Spiegelbrüder - S. B. Sasori - E-Book

Spiegelbrüder E-Book

S.B. Sasori

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Beschreibung

Jede Nacht träumt Jaron von Léan. Jeden Morgen erwacht er in einem Zimmer in New Orleans, blickt in den Spiegel und hofft, seinen toten Zwillingsbruder zu sehen.
Bis Mr. Bennett an seine Tür klopft und Jaron an ihren Deal erinnert; sich ihm zur Verfügung zu stellen und am Leben zu bleiben.
Auch wenn ihn die erotischen Forderungen des Mannes bei Verstand halten, so kann er ihm dennoch nicht vergeben, dass er ihn damals aus der Besserungsanstalt gerettet und Léan zurückgelassen hatte.
Jaron ahnt, dass Bennet etwas vor ihm verbirgt, das mit seinem toten Bruder in Zusammenhang steht. Bei dem Versuch, das Geheimnis zu lüften, stößt er auf einen sonderbaren Hinweis.
Er führt ihn mitten hinein in die Sümpfe Louisianas.

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Spiegelbrüder – Joanas Söhne
1. Prolog
2. Detroit
3. St. Helens Home for lost Children
4. Schlangen im Paradies
5. Der erste Stein
6. Bitten und Geben
7. Nur ein Monat
8. Novembertag
9. New Orleans
10. Second Line
11. In den Sümpfen
12. Herzkönig
13. Epilog
Weitere Romane von S.B. Sasori

Spiegelbrüder – Joanas Söhne

Ein homoerotischer Roman

Copyright © 2024 S.B. SASORI

Erstveröffentlichung 2018

Alle Rechte vorbehalten.

https://sbnachtgeschichten.com

E-Books dürfen nicht kopiert oder weiterverkauft werden. Bitte denkt daran und wertschätzt mit eurem fairen Verhalten die Arbeit der Autor*innen, die viel Mühe und Zeit in ihre Geschichten stecken.

Wie bei allen fiktiven Romanen gilt auch bei diesem: Sämtliche Personen und Ereignisse sind frei erfunden.

Bildmaterial: shutterstock.com; Flavio Palermo

Coverschrift: Marbre © Youssef Habchi

Korrektorat: Ingrid Kunantz, Bernd Frielingsdorf

Liedtext: ©Leonard Cohen

If you are the dealer, I'm out of the game

If you are the healer, it means I'm broken and lame

If thine is the glory then mine must be the shame

You want it darker

We kill the flame

© Leonard Cohen

1. Prolog

»Jaron!« Léan rannte aus dem Haus. »Jaron! Bleib hier!«

Rogers tauchte hinter ihm auf, packte ihn.

»Jaron!« So viel Angst im Blick. So entsetzlich viel Angst!

»Ich muss zu ihm!« Jaron wehrte sich in Bennetts Griff. »Rogers darf meinen Bruder nicht anfassen!« Er musste zu ihm. Ihn beschützen.

»Gib Ruhe!«, zischte Bennett und versuchte ihn in den Wagen zu drängen. »Du machst es für dich und ihn schlimmer, als es ohnehin schon ist.« Er keuchte vor Anstrengung.

»Jaron!« Léans Stimme überschlug sich. Er trat nach Rogers. Der fluchte, ließ ihn jedoch nicht los.

»Mr. Bennett, bitte! Sie dürfen uns nicht trennen!«

Cruz kam Bennett zu Hilfe. Gemeinsam zwangen sie ihn auf die Rückbank, schlugen die Tür zu.

»Lasst mich raus!« Er zerrte am Griff. Die Tür blieb geschlossen. Eine Kindersicherung? Diese Schweine! »Lasst mich raus!«

Léan starrte zu ihm. Kreidebleich im Gesicht. Er bäumte sich in Rogers Umklammerung auf.

Rogers verpasste ihm einen Schlag, doch Léan reagierte nicht darauf.

Er musste aus diesem beschissenen Auto raus!

Bennett stieg zu ihm in den Fond, schüttelte ihn. »Hör auf oder ich verpasse dir eine!«

»Ich muss zu meinem Bruder!«

»Nein, musst du nicht!«

»Ich war immer bei ihm! Ich muss ihn beschützen! Rogers wird ihm etwas antun, Sie wissen das!« Oh Gott! »Léan!« Er hämmerte mit den Fäusten gegen die Seitenscheibe.

Léan schleuderte den Kopf nach hinten, traf Rogers Gesicht.

Blut floss über die wulstigen Lippen.

Rogers würde ihn fertigmachen. So wie es Mr. Vince getan hatte.

»Léan!«

Er war der Stärkere von ihnen. Er war derjenige, der auf Léan aufpasste, der ihn beschützte, der Schweinen wie Rogers Grenzen setzte, damit Léan mit heiler Haut den Tag überstand.

Er hatte nur einmal versagt.

Jaron warf sich gegen die Tür.

»Cruz!«, brüllte Bennett. »Fahr endlich!«

»Léan!« Jaron schrie, bis seine Stimme brach.

Rogers rang Léan nieder, hockte sich auf ihn.

Wie damals. Ein Albtraum. Er würde in Blut und Angst ertrinken.

»Léan!«

Quietschende Reifen.

Léans Kopf fiel nach vorn. Mit der Stirn auf den Boden.

Rogers zerrte ihn auf die Beine, doch sein Bruder sackte zusammen. Eine Lumpenpuppe ohne Knochen, ohne Muskeln, ohne Leben in den Augen.

»Scheiße!« Bennett tippte aufs Handy. »Blake! Schick Rogers zum Teufel! Er soll die Finger von Léan lassen!«

Die Backsteinmauer.

Léan, der kleiner und kleiner wurde.

»Er wird sterben.« Sein Magen krampfte. Gallebitter klatschte es in den Fußraum.

»Nein, wird er nicht.« Bennett reichte ihm ein Taschentuch. »Blake ist gleich bei ihm. Alles wird gut.«

Léan starb. In diesem Moment. Weil er ihn nicht hielt, nicht das Blut zurück in die Wunde drückte, die ihm ein Monster in den Bauch geschnitten hatte.

Ein Monster wie Rogers. Nur mit einem anderen Namen.

»Verdammt!«

Jaron wurde nach vorn geschleudert, stieß mit der Stirn gegen die Rückenlehne.

»Dieser Idiot!« Cruz hupte.

Ein Mann. Mitten auf der Straße. Alles an ihm war schwarz. Der Zylinder, das Gesicht, die Sonnenbrille, der Anzug, der Regenschirm. Nur nicht das Hemd, das war schneeweiß.

Er schlenderte um den Wagen, neigte sich hinab, lächelte Jaron durch die Seitenscheibe an.

»Helfen Sie mir!« Gott! Bitte! »Ich muss zu meinem Bruder! Ich werde entführt!«

»Einen Scheiß wirst du!« Bennett hielt ihm den Mund zu.

Jaron schlug seine Hand weg. »Mister! Bitte! Helfen Sie mir!«

Der Mann nickte, klopfte sacht mit dem Schirmgriff gegen das Autodach. Dann drehte er sich um, verschwand zwischen den Tabakpflanzen.

»Was zum Teufel …« Bennett starrte ihm nach.

Die Torflügel schlossen sich.

»Léan!« Jaron schreckte hoch. Sein Herz donnerte hart wie Faustschläge gegen eine Seitenscheibe.

Salzige Trauer auf den Lippen. Sie rann ihm aus den Augen, riss Stücke aus seiner Seele.

Der schlimmste Augenblick seines Lebens. Er wiederholte sich Nacht für Nacht.

Jaron fuhr sich durch die verschwitzten Haare, versuchte, den Traum festzuhalten. Er war alles, was er noch von Léan besaß.

Der ummauerte Hof des Heimes wurde zu dem Zimmer in New Orleans, die schlammige Straße zwischen den Tabakfeldern zu dem wasserfleckigen Dielenboden.

Jaron starrte auf die Reste der Tapete, sah stattdessen das schreckverzerrte Gesicht seines Bruders. Die Hilflosigkeit in seinem Blick, die unsägliche Angst.

Für einen Moment fiel ihm das Atmen schwer.

Fünf Jahre. Es fühlte sich an, als wäre es gestern geschehen.

Er zerrte sich das nass geschwitzte Shirt vom Leib, klatschte es auf den Boden.

Es war zu stickig.

Tief atmend lehnte er sich aus dem Fenster, aber was ihm entgegendrang, legte sich feucht und bleiern auf die Lungen.

Unter ihm erwachte die Frenchmen Street. Friedlich und ruhig, als wäre alles gut.

Ein schönes Gefühl. Er klammerte sich daran.

Mit Léans Hilfeschreien im Ohr konnte er keinen geraden Schritt in den Tag setzen. Ohne sie jedoch auch nicht. Dieser Abend im St. Helens würde ihn niemals in Ruhe lassen. Irgendwann würde er ihn verschlingen und ein wimmerndes Etwas zurücklassen. Zerfressen von Schuldgefühlen und Trauer.

Und Wut. Einer unendlichen Wut. Sie steckte wie ein Dorn in seinem Herz. Auf sich selbst, auf Dr. Alves, auf den Reverend.

In der ersten Zeit bei Bennett war er kurz davor gewesen, sich eine Waffe zu kaufen, Alves ausfindig zu machen und ihn über den Haufen zu schießen. Bennett hatte es ihm ausgeredet. Das wäre sein Job und den würde er sich nicht wegnehmen lassen.

Bennet. Ein Erzieher, ein Vertrauter, ein Feind und schließlich der Mann, der ihn fickte, und das verdammt gut.

Im Gegensatz zu ihm schätzte Bennett die schwüle Hitze der Stadt. Er liebte es, wenn Jarons Hemd vor Schweiß klamm wurde und die Nippel durch den dünnen Stoff schimmerten. Manchmal genügte es ihm, sie nur zu betrachten, oft saugte er jedoch so fest an ihnen, bis sich Jaron auf die Lippen beißen musste, um nicht aufzuschreien.

Zu Beginn ihrer kranken Beziehung hatte er Bennett gehasst. Nicht nur, weil er ihn von Léan getrennt hatte, auch, weil er ihn am Leben hielt. An schlimmen Tagen zwang er ihm so viele Gefühle auf, bis er fast daran erstickte. Lust, Schmerz, eine Hilflosigkeit bis zur Ohnmacht, aus der ihn Bennett jedes Mal zurückfickte.

Einmal hatte er dennoch zum Messer gegriffen. Obwohl Bennetts Saft aus ihm herauslief und ihm schwindelig von all dem war, was ihm Bennett zugemutet hatte.

Dieses Mal hatte Bennett es ihm nicht aus der Hand geschlagen, sondern sich nur mit seinem typischen Gentlemanlächeln das Hemd aufgeknöpft und ihm seine Brust dargeboten.

Er solle zustechen. Danach ginge es ihm besser. Es wäre kein Mord, nur die Erfüllung ihres Deals.

Die Polizei würde das anders sehen.

Bennett hatte die Schultern gezuckt und gemeint, so nah an den Sümpfen wäre es leicht, eine Leiche verschwinden zu lassen. Ob er Lust auf einen Ausflug in die Wetlands hätte.

Jaron war das Messer aus der Hand gefallen.

Am nächsten Tag hatte ihm Bennett einen Job besorgt.

Der Job war okay, hielt ihn über Wasser. Nicht nur finanziell, auch mental. Trotz gelegentlicher Abstürze schaffte er es, sich zusammenzureißen. Das war alles, was zählte. Sein Bruder hätte es nicht ertragen, wenn er in der Gosse verkommen würde. In diesem Punkt hatte Bennett recht.

Jaron war immer der Starke von ihnen gewesen. Wer stark war, kümmerte sich. Wer schwach war, forderte Schutz ein. So war es fair, so gehörte es sich. Er war es Léan schuldig, stark zu bleiben. Er war es ihm auch schuldig, glücklich zu sein, doch das ging nicht ohne ihn.

Er vermisste ihn in jedem Moment.

Während die Morgensonne die Dächer mit Gold überzog, stellte er sich vor, wie Léan heute aussehen würde. Ein Ritual, ohne das kein Tag begann.

Der Spiegel neben dem Bett war fleckig und in den Ecken blind, aber das machte nichts.

Jaron blickte sich in die Augen, sah sein Gesicht. Dann geschah es.

Seine Nase wurde schmaler, seine Augen ein wenig größer und in der linken Braue bildet sich eine Lücke. Die Narbe. Léan verdankte sie ihm. Es war keine Absicht gewesen. Sie hatten als Kinder oft zum Spaß miteinander gekämpft.

Léan lächelte ihn aus dem Spiegel an.

Jaron lächelte zurück.

Bennetts Handy klingelte. Kein Problem, es durch die dünnen Wände zu hören.

Léan verschwand.

Ein Schnitt mit einem scharfen Messer, unvorhersehbar, viel zu schnell, um einzugreifen.

Nein. Zwischen ihm und seinem Leben gab es eine Absprache. Er würde nicht auf es einprügeln, solange es ihm treu blieb und ihm folgte wie ein herrenloser Hund. Auch wenn er es nicht wollte, es längst nicht mehr brauchte. Zwar fütterte er es nur selten und noch seltener brachte er es über sich, es zu streicheln, doch er schaffte es, seine Anwesenheit zu ertragen.

Bennetts Fluchen drang aus seinem Zimmer. Wahrscheinlich hatte er erst vor wenigen Stunden ins Bett gefunden. Vergangene Nacht hatten die Coquins in Timberlane gespielt.

Wenn Bennett den Kontrabass zupfte, spürten selbst Mumien den Rhythmus im gestockten Blut.

Es klingelte immer noch.

Bennett fluchte erneut, es schepperte.

Anscheinend hatte er das Ding an die Wand geworfen.

Jaron schlich sich an Bennetts Tür vorbei zur Küche, kochte sich einen Kaffee. Radiomusik wäre schön gewesen, doch jede weitere Störung würde Bennetts Laune ins Bodenlose rutschen lassen. Er schlief meistens bis weit über den Mittag hinaus. Oft lag er noch im Bett, wenn Jaron von der Arbeit kam.

Mit einer Tasse Kaffee bewaffnet setzte er sich aufs Fensterbrett.

Der Tag musste funktionieren. So wie gestern funktioniert hatte, so wie morgen funktionieren würde. Ohne Zwischenfälle, ohne Abstürze, ohne an einem Ort aufzuwachen, den er nicht wiedererkannte. Mittlerweile war er gut im Schmieden von Durchhalteplänen.

Seine Chefin lief unten entlang. Zu früh. Das Marigny öffnete erst um acht.

»Morgen, Jaron!« Sie winkte ihm. »Oben ohne steht dir gut.«

»Danke.« Er prostete ihr mit dem Kaffeebecher zu.

Sue war nett und als Chefin unkompliziert. Manchmal verabredeten sie sich zum Tanzen. Hatte sie zu viel getrunken, wollte sie danach mit ihm ins Bett. Er lehnte jedes Mal ab. Wenn er Sex brauchte, ging er zu Bennett. Dessen Rücksichtslosigkeit schmerzte und fühlte sich nach Bestrafung statt nach Zuwendung an, aber das war gut so.

»Wir sehen uns«, rief sie zu laut zu ihm hinauf.

Jaron legte den Zeigefinger an die Lippen. Bennett schlief, verdammt!

Sue zog den Kopf ein. »Tut mir leid. Chris schläft noch, ja?«

Jeder im Viertel wusste, dass Mr. Chris Bennett bis in die Puppen im Bett blieb.

»Morgen, Junge.«

»Jesus!« Beinahe wäre er aus dem Fenster gefallen. »Wieso sind Sie schon auf?«

Bennett fuhr sich durch die akkurat geschnittenen Haare. »Das Handy hat geklingelt.«

»Und? Ist es kaputt?«

»Warum sollte es?«

»Es klang, als hätten Sie es an die Wand geworfen.«

»Nein, habe ich nicht. Aber ich hätte es gern mit dem Idioten getan, der sich verwählt hat.« Er schlurfte zum Herd, setzte frisches Wasser auf. »Wir spielen heute Abend im Snug Harbor. Kommst du?«

»Wow!« Meist spielten die Coquins in kleineren Clubs.

»Ja, finde ich auch.« Das Grinsen durch die Morgenblässe verwandelte Bennetts Gesicht in etwas Schädelähnliches.

»Kommt Ella?« Ab und zu traf sie sich mit Bennett. Dann kam er erst am nächsten Tag zurück. Vielleicht schlief er mit ihr. Vielleicht auch nicht. Das war seine Sache.

Mittlerweile hatte er ihr verziehen, dass sie für den Reverend gearbeitet hatte.

»Du hast wieder von Léan geträumt.« Bennetts Seitenblick streifte ihn, während er heißes Wasser über das Kaffeepulver goss. »Ich habe gehört, wie du seinen Namen gerufen hast.«

»Tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe.«

»Kommst du klar?«, fragte Bennett.

»Ich träume immer öfter von ihm.«

»Danach habe ich nicht gefragt.«

»Ja, Sir. Ich komme klar.«

»Gut.« Bennett blies den Dampf von der Tasse.

Er sah müde aus.

Jaron rutschte von der Fensterbank, stellte sich vor ihn. »Ich will es wiedergutmachen.« Nur ein Angebot, um Bennett den Morgen zu versüßen. Außerdem genoss er es, wenn sich Bennett an ihm befriedigte. Es lenkte ihn an Tagen wie diesem von schwarzen Gedanken ab, stillte den Hauthunger, der ihn jedes Mal nach dem Traum quälte.

Bennett ließ den Blick über ihn gleiten, bevor er die Lider schloss und tief einatmete. »Dein Duft überwältigt mich jedes Mal aufs Neue.« Er legte ihm die Hände auf die Hüfte, dirigierte ihn näher zu sich. »Auch wenn mich anfangs die scharfe Note nach Albtraumnächten irritiert hat.« Sacht küsste er ihn auf den Hals, hinunter bis zum Schlüsselbein.

Jaron hob den Arm.

Bennett leckte ihm seufzend die Achsel, griff sich in die Pyjamahose und befreite seinen bereits halb steifen Schwanz. »Was ist mit dir?« Erneut glitt die Zunge über die empfindliche Stelle.

»Ich will Ihnen nur zusehen, Sir.«

Der Blick aus den grauen Augen verschleierte sich. »Dann komm näher.« Er zog ihn zu sich, bis seine Spitze an Jarons Leiste drückte.

Jaron presste sich die Hand gegen die Härte. Nur Druck. Kein Reiben. Vielleicht später, wenn er allein war.

Bennetts Keuchen wurde lauter, seine Zunge gieriger. Er rieb sich schneller, saugte an empfindsamer Haut.

Jaron biss sich auf die Lippen, um die Erregung zu kontrollieren.

Ein tiefes Aufstöhnen und Bennetts Saft spritze ihm auf den Bauch.

Jaron rannen heiße Schauder durch den Leib.

Nasse Lippen streiften seine. Sie schmeckten nach seinem Schweiß.

»Lecken Sie mich ab.« Manchmal tat er ihm den Gefallen. »Bitte.«

Bennett fuhr ihm mit breiter Zunge über die Nippel, zog eine feuchte Spur bis zu den Schlieren.

Jaron legte den Kopf in den Nacken, gab sich Bennetts Liebkosungen hin.

»Du bist steinhart.« Er lächelte zu ihm hinauf. »Bist du sicher, dass du nicht kommen willst?« Er presste ihm den Schaft gegen den Unterbauch.

»Heute nicht. Aber danke für das Angebot.« Es fiel ihm schwer, es abzulehnen.

»Dann mach es dir selbst.« Er zog ihm die Shorts hinab, nahm Jarons Hand, schloss ihm die Finger um den Schwanz. »Sag Bescheid, bevor es dir kommt. Sonst verschwendest du deine Sahne auf dem Boden statt in meinem Mund.« Während er am Kaffee nippte, drückte er Jarons Faust zusammen. »Was ist? Soll ich dich loslassen oder weitermachen?«

»Weitermachen.« Es fühlte sich so gut an.

Langsam und fest glitt seine Hand in dem fremden Griff auf und ab.

»Willst du wirklich kommen?«, fragte Bennett leise.

Der Druck wuchs an.

Jaron stöhnte, um ihn kontrollieren zu können.

»Willst du dich damit bestrafen, werde ich dich zum Orgasmus zwingen. Willst du dich mit dem Verzicht läutern, höre ich kurz davor auf.«

Er schien genau zu wissen, wie es sich anfühlte, von Schuld erstickt zu werden.

»Nach dem ersten Tropfen.« Wenn das Ziehen am stärksten war.

Bennett nickte, hob Jarons Kinn an. »Sieh mir dabei in die Augen, dann weiß ich, wie es um dich steht.«

Dasselbe hatte er früher zu Léan gesagt. Aus ähnlichen Gründen.

Er ließ sich in den aufmerksamen Blick fallen, atmete gegen das Glühen in seinem Inneren an. Die Versuchung, in die eigene Faust zu stoßen, war unendlich; dass sie von Bennett geführt wurde, erregte ihn umso mehr.

»Deine Pupillen sind riesig«, wisperte er. »Ich würde dich gern kommen lassen.« Bennett leckte ihm über die Lippen. »Du weißt nicht, wie wunderschön du in diesem Moment aussiehst.«

Sein Unterleib krampfte. »Sir, bitte!«

»Schon gut.« Er ließ ihn los.

Einen Wimpernschlag, bevor es ihn überrollt hätte.

Das Ziehen wurde zu Schmerz, das Pulsieren zu einem unerträglichen Pochen.

Jaron entkam ein Wimmern.

Bennett fing es mit einem zärtlichen Kuss auf. Hauchzart strich er mit der Fingerkuppe über die pralle Spitze.

»Nicht!« Jaron sank gegen ihn. »Bitte, Sir.«

Bennett legte die Arme um ihn. »Heute Nacht, nach unserem Auftritt, lasse ich dich fliegen, ob du es willst oder nicht.«

»Ich werde es wollen.« Es war gut, von ihm gehalten zu werden. Aber es war auch gut, sich von ihm zu lösen. »Ich gehe ins Bad.« Er musste allein sein. Nur einen Blick in Léans Augen. Die Sehnsucht danach wurde zu etwas Drängendem.

Bennett nahm es hin, wie er vieles hinnahm. Er trank den letzten Schluck Kaffee aus Jarons Tasse, sah ihm nach, wie er die Tür hinter sich schloss.

Nur wenige Sekunden und Léan erschien im Glas. Nicht als Mann, sondern als Junge von fünfzehn Jahren.

Das Heim in Detroit, Mr. Lanemark, der sie gebeten hatte, an einem Forschungsprojekt teilzunehmen. Ihre Aufregung, ihre Freude darüber.

Wie hätten sie ahnen sollen, dass diese Entscheidung ihr Leben zerstören würde.

~*~

2. Detroit

(Detroit, Juni 2011, Dr. Fernando Alves)

Die Thesen waren vollkommen abstrus. Je öfter er die Artikel las, desto abwegiger erschienen sie ihm. Doch was dem Fass den Boden ausschlug, waren die Methoden, mit denen sein Kollege versucht hatte, sie zu untermauern.

Fernando schauderte. Er hatte dem Ethik-Ausschuss einige von Dr. Bennetts dokumentierten Experimenten verschweigen müssen, so ungeheuerlich waren sie. Sonst wäre er zweifellos im Gefängnis gelandet.

Woher stammte die plötzliche Besessenheit von der Quantenphysik und wie war er darauf gekommen, sie mit der Zwillingsforschung zu kombinieren? Natürlich überhäuften ihn die Wissenschaftler beider Fachrichtungen mit Spott und Hohn.

Genau davor hatte er Bennett gewarnt. Mit Engelszungen hatte er versucht, ihn zur Abkehr seines irrsinnigen Vorhabens zu bewegen, doch Bennett hatte ihn auf die für ihn typische, beinahe entrückte Art angesehen und behauptet, das alles mache von einer höheren Ebene aus betrachtet Sinn.

Als hätte jemals irgendetwas in dieser nur auf Zufällen beruhenden Welt Sinn gemacht.

Auch wenn er sich jämmerlich fühlte, einen Kollegen zu verraten. Er hatte das Richtige getan. Jemand hatte Bennett stoppen müssen.

Ein derart brillanter Forscher, und dann das.

Fernando minimierte das Programmfenster, lehnte sich zurück.

Hinter der frisch geputzten Scheibe ragte das Fisher Building wie ein Mahnmal aus besseren Zeiten empor. 2011 war kein gutes Jahr für Detroit. Nicht nur die Wirtschaft brach immer weiter ein, die Moral ebenso. Jeder Blick in die Zeitung verdeutlichte ihm das, von den zunehmenden Zwangskrankheiten und Depressionen seiner Patienten ganz abgesehen.

Er sollte sich wieder vermehrt um seine Praxis kümmern. Der Dienst am Menschen besaß einen höheren Stellenwert als die Forschung. Sein Vertrag mit dem Institut für psychologische Verhaltensgenetik lief ohnehin demnächst aus.

»Dr. Alves?« Miranda betrat das Büro. »Ein Officer Crowl möchte Sie sprechen. Er sagt, es ginge um Dr. Bennett.«

»Bennett?« Das konnte nur Böses bedeuten. »Soll reinkommen.«

Crowl schob sich an Miranda vorbei, nickte ihm zu und wartete, bis die Sekretärin das Zimmer verlassen hatte. »Dr. Alves, ich komme gleich zur Sache.«

Wie er es sich gedacht hatte.

»Sie arbeiten mit Dr. Vincent Bennett zusammen?«

»Nicht mehr. Kürzlich haben sich unsere Wege getrennt.«

»Kennen Sie ihn gut?«

»Nicht wirklich, er hielt sich in privaten Dingen sehr zurück.« Bennett war eine verschlossene Truhe, für die es nie Schlüssel gegeben hatte.

Crowl zog einen Block hervor, notierte sich etwas.

»Was ist passiert?« Vor ihm lag zu viel Arbeit, um einem Officer die Würmer aus der Nase zu ziehen.

»Dr. Bennett hat zwei Jungen aus dem Greg-Johnson-Heim gefangen gehalten und einen von ihnen schwer verletzt.«

Oh nein. »Sagen Sie mir bitte nicht, dass es sich um die Morris-Zwillinge handelt.«

»Sie wissen davon?«

Großer Gott, er hatte ihn zu spät gestoppt. »Dr. Bennett experimentierte mit ihnen, bevor ihn ein Forschungsverbot in die Schranken wies.«

»Er experimentierte mit Kindern?«

»Jugendlichen.« Die Brüder waren fünfzehn. »Ursprünglich war es als empirische Feldforschung angedacht. Nichts Dramatisches. Nur ein paar Tests im Rahmen seines Projektes.«

Crowl runzelte die Stirn.

»Dr. Bennett befasste sich wie fast jeder von uns an diesem Institut mit der Zwillingsforschung. Der Leiter des Heimes, Mr. Lanemark, war selbstverständlich informiert und hatte dem Projekt zugestimmt.« Aus nur einem einzigen Grund. Weil er für Bennett die Hand ins Feuer gehalten hatte.

Ihm wurde übel.

»Dr. Alves? Ist alles in Ordnung?«

»Nein! Wie sollte es?« Das Experiment war außer Kontrolle geraten. »Nachdem bereits Monate vergangen waren, weigerten sich die Zwillinge, an weiteren Tests teilzunehmen. Die Andeutungen, die sie Mr. Lanemark gegenüber machten, waren besorgniserregend genug, um mir Bennetts Aufzeichnungen anzusehen.«

»Und dem hat er zugestimmt?«, fragte Crowl.

»Sicherlich nicht. Ich knackte das Schloss zu seinem Schreibtisch und fand seine Arbeitsmappe. Die Versuchsreihen, die er dem System anvertraut hat, gehörten allesamt zum Standard, doch Lanemarks Befürchtungen wiesen in eine sehr viel radikalere Richtung.« Er hatte eine komplette Nacht benötigt, und immer noch nicht alles gesichtet. Allerdings hatte es gereicht, um Bennett das Handwerk zu legen. »Ich brachte die Sache vor den Ethik-Ausschuss und Bennett wurde von dem Projekt abgezogen. Lanemark wurde selbstverständlich informiert.«

»Wir brauchen Einsicht in die Notizen.«

»Sie befinden sich nicht mehr in seinem Büro. Vor ein paar Tagen hat er seinen Schreibtisch geräumt.« Hoffentlich hatte Bennett die Unterlagen verbrannt. Sie warfen ein denkbar schlechtes Licht auf das Institut. Auf den gesamten Forschungszweig! »Wie ist es geschehen? Bennett durfte sich den Zwillingen nicht mehr nähern.«

»So wie es aussieht, hat er es aber getan.« Relativ unbeeindruckt blickte sich Crowl um. »Vor drei Tagen verschaffte er sich Zutritt und hielt die Jungen bis heute Morgen in seiner Gewalt.«

»Innerhalb des Heimes?«

»Ein selten benutzter Kellerraum«, murmelte Crowl, während sein Stift übers Papier glitt. »Die Jungen befinden sich im Krankenhaus und sind noch nicht vernehmungsfähig, aber der eine von ihnen spricht immer wieder von einem Mr. Vince. Sagt Ihnen das was?«

»Dr. Vincent Bennett.« So kompliziert war der Zusammenhang nicht. »Er ließ sich von seinen jugendlichen Probanten Vince nennen, um die Autoritätsbarriere zu umgehen.« Weshalb hatten die Zwillinge an dem Mister festgehalten?

Der Officer hob den Blick. »Ist Ihnen in letzter Zeit irgendetwas Ungewöhnliches an ihm aufgefallen?«

»Nein.« Selbst den Niedergang seiner Karriere hatte er gelassen hingenommen.

»Drogen? Alkohol?«

»Was er in seinem Privatleben tat, kann ich nicht beurteilen, doch innerhalb des Institutes wirkte er nie verkatert und roch auch nicht nach Alkohol.« Nicht einmal auf der Weihnachtsfeier hatte er ein Bier getrunken.

»Geldsorgen? Spielschulden?«

»Rattern Sie einen Fragenkatalog runter?«

Der über das Papier gleitende Stift hielt inne.

»Schon gut.« Der Mann erledigte nur seinen Job. »Gesprochen hat er nie über Geldprobleme. Aber die meisten seiner Hemden besaßen abgestoßene Kragenecken. Ich will keinen falschen Eindruck erwecken, aber er verdiente im Institut nicht schlecht.«

Crowl machte sich Notizen, ohne auch nur ansatzweise die Miene zu verziehen. »Kennen Sie Freunde oder Verwandte von ihm?«

»Ich weiß nicht, ob er überhaupt welche besaß.« Einmal hatte er ihn danach gefragt, doch Bennett war einsilbig ausgewichen. »Officer, können Sie mir sagen, was er den Jungen konkret angetan hat? Ich bin mit Bennetts Arbeit vertraut.« Das Wort Forschung wollte ihm nicht über die Lippen kommen. »Vielleicht kann ich den Schaden begrenzen und den Brüdern helfen. Ich habe Erfahrung im Umgang mit traumatisierten Jugendlichen.«

»Soweit wir wissen, kam es unter anderem auch zu sexuellen Übergriffen. Einer der Jungen hat sich dabei anscheinend gewehrt, indem er Bennett mit einem Klappmesser bedrohte. Bennett hat es ihm abgenommen und ihn im anschließenden Kampf verletzt.«

Wie war er auf die irrige Annahme gekommen, dem Ausschuss Informationen vorzuenthalten? Hätte er den Mitgliedern reinen Wein eingeschenkt, wäre diese Katastrophe verhindert worden. Sie hätten Bennett Wochen vorher gestoppt.

An welchem Punkt hatte dieser Mann den Schritt in den endgültigen Wahnsinn vollzogen? Warum war es ihm nicht aufgefallen? Wieso hatte er als erfolgreicher Psychologe, der vielen Menschen aus ihren Krisen half, bei seinem eigenen Kollegen kläglich versagt?

Crowl klappte den Notizblock zu und verstaute ihn mit dem Stift zusammen in der Jackentasche. »Bennett rief während der Flucht den Notruf an, weshalb der Junge rechtzeitig gerettet werden konnte.«

Interessant.

»Gleich im Anschluss telefonierte er mit seinem Bruder. Einem Reverend aus Louisiana. Er beichtete ihm die Tat und rannte danach vor einen Lkw.«

Wie unpassend, zu lachen.

Fernando tat es dennoch.

Crowl strafte ihn mit einem strengen Blick.

»Entschuldigen Sie.« Die Sache war zu grotesk. »Wie geht es Bennett?« Nicht, dass er sein Mitgefühl verdient hätte. Zu Blumen am Krankenbett würde er sich gewiss nicht hinreißen lassen.

»Er war sofort tot.« Crowl kratzte sich am Ohr. »Der Fahrer schwört, der Mann hätte zwar in diesem Moment telefoniert, aber ihn kommen sehen und wäre ganz bewusst vor den Laster gerannt.«

»Er begeht während seiner Beichte Selbstmord?«

»So scheint es.«

Was um Himmels willen hatte der Reverend Bennet gesagt?

»Sollte Ihnen noch etwas einfallen, das uns weiterhelfen könnte, melden Sie sich bitte.«

»Natürlich.«

»Und denken Sie an die Unterlagen.«

»Auch das.«

Crowl verabschiedete sich und ließ ihn mit einem unangenehm dumpfen Gefühl zurück.

Seine Loyalität hatte zu dieser Katastrophe beigetragen. Er war verpflichtet, seine Unterstützung anzubieten.

Seine Hand zitterte, als er zum Telefonhörer griff. »Miranda? Sagen Sie den Vier-Uhr-Termin ab und verbinden Sie mich bitte mit Mr. Lanemark.«

Es gab eine Schuld zu begleichen.

Was Bennett als Psychologe und Wissenschaftler getan hatte, war ungeheuerlich.

Einige Seiten von Bennetts Aufzeichnungen hatte er abfotografiert.

Er rief sie auf seinem Handy auf.

Objektive Beobachtung durchmischte sich willkürlich mit persönlichen Bemerkungen, oftmals längs an den Rand geschrieben, manchmal sogar zwischen den Zeilen eingefügt.

Gesteigerte Wahrnehmung bei forciertem emotionalen und/oder physischem Stress … halluzinieren … extreme Empathie bei sexueller Stimulierung und/oder Setzen eines Schmerzreizes beim Zwilling … auffällige Stressintoleranz bei räumlicher Trennung bei gleichzeitig ansteigender Sensibilität … symbiotische Tendenzen … Hang, Stressoren vom anderen abzulenken und auf sich zu nehmen … schön, klug und tapfer, wie ihre Mutter … dabei keine! klassische Opferhaltung … Hauthunger bei Separation … Blake muss sie lieben …

Die Seiten, auf denen Bennett seine Vorgehensweise erläuterte, übersprang er. Selbst wenn das Drama im Keller des Heimes nicht geschehen wäre, was Bennett den Kindern im Rahmen seines Projektes angetan hatte, genügte, um sie bis an ihr Lebensende zu zeichnen.

~*~

»Du schaffst das.« Jaron hielt die kalte Hand umklammert. »Sie haben dich operiert, hörst du?« Wie blass Léans Gesicht aussah. Wie Wachs. Auch die Lider. Sie wirkten so schwer, als würden sie sich nie mehr öffnen. Aber das mussten sie.

Das mussten sie unbedingt.

Drei Tage in dem nach Schimmel und Dreck stinkenden Raum. Drei Tage in Dunkelheit.

Sie war besser gewesen als der Lichtschein der Taschenlampe. Er hatte Mr. Vince’ Gesicht zu einer Fratze verzerrt. Nur Augenhöhlen und Furchen. Als wäre er kein Mensch.

Kein Schlaf, nur Angst und das Gefühl, daran zu ersticken.

Jaron hielt sich die Augen zu, sah trotzdem immer wieder dasselbe.

Hoffentlich träumte Léan nicht. Er musste schlafen. Ohne Schmerzen, ohne diese furchtbare Angst.

Mr. Lanemark hatte es ihnen versprochen. Sie würden Mr. Vince nie wiedersehen.

Er hatte gelogen.

»Du hast viel Blut verloren, hat mir der Arzt gesagt.« Als ob er das nicht wüsste. Es war ihm zwischen den Fingern hervorgequollen. »Dafür hast du jetzt meines. Ich wollte dir noch mehr geben, aber ich durfte es nicht.« Diese Idioten. »Du hättest dich nicht vordrängeln dürfen, als Mr. Vince gefragt hat, wer dran ist.« Immer abwechselnd. Das war eine der Vince-Regeln gewesen.

Beim letzten Mal war Jaron schlecht geworden. Er hatte nur durch Nebel gesehen, wie Léan an seiner Stelle genickt hatte. »Die Idee mit dem Messer war gut. Denk dir das nicht kaputt.« Es war so mutig von Léan gewesen, es dabei Mr. Vince aus der Tasche zu ziehen. Und das mit gefesselten Händen.

Mr. Vince war stärker gewesen.

»Mach morgen früh einfach die Augen auf und sag mir, dass alles okay ist.« Nein, das würde er nicht. Léan log nie.

Hinter ihm öffnete sich die Tür.

Die Krankenschwester kontrollierte die ständig piependen Geräte und warf einen Blick auf den Tropf. »Bist du nicht müde?« Ihr Lächeln war freundlich. »Es ist schon spät, du solltest schlafen.«

»Nein.« Einer von ihnen musste aufpassen und Léan konnte es nicht.

»Dein Bruder hat die Operation gut überstanden. Das wird schon.«

Trostworte. Obendrauf gezuckert, untendrunter bitter. Der Arzt hatte ihm gesagt, dass er für seinen Bruder beten sollte, aber nicht, wie das funktionierte.

»Schwester, sind Ihnen schon einmal Schmerzen zugefügt worden?«

Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht.

»Nicht nur eine Ohrfeige oder ein Tritt gegen das Schienbein, sondern echte, richtige Schmerzen, die nicht enden wollen. Sie denken, es nicht mehr auszuhalten, müssen es aber trotzdem.«

Zögernd schüttelte sie den Kopf.

»Das macht müde. So sehr, dass alles andere gleichgültig wird. Irgendwann kann man nicht mehr die Augen aufhalten. Man muss sich fallen lassen, weil nichts anderes mehr geht.« Sein Bruder hatte sich fallen lassen. In seine Arme. Weil er wusste, dass er auf ihn aufpassen würde.

»Wir haben eure Tante Maude angerufen.« Die Schwester streichelte ihm über die Haare, als wäre er ein Kind. »Sie ist sehr krank und kann nicht kommen.«

Warum sollte sie auch? Sie waren ihr nur zur Last gefallen. Maude hatte es ihnen ständig vorgeworfen. Bis auf ihr Erdnussbutter-Oliven-Sandwich hatten sie nichts Gutes bei ihr erlebt.

»Gibt es noch jemanden, den wir benachrichtigen können?«

»Den Zylindermann.« Léan hatte von ihm gesprochen. Immer wieder, während das Zittern stärker geworden war. »Er wohnt in New Orleans.« Er würde auf die beiden Stoffpüppchen aufpassen, die Maude in den Müllschlucker gesteckt hatte. Sie waren gleich gewesen, bis auf winzige Ausnahmen, so wie er und Léan. Deshalb hatte Mum sie ihnen übers Bett gehängt. Zum Beschützen.

Die Schwester runzelte die Stirn. »Der Zylindermann?«

Jaron nickte.

»Kennst du seinen Namen?«

»Nein, aber er kann durch Wände gehen und sein Regenschirm franst an den Rändern aus.« Léan hatte gesagt, er wäre ein Freund und Mum würde ihn mögen.

»Wirklich Jaron, du solltest schlafen.«

»Ich kann nicht schlafen.« Nicht, solange es Menschen wie Mr. Vince gab.

Léans schwarze Locken klebten ihm in der Stirn.

Jaron strich sie beiseite. »Du wirst wieder gesund.« Sobald er herausgefunden hatte, wie das mit dem Beten funktionierte.

~*~

Welch grauenvoll deprimierender Ort. Kein Möbelstück, das nicht abgeschlagene Ecken aufwies, keine Wand, die nicht mit irgendetwas beschmiert worden wäre. Wohin er sah, das Kinderheim bettelte um Spenden.

Und erst dieser Geruch! Bohnerwachs, Staub, Eintopf und etwas Scharfes. Wie eine Mischung aus Pisse und Stress-Schweiß.

Zweifellos, diese einst blühende Stadt lag auf den Knien.

Ebenso wie seine moralische Verfassung. Er hatte in der Nacht kein Auge zubekommen. Ein Gefühl, als wehte ihm ein Gespenst im Nacken, hatte ihn ergriffen und ließ ihn seither nicht mehr los.

»Dr. Alves?«

Ein sympathisches, allerdings übernächtigtes Gesicht inmitten zinnoberroter Locken.

»Ich bin Mrs. Lanemark. Mein Mann erwartet Sie. Darf ich Ihnen einen Kaffee bringen?«

»Sehr freundlich, danke.« Fatal, wenn sich Eheleute denselben Arbeitsplatz teilten, zumal unter emotional belastenden Bedingungen. In der Regel führte dieser Umstand zu vorzeitigen Scheidungen oder Morden im Affekt.

Lanemarks Büro war ebenso bescheiden wie der Rest des Heimes.

Abgewetztes Kunstleder, Discounter-Regale, Hängearchive, die allein vom Hinsehen in sich zusammenbrachen.

»Dr. Alves!« Ein dürrer Mann mit schütterem Haar sprang vom Schreibtischstuhl auf und eilte ihm entgegen. »Endlich begegnen wir einander persönlich.«

»Ich bedauere zutiefst, was vorgefallen ist.« Er schüttelte die dargebotene Hand. »Hätte ich schneller reagiert, wäre das Schlimmste verhindert worden.«

»Ich befürchte, wir müssen uns die Schuld teilen. Immerhin geschah das Unglück unter meinem Dach.« Er wies auf den freien Stuhl vor dem Schreibtisch. »Als sie vor vier Tagen nicht zum Mittagessen erschienen, dachte sich niemand von uns etwas dabei. Die beiden gingen meist ihre eigenen Wege. Doch beim Abendessen fehlten sie ebenfalls. Da begannen wir nach ihnen zu suchen. Ohne Erfolg. Ich vermutete, dass sie ausgerissen wären. Sie hatten oft darüber gesprochen, dass sie so schnell wie möglich nach New Orleans wollten.«

»New Orleans?« Eine weite Reise für mittellose Teenager.

»Ihre Mutter stammte von dort und die Jungen schienen von dieser Stadt verzaubert zu sein.« Lanemarks Lächeln währte nur kurz. »Schließlich informierte ich die Polizei. Aus vergangenen Erfahrungen mit ähnlichen Fällen weiß ich jedoch, dass das wenig bringt. Die Stadt ist groß und die Polizei ständig überlastet.« Er zog ein Taschentuch hervor, tupfte sich die Stirn. »Gestern Vormittag stürmten dann plötzlich Sanitäter und zwei Officers in mein Büro. Sie hätten einen Anruf erhalten, dass im Keller ein Junge verbluten würde. Ich konnte es nicht glauben, folgte den Officers. Erst auf der Treppe nach unten hörten wir die Hilfeschreie.« Kopfschüttelnd schloss er die Augen. »Jaron hatte die Arme um Léan geschlungen. Die Reste des zerschnittenen Klebebandes hingen noch an seinen Handgelenken. Überall war Blut. Ich wusste nicht, von welchem der Jungen es stammte. Es war einfach so viel.«

Dieses Bild würde ihm treu bleiben. »Wenn Sie Hilfe brauchen.« Fernando zückte eine Visitenkarte. »Scheuen Sie sich nicht, sie anzunehmen.« Jeder Klient war ein guter Klient.

Lanemark winkte ab. »Ich frage mich ständig, warum niemand von uns die Hilferufe früher gehört hat.«

»Klebeband, isolierte Betondecken und die Tatsache, dass keiner gern in den Keller geht, wenn er es nicht unbedingt muss.« Menschen waren Meister in der Kunst des Ignorierens und Verdrängens.

»Klebeband«, murmelte Lanemark. »Ja, das wird es gewesen sein.«

Seine Frau balancierte ein Tablett mit zwei Tassen Kaffee zum Schreibtisch. Lanemark sah ihr mit aufrichtiger Dankbarkeit im Blick nach, als sie das Büro wieder verließ.

Wohl doch keine Kandidaten für Scheidungen und Affekt-Morde.

»Ich mache mir solche Vorwürfe, dass ich diesem Experiment zustimmte. Aber Dr. Bennett erschien mir auf eine stille Art sympathisch zu sein. Er wirkte bescheiden, freundlich. Ganz anders, als ich es bei einem Akademiker erwartet hätte.« Er lächelte fahrig. »Verzeihen Sie. Sie sind mir natürlich auch sympathisch.«

»Kein Problem.« Vorurteile und Verallgemeinerungen lagen ebenso wie Ignoranz im Wesen der Menschen.

»Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass er zu solchen Taten fähig wäre.«

»Ich ebenfalls nicht. Das ist das Problem. Es sind immer die unauffälligen Fassaden, hinter denen sich Abgründe auftun.« Wie er es hasste, wenn sich Klischees bewahrheiteten. »Erzählen Sie mir von den beiden.« Je detaillierter die Informationen, umso präziser konnte er die Therapie planen.

»Natürlich.« Während er eine der Tassen zu sich zog, verschwappte er einen beträchtlichen Teil des Inhalts. »Léan und Jaron Morris sind seit ihrem vierzehnten Lebensjahr bei uns. Mr. Morris verließ die Familie, als die Kinder zwei Jahre alt waren. Nach dem Tod ihrer Mutter lebten sie bei ihrer Tante. Als sie erkrankte, benachrichtigte sie die Fürsorge und die Jungen wurden zu uns gebracht.«

»Gibt es Besonderheiten? Verhaltensauffälligkeiten, irgendetwas, von dem Sie meinen, dass ich es wissen müsste?«

»Keine, bis auf die Tatsache, dass sie ausgesprochen selbstständig sind, vorbildlich füreinander sorgen und ein sehr inniges Verhältnis zueinander pflegen.« Unsicher wackelte er mit dem Kopf. »Es gibt Kollegen, denen ist es zu innig. Die Brüder wurden schon einige Male beim Austausch von Zärtlichkeiten ertappt. Aber meines Erachtens ist die moralische Grenze dabei nicht überschritten worden.«

»Mit Moral ist das so eine Sache.« Zumal es sich um vor Hormonen strotzende Teenager handelte.

»Allerdings ist da etwas anderes, das Sie erfahren sollten.«

»Und das wäre?«

»Die Situation der Zwillinge ist dramatischer, als Sie annehmen.« Er verschränkte die Finger, sah ihn unglücklich an. »Die Mutter der Jungen wurde ermordet. Vermutlich von einem ihrer Freier. Die Zwillinge wissen das.« Ein trauriges Lächeln verzog den schmalen Mund. »Die Tante der Jungen erzählte mir seinerzeit, Joana Morris wäre eine leichtlebige Frau gewesen. Sollte sie dasselbe auch der Polizei gegenüber erwähnt haben, wurde der Fall vielleicht etwas zu früh zu den Akten gelegt. Das DPD hat Wichtigeres um die Ohren, als sich ausreichend Zeit für den Mord an einer Prostituierten zu nehmen.«

»Ich bin erschüttert.« Seltsam, dass ihm das trotz seines Berufes noch passierte. »Sobald sich die Brüder zumindest körperlich erholt haben, werde ich mich ihrer annehmen. Selbstverständlich wird für das Heim kein Honorar anfallen.« Es hätte sich seine Stundensätze auf Dauer ohnehin nicht leisten können.

»Eventuell werde ich Ihre Hilfe nicht lange in Anspruch nehmen.«

»Doch, werden Sie.« Es würden Jahre ins Land gehen, um den erlittenen seelischen Schaden auch nur einzugrenzen.

»Vorhin hat ein Reverend Bennett angerufen und darum gebeten, dass die Jungen in seine Einrichtung verlegt werden. Er leitet ein privates Heim in Louisiana.«

»Bitte?« Das schlug dem Fass den Boden aus! »Dieser Reverend ist der Bruder von Dr. Bennett. Sie können unmöglich in Erwägung ziehen, die Jungen diesem Mann anzuvertrauen!«

»Ich weiß.« Lanemark schaute betreten auf seine Hände. »Aber er versicherte mir seine aufrichtige Anteilnahme an dem, was den Zwillingen geschehen ist, und äußerte den dringenden Wunsch, die Freveltat seines Bruders wiedergutzumachen. Ich habe ihn gegoogelt. Das St.-Helens-Heim besitzt einen ausgezeichneten Ruf und ist bestens ausgestattet. Sowohl mit Geldern als auch mit Bildungsangeboten. Ich wünschte, ich könnte meinen Schützlingen auch nur einen Bruchteil dessen bieten.«

»Das mag sein. Dennoch bin ich skeptisch.« Irgendetwas fühlte sich falsch daran an. »Ist es möglich, dass ich mit ihm ein paar Worte wechsle?«

»Warum nicht?« Lanemark reichte ihm den Zettel mit Adresse und Telefonnummer. »Vielleicht ist er ebenso für Ihre Hilfe dankbar, wie ich es bin. Ob in Louisiana oder hier, die Jungen werden Sie brauchen.«

Das stand außer Frage.

Reverend Blake Bennett.

Er würde ihm gründlich auf den Zahn fühlen.

~*~

3. St. Helens Home for lost Children

 

(St. James Parish Louisiana, Juli 2012)

 

Reverend Blake Bennett

Nur ein schlichtes Blechschild an einer Tür. Kein Grund, nervös zu sein.

Jaron war es dennoch.

»Geht rein.« Mrs. Hooper lächelte ihnen zu. »Er erwartet euch.«

Rotgeschminkte Lippen zu schwarzem Gesicht. Es sah unglaublich sexy aus. Die Frau war die Sekretärin eines Reverends?

Eine schmalgezupfte Braue hob sich. »Was ist?«

»’tschuldigung.« Der Schlafmangel machte sich bemerkbar. Seit fast sechsunddreißig Stunden waren sie mehr oder weniger auf den Beinen.

»Ach Jungs! Und ihr wollt Ausbrecherkönig sein und kapituliert vor einer unverschlossenen Tür?« Sie stand auf, klopfte an, bevor sie öffnete. »Reverend? Die Morris-Brüder sind hier.«

»Rein mit ihnen.«

Die Stimme klang so streng, wie der Mann aussah. Er thronte hinter dem Schreibtisch, als verwaltete er das letzte Gericht. Durch die braunen Locken zogen sich graue Strähnen, das Gesicht war kantig und durchfurcht mit Sorgenfalten.

»Nehmt Platz.« Er wies zu zwei Stühlen vor dem Schreibtisch. »Ihr habt einen weiten Weg hinter euch.«

»Ja, Sir.« Ihr Ziel lag in greifbarer Nähe.

»Ich bin ehrlich. Das, was ich in den Berichten über euch lesen musste, beunruhigt mich.« Der Reverend schlug eine Akte auf. »Der trunksüchtige Vater verschollen, die Mutter eine Prostituierte.« Für einen Moment schloss er die Augen. Erst nach einem tiefen Atemzug redete er weiter. »Aufenthalte in diversen Heimen, aus jedem ausgerissen, wieder eingefangen worden, wieder ausgerissen.«

»Es waren nur vier, Sir.« Heime waren keine Option für sie.

»In einem Jahr!«

Erneut traf ihn ein strenger Blick.

Am längsten hatten sie es in Nashville ausgehalten. Mehrere Monate, aber nur aus einem einzigen Grund. Dort hatte er seinen Führerschein machen können. Eine private Organisation zur gesellschaftlichen Eingliederung sozial vernachlässigter Jugendlicher hatte die Prüfungsgebühren übernommen. Das war es wert gewesen, ein paar Wochen mit den Erziehern um den Block zu fahren.

Auf dem Schreibtisch stand eine Karaffe mit Eistee. Sie war beschlagen vor Kälte.

In Jarons Mund wurde es nass. Wann hatten sie zuletzt etwas getrunken?

Um zwei Uhr nachts waren sie in der Beale Street der Streife in die Arme gelaufen. Das Heim in Nashville hatte sie als vermisst gemeldet, was sich anscheinend bis nach Memphis herumgesprochen hatte. Warum sie nach Louisiana und nicht nach Tennessee zurückgebracht worden waren, hatten ihnen die Cops nicht verraten.

Vielleicht hatten sie einmal zu oft geklaut und Nashville hatte die Nase voll von ihnen.

Das St. James Parish in Louisiana. Eine Gegend auf dem platten Land und mittendrin dieses Heim. Dennoch, nur eine Stunde von New Orleans entfernt. Ein Jahr seit dem Albtraum von Detroit bis hierher. Vollgestopft mit der Scheiße, die sie zwischen Straße und Kinderheimen aufgegabelt hatten.

»Wahrlich, der Teufel streckte seine Finger oft nach euch aus«, drang die Stimme des Reverends zu ihm. »Es wird Zeit, euch von ihm fernzuhalten.«

In ihrem Leben gab es nur einen Teufel. Er hieß Mr. Vince. Meistens suchte er sie vor dem Einschlafen heim, manchmal auch mitten am Tag. Dann packte er ihre Herzen und drückte sie zusammen. Das Gefühl, nie mehr atmen zu können, war ihnen mittlerweile vertraut.

»Ihr seid hier, um euch vor Gesetz und Ordnung zu beugen und Verantwortung zu lernen.«

Léan wechselte mit ihm einen Blick.

»Ständig wegzulaufen bringt euch nicht weiter.«

Es hatte sie hierher gebracht. Das war weit.

»Trennt euch von allem Bösen und Dunklen. Es folgt euch auf dem Fuß, und wenn ihr nicht aufpasst, verschlingt es euch eines Tages.«

Tropfen rannen an der Karaffe hinab.

Jaron schluckte.

»Hier.« Der Reverend füllte zwei Gläser.

Seltsam, seine Hand zitterte, als wäre ihm kalt. Dabei klebte die Hitze in jeder Ecke des Büros.

Der Mann wartete, bis sie ausgetrunken hatten und goss ihnen nach.

Jaron wischte sich den Mund. »Danke, Sir.«

»Habt ihr verstanden, was ich euch gesagt habe?«

»Dass wir uns nicht vom Bösen verschlingen lassen sollen.« Zu spät. Es war längst geschehen.

»Dass ihr nicht mehr weglaufen sollt.«

Dazu waren sie zu nah an ihrem Ziel.

»Solltet ihr meine Worte hinterfragen, dürft ihr gern euer Glück auf die Probe stellen. Aber ihr müsst bereit sein, die Konsequenzen zu tragen.«

»Die da wären?«

Der Reverend hob die Brauen.

»Ich möchte nur unsere Optionen kennen, Sir.«

Ein Sekundenlächeln. Es scheuchte die Strenge aus dem Gesicht.

»Ihr werdet sie kennenlernen, wenn es so weit kommen sollte.« Er lehnte sich zurück, musterte sie abwechselnd. »Erstaunlich, ihr gleicht euch aufs Haar.«

Da war eine Narbe über Léans Auge. Dünn wie ein heller Faden. Außerdem waren Léans Augen größer und seine Nase schmaler. Aber auf solche Kleinigkeiten achteten die wenigsten.

Jaron dachte nicht im Traum daran, den Reverend auf diese Details hinzuweisen. Vielleicht mussten sie die Rollen tauschen. Manchmal war das hilfreich.

Manchmal auch nicht. Als sich Léan das letzte Mal für ihn ausgegeben hatte, wäre er beinahe verblutet.

»Ihr habt Glück. Es sind Sommerferien und so bleiben euch vorläufig die Aufnahmetests für die jeweiligen Schulkurse erspart.«

Glück war ein Würfelwurf. Jaron verließ sich nie darauf.

»Allerdings können wir es uns nicht leisten, wochenlang die Hände in den Schoß zu legen. Faulheit ist weder gottgefällig noch gut für den Charakter. Sicherlich sind euch die Tabakfelder vor der Mauer aufgefallen.«

»Natürlich, Sir.« Der Backsteinbau ragte wie eine Insel aus einem grünen Meer.

»Die Erntezeit beginnt und zusammen mit den anderen Jungen werdet ihr auf den Feldern arbeiten.« Besonnen faltete er die erstaunlich kräftigen Finger. »Noch ein Wort zur Warnung. Die Plantage ist eingezäunt. Nur ein Dummkopf würde versuchen, Freundschaft mit dem Elektrozaun zu schließen.«

Der könnte ein Problem werden.

»Das Grundstück innerhalb der Mauer ist ebenfalls vor unreflektierten Ausbruchsversuchen sicher, aber ihr dürft gern in die Überwachungskameras winken, wenn ihr es probiert.«

Am Zufahrtstor waren keine gewesen. Auch nicht am Haupteingang zum Gebäude.

Ein Bluff? So viel Hinterlist hätte er einem Kirchenmann nicht zugetraut.

»Kommen wir zum nächsten heiklen Thema.« Der Blick des Reverends richtete sich auf Léan. »Da du bisher geschwiegen hast, bist du Léan.« Er tippte auf die vor ihm liegende Akte. »Hier steht, dass du dich seit dem Vorfall in Detroit weigerst, mit anderen Leuten außer deinem Bruder zu reden und ein Problem damit hast, dich anfassen zu lassen.«

Ein Gesicht, wie in Stein gehauen. Nicht die geringste Regung.

Wie konnte dieser Mann die Hölle als Vorfall abtun? Wie konnte er so tun, als wäre es Léans Schuld, dass sich die Worte nicht mehr aus seinem Mund trauten?

»Laut des psychologischen Gutachtens seid ihr beide ausgesprochen intelligent, was mich nicht verwundert. Der Teufel bemächtigt sich meistens derjenigen, die Klugheit über Demut stellen. Nicht umsonst heißt es in der Bibel: Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr.«

Mr. Vince hätte sie auch dann gefickt, wenn sie dumm wie Zaunlatten gewesen wären.

Ihr seid schön wie eure Mutter.

Jarons Magen verkrampfte sich.

Unter dem Tisch tastete Léans Hand nach seiner, hielt sie fest.

»Ihr werdet begreifen, dass sich ein Heim wie dieses mit Jugendlichen wie euch keinesfalls wort- und tatenlos führen lässt. Ich rate dir demnach, dich mit meinen Methoden zu arrangieren, denn es wird keine Sonderbehandlung geben.«

Léan sah den Reverend an, wie er jeden ansah, dem er nicht über den Weg traute. Sehr ernst, sehr aufmerksam.

Der Reverend griff in eine Schublade, legte einen Stapel laminierte DIN-A4-Seiten vor sie. »Das ist die Hausordnung inklusive sämtlichen relevanten Verhaltensregeln, an die ihr euch halten werdet. Vernachlässigt ihr sie, behalte ich mir vor, euch auf die mir als angemessen erscheinende Weise zu bestrafen. Lest euch das gründlich durch und wendet euch bei Fragen an einen der Erzieher.« Er tippte auf einen Knopf seines Telefons. »Mrs. Hooper, kommen Sie bitte in mein Büro und zeigen Sie den Morris-Zwillingen ihre Unterkunft.«

Mrs. Hooper betrat das Zimmer, lächelte.

Es fühlte sich wie warmer Regen auf der Haut an.

»Dann wollen mir mal.« Sie nahm die Hausordnung, verabschiedete sich von ihrem Boss mit einem Nicken.

»Er ist wie Rauchglas«, wisperte ihm Léan zu, während sie der hochgewachsenen Frau ins Vorzimmer folgten. »Ich kann ihn überhaupt nicht einschätzen.«

»Wir kriegen das hin.« Sie hatten zu viel hinter sich gebracht, um auf den letzten hundert Metern den Schwanz einzuziehen.

Mrs. Hoopers Blick glitt über ihre dreckigen Hosen und durchgeschwitzten Shirts. »Heute Nachmittag findet eine Pressekonferenz statt. Es wird erwartet, dass sämtliche Jugendliche anwesend sein werden. Bis dahin solltet ihr euch frisch machen und umziehen. Dazu bleibt euch eine knappe Stunde.«

Eine Pressekonferenz in einem Jugendheim?

»Kommt mit und vergesst eure Rucksäcke nicht.« Sie nickte in die Ecke neben der Tür. »Viel habt ihr nicht dabei, hm?«

»Es hat bisher gereicht.« Jaron hing sich seinen gesamten Besitz über die Schulter.

Léan rührte sich nicht vom Fleck. Seine Augen waren auf Mrs. Hooper gerichtet, als blickte er durch sie hindurch.

Er sah Bilder.

Hoffentlich waren es gute.

Mrs. Hooper lächelte. »Alles klar?«

Anscheinend störte es sie nicht, gescannt zu werden.

Léan blinzelte, fuhr sich über die Augen.

»Ihm geht es gut, Ma’am.« Léan hatte die Bilder selten unter Kontrolle.

»Fein. Können wir?« Sie wies zur Tür.

Ein Flur, eine Treppe nach oben, wieder ein Flur mit Zeichnungen von Dampfschiffen und Brücken, dazwischen rechts und links Zimmer mit Namensschildern.

»Am Ende sind die Toiletten und der Waschraum für diesen Trakt. Euer Zuhause ist das hier.« Sie schob ein schmales Pappschild in eine Plastikhalterung.

Jaron und Léan Morris

»Das St. Helens verfügt nur über wenige Zwei-Bett-Zimmer. Ich dachte mir, dass ihr in der ersten Zeit gern unter euch bleiben wollt.«

»Danke, Ma’am.« Das wollten sie allerdings und mehr als die erste Zeit würde es nicht geben.

»Die Tür kann nur von außen abgeschlossen werden und nur der Reverend und die Erzieher besitzen den Schlüssel. Eine Sicherheitsmaßnahme.«

Fragte sich, für wen.

Sie öffnete, trat beiseite.

Jaron entkam ein Pfiff. Möbel ohne abgeschlagene Ecken, keine Edding-Tags. Der Bettvorleger war sauber, die Betten sahen bequem aus. Von den Matratzen stieg kein beißender Geruch von über Jahre hinweg gestocktem Urin diverser Bettnässer auf. So ordentlich hatten sie nicht einmal bei Tante Maude gelebt. Es gab sogar ein Waschbecken samt Spiegel an der Wand.

Mrs. Hooper legte die Hausordnung auf den Tisch. »Im Schrank findet ihr eure Kulturtaschen mit allem Nötigen inklusive Rasierzeug. Stoppeln am Kinn werden vom Reverend nicht geduldet.«

Schade, damit wirkten sie verwegener.

»Frische Wäsche und eure Uniformen sind ebenfalls dort. Heute zieht ihr sie bitte an. Ansonsten tragt ihr sie während der Schulzeit im Unterricht und zu besonderen Anlässen. In den Ferien und bei der Feldarbeit greift ihr auf eure Kleidung zurück und wenn die nicht ausreicht, auf die aus der Kleiderkammer.« Sie wies zu einem Stapel, der aus Jeans, Shirts und Socken zu bestehen schien. »Ich habe eure Größe eventuell etwas überschätzt.« Flüchtig glitt ihr Blick über sie hinweg. »Sollten euch die Sachen zu lang sein, tauscht sie bitte bei Mrs. Freeman um. Sie ist für die Haushaltsführung dieser Einrichtung zuständig. Ihr findet sie im Anbau rechts oder in der Küche.« Sie öffnete das Fenster.

Keine Gitterstäbe. Das war gut.

»Eure Wäsche wascht ihr selbst. Die Waschmaschinen befinden sich im Nebengebäude. Selbstverständlich werdet ihr sie danach auch bügeln. Wenn ihr nicht wisst, wie das geht, fragt einen der anderen Jungen oder Mrs. Freeman. Wir legen hier größten Wert auf Selbstständigkeit, weshalb die Jugendlichen in wechselnden Schichten auch für das Essenkochen und Saubermachen zuständig sind. Anweisungen hierzu werden euch ebenfalls von Mrs. Freeman gegeben.«

»Kein Problem.« Arbeit war okay. Besser, als stumpfsinnig in verschlossenen Schlafsälen zu vegetieren.

»Also, in einer Stunde unten auf dem Hof. Gegessen wird um sieben. Haltet ihr es bis dahin aus oder fallt ihr vom Fleisch?«

Vom Fleisch fallen. Was für ein komischer Begriff. »Wir kommen klar, Ma’am.« Tante Maudes Erdnussbutter-Oliven-Sandwich wäre klasse gewesen. Sein Magen hing in den Knien.

»Das höre ich gern.« Noch ein Lächeln und sie ließ sie allein.

Léan setzte sich aufs Bett, schloss die Augen. »Da sind Schlangen im Paradies«, murmelte er. »Sie verstecken sich im hohen Gras, aber sie werden uns beißen.«

»Du denkst, das St. Helens ist zu schön, um wahr zu sein?« Er setzte sich hinter ihn, legte die Arme um ihn. »Lass mich raten: Die Schlangen laufen auf zwei Beinen.«

»Aber es sind nicht die von Mrs. Hooper.«

»Sie ist nett.«

»Aber sie hat keinen Stock, um sie zu verscheuchen«, sagte Léan leise.

»Nicht den Mut verlieren, Léan. Wir sind fast da.« Nur eine Stunde per Anhalter. Nur eine verdammte Stunde und sie waren in New Orleans.

»Ich will, dass sie uns in Ruhe lassen.« Sein Bruder lehnte sich an ihn. »Ein Ort, wo niemand auf uns achtet. Wo wir einfach leben können und uns keiner seinen Willen aufzwingt.« Er nahm Jarons Hände, führte sie zu der Stelle, an der sich Mr. Vince verewigt hatte.

»Uns steht nur eine Backsteinmauer im Weg. Mehr nicht.« Jaron ließ sich fallen. Immer tiefer in die Geborgenheit. Die Wärme unter seinen Händen, Léans Atem, der langsamer und gleichmäßiger wurde.

Damals hatte er ihn auf diese Weise gehalten. Léans Blut war ihm durch die Finger gequollen, trotzdem war Léan ganz ruhig geblieben, hatte sich ihm anvertraut, als besäße der Tod keine Chance, solange sie nur zusammenblieben. Seltsam, dass ausgerechnet der finsterste Moment ihres Lebens zu einem Ritual geworden war. Je schwieriger die Situation, umso dringender brauchten sie es.

»Wir sollten duschen und uns umziehen«, sagte Léan nach einer Weile. »Besser, wir fallen am ersten Tag nicht auf.«

»Wir fallen immer und überall auf und ich will dich nicht loslassen.«

Sein Bruder legte die Hände auf seine, drückte sie fester gegen die Narbe.

Jaron folgte dem Impuls, bis Léan seufzte.

Nur ein paar Minuten für sich sein. Ohne angestarrt zu werden, ohne sich in bestehende Hierarchien hineinquetschen zu müssen. Ohne sich fremden Regeln zu beugen.

Er war sie leid.

»Wir müssen uns beeilen.« Léan klang, als wäre er aus einem Traum erwacht. »Sicher sind alle schon auf dem Hof. Dann haben wir den Waschraum für uns allein.«

Jaron stieg vom Bett, nahm für sie beide frische Wäsche und Handtücher aus dem Schrank. »Lass uns den Luxus wenigstens bis zur ersten Katastrophe genießen.« Sie würde eintreten. So wie immer.

 

~*~

 

Keine gute Idee, die Presse auf den Plan zu rufen. Was hatte sich der Vorsitz der Glorious Height Church dabei gedacht?

Chris widerstand dem Wunsch, sich eine Zigarette anzuzünden, auch wenn es die Anspannung gemildert hätte. Stattdessen musste eines von Blakes Pfefferminzbonbons dran glauben.

Er sollte sie lutschen, statt seine Lunge ständig zu teeren.

Das Bonbon beschäftigte seine Zunge, massierte jedoch nicht seine Nerven.

Chris zerbiss es.

Die Reporter ließen sich nicht mit Süßigkeiten abspeisen. Hoffentlich war das Blake bewusst. Allerdings würde er wegen nichts auf der Welt seine Vorgehensweise rechtfertigen oder seine Überzeugungen ändern.

Das St. Helens war Blakes Leben. Er tat alles, um die Chancen der Jungen zu verbessern. Dass er hin und wieder über das Ziel hinausschoss, hätte ihm Chris unendlich gern verziehen.

»Was wollen diese Schnüffler hier?« Rogers spuckte aus. »Die kommen aus ihren klimatisierten Großstadtbüros und meinen uns erklären zu müssen, wie wir mit Kriminellen umzugehen haben?«

»Du bist ein Vorbild für sie.« Er nickte zu den Jungen, die das Geschehen mit misstrauischen Blicken verfolgten. »Also spuckst du nicht. Klar?« Auch ohne hinzusehen wusste er, dass ihn Rogers mit all dem Widerwillen musterte, den er von Beginn an für ihn empfunden hatte. Mittlerweile beruhte er auf Gegenseitigkeit.

Rogers gehörte zu Blakes wenigen Fehlgriffen.

»Dann gefällt dir, was hier läuft?«

»Nein. Aber mir gefällt vieles nicht. Zum Beispiel, dass du Bier an die Jugendlichen verteilst.« Gestern Abend war ihm Marcus betrunken in den Arm getaumelt. Nur mit Mühe hatte er den Jungen dazu gebracht, Rogers Namen zu nennen.

Er hatte mit Blake darüber geredet, doch aus irgendeinem Grund fasste sein Bruder Rogers mit Samthandschuhen an.

»Mr. Bennett?« Ella kam zu ihnen.

Chris verbot sich das Lächeln, das in seinen Mundwinkeln zuckte.

»Keine Ahnung, warum der Reverend diese Negerschlampe eingestellt hat«, murmelte Rogers. »Gab’s nichts Besseres auf dem Arbeitsmarkt?«

»Höre ich das Wort noch einmal von dir, stopfe ich es dir so tief in den Hals, dass du daran erstickst.« Ella war ein Segen. Für das Helens, für Blake, für ihn.

Die ohnehin kleinen Augen wurden schmal. »Warum nimmst du sie in Schutz? Stehst du seit Neuestem auf kraushaarige Mösen?«

Ihm die Faust aufs Kinn schmettern.

Es hätte gutgetan.

»Der Reverend möchte Sie sprechen.« Ella gönnte Rogers nur ein flüchtiges Nicken. »Es sind zwei Neue angekommen. Ich schätze, es geht um sie.«

»Ist gut.« Er folgte ihr zum Hauptgebäude, sperrte seine Wut auf Rogers zu den anderen Gefühlen, die in seinem Alltag nichts verloren hatten.

»Sehen wir uns heute Abend?«, fragte Ella leise.

»Ich freue mich drauf.« Er nahm ihre Hand, küsste sie.

»Charmant.« Nur für einen Moment schmiegte sie sich an ihn. »Du bist ein Gentleman. Das liebe ich an dir.«

»Das bin ich nicht, und das weißt du.« Er stieß Ella nicht in sein verborgenes Leben, aber er versteckte es auch nicht vor ihr. Vom ersten Tag an hatte sie gewusst, auf was sie sich einließ.

»Doch.« Mit einem verführerischen Lächeln klopfte sie an die Tür. »Zu mir schon.«

»Ja?«, rief es von innen.

»Ihr Bruder, Sir.«

»Soll reinkommen.« Blake sah auf. »Chris! Ich muss mit dir reden.«

»Schlechter Zeitpunkt, um mich von unten abzuziehen. Die Reporter wetzen die Messer.«

»Ist mir bewusst. Aber das hier geht vor.« Er reichte ihm eine Akte. »Ich will, dass du dich der Zwillinge annimmst.«

»Kein Problem.«

Die Fotos von zwei bildschönen Jugendlichen. Die schwarzen Locken umspielten ihre fein geschnittenen Gesichter, der Blick der dunklen Augen traf distanziert auf die Kamera. Dennoch wirkte er bei dem einen, als dränge er tiefer, als er durfte. In dem des anderen lag dagegen Entschlossenheit, Mut und eine Stärke, um die er ihn beneidete.

Schwer, sich von dem Bild zu lösen. Der Junge sah ihn an, als forderte er ihn und jeden, der ihn betrachtete, heraus.

»Chris?«

Blakes Stimme drang durch sein Herzklopfen. Auch das leise Misstrauen, das darin lag.

Chris nickte, um zu zeigen, dass er ihm zuhörte.

Es stimmte nur zur Hälfte.

Etwas an den Fotos berührte ihn. So tief, dass er ein Ziehen im Herzen spürte, als er endlich den Blick hob.

»Was hältst du davon?«, fragte sein Bruder.

Chris überflog die folgenden Seiten. »Es fällt mir schwer, es zu lesen.« Die meisten Jugendlichen im St. Helens wiesen eine üble Kindheit auf. Doch bei den Morris-Brüdern hatte das Schicksal besonders hart zugeschlagen.

Das Gefühl des Ausgeliefertseins streifte ihn.

Ihn schauderte.

»Léan scheint psychisch labil zu sein.« Die Falte zwischen Blakes Brauen vertiefte sich. »Er sieht Dinge, die nicht da sind, erträgt keine Berührungen und hat offenbar die Fähigkeit verloren, sich Fremden gegenüber verständlich zu artikulieren.«

»Nach dem, was er erlebte, wundert mich das nicht.« Léan. Der Junge mit dem Blick, der die Seele bloßzulegen schien.

»Er ist auf seinen Bruder fixiert«, erklärte Blake. »Jaron schirmt ihn vor jedem Menschen ab. Es wird schwer werden, ihn zu erreichen.«

Deshalb lag diese Entschlossenheit in Jarons Augen. »Er ist Léans Beschützer.« So wie Vince seiner gewesen war. »Wir können nur mit beiden zusammen arbeiten. Einzeln wird es nicht funktionieren. Léan braucht Jaron.«

»Du warst auch sicher, Vince zu brauchen.«

»Ich habe ihn gebraucht.« Vince war der Schutzschild zwischen ihm und Edward gewesen. Ohne ihn hätte ein Großteil seiner Kindheit im Krankenhaus stattgefunden.

Der Blick seines Bruders wurde hart. »Du weißt, wohin das geführt hat.«

»Und du hast mich eines Besseren belehrt.« Die Andenken daran trug er auf dem Rücken. »Warum denkst du, dass es wie bei Vince und mir wäre? Die beiden sind Zwillinge. Sie sind gleichaltrig. Vince war zehn Jahre älter als ich.« Es war von Beginn an klar gewesen, wer das Sagen gehabt hatte.

Blake schnaubte. »Ich bin zwölf Jahre älter als du, dennoch warst du mir nie so ergeben wie Vincent.«

»Das ist etwas anderes.« Blake war ihm wie ein Vater erschienen. Streng und verlässlich. Vince dagegen war der erste Mensch in seinem Leben, der ihm Zärtlichkeit und Nähe geschenkt hatte.

Noch jetzt fiel es ihm schwer, seinen Tod zu akzeptieren.

Vince war in Detroit beigesetzt worden. Anonym und ohne Trauerfeier. Blake hatte ihm versichert, Vince hätte es so gewollt.

Hatte ihm Vince verziehen, dass er bei Blake geblieben und nicht mit ihm fortgegangen war?

»Das ist es allerdings.« Blake erhob sich, schritt auf und ab. »Oder denkst du, ich hätte den Anblick vergessen, wie du in seinen Armen lagst?«

Plötzlich hatte Blake im Zimmer gestanden. Blass und zitternd vor Empörung war er Zeuge geworden, wie ihm Vince den ersten Orgasmus seines Lebens geschenkt hatte. Wie ein Wirbelsturm waren die Gefühle über Chris hereingebrochen.

Blake hatte gedroht, Vince umzubringen, wenn er sich noch einmal in Chris’ Nähe wagte.

Die Schlägerei unter den Brüdern, die Heimlichkeiten in den Wochen danach. Schließlich der Moment, in dem Vince seine Sachen gepackt und ihm zum Abschied einen Kuss gegeben hatte. Er sollte sich nicht fürchten. Edward würde ihm nie wieder wehtun.

Er hatte die Wohnung in Pittsburgh verlassen.

Er hatte ihn verlassen.

Wochenlang war Chris wie gelähmt gewesen. Als hätte ihm jemand das Herz weggenommen.

Der Tod seines Stiefvaters war an ihm vorbeigeglitten. Ohne Resonanz. Edward wäre im Ohio River gefunden worden. Wahrscheinlich wäre er im Suff hineingefallen.

Chris‘ Trauer hatte sich in Grenzen gehalten.

Vince hatte er erst drei Jahre später wiedergesehen. In Lafayette. Das war das letzte Mal gewesen. Nach und nach hatte sein Verstand begriffen, dass Vince als sein erwachsener Stiefbruder elementare Regeln gebrochen hatte, doch sein Herz sah das anders. Weder Blakes Gebete noch sein Gürtel hatten daran etwas geändert.

»Hilf ihnen!« Blake schloss die Augen. »Sie hätten diese Dinge nicht erleben dürfen.«

»Dir geht ihr Schicksal sehr nah.« Die Lebensläufe der anderen Heimkinder hatte sein Bruder stets gefasst aufgenommen.

»Ich investierte im vergangenen Jahr viel Zeit und Mühe, um den Weg der Zwillinge ins St. Helens zu lenken. Sie machten es mir mit ihrem Talent, ständig überall auszureißen, nicht leicht.« Müde kniff er sich in die Nasenwurzel. »Uns bleiben nur zwei Jahre, um ihnen zu helfen. Wir müssen uns anstrengen.«

»Was macht die Zwillinge für dich besonders?«

»Alles.« Erschöpft ließ er die Hand sinken. »Ich erkläre es dir, wenn der Zeitpunkt gekommen ist.« Er ging zum Fenster, sah hinaus auf den Hof. »Aber die Morris-Brüder sind nicht mein einziges Problem, wie du siehst.«

»Die Journalisten?«

Blake nickte. »Sie wollen den guten Ruf des Helens zerstören. Bilden sich ein, dass nur ihre modernen Methoden funktionieren, dabei bringen ihre ach so modernen und weltoffenen Städte mehr unglückliche Kinder hervor, als sie verantworten können.« Er trat einen Schritt zurück, straffte die Schultern. »Sie verwechseln Strenge mit Grausamkeit und Disziplin mit Freiheitsentzug. Sie interessieren sich nicht für den steinigen Weg der Läuterung. Sie wollen das Kind, ohne etwas von den Wehen mitzubekommen. Keine Schmerzen, kein Blut. Mit einem Fingerschnipp sollen aus potenziellen Straftätern verlässliche Bürger gemacht werden. So funktioniert das Leben nicht.« Energisch wandte er sich ihm zu. »Du weißt das. Die nicht.«

Schmerzen und Blut hatte es in seinem Leben reichlich gegeben. Doch das hatte ihn nicht geläutert, so sehr er auch darum gekämpft hatte. Ahnte Blake, dass ein verlorenes Schaf vor ihm saß? Wenn er sich dazu entschied, es zurück zur Herde zu führen, würde noch mehr Blut fließen.

Das Telefon klingelte.

Blake stellte den Lautsprecher an. »Ja?«

»Dr. Alves ist angekommen«, erklang Ellas volltönende Stimme. »Er wartet ihm Besucherzimmer auf Sie.«

Wer war Alves?