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Ein guter Partner soll heute alles auf einmal sein: bester Freund, engster Vertrauter, perfekter Vater, treu sorgender Ehemann, gut verdienender Karrieremensch, gefühlvoller Seelenverwandter und natürlich eine Granate im Bett. Wer, so fragen sich Sabine und Wolf Deunan, soll das alles erfüllen? An einem solchen Erwartungsdruck können Beziehungen doch nur scheitern. Die Lösung: raus aus der Enge der Monogamie, rein in die offene Beziehung. Was oberflächlich betrachtet nichts anderes zu sein scheint als legitimiertes Fremdgehen, ist bei näherem Hinschauen ein kompliziertes, auf Vertrauen und Kommunikation basierendes Geflecht von Beziehungen. Diese sind selten rein sexueller Natur und spielen oft auch in das reale Leben hinein - mit allen Vor- und Nachteilen, die eine Beziehung eben mit sich bringt. Allerdings auch mit viel Spaß und Erfüllung. Die Welt der Monogamie verlassen und die der Polyamorie entdecken - DREI IST KEINER ZU VIEL versteht sich als eine Art Ratgeber. Aus eigener Erfahrung schildern Sabine und Wolf Deunan, welche Möglichkeiten die Polyamorie bietet, wie man damit die primäre Beziehung stabilisiert und - nicht zuletzt - wie man dabei eine Menge Spaß hat. Das Autorenpaar beleuchtet das eigentliche Konzept der offenen Beziehung von verschiedenen Standpunkten, damit die Sichtweise aller Beteiligten klar wird und nicht nur die des Paares. Der männliche wie auch der weibliche Blickwinkel werden thematisiert, was für den Leser sehr erhellend sein kann, und die einzelnen Kapitel werden durch Anekdoten und thematische Einschübe aufgelockert. Aber das Wichtigste: Die Autoren nehmen weder sich selbst noch das Thema zu ernst, sondern zeigen mit Lust, Einfühlungsvermögen und viel Humor, wie man in einer offenen Beziehung glücklich werden kann.
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Seitenzahl: 317
Sabine und Wolf Deunan
Für unsere treuen Freunde
In the old days love was a cruel proprietary thing. But now Anna could let Nettie live in the world of my mind, as freely as a rose will suffer the presence of white lilies. If I could hear notes that were not in her compass, she was glad, because she loved me, that I should listen to other music than hers.
H.G. Wells
In the Days of the Comet (1906)
1
Es könnte so einfach sein: Zwei alleinstehende Menschen treffen sich, sind sich sympathisch. Sie verlieben sich, sie heiraten und sie bleiben zusammen, bis dass der Tod sie scheidet. Eine schöne Vorstellung, die, auch wenn man sich dagegen wehrt, dennoch in den Köpfen der meisten Menschen herumgeistert. Und warum auch nicht, ist das doch genau die ideale Zielvorstellung einer Partnerschaft.
Leider kommt dann das echte Leben daher und alles ist nicht mehr so einfach. Der Alltag kehrt ein, die Schmetterlinge haben sich wieder eingepuppt und der Partner schaut einen nicht mehr jeden Tag mit schmachtenden Augen an. Dafür tut das aber der nette neue Kollege. Das Gefühl des Begehrtwerdens kehrt zurück und schwups: wieder eine Beziehung in die Brüche gegangen. Wie war das noch mal mit der Monogamie? Schade aber auch. Und so unnötig.
Denn so oder so ähnlich gehen täglich unzählige Partnerschaften kaputt. Oft bereuen es die Beteiligten später, nur wegen eines Seitensprungs die Liebe ihres Lebens aufgegeben zu haben. Dabei wäre alles anders, hätten wir nicht die Monogamie als einzig gesellschaftlich akzeptierte Form der Beziehung quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Und diese Beziehungsform sagt, dass alles, was mit mehr als einem Partner zu tun hat, moralisch verwerflich, nicht akzeptabel und überhaupt bäh-pfui ist.
Warum eigentlich? Woher kommt die Idee, dass der Partner heute alles auf einmal sein muss? Bester Freund, engster Vertrauter, treu sorgendes Elternteil, perfekte(r) Ehemann oder -frau, kultureller Gefühlsmensch und spiritueller Seelenverwandter. Er/Sie/Es soll eine eigene Karriere haben, intelligent und humorvoll sein. Sportliche Veranlagung und gutes Aussehen sind kein Hindernis. Ach ja, im Bett muss es natürlich passen wie die Faust aufs Auge.
Und die Erde ist eine Scheibe.
Mal im Ernst – es gibt bestimmt Paare auf dieser Erde, bei denen es so läuft, und zwar genau so. Wüssten wir, wer sie sind, würden wir ihnen jedes Jahr eine Weihnachtskarte schicken. Denn solche Paare sind selten, sehr, sehr selten. Für uns Normalsterbliche gilt: Wir müssen uns Mittel und Wege suchen, wie wir uns nach der ersten Verliebtheit eben nicht wieder trennen, sondern versuchen, eine dauerhaft gut funktionierende Beziehung aufzubauen und zu erhalten.
Der gängigste Ratschlag dazu aus Männer- und Frauenzeitschriften lautet: Schrauben Sie Ihre Erwartungen runter. Das ist sicher nicht komplett falsch. Wir alle haben mittlerweile den Anspruch, dass im Leben alles perfekt sein muss: das perfekte Abendessen im perfekten Wohnzimmer im perfekten Outfit mit dem perfekten Partner. Seine Wünsche etwas der Realität anzupassen, das kann hier nicht schaden. Nur sollte man sich aber auch überlegen, was man bereit ist aufzugeben und was eine Herzensangelegenheit ist. Sprich, was will ich nicht aufgeben, weil ich sonst einfach unglaublich unglücklich bin. Denn sich unglücklich und eingesperrt zu fühlen, das ist der sichere Tod einer Beziehung.
Deswegen ist es an der Zeit, neue Wege zu gehen. Die meisten von uns sind mit dem Gedanken aufgewachsen, dass man entweder mit anderen sexuellen Spaß haben kann oder aber die Geborgenheit einer Familie spürt. Dieses Buch soll zeigen, dass dem nicht notwendigerweise so sein muss. Zwar ist eine offene Beziehung sicherlich nicht für jeden etwas – aber das ist Monogamie eben auch nicht.
Wir haben dieses Buch für alle geschrieben, die offen sind für andere Beziehungsformen als die klassische Zweisamkeit. Die aber auch keinesfalls demjenigen wehtun wollen, den sie lieben. Es zeigt eine Alternative auf, die unter bestimmten Voraussetzungen gut funktioniert und schon von vielen Menschen erprobt wurde.
Man muss sich nur trauen.
Kurz noch einige Hinweise zu diesem Buch, die nicht so ganz in das doch recht philosophische Vorwort passen wollten.
Wer einen Ratgeber sucht, wie er am schnellsten irgendwelche Sexpartner aufreißen kann, der wird enttäuscht sein. Ebenfalls sollte man sich in einem anderen Teil des Buchladens umschauen, wenn man detailliert beschriebene Erfahrungsberichte sucht. Anders formuliert: Wer heiße Storys über die geilen Erlebnisse sexsüchtiger Ehefrauen in wildfremden Betten lesen will, ist hier falsch. Es gibt auch keine gehörnten Ehemänner, die es der kleinen Discomaus endlich mal richtig besorgen. Das alles kann bestimmt durchaus anregend sein, kommt aber erst nach der Klärung der Beziehungsform.
In diesem Buch dreht es sich vielmehr darum, warum es sinnvoll ist, die Monogamie zumindest auf den Prüfstand zu stellen und eine offene Beziehung in Erwägung zu ziehen, egal, ob man sich am Ende für oder gegen sie entscheidet. Warum es moralisch nicht verwerflich ist, eine nicht-monogame Beziehung zu führen. Wie man die Regeln findet, die für einen selbst und den Partner richtig sind. Warum ein wenig Eifersucht nichts Schlechtes sein muss, sondern durchaus eine Chance sein kann. Wie man die Klippen des Alltags umschifft. Was alles schiefgehen kann. Kurz und gut, wir wollenmit diesem Buch das Tabu der Nicht-Monogamie brechen und gleichzeitig Hilfestellungen liefern, wie man so etwas für sich selbst am besten auf die Beine stellt.
Dabei geben wir nur Tipps und Denkanstöße – wie gewisse Dinge heißen, wie man sie anspricht und wie man sie dann im Falle des Falles am besten in die Wege leitet. Welche Fehler man nicht unbedingt selbst machen muss. Was für andere geklappt hat. Zum Brunnen hingehen allerdings muss schon jeder selbst. Idealerweise braucht er oder sie dann auch keine heißen Storys mehr als Fantasie, sondern erlebt sie selbst. Wer Lust hat, kann danach ja selbst ein Buch darüber schreiben. Und wer weiß, vielleicht kaufen wir es ja sogar?
Weiter haben wir uns entschlossen, geschlechtsneutral zu schreiben. Wenn wir also vom »Partner« reden, dann ist das generisch gemeint und nicht auf Mann oder Frau bezogen. Wir gehen schlicht davon aus, dass weder Mann noch Frau Privilegien in einer offenen Beziehung genießt. Ebenso gibt es aus unserer Sicht kein typisches männliches oder weibliches Verhalten, sondern nur das, was zu einem passt, egal, welche Chromosomen man in sich trägt (meistens jedenfalls). Bei unseren Beispielen wird zwar Männern und Frauen die eine oder andere Rolle zugeteilt, aber das sind lediglich Beispiele. Wo es tatsächlich Sichtweisen gibt, die nach unserer Erfahrung eher männlich oder eher weiblich sind, weisen wir gesondert darauf hin.
Anzumerken ist zudem, dass dieses Buch wenig mit Spiritualität am Hut hat. Uns ist klar, dass besonders im Internet Poly gerne mit Spiritualität in der einen oder anderen Form verbunden wird. Das tun wir ausdrücklich nicht. Zwar sind beide Dinge wichtige Bestandteile unseres Lebens – zumindest zu einem gewissen Grad –, aber sie haben für uns nicht zwingend etwas miteinander zu tun. Außerdem sind wir eher die Realisten vor dem Herrn. Schon deswegen wird man höher geweihte Argumentationslinien bei uns nicht finden.
Zu diesem Buch gehören drei längere Interviews. Wir haben bewusst nur Freunde und Bekannte von uns befragt, weil wir uns nur so sicher sein konnten, dass man uns nicht irgendwelchen Blödsinn erzählt. Wir kennen diese Leute. Fast zwangsläufig sind das damit keine perfekten, problemfreien Poly-Beziehungen mit Geigenklängen und makellosem Ablauf, sondern Geschichten, die das Leben schrieb, mit Problemen und in einem Fall fast einer Katastrophe. Die Fragen wurden per E-Mail gestellt (wie wir sehen werden, haben Poly-Leute insbesondere eines nicht, nämlich Zeit). Auf Englisch geführte Interviews haben wir für dieses Buch übersetzt.
Und schließlich ist dieses Buch von einem Paar geschrieben – von uns, Sabine und Wolf Deunan. Zwar hat jeder von uns sein Steckenpferd und seine Schwerpunkte, aber grundsätzlich vertreten wir beide die Meinungen, die hier vorgetragen werden. Wenn es ins Spezifische geht, dann machen wir das deutlich, indem wir von uns in der dritten Person reden – fühlt sich zwar sehr seltsam an und liest sich auch eher unsexy, ist aber für alle weniger verwirrend.
Genug jetzt der leichten Kost, hinein in die wunderbar komplizierte Welt der Polyamorie, Abteilung offene Beziehung.
2
Jedes Sachbuch, auch eines über Beziehungen und Sex, muss irgendwo Fachzeugs, geschichtlichen Hintergrund und ähnlichen Schnickschnack unterbringen. Man kann das natürlich Stück für Stück im Buch verteilen, damit es den Leser nicht erschlägt. Oder man packt alles wie hier in ein Kapitel, damit der Leser es leicht überspringen kann (nur zu – es liest sich auch zu einem späteren Zeitpunkt gut, wenn man den Rest schon gelesen hat).
Wenn man nur einen Teil lesen möchte, weil man Simone de Beauvoirs gesammeltes Werk auswendig kann, Papageien hasst oder heute einfach nichts mit Affenhoden zu tun haben will, nimmt man sich am besten nur die ersten beiden Abschnitte vor. Da erklären wir die Begriffe, die im übrigen Buch benutzt werden.
Ja, Affenhoden. Alles im Dienst der Wissenschaft, versteht sich.
Was meinen wir hier überhaupt mit »Polyamorie«, »Poly«, offenen Beziehungen und so? Da die Begriffe ziemlich durcheinandergehen, legen wir für dieses Buch fest: Die Kurzform »Poly« wird als Dachbegriff für alle »nicht-monogamen« Beziehungen benutzt, also alle Formen, die nicht aus einer Person und genau einer anderen Person bestehen. Drei Leute sind es damit mindestens. Das Wort hat den Vorteil, dass es schön kurz ist.
So weit ist alles noch ganz einfach. Unterteilen kann man das dann so: (Wir sollten betonen, dass die verschiedenen Formen hier wertfrei vorgestellt werden. Es gibt kein »gut« und kein »schlecht«, es gibt nur »passt für uns« oder »passt nicht«. Wichtig sind diese Unterscheidungen allerdings, damit man sich irgendwo wiederfinden kann. Die Grenzen sind in der Praxis ohnehin oft fließend.)
Offene Beziehung: Bei der offenen Beziehung steht ein Paar im Zentrum. Sie bilden die »Primärbeziehung« oder »Kernbeziehung«. Diese beiden Menschen teilen den größten oder einen größeren Teil ihres Leben miteinander wie ein monogames Paar, nur dass es da nebenbei noch jemanden (oder mehrere »Jemande«) gibt. Das zentrale Kennzeichen der offenen Beziehung ist dabei, dass die Primärbeziehung immer Vorrang hat vor allen anderen Verbindungen. Dabei ist es nicht wichtig, ob man zusammen- oder getrennt voneinander lebt, Kinder hat oder vielleicht durch das gemeinsame Interesse am französischen Existenzialismus des frühen 20. Jahrhunderts miteinander verbunden ist. Damit gibt es bei dieser Form der Poly-Beziehung eine »Hierarchie«, die alle akzeptieren und nach der sich (im Idealfall) alle richten.
Einige Leute benutzen die Begriffe primary, secondary und tertiary, um die verschiedenen Stufen oder Ebenen zu beschreiben: Die »Primär«-Beziehung zwischen den festen Partnern, die »Sekundär«-Beziehung zu ihren »Spielfreunden«, und die »Dritten im Bunde«, mit denen man gelegentlich auch Dinge unternimmt. Mit Bezug auf die Tierwelt wird auch scherzhaft vom »Alpha-Männchen«, »Beta-Weibchen« und so weiter gesprochen. Wir werden diese beiden Begriffe auch in diesem Buch verwenden, obwohl sie einigen Leuten zu grob vorkommen.
Die offene Beziehung ist nach unserer Erfahrung die mit Abstand häufigste Poly-Form. Deswegen werden wir uns auch auf sie konzentrieren. Im Gegensatz dazu gibt es bei der Polyamoriekeine Hierarchie. Alle sind gleichberechtigt, es gibt keine Primär- oder Sekundärbeziehungen. Die Beteiligten müssen nicht zwingend alle sexuell miteinander verbunden sein, können es aber. Menschen, die in einem solchen Beziehungsgeflecht oder Netzwerk leben, sind meist auf eine gewisse Langfristigkeit aus – schon allein, weil es kompliziert ist, eine derartige Gemeinschaft stabil zu halten. Die emotionalen Bindungen können tiefer sein als bei einer offenen Beziehung.
Swinger: Weniger langfristig geht es bei den Swingern zu, denn dabei geht es erst mal um Sex. Was nicht immer dem Klischee entsprechen muss, dass Mutti und Vati jeden dritten Samstag im Monat in den Club gehen und alles nageln, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Oftmals entstehen gute Freundschaften und man trifft sich auch außerhalb besagter Räume. Einige Swinger bauen langfristige Beziehungen zueinander auf, aber auch das klassische Wechseln ist üblich. Die Swinger-Szene ist für uns hier jedoch kein Thema.
Ebenfalls irgendwie entfernt mit Poly verwandt, aber nicht Gegenstand dieses Buches sind:
Bigamie/Polygamie: Diese Begriffe beziehen sich auf die juristische Definition der Viel-Ehe, die in unserem Kulturkreis allgemein verboten ist. (Übrigens: Wenn wir in diesem Buch von der »Monogamie« sprechen, dann nicht im streng juristischen Sinn, sondern als allgemeiner Begriff für eine Nicht-Poly-Beziehung.)
Seitensprung: Alle bisher genannten Formen zeichnen sich im Idealfall durch Ehrlichkeit, Transparenz und Gleichberechtigung aus sowie durch die Notwendigkeit, ständig zu kommunizieren. Entsprechend grenzen sie sich alle vom gemeinen Seitensprung ab. Er hat nichts mit Poly zu tun: Fremdgehen ist unehrlich, heimlich, mit Sicherheit nicht gleichberechtigt und hat schon gar nichts mit offener Kommunikation zu tun, sondern meist wird gelogen, dass sich die Bettlatten biegen. Wir gehen sozusagen »bekannt« statt fremd.
Der letzte Punkt zeigt, dass wir uns auch mit der Frage der Moral beschäftigen müssen. Wir leben nun mal in einer Gesellschaft, in der monogame Beziehungen als die einzig richtige, einzig erstrebenswerte Norm hochgehalten werden und alles, was anders ist, auch mit Hinweis auf die Moral abgelehnt wird.
Wer nun glaubt, mit den Begriffen sei er gerüstet für das Thema, der irrt gewaltig. Schon allein, weil sich die moderne Poly-Szene – falls man überhaupt von so etwas sprechen kann – zuerst im englischsprachigen Internet organisiert hat, gibt es eine ganze Fülle von Wörtern, die in diesem Zusammenhang auftauchen und Verwirrung stiften können. Was folgt, ist eine kurze Liste, auch wenn sie nicht diesen Eindruck macht. Wir haben dabei bewusst zahlreiche englische Ausdrücke aufgenommen für die Leute, die sich außerhalb ihrer Muttersprache bewegen wollen. Wir wissen, wie schwierig das sein kann: Auch uns hat man leider nicht in der Schule gesagt, wofür wir später wirklich Fremdsprachen brauchen würden.
Polyamorie oder Englisch polyamory ist ein griechisch-lateinisches Kunstwort aus »viel« und »Liebe«. Es gibt einen Streit darüber, wann es zuerst gebraucht wurde. Man findet in den vergangenen Jahrhunderten einzelne Verwendungen in verschiedenen Sprachen, die aber keinen bleibenden Eindruck hinterließen. Erst in den 90er-Jahren wurde das Wort auf Englisch zu einem festen Begriff. Das altehrwürdige Oxford English Dictionary nahm es 2006 auf. Demnach war der Ursprung ein Vorschlag der US-Amerikanerin Jennifer L. Wesp im Jahr 1992, die Newsgroup alt.polyamory im Internet zu gründen. Als Adjektiv wurde es schon zwei Jahre früher im Artikel »A Bouquet of Lovers« von Morning Glory Zell-Ravenheart (gebürtiger Name Diana Moore) verwendet. Wir können festhalten, dass der Begriff »Polyamorie« ab den 90er-Jahren in die englische Sprache Einzug hielt und dann besonders über das Internet Verbreitung fand. Von dort gelangte er nach Europa.
Im Deutschen finden wir die »freie Liebe« als Begriff und sonst sehr, sehr viele englische Leihwörter, was der Situation bei den Homosexuellen (coming-out, dyke) und Sadomasochisten (top, bottom, safeword) entspricht. Selbst friends with benefits kann man finden, auch wenn die Übersetzung des gleichnamigen Films als Freunde mit gewissen Vorzügen eine Steilvorlage für einen deutschen Begriff liefert. Umsonst.
Aus der Wissenschaft kommen die Begriffe für einen Mann mit vielen Frauen (Polygynie) und eine Frau mit vielen Männern (Polyandrie). Sie sind für uns nicht wirklich nützlich, denn wir nehmen nicht an, dass alle Leser heterosexuell sind. Wie wir weiter unten sehen werden, sprechen die Wissenschaftler auch von »freiwillig nicht-monogamen Beziehungen« (consensually non-monogamous) und verpassen dem dann die Abkürzung CNM. Das allerdings werden wir tatsächlich zwischendurch benutzen, kurz zumindest. Wer das Wort »Poly« nicht mehr hören kann, für den gibt es im Englischen die responsible non-monogamy – »verantwortungsvolle Nicht-Monogamie«.
Ist die Poly-Gruppe in sich geschlossen, besteht also eine »feste« Bindung mit drei, vier oder wie vielen Menschen auch immer, die nur zu diesem Kreis gehören, spricht man von polyfidelity, der Gruppentreue. Eingeteilt nach der Zahl der Teilnehmer spricht man von einer triad oder einem threesome (was im Englischen auch das Wort für den »Dreier« und damit ein Witz ist) sowie quad oder foursome (das auch). Wenn es darüber hinausgeht, kann man auf moresome umsteigen.
Im Zusammenhang mit Poly-Ehen stolpert man hin und wieder über den Begriff der line marriage – »lineare Ehe« – bei der die Gruppe zwar geschlossen ist, aber im Laufe der Zeit einzelne Mitglieder dazukommen und abwandern. Damit besteht die Ehe über den Tod ihrer ursprünglichen Gründer hinaus weiter. Derartige Ehen gibt es unseres Wissens nicht wirklich, weil der erforderliche juristische Unterbau fehlt. Sie tauchen jedoch in Romanen auf.
Man kann Buchstaben verwenden, um das Verhältnis zwischen den einzelnen Mitgliedern einer Poly-Beziehung zu beschreiben. Ein V steht dann für eine Person, die zwei Partner hat. Ein N (wahlweise ein Z) kennzeichnet zwei Pärchen, bei denen jeweils einer eine Beziehung mit einem anderen hat. Diese Methode kann schnell albern werden – spätestens beim W hört die Übersichtlichkeit auf. Aber man kann mit Buchstaben noch andere Dinge machen. Ist einem das Geschlecht wichtig, gibt es Kombinationen wie »WMM« für »weiblich, männlich, männlich«. Ob die Reihenfolge wichtig ist – es also einen Unterschied zwischen »MWM« und »WMM« gibt –, muss allerdings dazugesagt werden.
Das Wort Compersion dürften nur die allerwenigsten kennen. Es bezeichnet das Gegenteil von eifersüchtig – man freut sich darüber, dass der Partner mit einem anderen Menschen Spaß hat. Wir gehen im Kapitel über Eifersucht ausführlich darauf ein. Verwandt damit und ähnlich begrenzt verbreitet ist frubbelig, eine Form der Empathie, bei der man mit seinem Partner »miterlebt«.
Und wem das alles zu viel war, der weiß jetzt, warum die ganze Sache auch polyagony genannt wird – »viele Schmerzen«.
Es gibt kein allgemein anerkanntes Symbol für Poly-Beziehungen. Man findet verschiedene Darstellungen von verketteten Herzen, Herzen mit einem Unendlichkeitszeichen verbunden und Papageien. Moment, Papageien? Ja, denn »Poly« (beziehungsweise »Polly«) ist im Englischen der generische Name für diese Vögel, wie etwa »Bello« ein häufiger Name für Hunde ist. Das ist auch der Ursprung von gelegentlichen Keks-Witzen in englischen und US-amerikanischen Poly-Kreisen: Angeblich rufen englische Papageien ständig »Poly wants a cracker!«
Jetzt weiß also jeder, wo er sich stilecht beim Date im Zoo treffen sollte.
Irgendwann kommt bei der Diskussion über Poly die Frage auf, ob Menschen überhaupt von ihrer Natur her monogam sind. Also besprechen wir auch das.
Um eine lange und komplexe Debatte unter Fachleuten zusammenzufassen: eigentlich nicht, aber eigentlich doch, denn Menschen liegen offenbar irgendwo zwischen den Extremen von »Ja« oder »Nein«. Anthropologen verweisen darauf, wie viele Kulturen (zumindest für die Männer) Alternativen zur Partnerin zulassen und sei es nur, dass Sklavinnen beliebig gevögelt werden durften, während die freie Nachbarsfrau tabu war.
Auch werden gerne Vergleiche mit unseren nahen Verwandten, den Affen, herangezogen: Während bei den Gorillas im Prinzip nur das Alpha-Männchen Sex mit seinem Harem hat, geht es bei den Schimpansen sehr viel liberaler zu. Die Wissenschaftler verweisen auf das Verhältnis von Körper- zu Hodengröße als Maß für den Grad der Monogamie. Ein Schimpanse, so die Erklärung, braucht möglichst große Hoden, um viel Sperma zu produzieren, damit er seine Rivalen (sozusagen) ausstechen kann. Da das bei Gorillas entfällt, sind ihre Hoden im Vergleich zu ihrer Masse klein. Menschen liegen nach diesem Maß irgendwo in der Mitte.
(Nur um es ganz klar zu sagen: Wir haben jetzt nicht behauptet, dass monogam lebende Männer kleinere Hoden haben. Ganz bestimmt nicht.)
In diesem Buch werden wir die ganze Diskussion allerdings einfach vom Tisch wischen. Denn uns ist ehrlich gesagt egal, ob Monogamie in unserer Natur liegt oder nicht. Menschen tun ständig Dinge, die Mutter Natur eigentlich nicht für sie eingeplant hatte – Auto fahren, Bücher lesen und Bier brauen sind alles »unnatürliche« Tätigkeiten, auf die wir trotzdem nicht verzichten wollen. Ob es »natürlich« ist oder nicht, mehrere oder einen Partner zu haben, spielt für uns auch als Argument keine Rolle, denn »natürlich« bedeutet für uns nicht, dass etwas »richtig«, »gut« oder »moralisch« ist.
Anders formuliert lehnen wir den Verweis auf irgendeinen mutmaßlichen Urzustand als Totschlag-Argument für oder gegen Poly-Beziehungen ab. Wir treffen für uns diese Entscheidung aus unserem Leben in einer demokratischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Sollen die Affen vögeln, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Oder so.
Bei der Religion halten wir es genauso: Ist uns egal. Was nicht bedeutet, dass uns persönlich Religion als solche schnurz ist. Man kann auch nicht in einem vom Christentum geprägten Land leben und behaupten, sie wäre für sein Leben ohne Bedeutung, zumindest indirekt. Es spielt einfach nur für dieses Buch keine Rolle. Insbesondere werden wir nicht auf die häufigen Hinweise eingehen, dass es im Alten Testament vor Polygamie nur so wimmelte, was die Funktion von Polygamie in muslimischen Kulturen ist, oder eines der vielen anderen Argumente erörtern, die in diesem Fall vorgebracht werden könnten. Wer seine Beziehungen nach religiösen Gesichtspunkten ausrichtet, wird sich von selbst für oder gegen Poly entscheiden, was sein gutes Recht ist.
Abgesehen davon enden solche Diskussionen unserer Erfahrung nach meist in Debatten über die Rechte der Frauen in diversen Religionen. Ein wichtiges Thema, sicher, aber nicht im Rahmen dieses Buches, da wir von einer gleichberechtigten Beziehung ausgehen.
Wir sollten allerdings darauf hinweisen, dass insbesondere in den USA Poly-Beziehungen häufig im Zusammenhang mit neuzeitlichen Glaubensrichtungen, Neo-Paganen, Wicca und anderen kleineren Religionsgemeinschaften auftreten.
Das heißt weder, dass alle Wicca zu offenen Beziehungen neigen – die einzige Wicca in unserem Bekanntenkreis ist glücklich monogam verheiratet und findet unser Konzept bestenfalls theoretisch interessant –, noch dass man Gefahr läuft, einer Sekte in die Arme zu laufen, wenn man über eine Poly-Beziehung nachdenkt. Es erinnert lediglich daran, wie stark die Monogamie im Christentum verwurzelt ist und dass andere Religionen diese Beziehungsform nicht als die einzig wahre ansehen.
Mit dieser Definition von Poly, die religiös motivierte Beziehungen ausklammert, haben wir uns allerdings das Leben ziemlich schwer gemacht. Nehmen wir die Oneida-Kommune im US-Bundesstaat New York, in der von 1848 bis 1881 bis zu 300 Menschen unter der Führung von John Humphrey Noyes wie eine große Familie lebten. Das ist zwar ein Beispiel für gelebte Polyamorie und wird entsprechend häufig zitiert. Leider gehörte Noyes allerdings zu den »Perfektionisten«, einer christlichen Strömung, die davon ausging, dass Jesus bereits ein zweites Mal auf der Erde erschienen ist und man daher schon zu Lebzeiten ohne Sünde sein kann – ein Zustand, von dem zumindest Sabine und Wolf ziemlich weit entfernt sein dürften. Weiß man weiter, dass Noyes ein Anhänger der selektiven Züchtung von Menschen war (stirpiculture), hat man spontan sehr viel weniger Lust, seine Gemeinschaft als Vorbild zu sehen.
Oneida mag hier dennoch als Beispiel für diverse Versuche in der Geschichte gelten, auch in unserem traditionell monogamen Kulturkreis eine alternative Form des Zusammenlebens zu entwickeln. Viele dieser kleinen Kommunen entstanden um eine oder mehrere Führungspersönlichkeiten und zerfielen dann, wenn diese nicht mehr zur Verfügung standen – Noyes wanderte zum Beispiel nach Kanada aus, als die US-amerikanischen Behörden gegen ihn vorgingen. Solche Gruppen hinterließen zwar Spuren, ihre Ideale und erste Ansätze eines gemeinsamen Vokabulars. Aber eine wirkliche gesellschaftliche Änderung bewirkten sie nicht. Böse Zungen könnten auch behaupten, dass einige dieser Menschen lediglich ein gesellschaftlich legitimiertes Ventil für ihre Geilheit wahlweise ihren Größenwahn suchten, aber das können wir hier nicht beurteilen.
Eher über diesen Verdacht erhaben sind Philosophen wie der Engländer Bertrand Russell, der 1929 in seinem Buch Marriage and Morals die damalige Sexualmoral und die Monogamie infrage stellte. Russell ist interessant, weil er die Institution und Bedeutung der Ehe als geschützten Raum für die Kinder hervorhob – diese sollte nicht wirklich als vollzogen gelten, bis sie das Licht der Welt erblickt haben. Das Werk entwickelt daraus Überlegungen über die Beziehung zwischen Familie, Ehe und Staat, die weit über das hinausgehen, womit wir uns in diesem Buch befassen. Eine wirkliche Revolution blieb jedoch auch hier aus. Konservative Gruppen stürzten sich auf Russell. Die Diskussion über Sexualmoral wurde durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen.
Einen tatsächlichen, wenn auch zeitlich und räumlich begrenzten, Durchbruch kann man Poly-Beziehungen in den 60er- und 70er-Jahren im Zusammenhang mit der »freien Liebe« bescheinigen, auf der anderen Seite des Atlantiks free love genannt. Angetrieben wurde sie in den USA von dem Eheratgeber Open Marriage: A New Life Style for Couples. Der Titel des millionenfachen Bestsellers ist aus heutiger Sicht irreführend: Das Ehepaar Nena und George O’Neill – beide Anthropologen – wollte darin eigentlich nur überkommene gesellschaftliche Vorstellungen über das Verhältnis von Mann und Frau angehen. Mit der Möglichkeit einer »offenen Ehe«, wie wir sie heute verstehen, befassen sie sich vielleicht auf drei Seiten. »Sexuelle Treue ist der falsche Gott einer geschlossenen Ehe«, lautete einer der Sätze, der Beachtung fand und von zahlreichen Swingern aufgegriffen wurde. Die O’Neills erklärten zwar ausdrücklich, dass sie außerehelichen Sex nicht empfehlen wollten – allerdings sagten sie auch nicht, dass er vermieden werden müsse. »Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen«, lautete ihr Fazit.
Nach dem Rückzug der Blumenkinder war es das Internet, das die Entwicklung vorantrieb. Wie andere sexuelle Minderheiten konnten sich Poly-Interessierte im Netz kennenlernen, diskutieren und eine Subkultur aufbauen. Wie oben besprochen entstanden Anfang der 90er-Jahre entsprechende Strukturen im englischsprachigen Internet. In seiner Geschichte der Poly-Bewegung in Deutschland, Österreich und der Schweiz nennt Julio Lambing als erstes Gegenstück in unserem Sprachraum die Schweizer Mailingliste und Website Polyamory.ch, die Anfang 2000 online ging und bis heute existiert. Das erste überregionale Treffen fand demnach im Frühling 2008 statt.
Die Welt des Papiers war allerdings schneller: Die Juristin Regula Heinzelmann veröffentlichte 1994 ihr Buch Die neuen Paare – Anleitung zur Polygamie und stellte sich – unter anderem im Privatfernsehen – Kritik und Beschimpfungen. Soweit wir feststellen können, war es der erste Ratgeber dieser Art auf Deutsch.
Die vielleicht wichtigste Einzelveröffentlichung zu Poly weltweit brachten allerdings drei Jahre später Dossie Easton und Catherine A. Liszt (richtiger Name Janet W. Hardy) mit The Ethical Slut. A Guide to Infinite Sexual Possibilities auf den Markt. Sie beanspruchen das Wort slut – Schlampe – für sich als positiven Begriff: Sex macht Spaß, so ihr Motto, und es ist gut, Lust zu erleben. Von seinem Stellenwert in der angelsächsischen Welt kommt das Sachbuch dem gleich, was The Leatherman’s Handbook von Larry Townsend 1972 für schwule Sadomasochisten und Coming to Power von Pat Califia 1981 für ihre lesbischen Kolleginnen bedeutete. Wer mit US-Amerikanern, Kanadiern oder Briten über Poly spricht, bekommt in der Regel das Buch nach fünf Minuten empfohlen. Der Einfluss geht über die Subkultur hinaus: John Sable schrieb auf der Grundlage von The Ethical Slut 2008 ein Theaterstück mit dem Namen Multiple O. Wir hatten bislang leider keine Gelegenheit, es zu sehen, aber die Kritiker waren nicht begeistert.
Wie erwähnt ist The Ethical Slut (frei übersetzt »Die moralische Schlampe«) im englischsprachigen Raum so was wie die Bibel der Polys. Dass es besonders in der zweiten Auflage viel Esoterik und auch ein wenig Dogmatismus enthält, fällt einem erst auf, wenn man seinen eigenen Weg gefunden hat.
Doch damals, als Sabine anfing, sich zu fragen, warum um alles in der Welt sie nicht treu sein konnte, warum sie sich beim Fremdgehen so schlecht fühlte und warum, verdammt noch mal, sie nicht so sein konnte wie alle anderen auch, da war dieses Buch eine Offenbarung für sie. Denn es nahm ihr genauestens auseinander, warum man kein schlechter, unmoralischer und böser Mensch ist, nur weil man sich nicht einem einzigen Menschen verschreiben kann oder mag. Es machte ihr schlüssig klar, dass es unter Umständen eine gute Sache sein kann, weder sich noch seinen Partner an die Monogamie zu ketten. Immer vorausgesetzt, man ist ehrlich zu sich selbst und dem Partner. Das war alles nicht nur erhellend, es wurde ein Fixstern in ihrem Beziehungsuniversum.
Oft findet man in solchen Büchern einen einzigen Satz, der alles zusammenfasst, den man liest und bei dem man sagt: Das bin ich, so und nicht anders. Bei Sabine war es hier ein kleines Zitat, das nicht einmal alleine stand, sondern zusammen in der Reihe einiger anderer Argumente für eine nicht-monogame Beziehung aufgelistet war. Für sie wurde es die Essenz dessen, was eine offene Beziehung ausmacht:
»I never feel that the grass might be greener on the other side of the fence – I’ve been there.«
Übersetzt heißt das etwa: »Ich habe nie das Gefühl, dass das Gras auf der anderen Seite des Zauns grüner ist. Ich bin dort gewesen.«
Sabine hat lang darüber nachgedacht, warum es ausgerechnet dieser Satz war, der sie so angesprochen hat. Denn er hat recht wenig mit Aufregung und Spaß zu tun, sondern eher mit Ernüchterung. Aber er symbolisiert für sie trotzdem etwas sehr Bedeutendes: dass sie nicht hinter etwas herjagt, was sie nicht haben kann und nie haben wird. Dass sie begriffen hat, dass etwas nicht unbedingt viel toller ist, nur weil es nicht ihr gehört. Und dass dieses doch recht kindische »Sein Backförmchen ist aber viel besser als mein Backförmchen« einfach nicht ins Beziehungsleben passt. Die Erkenntnis, dass alle nur mit Wasser kochen und dass es lediglich unsere Vorstellung ist, die woanders alles viel wunderbarer erscheinen lässt.
Noch etwas zeigte ihr dieser Satz: dass ein sicherer Hafen gar nicht so schlimm ist, im Gegenteil, sogar sehr angenehm sein kann. Wo sie sich zurückziehen kann und – um das Bild zu wechseln – das Gatter zumachen kann und zu Hause ist. Und dass genau das gut ist, solange sie das Tor auch wieder aufmachen und rausgehen kann, um nachzuschauen, was Flora und Fauna da draußen so tun. Danach kehrt man wieder zurück.
The Ethical Slut ist alles andere als ein perfektes Buch – sonst hätten wir nicht selbst eines geschrieben, sondern uns mit der Übersetzung begnügt. Es war das erste, das Sabine all diese Möglichkeiten vor Augen hielt. Die Autorinnen ließen keinen Zweifel daran, dass es harte Arbeit ist und es ab und an auch mal keinen Spaß macht, aber sie waren der Beweis dafür, dass es geht. Dafür wird Sabine ihnen ewig dankbar sein und ist bereit, ihnen ihre teilweise doch sehr abgehobenen Ansätze zu verzeihen.
Nachdem inzwischen weder Homosexualität noch SM irgendjemanden hinter dem Ofen hervorlockt, berichtet die Regenbogenpresse immer mal wieder über Poly. Das geht natürlich nur, wenn man einen Aufhänger hat, also ein Paar, das sich dazu »bekennt«. Entsprechend gibt es ständig irgendwo Listen von mehr oder weniger bekannten Personen und Paaren, die eine offene Ehe oder offene Beziehung führen. Klatschzeitschriften berichten – meist etwas atemlos – über Filmstars und andere Prominente, die auch Dritte in die Beziehung lassen. Shocking.
Besonders bei lebenden Personen und Prominenten muss man da sehr vorsichtig sein, was man ihnen andichtet. Beispielsweise wird häufig dem Schauspieler Will Smith und seiner Ehefrau Jada Pinkett Smith eine offene Beziehung nachgesagt. Liest man ihre Aussagen dazu, ist das allerdings nicht eindeutig – Will sei »sein eigener Mann«, sagte Jada dazu etwas kryptisch 2013. Und ob ihr Kollege Johnny Depp wirklich seiner Freundin Amber Heard einen Freifahrtschein mit Frauen ausgestellt hat, weiß scheinbar nur die Klatschpresse sicher.
Nicht nur die Amerikaner sind bei genauem Hinsehen zurückhaltend: Carla Bruni-Sarkozy, einstiges Supermodel und Ehefrau des ehemaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, sagt dazu nur, dass sie Monogamie »fürchterlich langweilig« findet. Das muss nichts heißen: Wir finden Hausputz langweilig. Uns deswegen anzudichten, wir würden ihn nicht machen, wäre schlicht unfair. Schon deswegen legt selbst die sonst nicht immer zimperliche Wikipedia für derartige Behauptungen hohe Maßstäbe an. Entsprechend kurz sind ihre Poly-Listen. Wir werden hier ähnlich vorsichtig vorgehen und uns auf wenige Leute beschränken, bei denen die Interessen zweifelsfrei feststehen und die auch beide ausdrücklich mit der Situation einverstanden waren.
(Aufgrund des letzten Punktes fehlt hier der wohl bekannteste deutsche Vertreter, Bertolt Brecht. Unbestritten ist, dass er mehrere Partnerinnen neben seiner zweiten Frau Helene Weigel hatte und dass sie voneinander wussten. Wir sehen hier allerdings die Grenze zwischen einer offenen Beziehung, die alle Beteiligten bewusst und freiwillig eingehen, und Seitensprüngen, die nur von einem Partner toleriert werden, überschritten. »Dein Vater war ein sehr treuer Mensch. Leider zu vielen«, lautet der berühmte Satz, den Weigel später ihrer Tochter Barbara Brecht-Schall sagte. Es ist dieses »leider«, weswegen wir ihn außen vor lassen.)
An erster Stelle stehen hier keine Kinostars oder Musiker, sondern die Philosophen Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Von 1929 an hielt ihre Beziehung über 50 Jahre lang – sie waren nie verheiratet – und beide hatten andere Partner mit dem Wissen des anderen. De Beauvoir nannte diese Beziehung später ihre größte Errungenschaft. Wir finden hier viele Elemente, die inzwischen als notwendig gelten, wenn man ein stabiles offenes Verhältnis aufbauen will: Eine Abstufung zwischen einer primären und sekundären Partnerschaft – in ihrem Sprachgebrauch die amour nécessaire im Gegensatz zu den amours contingents – oder die unbedingte Ehrlichkeit zueinander.
Wie skandalös besonders De Beauvoirs Verhalten für die damalige Gesellschaft war, lässt sich heute kaum noch nachvollziehen, ganz abgesehen von der Tatsache, dass sie zudem auch mit anderen Frauen Sex hatte. Sartre nutzte die Abmachung wohl mehr als sie, und wir wissen auch, dass De Beauvoir mit der Eifersucht kämpfte. Beide Kennzeichen der Beziehung sind nicht ungewöhnlich, auf beide gehen wir im Laufe des Buches ein.
Als eine andere Poly-Ikone unter Frauen wird immer wieder die amerikanische Abenteurerin und Pilotin Amelia Earhart genannt, die unter anderem den ersten Solo-Flug einer Frau über den Atlantik abschloss. An ihrem Hochzeitstag 1931 soll sie ihrem späteren Ehemann George Palmer Putnam einen Brief überreicht haben, in dem sie erklärt, dass sie ihn »nicht an ein mittelalterliches Regelwerk der Treue binden wird«, aber für sich selbst die gleiche Freiheit in Anspruch nimmt. Inwieweit diese Freiheit ausgelebt wurde, ist nicht sicher, obwohl ihr eine Beziehung mit dem Flug-Pionier Eugene »Gene« Vidal nachgesagt wurde (was in einem Film über ihr Leben 2009 als Fakt dargestellt wurde). Da Earhart 1937 bei dem Versuch eines Fluges um die Erde über dem Pazifik verscholl, wird ihr Liebesleben wohl genauso mysteriös bleiben wie ihr Schicksal.
Wenn man unbedingt darauf bestehen würde, dass wir ein berühmtes Schauspieler-Ehepaar aus Hollywood aufnehmen, dann wären das Ossie Davis and Ruby Dee, die 56 Jahre – bis zu seinem Tod 2005 – verheiratet waren (wer den Namen kennt, aber nicht einem Film zuordnen kann: Beide waren in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung aktiv, Davis hielt 1965 die Trauerrede für Malcolm X). In ihrer Autobiografie schrieben sie von ihrer frühen Erkenntnis, dass Sex außerhalb der Ehe nicht das ist, was zu Scheidungen führt, sondern die Lügen und der Betrug, der damit einhergeht. Sie verpflichteten sich zur Ehrlichkeit und zur Diskretion, um ihre Familie »weder Skandal noch Krankheit« auszusetzen. Im selben Werk erklärt Davis allerdings, dass er eine offene Beziehung inzwischen wegen Krankheiten wie Aids nicht empfehlen könne – auch darüber werden wir im Laufe des Buches sprechen müssen.
Und damit man uns nicht vorwirft, selektiv die erfolgreichen Ehen von irgendwelchen historischen Figuren auszuwählen, zuletzt noch ein Hinweis auf eine gescheiterte Poly-Beziehung: Die Ehe zwischen dem Komiker Otto Waalkes und der Schauspielerin Eva Hassmann hielt elf Jahre lang. In den Medien war er mit dem Satz zitiert worden: »Wir führen eine offene Ehe und schwören auf die freie Liebe.«
Neben den Affen gibt es einen weiteren Forschungsbereich, der sich damit beschäftigt, wie Poly-Beziehungen eigentlich aussehen. Klammert man die ganzen Studien aus, die nur auf Mutmaßungen und Spekulationen auf der Grundlage der Psychoanalyse und Krankenakten beruhen, sieht das Material allerdings eher dünn aus – man bekommt das Gefühl, dass sich die Wissenschaftler lieber mit der Größe von Affenhoden beschäftigen als mit Menschen, die mehr als einen Partner haben wollen.
Bei den bestehenden Studien gibt es noch ein weiteres Problem: Die meisten gehen von der Monogamie als Normalfall aus und sehen sie im Gegensatz zu »allem anderen«. Sprich, Seitensprünge und Fremdgehen werden mit einvernehmlichen Poly-Beziehungen in einen Topf geworfen. Entsprechend muss man bei jeder Studie über Poly-Beziehungen erst mal genau die »Methodik« – sozusagen das Kleingedruckte – lesen, um herauszufinden, ob es überhaupt um freiwillige Beziehungen oder um Betrug geht. Noch anders formuliert: Die meisten dieser Untersuchungen sind für uns wertlos.
Aber einige nützliche gibt es doch. Im November 2012 veröffentlichte Terri Conley von der University of Michigan eine Übersichtsarbeit mit dem griffigen Titel A Critical Examination of Popular Assumptions About the Benefits and Outcomes of Monogamous Relationships, in der sie und andere Forscher die allgemeinen Annahmen über die mutmaßlichen Vorteile von monogamen Beziehungen untersuchen. Sie weist zunächst darauf hin, dass es überhaupt keine genaue Definition von Monogamie gibt, um sich dann der Frage zu widmen, ob es empirische Belege dafür gibt, dass dies tatsächlich die bessere Form des Zusammenseins ist (ihre Antwort lautet Nein).
In diesem Zusammenhang fasst der Artikel den Stand der Forschung über »freiwillig nicht-monogame« Beziehungen unter dem besagten englischen Begriff consensually non-monogamous (CNM) zusammen. Seitensprünge und Betrug sind damit ausgeschlossen. Laut der Studie geht man inzwischen davon aus, dass vier bis fünf Prozent der US-Amerikaner in einer solchen Beziehung leben. Das wären bis zu 16 Millionen Menschen allein in den USA.
Vergleichbare CNM-Zahlen für Deutschland haben wir nicht gefunden. In den verfügbaren Studien werden Seitensprünge erfasst – wieder das Problem, dass nur zwischen Monogamie und »allem anderen« unterschieden wird. In anderen ist die Fallzahl sehr klein, oder es sind Internet-Befragungen, bei denen nicht klar ist, ob sie repräsentativ sind.
Allerdings gibt es eigentlich keinen Grund anzunehmen, dass der Anteil wesentlich anders ausfallen würde als in den USA. Wir würden spekulieren, dass die allgemein größere Religiosität der Amerikaner dadurch ausgeglichen wird, dass sich die Poly-Subkultur dort früher gebildet und entsprechende Ideen damit weitere Verbreitung gefunden haben. Bis jemand in den deutschsprachigen Ländern eine wissenschaftlich belastbare Umfrage zu Poly macht, die Seitensprünge und andere Formen des Betrugs ausschließt, können wir uns nur auf solche Annahmen stützen und vermuten, dass es auch hierzulande bis zu fünf Prozent sind.
Wir sind keine Literaturwissenschaftler, aber auf der Grundlage von dem, was wir über die Jahre zu Poly gelesen haben, scheinen solche Beziehungen eher in der Science-Fiction eine Heimat gefunden zu haben als sonst wo. Das dürfte ein weiterer Grund sein, warum sich derartiges Gedankengut in den USA schneller verbreitete als hierzulande: Während Science-Fiction in Deutschland lange Zeit als »Trivialliteratur« verachtet wurde (und zum Teil noch wird), gibt es bei den Angelsachsen seit jeher weniger Vorurteile. Kein Wunder also, dass die deutschsprachige Poly-Gemeinde sich heute mit so vielen englischen Worten herumschlagen muss.
Kein Geringerer als der Altmeister H.G. Wells ließ 1906 in seinem utopischen Roman In the Days of the Comet (dt. Im Jahre des Kometen) eine Figur über Poly-Beziehungen schwärmen. Durch die Gase des besagten Kometen wird die Bevölkerung zu besseren Menschen, die Dinge wie Krieg und Eifersucht hinter sich lassen. Mit Verwunderung schauen sie auf ihr altes Leben zurück:
Der Theorie der alten Zeit nach gab es nur eine Liebe; uns, die wir auf einem Meer von Liebe schwimmen, wird es schwer, das zu begreifen. (…) Einander Freiheit zu lassen, war geradezu eine Schande.