontor der Buchdruckerei van de Brink, Brügge
1775 – Dreikönigstag, Strafanstalt in Brest
1785 – Erinnerungen eines berauschten Buchbinders
Zweiter Teil
Unerwarteter Besuch – Gent 1785
Schatten einer längst vergangenen Nacht
Ein neuer Morgen
Der erste Schritt einer Reise
Richtung Horizont
Weitere Romane von S.B. Sasori

Jedermanns Sohn

Ein Roman von

S.B. Sasori

Copyright © 2024 S.B. SASORI

Erstveröffentlichung 2022

Alle Rechte vorbehalten.

E-Books dürfen nicht kopiert oder weiterverkauft werden. Bitte denkt daran und wertschätzt mit eurem fairen Verhalten die Arbeit der Autor*innen, die viel Mühe und Zeit in ihre Geschichten stecken.

Wie bei allen fiktiven Romanen gilt auch bei diesem: Sämtliche Personen und Ereignisse sind frei erfunden.

Erster Teil

Gebrochene Versprechen, heimliche Sünden

Und verschwiegene Lügen

1774 – Seehafen in Brest, Strafanstalt

 

Die Barackentür krachte hinter ihm ins Schloss. Till spürte die Erschütterung, doch er hörte nicht den Knall. In ihm dröhnten die Wellen, durchbrochen bloß von Bernards Brüllen. Er schüttelte den Kopf. Aus Ohren und Nase floss Salzwasser.

»Wir haben einen neuen König«, kreischte Le Petit und sprang von seiner Pritsche auf. »Ratet, wie er heißt!« Er stach hektisch mit den Zeigefingern in die Luft, hüpfte dabei von einem mageren Bein auf das andere. »Los, ratet!« Das Rasseln seiner Kette fuhr Till in die Nerven. »Ratet! Wie ist sein Name?«

Ludwig. Und er war nicht neu. Nur jung. Der Bengel saß bereits seit sechs Monaten auf dem Thron, aber Le Petit feierte ihn alle paar Tage, als wäre es eben erst geschehen. Sein zerfressener Verstand gab nichts mehr her.

Till war schlecht. Keuchend lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Tür, wartete, bis sich der Schwindel legte. Kaum Gefühl in Armen und Händen. Nur in den Schultern. Sie schmerzten, waren aufgerieben und wund wie seine Füße.

Das Tau war ein Joch. Es zwang jeden Gefangenen unter sich. Unerbittlich und bis zum letzten Tag. Gleichgültig, ob der in Freiheit oder Tod mündete.

Neben ihm wischte sich Clement fluchend das Wasser aus dem Gesicht. »Ich seh nichts mehr«, jammerte er und schlug mit dem Hinterkopf an die Tür. »Meine Augen hören nicht auf zu brennen. Irgendwann ätzt das Salz sie mir aus den Höhlen und ich bin blind.« Sein Kopf krachte erneut gegen das Holz. »Gott verdammt! Ich kann nicht mehr! Ich kann gar nichts mehr! Nicht sehen, nicht atmen, nicht denken. Ich weiß nicht einmal, ob ich noch ein Mensch bin!«

Halb blind vor Tränen griff Till neben sich in Clements verfilzte Strähnen. »Es geht vorbei.« Seine eigenen Augen brannten wie Feuer.

Clement schüttelte wild den Kopf.

Till griff fester zu. »Sieh mich an.«

Clement schluchzte.

»Sieh mich an!«

Clement ließ den Kopf sinken, ehe er ihn in Tills Richtung wandte.

»Du bist ein Mensch, und kannst atmen und sehen und denken.«

Clement zog die Nase hoch, nickte.

»Sag es. Sag, dass du ein Mensch bist.«

Clement holte tief Luft. »Ich bin ein Mensch. Ich kann atmen, sehen und denken.«

Till ließ die schmutzigblonden Haare los und packte seinen Freund an der Schulter. »Das hier geht vorbei.« Eine Lüge. Das Bagne war ein Albtraum, der niemals endete.

»Es geht vorbei«, wiederholte Clement und klang überzeugter als er. »Wenn du es sagst, geht es vorbei.«

»Brav.« Es klatschte, als er Clement auf die Wange schlug. »Und jetzt reiß dich zusammen.«

»Mach ich.« Clement nickte, als könnte er nie wieder damit aufhören. »Ich reiße mich zusammen.«

Gott sei Dank gehorchte ihm Clement. Immer. Wenn er ihm befahl: Halte durch, hielt Clement durch. Wenn er ihm befahl: Schlaf ein, schlief Clement ein. Iss! Und Clement aß, auch wenn sein Gesicht grün und seine Lippen blass waren. Schweig! Und Clement schluckte Sätze hinunter, die ihm mehr Stockschläge eingebracht hätten, als er fähig war auszuhalten. Dass Forrètt ein elendes Dreckschwein war, weil er behauptete, ihnen ins Essen gewichst, gepisst oder sonst was zu haben und dabei feist in ihre ausgemergelten Gesichter grinste.

Es spielte keine Rolle, was ihnen der Wärter ins Essen mischte. Es konnte nicht erbärmlicher als das Essen selbst sein, aber es durfte Clement nicht das Leben kosten.

Clement, sein einziger Freund in dieser Hölle.

»Louis!« Le Petit lachte krachend. »Der neue König heißt Louis und ist der sechzehnte in seiner Reihe!« Mit einem grauenhaften Geräusch zog er Schleim aus seinen zerrütteten Lungen und spuckte ihn eine Handbreit neben den Abtrittkübel. »Zum Henker mit der ganzen erlauchten Bagage!« Er würgte und spuckte erneut. Dieses Mal traf er. Ein Erfolg, den er mit einem schrillen Kichern feierte. Es erstarb ebenso abrupt, wie es aus ihm hervorgebrochen war. »Ein neuer König!« Er ließ sich zurück auf die Pritsche fallen. »Ein neuer König. Wer hätte das gedacht?«

»Halt’s Maul!«, brüllte van Lille und warf sich auf die andere Seite des Holzgestells. Er presste die Hände auf die Ohren, begann das flämische Wiegenlied zu singen, mit dem er sie seit seinem ersten Tag im Bagne quälte.

Dorian van Lille. Der Kerl war ein Flame wie er.

Ihre einzige Gemeinsamkeit.

Van Lille würde hier sterben. Ebenso wie Le Petit und alle anderen, die ihren Verstand verloren. Dieses Muster beobachtete er seit Jahren.

Till wandte sich von den beiden Männern ab. Je weniger er ihren Anblick ertragen musste, umso besser für sein Seelenheil. Anfangs hatte er gedacht, auch verrückt zu werden. Es war nicht geschehen. Die Zeit verging und er wusste nach wie vor, wer er war und warum er seine Freiheit aufgegeben hatte.

Fast zwölf Jahre seines Lebens in dieser gottverdammten Strafanstalt. Acht lagen noch vor ihm.

Ihm wurde übel bei dem Gedanken.

»Geht es dir besser?«, fragte er den Mann, den er in seinem früheren Leben nicht einmal gegrüßt hätte. Der Sohn eines reichen Tuchhändlers gab sich nicht mit Straßenpack ab, aber ein verurteilter Mörder sorgte sich um einen verurteilten Dieb. Das Bagne riss jedem Gefangenen den Dünkel noch vor dem Stolz aus der Seele und warf beides den Fischen zum Fraß vor.

Das einzig Gute an diesem Ort.

Clement nickte tapfer. »Ich dachte, wir kriegen den Kahn nie ins Dock gezogen.« Er stieß sich von der Tür ab. »Danke, dass du mich aus dem Wasser gefischt hast.«

Clement stürzte öfter als jeder andere in die Gischt. Das war der Grund, weshalb Till beim Schleppen der Schiffe hinter ihm am Tau stand. So erkannte er Clements Schwäche rechtzeitig und konnte schnell genug handeln.

Clement humpelte zu ihrer gemeinsamen Pritsche. Till folgte ihm. Dank der Kette zwischen seinem rechten und Clements linken Bein blieb ihm nichts anderes übrig. Zwei Schritte Distanz. Ihre Privatsphäre. Wenn Clement schräg gegen den Wind pisste, bekam Till die Tropfen ab.

Vor ein paar Tagen waren sie zum ersten Mal getrennt worden. Laurent hatte die Fußschelle aufgeschlossen und Till zu Kommandant Bernard gebracht.

Dieses Gefühl, ohne das Gewicht des Eisens zu laufen. Wie schweben.

Sei vorsichtig, hatte ihm Laurent zugeflüstert. Der neue Kommandant ist ein fieser Hund. Seit seinem ersten hier Tag brodeln die Gerüchte über und keins von ihnen gefällt mir.

Ein Teil der Gerüchte entsprach der Wahrheit.

Er sollte sich vor dem nächsten Treffen fürchten.

Till ließ sich neben Clement sinken, zu erschöpft, um etwas anderes zu tun, als die Wassertropfen dabei zu beobachten, wie sie sich aus seinen verfilzten Haaren lösten und auf dem dreckverkrusteten Boden zerplatzten.

»Mein Fußgelenk fühlt sich an, als würde mir das Eisen auf dem blanken Knochen reiben.« Clement streckte sein linkes Bein von sich weg, als würde er damit Distanz zu seinen Schmerzen schaffen.

Noch stank die Wunde nicht, doch das war nur eine Frage der Zeit.

Sein eigener Knöchel sah kaum besser aus. Den meisten Gefangenen erging es so. Manche stopften Lumpen unter die Eisenschelle. Deren Beine entzündeten sich doppelt so schnell.

Meerwasser spült Wunden sauber. Das ist gut. Aber es verhindert, dass sie verheilen. Niklot hatte ihn ernst angesehen. Die einzige Möglichkeit ist, dem Salzwasser fernzubleiben.

Hier blieb nichts und niemand dem Salzwasser fern. Die Gischt umspülte das gesamte Leben und sickerte nachts in die Albträume. Vielleicht entzündeten sich die Wunden deshalb. Weil die Träume so erbärmlich und dreckig waren wie ihre Träumer.

Manchmal träumte er von Niklot. Dann fühlte er sich nach dem Aufwachen zuversichtlicher. Bis ihm einfiel, dass Niklot auf denselben Schiffen die Ozeane überquert hatte, die er seit Jahren hinter sich herzog.

»Ich wäre gern so stark wie du«, sagte Clement leise und gewiss zum tausendsten Mal. »Dann könnte ich auf mich selbst aufpassen und du müsstest dich nicht ständig um mich kümmern.«

»Es macht mir nichts aus.« An dem Ende seiner Kette hing ein Freund. Kein Irrer wie Le Petit oder van Lille. Das war alles, was zählte. Wie sollte er sonst ein Mensch bleiben?

Clement, der Bauernsohn. Zu zierlich für die Feldarbeit und zu gutmütig, um sich gegen seinen Vater durchzusetzen. Dennoch betete er Abend für Abend für diesen alten Mann, der irgendwo in der Normandie in seinem warmen Bett lag, während seinem Sohn das Bein abfaulte.

Clement sollte den Kerl verfluchen.

Und er sollte nicht mehr zum Schleppen rausmüssen.

Es gab eine Möglichkeit, das zu verhindern. Wenigstens für ein paar Tage. Kommandant Bernard hatte Till in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, was er tun musste, um die ein oder andere Annehmlichkeit für sich und Clement herauszuhandeln. Zum Beispiel, dass sie für die Pumpen eingeteilt wurden. Die Arbeit war ebenfalls hart, aber nichts im Vergleich zum Schleppen.

Eine Horde zerlumpter Gestalten in schäumender Gischt.

Hingen sie an den Tauen oder zogen sie daran?

Die verfluchten Kähne rutschten unerträglich langsam die Rampe hinauf, während die Wellen das Blut von knochigen Schultern wusch.

Wie konnte Gott diesen Anblick Tag für Tag ertragen?

Clement wandte den Kopf zu ihm. »An was denkst du?«

»Dass es Zeit für die Pumpen wird.«

Sein Freund schnaubte. »Das ist was für Bernards Lieblinge. Zu denen gehören wir nicht.«

Clement nicht, er schon. Bernard wollte dasselbe von ihm, was Alfred gewollt hatte. Till würde es über sich ergehen lassen.

Für Clement.

Es war nicht gut, an seinen Bruder zu denken. Wegen Alfred war er hier. Wegen Alfred war er nicht zu einem Mann geworden, der sich im Spiegel in die Augen sehen und nicken konnte. Wegen ihm war der kleine Davy …

Davy war nicht wegen Alfred ins Lagerhaus geschlichen.

Till presste sich den Handballen gegen die Stirn.

»Denkst du an Davy?«

Till nickte.

»Wenn es wehtut, lass es sein.«

Er konnte alles sein lassen, aber nicht das. Diese Angst, dass Davy wegen ihm nie wieder lachen würde. Dass es in den haselnussbraunen Augen nie wieder leuchtete. Die vom Umhertollen verschwitzten Haare hatten in sämtliche Richtungen gestanden. Sie waren weich gewesen. Eine Farbe wie Honig.

Dieses helle, unbekümmerte Kinderlachen.

»Wenn du hier rauskommst, ist er ein glücklicher Mann und hat eine Familie.« Clement legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Hier drin vergessen wir, dass sich die Welt draußen weiterdreht.«

Er schuldete Davy noch ein Spiel. Er hatte es ihm versprochen.

Du bist der Piratenkapitän, Onkel Till. Und ich, ich bin dein Steuermann.

Wie ernst und entschlossen ihn der Junge angesehen hatte.

»Wenn ich an Elaine denke, tut es nicht weh.« Clement brachte es fertig, glücklich zu lächeln. »Sie wartet auf mich. Das weiß ich.«

»Das wird sie.« Noch eine Lüge. Sie diente allein dazu, Clements Seele zu retten. Eine junge, hübsche Frau wartete nicht endlose Jahre auf einen Häftling. Clements Herz war größer als sein Körper, sonst hätten nicht so viel Glaube und Hoffnung hineingepasst.

»Till?« Clement nahm seine Hand, drückte sie leicht. »Du solltest nicht an einem Ort wie diesem sein.«

»Wie oft hast du mir das schon gesagt?« Hundert Mal? Tausend?

»Es fällt mir immer wieder auf.« Clement seufzte. »Du bist zu stark, zu klug und zu vornehm für dieses Elend.«

»Und ich bin zu schön. Das hast du vergessen.« Das Spottlächeln gelang ihm nicht. Clement hätte es in dem dämmerigen Licht ohnehin nicht erkannt. Seine Augen waren zu schlecht.

Wie hatte er ihn mit Bewunderung überschüttet, damals, als sie einander zugeteilt worden waren.

»Nicht mehr.« Clement zog seine Hand zurück und legte sie sich auf den eingefallenen Bauch. »Das Bagne frisst an dir wie an jedem von uns.«

Neunzehn Jahre Zwangsarbeit. Ein geheimer Handel zwischen Vater und einem einflussreichen Kunden. Wäre Till in Flandern geblieben, wäre er verloren gewesen. Auf Mord stand Tod. Vater hatte ihm das Leben gerettet, indem er dafür gesorgt hatte, dass er unter der Hand nach Frankreich verkauft wurde. Die Werften in den Seehäfen brauchten Männer für Arbeiten, die niemand freiwillig verrichten wollte, also bediente man sich an Gefangenen. Davon gab es genug.

Vom Henkersblock in das Bagne in Brest. Für den wohlhabenden Tuchhändler Arjen van Doorn die einzige Möglichkeit, seinen zum Tode verurteilten Sohn außer Landes zu schaffen.

Vater hatte ihm bei seinem letzten Besuch vor dem Abtransport nicht in die Augen gesehen. Vielleicht hatte er gewusst, dass es gnädiger gewesen wäre, wenn er ihn dem Henker überlassen hätte.

Vater war tot. Seit acht Jahren. Till hatte den Brief nur unter Aufsicht lesen dürfen. Danach war er ihm wieder weggenommen worden. Er sollte durchhalten, hatte Vaters Anwalt geschrieben. Es gäbe Hoffnung.

Mijnheer Wouters war ein Narr. Er wusste nichts von Strafanstalten wie dieser. In seinem Leben existierten nur Paragraphen.

Und wenn er nicht durchhielt? Dann würde seine Schwester alles erben. Lieve könnte ihre drei Kinder in Samt und Seide kleiden. Sie könnte ihnen die köstlichsten Gerichte kochen. Es gäbe jeden Tag einen süßen Nachtisch, Davy würde es lieben.

Ein guter Grund zum Sterben.

Ob Davy immer noch Rosinen mochte?

»Du denkst wieder an deinen kleinen Neffen«, stellte Clement fest und klang dabei sanft wie ein Vater, der sein Kind zu sehr liebt, um es zu rügen. »Warum vergisst du immer, dass er mittlerweile ein Mann ist?«

»Mit sechzehn ist kein Junge ein Mann.« Eine Tatsache, die er am eigenen Leib erfahren hatte.

»Manchmal kommt es mir vor, als wäre in deinem Herzen nur Platz für deinen Neffen.« Clement drehte sich auf die Seite und schob sich den Arm unter den Kopf. »Du stammst aus einer großen Familie. Also sollte auch dein Herz größer sein.«

Till erwiderte den Blick seines Freundes. »Du bist drin.«

Clement lächelte. »Wer noch?«

»Niklot.« Allein den Namen auszusprechen, tröstete.

»Der Gehilfe deines Vaters?«

Der Held seiner Kindheit.

»Hat auch er dich Jedermanns Sohn genannt?«

Er hätte den Schmähnamen vor Clement verschweigen sollen.

Clement hob die Brauen. »Hat er?«

»Nein.« Das hatte nur Alfred getan.

»Aber du weißt, wessen Sohn du bist. Das ist gut. Mein Vater hat immer behauptet, Mutter hätte ihm mit mir ein Kuckucksei ins Nest gelegt.« Er seufzte schwer.

Till verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Ich bin Till van Doorn. Der jüngste Sohn Arjen van Doorns. Einer der wohlhabendsten und einflussreichsten Kaufleute in Gent.« Das war vorbei. Vaters Ansehen und Wohlstand, sein Einfluss waren wie Schnee in der Frühlingssonne geschmolzen. Vater hatte seine Beziehungen wegen ihm überstrapaziert, er hatte einen Großteil seines Vermögens dafür verschwendet, ihn vom Henker freizukaufen. Den Rest hatten die Gerüchte über Alfreds Tod erledigt. Das, was Generationen von van Doorns erschaffen hatten, hatte Till in einer Nacht zerstört.

Wenn er starb, hier auf der Pritsche oder beim Schleppen auf der Rampe, müsste er Niklot nie mehr in die Augen sehen.

»Erzähl mir von diesem Mann«, bat Clement. »Dann fällt es mir leichter einzuschlafen.«

»Er ging weg.« Der wichtigste Mensch seines Lebens war eines Tages aufgebrochen und nicht wiedergekommen.

Wie sollte er Niklot jemals vergeben?

»Rede weiter«, bettelte Clement. »Du weißt viel mehr von mir als ich von dir.«

Jahrelang aneinandergekettet. Unmöglich, sein Leben für sich zu behalten. Er hatte es lediglich geschafft, Clement mit kleinen Häppchen abzuspeisen, während ihm sein Freund die gesamte Geschichte seiner weitverzweigten Familie aufgetischt hatte. Mehrmals und in variierender Reihenfolge.

Till schloss die Lider. Mühelos entstand Niklots Bild vor ihm.

Die schwarzen Haare, der sorgsam getrimmte Bart, die stattliche Statur mit den breiten Schultern. Der Ernst in den dunklen Augen, der warme Glanz darin.

»Er gehört zu den Menschen, die man nicht vergisst.« Ob Niklot erfahren hatte, was geschehen war? Von Wouters? Von Käte oder von Piet?

Keiner von ihnen kannte die Wahrheit.

»Inwiefern?«, hakte Clement nach.

»Es ist einfach so. Es existiert kein eindrucksvollerer Mann.« Und er war schuld, dass Niklot das Gildehaus verlassen hatte.

»Seid still!«, fauchte van Lille von der anderen Seite der Baracke. »Ich will schlafen!« Kaum war die letzte Silbe aus seinem Mund, summte er wieder dieses gottverdammte Lied.

»Summ weiter, und du wachst nicht mehr auf.« Er war es so leid.

Van Lille summte lauter.

»Lass ihn.« Clement rückte näher. »Wenn ihr euch prügelt, bekomme ich immer etwas ab.«

Zwei Schritte Distanz.

Till krallte die Finger in die Haare.

»Erzähl mir von dem letzten Tag mit ihm«, flüsterte Clement. »Der letzte Tag mit einem geliebten Menschen ist der kostbarste.«

Der letzte Tag mit Niklot war der bitterste seiner Jugend.

»Er begann mit der Nacht zu meinem sechzehnten Geburtstag.« Er hatte ein Mann sein wollen.

Wäre er doch in dieser einen Nacht ein Kind geblieben. Alfred könnte noch leben, Davy lachen und er selbst wäre in diesem Augenblick in Afrika und würde Elefanten beobachten.

Die Erinnerung breitete den Korridor des ehemaligen Gildehauses vor ihm aus. Es war dunkel. Jedes Knarren der Dielenbretter wurde zu etwas Unheimlichem.

Nein, er wollte nicht in diese Nacht, er wollte kein Kind sein, das sich vor der Dunkelheit fürchtet.

Die Vergangenheit schluckte ihn.

 

»Sei ein Mann, Herrgott noch mal!« Sein Flüstern klang schauerlich einsam in dem stillen Haus. Gut, dass ihn niemand hörte. Dass er im Dunkeln ein Angsthase war, wusste er auch ohne den Spott der anderen.

Der Lichtkegel vor Vaters Studierzimmer. Ein gutes Ziel. Hatte er es erreicht, lag der elendslange Korridor hinter ihm. Nicht einmal die Kerzenflamme erhellte ihn. Sie weckte bloß flackernde Schattengespenster, die es ohnehin auf ihn abgesehen hatten. Sie krochen langsam aus den Ecken auf ihn zu.

Ihn schüttelte es. Die Flamme zitterte stärker und die Gespenster krochen schneller.

Weshalb ließ Vater nach dem Abendessen die Kerzen löschen? Er war reich! Er könnte es sich leisten, Hunderte von ihnen anzuzünden. In den Gängen, auf den Treppen, in jedem Zimmer!

Till holte tief Luft. Ein Schritt nach dem anderen. Je schneller, umso besser für ihn. Den Blick auf den Lichtschein und los.

Die Kerze flackerte zum Gotterbarmen, die Finsternis um das kümmerliche Flämmchen gebärdete sich immer wilder. Jeden Moment würden sich die Schatten auf ihn stürzen.

Sein Herz schlug im Hals, als er das Studierzimmer erreichte. Er klopfte an, öffnete den Spalt weit genug, um ins Helle zu huschen.

Vater saß über einen Stapel Schriftstücke gebeugt und bemerkte ihn nicht. Wie immer. Für die Todesgöttin traf das weniger zu. Sie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an und streckte ihm die Zunge heraus.

Till erwiderte die Geste.

Er sollte sich nicht vor einer Statue fürchten. Schon gar nicht, wenn sie blau war und aus Indien stammte. In den muffig-kalten Kirchen Flanderns würde sie klein beigeben.

Vater achtete immer noch nicht auf ihn.

Till schlich sich an dem Globus vorbei, streifte den Rahmen von Mutters Portrait mit den Fingern und erreichte endlich das Podest mit dem Elefanten.

Wie er ihn liebte. Nichts fühlte sich glatter an als das polierte Holz, nichts kühler als die matt schimmernden Stoßzähne. Die riesigen Ohren schienen im Savannenwind zu flattern, der Rüssel streckte sich in die Luft und es war leicht, sich einzubilden, dass er laut trompetete.

Ein echter Elefant fühlte sich rau und warm an. Das lag an der Sonne. Nirgendwo schien sie heißer als in Afrika.

Niklot hatte ihm viel über diesen Kontinent erzählt.

Eines Tages würde er ebenfalls die Welt bereisen. Ein mächtiges Segelschiff würde ihn zu fernen Ufern tragen und er würde Abenteuer erleben. So wie früher Vater und Niklot.

»Wie oft soll ich dir sagen, dass du in diesem Zimmer nichts anfassen darfst?«

Till zuckte zusammen. Heißes Kerzenwachs tropfte ihm auf die Hand. Im letzten Moment verbiss er sich den neuen Fluch, den Piet ihm beigebracht hatte. Vaters Knecht kannte sich mit Flüchen aus.

»Weshalb bist du hier?« Vater sah ihn über den Rand seiner Brille hinweg an. »Solltest du nicht längst im Bett liegen?«

Till räusperte sich. »Ich wollte dir eine gute Nacht wünschen.« Und dich an meinen Geburtstag erinnern. Er ist morgen.

»Hm.« Vater legte eines der Blätter zur Seite, um ein anderes ins Licht zu halten. Er rückte die Brille zurecht und versank erneut in Arbeit.

Till räusperte sich lauter.

Vater reagierte nicht.

»Ich muss morgen früh aus dem Bett. Niklot helfen. Wir müssen die Stoffballen umschichten und brauchen …«

»Sei so lieb und hol mir meine neue Brille.« Vater zog die Kerze näher heran. »Ich habe sie wohl im Kontor vergessen und die alte hilft mir bei dieser kleinen Schrift nicht weiter.«

Paletten. Vater. Wir brauchen neue Paletten, weil du zu viel Ware bestellt hast. Und morgen ist immer noch mein Geburtstag. Der geht auch nicht weg, nur weil du ihn ignorierst.

»Lauf!« Die Hand mit dem schweren Siegelring wedelte in der Luft.

Willst du mich nicht nach meinen Wünschen fragen? Ich hätte gern ein Rasiermesser mit einem Perlmuttgriff. Eines, das so schön ist wie Niklots.

Auch wenn Alfred etwas anderes behauptete, ihm wuchs ein Bart auf der Oberlippe.

Ein Flaum. Aber immerhin.

»Meine Brille«, murmelte Vater, ohne hochzusehen.

Till strich noch einmal über den Elefantenrücken, ehe er das Zimmer verließ.

Vater würde seinen Geburtstag wieder vergessen. Wie letztes Jahr. Er könnte ihn daran erinnern, aber das fühlte sich falsch an. Als ob er um etwas betteln würde, das ihm zustand.

Vielleicht war Alfred noch im Kontor. Er könnte versuchen, ihn zu überreden, dass er vor Vater zufällig erwähnen sollte, dass sich sein jüngster Sohn dringend ein Rasiermesser wünschte.

Ein kleiner Gefallen unter Brüdern.

Wäre er mutiger gewesen, hätte er in die Stille hineingelacht.

Alfred würde ihm eine Kopfnuss verpassen und ihn wie ein Kind behandeln. So wie immer, wenn er etwas von ihm wollte. Alfreds einziges Argument dafür war die Tatsache, dass er doppelt so alt war.

Noch. Das Problem erledigte sich Jahr für Jahr von selbst. Alfred war gut im Kalkulieren, bloß bei dieser Aufgabe stellte er sich dumm.

»Morgen werde ich sechzehn«, raunte er den knarrenden Dielenbrettern zu. »Auch wenn das niemanden interessiert.« Es lag am Datum. Sein Geburtstag war Mutters Todestag. Vater trauerte nach wie vor um sie. So sehr, dass kein Platz übrig blieb, um sich über den fast erwachsenen Sohn zu freuen.

Er sollte Mitgefühl für Vater empfinden. Stattdessen war ihm danach, zurück ins Studierzimmer zu rennen und ihn anzubrüllen, ihm ein verdammtes Rasiermesser zu kaufen. Immerhin war Mutters Tod nicht seine Schuld.

Doch, war es.

Aber er hatte es nicht gewollt. Niemand wollte den Tod der eigenen Mutter.

Geschehen war es trotzdem.

Es war schrecklich, einen geliebten Menschen zu verlieren. Würde Niklot eines Tages etwas Schlimmes …

Niklot passierte nichts. Er gehörte nicht zu denen, die einfach wegstarben. Er war groß, stark und klug. Außerdem war er ein Mann. Männer bekamen keine Kinder. Ein Risiko weniger.

Aber er könnte gezwungen werden, in den Krieg zu ziehen und auf einem der vielen Schlachtfelder zu sterben.

Ihm wurde eng um die Brust. Als wäre das nicht schlimm genug, tanzte die Finsternis immer wilder um das bisschen Licht in seiner Hand. Seine Knie fühlten sich weich an. Er stolperte die Treppe hinab bis zum ersten Absatz. Ein stockdunkler Schlund in der Mauer. Dahinter der Gang zum Kontor. Niklot nannte es das Schwalbennest, weil es zwischen dem Haus und dem Nachbargebäude klebte. Getragen nur von dem Torgewölbe darunter, aber es besaß ein eigenes Dach.

Sein Dach.

Er flüchtete sich darauf, wenn er allein sein wollte. Es war nur ein Sprung aus dem Fenster der Gesindekammer und schon lag ihm Gent zu Füßen. Mit den dicken, vom Fluss aufsteigenden Nebeln, mit den Geräuschen vom Hafen. Rollende Fässer auf Schiffsrampen, klappernde Pferdehufe, das Poltern der Fuhrwerkräder und die Flüche der Packer, die schwere Kisten schleppten. Sie waren gefüllt mit Gewürzen und Seide aus Indien, mit Tabak und Baumwollstoffen aus Amerika, Kaffee von Java, Tee und Reis aus China.

All diese Länder würde er eines Tages bereisen.

Aus der Türritze zum Kontor schimmerte Licht.

Gott sei Dank. Alfred war dort.

»Spielschulden!«, dröhnte ihm Niklots Stimme entgegen. »Du solltest dich schämen!«

Till zog die Hand von der Klinke zurück.

»Vielleicht kannst du deinem Vater etwas vormachen, aber nicht mir!«

»Halt dich da raus«, fauchte Alfred. »Ich weiß nicht, was du aufgeschnappt hast, aber es geht dich nichts an.«

Alfred stritt mit Niklot? War er verrückt geworden? Das wagte nicht einmal Vater.

»Vergiss nicht, dass du bloß ein Gehilfe bist. Nur weil Vater deinen Rat schätzt, macht dich das nicht ebenbürtig.«

»Es geht nicht um Herr und Knecht, sondern um Verantwortung.« Niklot klang wie die Ruhe vor dem Sturm. »Der Name van Doorn steht für Werte, Alfred. Mit deiner Nachlässigkeit verspielst du den guten Ruf deiner Familie.«

»Mach dich nicht lächerlich!«

»Dein Urgroßvater hat das hier aufgebaut. Dein Großvater hat es fortgeführt, ebenso wie dein Vater, und du riskierst ihrer aller Lebenswerk!«

»Du tust so, als wollte ich das Haus in Schutt und Asche legen!«

»Du verschwendest deine Zeit mit Glücksspielen und buckelst vor blasierten Pudernasen, denen es vollkommen gleichgültig ist, wenn du dein letztes Hemd an sie verlierst!«

Vor blasierten Pudernasen buckeln.

In seinem Kopf entstanden die seltsamsten Bilder.

»Was ich in den wenigen Mußestunden treibe, die Vater mir lässt, kann dir gleichgültig sein.«

Merkte Alfred nicht, dass er sich immer tiefer in die Scheiße ritt? Allein der Tonfall, den er Niklot gegenüber anschlug.

»Du bedienst dich hinter dem Rücken deines Vaters an der Geschäftskasse«, sagte Niklot mit dieser Stimme, die sämtliche Sünden ins Gedächtnis rief. »Das ist Diebstahl.«

»Ich borge mir das Geld lediglich! Streng genommen ist es mein zukünftiger Anteil.«

Niklot schnaubte.

»Was hast du? Vater verschwendet Unsummen mit seinen unüberlegten Einkäufen. Die zwanzig Ballen dieser verwaschenen dottergelben Seide sind der Beweis. Ich habe mit Engelszungen auf ihn eingeredet, den Zeitgeist der Mode im Blick zu behalten, doch er hat sie dennoch gekauft und jetzt verrotten sie im Lager, weil sie niemand will.«

»Lenk nicht von deiner Schuld ab, indem du auf fremde Fehler zeigst.«

»Wenn es nur einer wäre, aber Vater verprasst auch mein sauer verdientes Vermögen mit beiden Händen!«

Nein, tat er nicht. Sonst wäre es heller im Haus.

»Denk nur daran, wie er Lieve und ihrem Hungerleider das Geld in den Rachen schiebt. Er hätte ihr die Heirat mit diesem Buchdrucker ausreden müssen.«

»Sie ist deine Schwester«, erinnerte ihn Niklot mit einer viel zu ruhigen Stimme. Jeder, der ihn kannte, wusste, dass jetzt der richtige Zeitpunkt zum Wegducken gekommen war. »Und dein Schwager ist ein aufrichtiger Mann mit einem ehrbaren Beruf.«

»So ehrenhaft kann der nicht sein, wenn er Roul genug Zeit lässt, meiner Schwester einen Schreihals nach dem anderen zu machen.« Alfreds knappes Lachen sollte wahrscheinlich höhnisch klingen. Tat es aber nicht. »So sauertöpfisch, wie Roul ist, wäre er besser ein Pastor geworden. Er predigt ohnehin bei jeder Gelegenheit.« Sogar Alfreds Schnauben klang eingeschüchtert.

Roul war sauertöpfisch und seine Predigten hingen nicht nur Alfred zum Hals raus. Deshalb musste sein Bruder trotzdem nicht auf diese abfällige Weise von Lieves Familie reden. War er nicht glücklich darüber, dreifacher Onkel zu sein?

Till war es. Vor allem wegen Davy. Er war das knubbelnasigste und rundäugigste Baby, das er kannte. Noch ein paar Monate und der Kleine wurde ein Jahr.

»Hör auf, mich so anzusehen«, murrte Alfred. »Man könnte meinen, du wärst Gewissen und Moral der gesamten Familie.«

Warum meinen? Niklot war genau das. Ein Kompass, dessen Nadel verlässlich gen Norden zeigte.

»Ich gebe das Geld zurück«, lenkte Alfred ein, obwohl Niklot nichts erwidert hatte. »Es ist nicht nötig, dass du Vater hierüber informierst. Du weiß, wie er sich aufregt. Das ist es nicht wert.«

Sein Bruder gab sich geschlagen und kroch zu Kreuze. Dabei hatte Niklot wahrscheinlich bloß die Brauen gehoben.

Durch den Türspalt war nichts zu erkennen, außer der Tischkante und ein Stück vom Tintenfass. Schade. Er hätte zu gern Alfred zusammenschrumpfen sehen.

»Versprich mir, die Finger von Karten und Würfeln zu lassen.« Niklots Stimme grollten vor unterdrücktem Zorn.

»Wie du willst. Aber du verrätst niemandem diese …« Alfred zögerte. »Bagatelle. Darauf gibst du mir dein Wort.«

»Wäre es eine Bagatelle, würdest du mein Wort nicht einfordern.«

»Diese Sache bleibt unter uns!«

»Dann schaff sie aus der Welt.«

Alfred murmelte etwas, das Till nicht verstand. Stuhlbeine scharrten, Schritte näherten sich.

Till blies die Kerze aus, huschte in die Lücke zwischen den beiden Archivschränken. Wenn ihn Alfred beim Lauschen ertappte, konnte er sich auf etwas gefasst machen.

Alfred riss die Tür auf, stapfte an ihm vorbei.

Till hielt den Atem an.

»Komm raus, Grünschnabel.«

Woher wusste Niklot …

»Mach schon, Junge.«

Mit gesenktem Blick schlich er aus seinem Versteck. Dabei hatte Alfred den Bockmist verzapft und nicht er. Schuldig fühlte er sich trotzdem.

Niklots blank geputzte Stiefel, immer mehr seiner langen Beine, die Schöße der Weste, der breite Gürtel.

»Sieh mich an.«

»Das mache ich doch.« Immerhin war er schon bei der Schnürung des Hemdes angekommen.

»Sieh mir in die Augen, Junge.«

Till gehorchte. Es war unmöglich und nie klug, Niklot nicht zu gehorchen. Er war nicht bloß ein Gehilfe. Alfred war ein Idiot, wenn er das dachte. Niklot war Kutscher, Schreiner, Vaters Schreiber und Berater, Wächter über Stofflager und Weinkeller, Lehrer und der Beschützer von jedem unter diesem Dach. Er war viel mehr Vater als Vater, viel mehr großer Bruder als Alfred, viel mehr Freund als jeder Freund, den Till kannte. Niklots Befehle klangen oft nach Bitten und seine Bitten noch öfter nach Befehlen. Till gehorchte in jedem Fall. Vor allem, wenn es darum ging, ihm bei der Arbeit zu helfen. Es machte ihm nicht das Geringste aus. Die mit Niklot verbrachte Zeit war gute Zeit und die Nebenbeigespräche so spannend, dass es schneller Abend wurde, als er zwinkern konnte.

Wenn Niklot von seinen Reisen erzählte, erhoben sich aus dem staubigen Boden des Lagerhauses prunkvolle Paläste, himmelhohe und absonderlich geformte Türme und Beduinenzelte, hinter denen Kamelkarawanen entlangzogen. Aus den Stoffballenstapeln wuchsen Berge, die so weit emporragten, dass man auf dem Weg zur Spitze erfror. Neben endlosen Wüsten breiteten sich undurchdringliche Wälder und sanfte Flusstäler aus und überall lebten exotische Tiere und Menschen. Seltsamerweise schienen die meisten Leute jenseits der Ozeane schwarzhaarig zu sein. Manche flochten sich einen Zopf, bei anderen wallten die Haare den Rücken hinab bis zur Hüfte. Einige malten sich einen Punkt auf die Stirn, was kein Grund zur Sorge war, wieder andere Streifen auf die Wangen, ein sicheres Zeichen, besser schnell das Weite zu suchen. Es gab Menschen, deren Haut war so dunkel, als trügen sie ihr eigenes Stück Nacht mit sich herum, und andere waren so blass, dass sie beim ersten Sonnenstrahl rot wurden. Dazwischen spannten sich zahllose Schattierungen, was Niklots Meinung nach Gottes Freude am Experimentieren bewies. Mit ein wenig gutem Willen auf beiden Seiten käme man miteinander zurecht. Die einzige Ausnahme wären die Perückenträger. Ob in Festrobe oder mit Militärstiefeln an den Füßen, sie würden überall denselben Schaden anrichten und eine Plage für Land und Leute sein.

Vater trug oft eine Perücke.

Offenbar gab es Ausnahmen von der Regel.

Seit Mutters Tod reiste Vater nicht mehr. Stattdessen schickte er seine Handelsvertreter in die Welt. Niklot meinte, die Trauer hätte ihm die Flügel gestutzt. Er könnte das verstehen. Manchmal ginge es ihm ähnlich.

Niklot verriet nie, um wen er trauerte.

»Ich kann dir beim Denken zusehen.« Niklot verschränkte die Arme vor der Brust. »Raus mit der Sprache. Wie viel hast du von dem Gespräch mitbekommen?«

»Nur das mit Alfreds Spielschulden.« Was schlimm genug war, sonst würde der Zorn nicht mehr in Niklots Augen stecken. »Und das mit Roul.« Sein Schwager hatte ihm letztes Jahr die Druckerei gezeigt. Till hatte die Lettern seines Namens in den Winkelhaken einspannen und in die Form eines Kalenderblattes setzen dürfen. Es hing seitdem in seiner Schlafzimmer an der Wand.

»Demnach alles.« Seufzend wandte sich Niklot ab. »Du hast gehört, dass ich Alfred mein Wort gab, niemanden über diese Sache zu informieren.«

Er nickte, obwohl es Niklot nicht sehen konnte.

»Da du bereits Bescheid weißt, breche ich es nicht.« Niklot schlug so plötzlich mit der flachen Hand auf den Tisch, dass Till zusammenzuckte. »Wie kann ein Mann in seinem Alter und dem Buckel voll Verantwortung so leichtsinnig sein?«

Alfred spielte um Geld. Seit wann und wie viel hatte er dabei verloren? Niklots Zorn nach musste es eine Menge sein.

»Dein Bruder sollte endlich heiraten, das würde ihm den Kopf zurechtsetzen.« Mit finsterer Miene begann er hin und her zu laufen. Alle paar Schritte fuhr er sich über den dunklen Bart. »Als hätte Rike ihren Blagen bloß Dummheit mitgegeben.«

Er hielt nicht nur Alfred für dumm, sondern auch Lieve?

Wenn ihn seine Schwester das nächste Mal von oben herab abkanzelte und versuchte, ihn in ihrer Besserwisserei zu ertränken, würde er sich ausgiebig an Niklots Worte erinnern.

»Ich wusste von Anfang an, dass dein Vater mit dieser Frau eine schlechte Wahl getroffen hatte, aber er wollte nicht auf mich hören.« Er sank auf Vaters Stuhl, starrte grimmig vor sich hin.

Rike van Doorn schien vollkommen anders als Mutter gewesen zu sein. Vater sprach nur selten von ihr, und wenn, so oberflächlich, als hätte er das meiste von seiner ersten Frau bereits vergessen, dabei hing ihr Portrait im guten Zimmer gleich neben seinem.

»Eine Frau aus respektabler Familie, fromm und hübsch. Das hat ihm damals genügt.« Niklot schüttelte den Kopf, als könnte er Vaters Entscheidung immer noch nicht fassen.

»Hübsch?« Das musste gewesen sein, bevor der Künstler zu Pinsel und Farbpalette gegriffen hatte. Die hagere Frau auf dem Bild mit den nach unten gezogenen Mundwinkeln sah alt und verhärmt aus. Das einzig Hübsche an ihr waren die Ohrringe. Der Maler hatte sich große Mühe mit ihnen gegeben. Sogar den Lichtschein auf den Perlen hatte er eingefangen.

Jetzt gehörten die Ohrringe Lieve.

»Hübsch, ja«, murmelte Niklot. »Zumindest von außen. Ihr Inneres glich einer unreifen Quitte. Hart und randvoll mit pelziger Säure.«

Ihm wurde der Mund allein vom Zuhören trocken.

»Es gibt Menschen, die tadeln lieber, als zu loben, und ziehen jeden Zügel an, den sie in die Finger bekommen. Auch wenn es klüger wäre, ihn locker zu lassen.« Niklot schnaubte. »Ich habe Hunde und Pferde sanfter dressiert als Rike ihren gesamten Hausstand.«

War das der Grund, weshalb Vater in diesem bedeutungslosen Ton von ihr sprach?

Mutter erwähnte er nie. Er sah sie nur an. Das ließ sich schlecht vermeiden. Ihr Bild hing gegenüber seinem Schreibtisch.

Amelie van Doorn. Es existierte keine schönere Frau als sie.

Und er trug schuld daran, dass sie gestorben war.

»Es ist schon spät«, entschied Niklot und fuhr sich mit beiden Händen durch die offenen Haare. »Ich werde ins Bett gehen.«

»In deines oder in Kätes?« Die Frage schlüpfte ihm schneller aus dem Mund, als er die Lippen schließen konnte. Auch das Grinsen ließ sich nicht verhindern.

Gestern hatte er die beiden erwischt. Niklot hatte fluchend seinen Stiefel nach ihm geworfen, doch erst nach dem zweiten hatte Till die Tür wieder geschlossen.

Was für ein Anblick.

»Gönn dir einen Tag Pause.« Sein Grinsen wurde immer breiter. »Du bist zu alt für Käte. Nicht, dass du schlappmachst.«

Niklot schlug ihm locker aus dem Handgelenk vor die Stirn. Nicht fest, doch es klatschte. »Und du bist zu jung, um dir um solche Dinge Gedanken zu machen. Warte damit, bis du erwachsen bist.«

Den Teufel würde er. Seit sein Schwanz Niklots glich, und nicht mehr einem fett gefressenen Regenwurm, wurden diese Dinge immer interessanter.

Niklot schüttelte seufzend den Kopf. »Was Käte und ich treiben, geht dich nichts an und deinen Vater auch nicht. Also reibe es ihm nicht unter die Nase.«

»Denkst du im Ernst, ich würde mit ihm über so was reden?« Im Leben nicht! »Wie ist das, wenn man den Schwanz in eine Frau steckt? Fühlt es sich besser an, als wenn man es sich selbst …«

Niklots Blick verschloss ihm die Lippen.

»Meine Fragen, deine Antworten?«

Niklot nickte.

»Manchmal könntest du freigiebiger mit deinen Antworten sein.« Das Thema war zu spannend, um zu schweigen.

»Und du manchmal sparsamer mit deinen Fragen.« Niklot hob eine Braue.

Morgen würde er es noch einmal versuchen.

»Eine Warnung auf den Weg.« Plötzlich passte Niklots Miene zum nasskalten Novemberwetter. »Erwische ich dich auch nur ein einziges Mal in der Nähe von Würfeln oder Karten, lege ich dich vor aller Augen übers Knie und prügele dich windelweich.« Er stach ihm mit dem Finger auf die Brust. »Dasselbe würde ich am liebsten mit deinem Bruder tun, aber er ist verdammt noch mal erwachsen.«

Er hatte nur zweimal über Niklots Knie gelegen. Sein Hintern erinnerte sich an derbe Schläge. Das erste Mal lag Jahre zurück. Die Leie war zugefroren gewesen. Das passierte selten und er hatte es noch nie erlebt. Es hatte wunderschön ausgesehen. Über Nacht war aus dem langweiligen Fluss eine glitzernde Straße geworden. Er war sicher gewesen, dass sie in ein verwunschenes Königreich führte.

Niklot hatte ihm verboten, aufs Eis zu gehen. Es wäre zu dünn.

Till hatte es trotzdem getan.

Nach wenigen Schritten hatte es unter seinen Füßen geknirscht. Er war noch nie so schnell gefallen. Wie ein Stein. Die Strömung hatte ihn unters Eis gezogen. Erst der Schreck, dann Kälte, Angst, schließlich die Kette eines Ruderbootes in seinen gefühllosen Fingern. Ihr Knirschen, als er sich ins Leben zurückgezogen hatte. Über ihm der blaueste aller Himmel.

Er war schlotternd und tropfend nach Hause gelaufen. Statt zu versuchen, sich unbemerkt in sein Zimmer zu schleichen und sich vor der Strafe zu retten, war er geradewegs ins Lagerhaus zu Niklot gegangen und hatte ihm alles gestanden.

Der war mit jedem gestotterten Wort blasser geworden.

Danach hatte Till eine Weile nicht mehr sitzen können.

Das zweite Mal war letztes Jahr gewesen. Er hatte Niklot beim Putzen seiner Duellierpistolen zugesehen. Schon der Koffer mit all den wichtigen Dingen und Zutaten war spannend gewesen.

Niklot hatte ihm den gesamten Mechanismus erklärt, wie man die Waffen entriegelte, spannte und lud. Danach hatte er ihm von dem ersten und einzigen Duell erzählt. Ein englischer Landadliger, mit dessen Frau er eine Nacht verbracht hatte. Ich war jung und dumm gewesen, hatte er ihm gestanden. Solche Dinge darf man nur tun, wenn es um die Liebe deines Lebens geht.

Auf die Frage, ob er damit meinte, auf gehörnte Ehemänner zu schießen oder mit deren Frauen zu vögeln, hatte er als Antwort nur gezwinkert.

Die Pistolen waren verziert und wirkten noch edler und wertvoller als Niklots Rasiermesser.

Sie hatten ihm keine Ruhe gelassen.

Am nächsten Tag hatte er sich unbemerkt in Niklots Kammer geschlichen.

Niklot hatte ihm verboten, die Waffen anzurühren.

Er hatte nur eine von ihnen angerührt. Hatte sie geladen und gespannt. Der Teufel hatte ihn geritten, aber er wollte einen Schuss abfeuern. Zielen und treffen. Die Taube auf dem Fensterbrett flatterte unversehrt davon, dafür klaffte im Rahmen ein zersplittertes Loch.

Noch ehe Niklots Schritte die Stiege zum Dröhnen brachten, hatte Till zum ersten Mal in seinem Leben gehört, wie sein Name gebrüllt klang. Voll Angst und uferlosem Schrecken.

Niklot war in die Dachkammer gestürmt, hatte ihm die Waffe aus der Hand gerissen und ihm eine Ohrfeige verpasst, die Till an die Wand geschleudert hatte. Danach hatte er ihn in den Arm gezogen und so fest gehalten, dass Till sicher gewesen war, seine Rippen würden brechen.

Er hatte Niklots Herzschlag an seinem Ohr gehört und gefühlt. Laut und donnernd.

Die eigentliche Tracht Prügel hatte kurz darauf stattgefunden. Heftig genug, um ihm die Tränen in die Augen zu treiben. Danach hatte Niklot ihn wieder umarmt. Weniger fest, dafür länger.

In Niklots Armen war ein guter Platz. Jedenfalls ein sehr viel besserer als bäuchlings auf seinen Knien.

»Kein Glücksspiel.« Niklots Hand landete schwer in Tills Nacken. »Habe ich dein Wort?«

»Ja.« Würfel und Karten bedeuteten ihm nichts.

»Gut.« Niklot fuhr sich müde übers Gesicht. Es wirkte kantig. Das lag nicht am Kinn, das der Bart ohnehin verdeckte, sondern an den Wangen und der Weise, wie sich der Bart an ihnen entlang und an den Ohren vorbei zog. Vielleicht hatte auch die Nase etwas damit zu tun oder die breiten Augenbrauen. Eine Narbe teilte die linke von ihnen und zog sich über die Stirn bis in den Haaransatz.

Kein Gesicht war ihm so vertraut wie Niklots.

»Wieso bist du überhaupt gekommen? Schickt dein Vater nach mir?«

»Ich soll seine Brille holen.« Er könnte Niklot bitten, Vater an seinen Geburtstag zu erinnern.

Niklot nahm die Brille vom Schreibpult und gab sie ihm. »Und jetzt verschwinde und kriech in die Federn. Es ist schon spät.« Langsam ging er zum Fenster und sah in die Dunkelheit auf der anderen Seite.

Wie breit sein Rücken war. Die Weste spannte ein bisschen. Nicht auf die Weise, wie die Weste über Vaters Bauch, die sogar Falten zog, sondern nur so, dass der Rücken stark und verlässlich wirkte.

»Du starrst ein Loch in mich.« Für einen Vorwurf klang Niklot zu gutmütig. »Gute Nacht, Grünschnabel, und vergiss nicht, deine Kerze anzuzünden. Dann musst dich weniger vor deinen Gespenstern fürchten.«

Die Dunkelheit brauchte keine Gespenster, um zu gruseln. Sie war das Gespenst.

Till hielt den Docht an den Leuchter. »Warum knausert Vater mit den Kerzen?«

Niklot reagierte nicht. Er schien tief in Gedanken zu stecken.

Besser, er ließ ihn allein.

Alfred spielte um Geld. Das war schlecht. Er war Vaters rechte Hand. Warum tat er das? Der Ruf der van Doorns war wichtig. Ein Kaufmann, dem die Kunden nicht vertrauten, war die längste Zeit ein Kaufmann gewesen. Vielleicht reichte es dann noch zum Krämer, wenn überhaupt.

Wo hörte eine Bagatelle auf und wo fing Verrat an?

Plötzlich stand er im Studierzimmer, als hätte der Weg durch die Dunkelheit nicht existiert.

Vater sah mit gerunzelter Stirn zu ihm. »Weshalb hat das so lange gedauert?« Er streckte die Hand nach der Brille aus.

Till gab sie ihm. »Ich habe mich mit Niklot unterhalten.«

Vater winkte mit einer ungeduldigen Geste ab. »Das, was ich mit der Brille werde lesen können, wird mir ohnehin nicht gefallen.« Statt sie aufzusetzen, zog er die Perücke vom Kopf und fuhr sich durch die schütteren Haare. »Ich sollte kurz vor dem Schlafengehen erbaulichere Dinge tun, als Verträge zu studieren.« Er wies auf den Stuhl gegenüber dem Schreibtisch und Till setzte sich. »Du weißt, dass Alfred eines Tages meine Geschäfte übernehmen wird.«

»Ja.« Von dieser Art Verantwortung hatte Niklot gesprochen.

»Er wird einen verlässlichen und loyalen Handelsvertreter benötigen. Meiner Erfahrung nach findet man diese Art Geschäftspartner nur in der eigenen Familie.«

Alfred hatte die Grenze zwischen Bagatelle und Verrat überschritten. Die Antwort lag auf dem Tisch wie der Briefbeschwerer.

»Till, ich habe dich für diese Rolle vorgesehen.«

»Mich?« Er würde reisen!

»Noch ist es nicht so weit.« Vater hob die Hand.

Um ihn zu beschwichtigen? Zu spät. Sein Herz galoppierte vor Aufregung.

»Zum einen bist du zu jung, und zum anderen will ich, dass du deine ersten Erfahrungen in Amerika sammelst.«

Neue Kontakte nach Georgia, Kämpfe zwischen Engländern und Franzosen, erschwerte Lieferbedingungen.

Vaters Worte zogen an ihm vorbei.

Er würde all die wundersamen Dinge sehen, von denen ihm Niklot so oft erzählte.

»Dieser Krieg entflammt überall. Wir müssen hoffen, dass Friedrich ihn nicht bis vor unsere Haustür treibt.«

Niklot hatte von Wäldern berichtet. So riesig und menschenleer, dass man sich darin verlief und verhungerte. Oder man wurde von einem wilden Tier gefressen, oder geriet in Kämpfe zwischen Indianerstämmen, oder fiel Wegelagerern in die Hände.

Wegelagerer in menschenleeren Wäldern?

Er musste Niklot dazu fragen.

Am liebsten würde er heute noch seine Sachen packen, dann wäre er in zwei Tagen in Calais, könnte mit einem der prächtigen Segelschiffe in See stechen und …

»Wann kam je etwas Gutes aus Preußen?«

»Was?« Preußen lag irgendwo im Osten. Da sollte es bleiben. Zusammen mit dem Krieg und diesem Friedrich und all den gepuderten Perücken- und Militärstiefelträgern, von denen Niklot ohnehin nichts hielt.

»Krieg verkompliziert alles.« Vater kratzte sich die Stirn an der Stelle, an der die Perücke einen Streifen hinterlassen hatte. »Er hebt die Preise, verlängert die Handelswege, versperrt den Zugang zu neuen Ressourcen. Aber er schafft auch Möglichkeiten. Das darf man nicht unterschätzen. Zwar werden viele arm, aber ein paar …«

»Schickst du mich nach Amerika auch nach Afrika?« Sein Blick flog zu dem Ebenholzelefanten.

»Afrika?«

Ja, Afrika.

»Ich dachte eher an Indien.«

Nein, dort waren die Elefanten zu klein.

»Ich befürchte, du wirst deine Reiseziele Alfred überlassen müssen. Er wird derjenige sein, der dir das Ziel vorgibt.«

»Eines Tages werde ich Afrika bereisen.« Dazu brauchte er keine Erlaubnis, und schon gar nicht Alfreds.

»Dein Enthusiasmus freut mich.« Vater wedelte mit einer müden Geste zur Tür. »Und nun, da das geklärt wäre, lass mich allein.«

Seine Zukunft, das größte Abenteuer aller Zeiten.

Er musste Niklot Bescheid geben. Gleich morgen früh. Vielleicht begleitete er ihn, wie er damals Vater begleitet hatte. Sicherlich existierten mehr Länder auf der Welt, als er aufzählen konnte. Am besten arbeitete er sich durch Vaters dicken Atlas. Auch durch die anderen Bücher über ferne Kontinente. Vaters Bibliothek war groß.

Sein gesamter Körper kribbelte vor Aufregung.

Wie sollte er jetzt schlafen?

In die Küche schleichen und sich ein Glas Wein stehlen? Niemand würde es bemerken. Außerdem wurde er morgen sechzehn.

Das flackernde Licht beleuchtete immer nur ein paar Stufen voraus. Der Rest blieb dunkel wie seine Zukunft. Vaters Pläne erhellten ein Stück von ihr, aber nicht alles.

Hauptsache, Elefanten spielten darin eine Rolle.

Die Küchentür stand offen. Ein leises Klirren, dann ein ärgerliches Schnaufen.

Alfred. Er saß am Tisch, die Füße auf der Kante abgelegt, neben sich ein Glas und eine Flasche Wein. Er starrte in die Flammen des Kamins. Seinen Augen waren rot und glasig.

Er war betrunken. In so kurzer Zeit?

Um sich einen Rausch zu verpassen, hätte der billige Fasswein genügt. Vater sparte sich die Flaschen für besondere Anlässe. Alfred wusste das.

»Till.« Träge wandte er den Kopf zu ihm. »Noch auf den Beinen?«

»Ich war bei Vater.« Von dessen Plänen würde er ihm kein Wort sagen. Alfred würde sich bloß darüber lustig machen.

»Was wollte er von dir?«

»Dass ich ihm die Brille bringe.«

Sein Bruder nickte und wandte sich wieder dem Feuer zu.

Wie sollte er unbemerkt an die Weinflasche kommen?

Es einfach tun.

Er stellte den Kerzenleuchter ab, nahm ein Glas vom Geschirrbrett und schlenderte zum Tisch. Als wäre es das Normalste der Welt, sich abends ein Schlückchen zu gönnen.

War es auch. Nur nicht für ihn.

Gerade als er zur Flasche greifen wollte, packte Alfred ihn am Handgelenk.

»Du willst Wein?« Sein Bruder grinste ihn an. »Du bist ein Kind, also trink Milch.« Sein schäbiges Lachen klang schlapp, wie sich sein Griff anfühlte.

»Ich bin kein Kind mehr.« Er schüttelte Alfreds Hand von sich. »Hättest du Augen im Kopf, wüsstest du das.« So entschlossen wie möglich schnappte er sich die Flasche und trat sicherheitshalber ein paar Schritte zurück, raus aus Alfreds Reichweite.

Alfred nahm behäbig die Beine von Tisch, drehte sich samt Stuhl zu ihm und betrachtete ihn. Sehr gründlich und mit einem Blick, mit dem er ihn noch nie gemustert hatte. »Du hast recht. Du bist kein Kind mehr.« Er lächelte auf dieselbe eigenartige Weise. Sogar der leise Pfiff klang seltsam. »Wie konnte mir das entgehen?«

»Machst du dich über mich lustig?« Wieso starrte ihm Alfred auf die Beine, als hätte er nie welche gesehen?

»Nein, ganz und gar nicht, kleiner Bruder. Ich bin hocherfreut.« Er stemmte die Hände auf den Tisch und wuchtete sich aus dem Stuhl. »Lass uns darauf trinken.« Statt mit ihm anzustoßen, oder ihm vielmehr vorher einzuschenken, leerte er sein Glas und kam zu ihm. »Her mit der Flasche.«

»Ich dachte, du wolltest …«

»Her damit.« Alfred schnappte sie ihm aus der Hand, schwenkte sie prüfend hin und her. »Zu leicht.« Er zwinkerte ähnlich träge, wie er ihn angrinste. »Ich finde, wir sollten zur Feier des Tages aus dem Vollen schöpfen.« Mit schweren Schritten verschwand er in der Speisekammer und kehrte kurz darauf mit einer neuen Flasche zurück. Er entkorkte sie, schnupperte daran und grinste noch breiter. »Ein guter Tropfen.«

Das würde er beurteilen, wenn er endlich einen Schluck davon abbekommen hatte.

»Nimm dein Glas mit. Wir machen einen Ausflug.« Alfred drückte ihm zusätzlich noch sein eigenes samt Flasche in die Hände und griff zum Kerzenleuchter.

Wo wollte er mit ihm hin? Trinken ließ sich auch hier in der Küche.

Alfred verließ sie, ohne sich nach ihm umzusehen.

Till folgte ihm bis zur Hintertür. Ein Abendtrunk unterm Sternenhimmel? Der Rausch schlug Alfred offenbar aufs Gemüt.

Alfred bog in den Gang mit den Wäscheschränken ab und blieb vor der Verbindungstür zum Lagerhaus stehen. Er nahm den Schlüssel vom Haken und schloss auf.

»Bist du verrückt geworden?« Im Lager war es nachts stockdunkel, aber deshalb durfte Alfred darin trotzdem nicht mit Kerzen hantieren. »Vater trifft der Schlag, wenn er davon erfährt!« Ein Funke und der Wohlstand der van Doorns ging in einem Flammenmeer auf. »Nimm wenigstens die Laterne!«

»Psst!«, zischte Alfred und zog die Tür auf. »Willst du das ganze Haus aufwecken?«

Da gab es nichts zu wecken. Vater brütete über Verträgen und Niklot vögelte Käte. Piet war Lärm grundsätzlich gleichgültig und Tinne schnarchte so laut, dass er in stillen Nächten das Dröhnen aus der Dachkammer bis in sein Zimmer hörte.

»Du kannst nicht mit offenem Feuer zwischen den Stoffballen hin und her schwanken!« Das war Wahnsinn!

»Ich schwanke nicht.« Alfred packte ihn an der Schulter und zog ihn mit sich. »Vertrau mir. Ich weiß, was ich tue.« Er nahm ihm die Weinflasche wieder ab und ging mitten hinein in grausige Dunkelheit. »Zieh die Tür hinter dir zu.«

Auch das noch.

Der Kerzenschein taugte bloß dazu, dass er wusste, wo Alfred langging.

Immer dem flackernden und viel zu schwachen Licht hinterher. Schon nach ein paar Schritten fühlte es sich an, als würden ihn die aufragenden Ballenstapel schlucken. Die Gassen dazwischen wurden enger und dunkler.

»Wo willst du hin?«

Alfred antwortete nicht. Er lief einfach weiter. Haarscharf an den Ballen aus Atlas- und Brokatstoffen vorbei, für die Vater ein Vermögen bezahlt hatte.

Wenn Niklot hiervon erfuhr, war seine dritte Tracht Prügel fällig.

»Ich mag das Lagerhaus.« Alfred warf ihm einen flüchtigen Blick über die Schulter zu. »Hier ist man ungestört.«

»Das wären wir in der Küche ebenfalls gewesen.« Außerdem war es dort wärmer und heller.

Alfred lachte. Er schien das Näherrücken der flackernden Schatten nicht zu bemerken.

Beneidenswert.

»Warum seufzt du so schwer? Bedrückt dich etwas?«

»Nein.« Jeder verfluchte Ballen, aber das würde er ihm gewiss nicht auf die Nase binden.

»Gut.« Alfred ließ den Arm schlenkern, dessen Hand die Flasche hielt. Erst als er den hintersten Winkel des Lagers erreichte, blieb er stehen. Er zog eine Kiste heran und stellte Kerzenständer, Flasche und Glas darauf.

Die Ballen mit der hellgelben Seide. Vaters Fehlkauf. Niklot meinte, die Farbe sähe aus wie die Eidotter schlecht gefütterter Hennen.

Bei Kerzenschein wirkte sie leuchtender als bei Tageslicht.

Alfred folgte seinem Blick. »Setz dich drauf.«

»Den Teufel werde ich!«

Alfred packte ihn und hievte ihn auf die Ballen. »Bei Gott«, keuchte er. »Du bist schwer.« Einen Moment ließ er seine Hände rechts und links von Till liegen. »Wann habe ich dich das letzte Mal hochgehoben?«

»Nie, und jetzt her mit dem Wein.« Er hatte ihn sich verdient. Schon weil er Alfred hierher gefolgt war.

Was sollte dieses schmale Lächeln?

Alfred goss beide Gläser voll und gab ihm eines. »Auf meinen kleinen Bruder, der so gern ein Mann sein möchte.« Er prostete ihm zu.

»Was heißt möchte? Ich werde morgen sechzehn!« Weshalb hatte das jeder vergessen?

»Sechzehn!« Alfred schürzte die Lippen, ehe er einen gehörigen Schluck trank. »Mit sechzehn kannst du alles Mögliche sein, aber niemals ein Mann.«

Wenn es seinem Bruder nur darum ging, ihn zu verspotten, hätte er das auch in der Küche tun können.

Alfred wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Für mich siehst du aus wie gestern und da warst du noch mein kleiner Bruder.«

»Du hast gekeucht, als du mich hochgehoben hast.«

»Das hat nichts mit deiner Größe zu tun.« Alfred zuckte mit den Schultern. »Wenn du recht hast, musst du es mir beweisen.«

»Einen Scheißdreck muss ich.« Es gab genug Anzeichen. Einige waren interessant, andere brachten ihn aus der Fassung. Mittlerweile fast täglich, aber bevor er Alfred davon erzählte, biss er sich lieber die Zunge ab.

Plötzlich fühlten sich seine Wangen heiß an.

»Na gut.« Alfred hob erneut sein Glas. »Dann trink auch wie ein Mann.«

Till sparte sich die Geste.

Der Wein leuchtete blutrot im Schein der Kerzen und ließ ihn nach dem ersten Schluck nach Luft schnappen.

Alfred lachte. »Wie ich sagte, ein guter Tropfen und dem Anlass angemessen.«

Till versuchte einen zweiten Schluck. Auf eine niederschmetternde Weise schmeckte der Wein. Auch beim dritten und vierten Mal.

»So ist es brav.« Alfreds Schlenker mit der Hand hieß ihn, auszutrinken. Kaum war das geschehen, goss er ihm nach. »Der erste Rausch ist ein bedeutender Meilenstein im Leben eines Mannes. Ich empfinde es als Ehre, dir bei diesem Erlebnis Gesellschaft leisten zu dürfen.«

Wo blieb das spöttische Lachen?

Egal.

Mit jedem Schluck wurde ihm wärmer.

Alfred stellte sich vor ihn. So dicht, dass er Tills Knie berührte. »Wie fühlt es sich an?«

»Komisch.« Sein Herz klopfte anders als sonst. Auch mit seinem Kopf stimmte etwas nicht. Als wäre er weich und schwammig.

»Weißt du, wie dich die Leute heimlich nennen?« Alfred neigte die Flasche und in Tills Glas plätscherte es. »Jedermanns Sohn.«

Irgendwo hatte er diesen Begriff schon einmal gehört.

»Und weißt du auch, was das bedeutet?« Er legte seinen Unterarm auf Tills Bein ab.

»Nein, und ich bin nicht jedermanns Sohn.« Da war er sicher. Jedermann schloss jeden Mann mit ein. Er hätte der Sohn vom Fleischer, vom Apotheker und vom Bäcker sein müssen, von jedem Gaukler, der durch die Stadt zog, von jedem Bauern, der seine Waren auf dem Markt anbot. Sogar der von Mijnheer Wouters. Aber das war er nicht. »Ich bin Vaters Sohn und bald werde ich auch sein Handelsvertreter sein.« Nein, Alfreds. Oder?

»So, wirst du das?« Sein Bruder hob die Brauen.

Und ob. Da musste er ihn gar nicht so komisch ansehen.

»Deine Mutter war eine Schönheit.« Alfred leerte sein Glas, stellte es hinter sich auf die Kiste. »Als Vater sie zur Frau nahm, war ich etwa so alt wie du jetzt, also ebenfalls kein Kind mehr.« Er zwinkerte viel langsamer als Niklot. Der deutete die Geste bloß an. »Ich gestehe, ich war von der Wahl unseres Vaters beeindruckt.«

Wieso sprach Alfred von Mutter? Sie ging ihn nichts an. Er hatte seine eigene gehabt.

Beide waren tot.

Weshalb starben Mütter so oft?

»Anfangs dachte ich, du würdest mit deinen schwarzen Haaren und dunklen Augen nach ihr kommen, was zweifellos zu deinem Vorteil wäre.« Alfred lachte leise. »Niemand unterstellt unserem Vater Schönheit. Er ist wohlhabend und einflussreich. Das genügt für einen Mann seines Standes. Er muss nicht einmal besonders groß und stattlich sein.«

Niklot war stattlich.

»Allerdings glich deine Mutter einer Elfe. Du hingegen scheinst eines Tages größer zu werden, als ich es bin.« Alfred legte ihm die Hände auf die Knie. »Ihre Schönheit hast du trotzdem geerbt.«

Er stand zu nah, roch nach Wein und seine Augen sahen unheimlich aus.

»Till van Doorn.« Alfred schnalzte. »Jedermanns Sohn.«

»Hör auf, das zu sagen.« Ihm wurde komisch. Es war zu warm hier, außerdem konnte er nur verschwommen sehen. »Ich will zurück.« Alfred ließ sich nicht zur Seite schieben. »Geh weg!«

Alfred rührte sich nicht vom Fleck. »Was ist los? Hast du schon genug?« Er hielt ihm das Glas an die Lippen. »Trink, dann geht es dir besser.«

»Ich will nicht mehr trinken. Mir ist …«

»Oh doch, das willst du.« Alfred packte ihn im Genick und hielt ihn fest. »Also los. Trink.«

Der Wein floss ihm in den Mund, wieder raus, rann ihm übers Kinn. Alles begann sich zu drehen. Dazwischen Alfreds Gesicht. Nein, es war nicht das seines Bruders. Es war eine Maske aus Schwarz und ein paar goldenen, flackernden Linien. Keine Augen, nur dunkle Löcher.

Die Kerze. Es lag an ihrem Licht. Es verwandelte seinen Bruder in einen Dämon.

»Alfred?« Gott, schlug sein Herz wild.

»Ja?«

»Bist du’s noch?«

Der Dämon lachte, wurde wieder zu einem Menschen. »Wer soll ich sonst sein?«

Etwas, das Angst machte.

»Beruhige dich, kleiner Bruder.« Alfred ließ seinen Nacken los und legte ihm die Hände wieder auf die Knie. »Wir werden jetzt beide herausfinden, wer du bist.« Langsam glitten eben diese viel zu warmen Hände aufwärts über Tills Oberschenkel. »Es hat etwas mit diesem speziellen Ort zu tun und vielleicht gefällt es dir so gut, dass du mich öfter hier treffen möchtest.«

Nicht nachts. Nicht im Dunklen.

Ihm war heiß.

»Du glühst ja förmlich.« Alfred knöpfte ihm die Weste auf. Kaum war er unten angekommen, machte er mit der Culotte weiter.

»Finger weg von meinem Latz.« Er sollte sie wegschlagen.

Er konnte nur zusehen.

Alfred zupfte ihm das Hemd aus dem Bund, tastete sich zwischen Tills Beine.

Er fasst meinen Schwanz an.

Dieser Gedanke war unmöglich. Er musste sich irren. Vor ihm stand Alfred. Sein Bruder.

Ihm glitt ein Schauder über den Rücken. Es fühlte sich gut an.

Alfred pfiff leise. »Sieh an, mein kleiner Bruder ist tatsächlich schon ein Mann.« Er griff zu.

Till stieß einen erschrockenen Laut aus.

»Nicht so empfindlich«, raunte ein Fremder, der niemals sein Bruder sein konnte, denn Brüder fassten einander nicht an die Schwänze. »Wir haben erst begonnen.«

Ihm sagen, dass er ihn loslassen und sich zum Teufel scheren sollte. Stattdessen sah er sich dabei zu, wie er in Alfreds Faust stieß.

Mit der freien Hand fuhr ihm Alfred unter das Hemd. »Es scheint, du hast Übung in diesen Dingen.«

Ihm entkam ein Stöhnen. Er biss sich auf die Lippen, stöhnte trotzdem weiter.

Alfreds Gesicht war zu nah.

Till schloss die Augen.

Alfred kniff ihm in den Nippel.

Till stöhnte doppelt so laut, dabei hatte es wehgetan.

Ein wilder, grober Traum. Er würde jeden Moment erwachen und feststellen, dass er sich ins Hemd gespritzt hatte. Ab und zu passierte ihm das.

»Du magst es«, wisperte es außerhalb dieses heißen, zähen Aufruhrs in ihm. »Ich dachte mir, dass du deiner Mutter auch in diesen Dingen ähnelst.«

Was? »Ich bin nicht …«

Alfred griff ihn fest am Zopf, zog ihm den Kopf in den Nacken. »Bei der Schönheit deiner Mutter«, keuchte er ihm gegen den Hals. »Schwöre mir, dass du mit niemandem hierüber sprichst.«

Noch ein Geheimnis.

Was war schlimmer? Vaters Geld zu verspielen oder sich von dem eigenen Bruder den Schwanz reiben zu lassen?

Heiße, nasse Lippen. Sie saugten an seiner Kehle. Das Harte waren Zähne. Sie bissen zu. Nicht zu fest, aber so, dass er immer heftiger stöhnen musste. Auch Alfred gab seltsame Laute von sich. Zusammen klangen sie fast wie Niklot und Käte.

Würde Niklot doch kommen und einen Stiefel nach ihm werfen.

»Schwöre es!«

Till konnte nicht schwören. Er konnte gar nichts mehr. In seinem Unterleib polterten heiße Felsen übereinander. Je schneller Alfred an ihm herumrieb, umso glühender wurden sie.

»Leg dich hin«, befahl Alfred heiser und drängte ihn zurück.

Die Kälte der Seide an seinem Rücken. Von oben bis unten jagte eine Gänsehaut über ihn hinweg.

Alfred schob ihm das Hemd bis zum Hals hinauf, fiel über Tills Nippel her.

Das waren keine Küsse. So nass waren die nicht.

Alfred leckte ihn. Nippel, Brust, Bauch, tiefer. So tief, dass er mit der Zunge fast …

Nasses, enges Saugen.

Till schrie auf, hielt sich den Mund zu.

Alfred ließ von ihm ab. »Spare dir das Schreien. Aber auf jeden anderen Laut bin ich begierig, also nimm die Hand weg.«

Till schüttelte den Kopf.

Alfred riss sie ihm vom Mund. »Die Stoffe schlucken dein Stöhnen. Rate, weshalb ich dich hergebracht habe.« Er stülpte seine Lippen erneut um dieses pulsierende Ding zwischen seinen Beinen. Er nuckelte an ihm herum, als gelte es, alles aus ihm herauszusaugen.

Till krallte sich in die Schulter seines Bruders.

Der schmatzte lauter, saugte fester.

Die Welt drehte sich um ihn. Zu schnell, um zu atmen. Dabei keuchte er, stöhnte, aber es brachte ihm keine Luft in die Lungen. Ihm wurde immer schwindeliger. Sein Unterleib krampfte. Trotzdem war es das, was er wollte. Wenn nur dieser Druck endlich aufhören würde.

Harte Glut. Sie musste schmelzen, oder er würde …