Drei Leichen zum Frühstück - Eva Reichl - E-Book

Drei Leichen zum Frühstück E-Book

Eva Reichl

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Beschreibung

Am Ufer des Traunsees wird ein Toter gefunden. Es ist ein grauenvoller Anblick, denn der Mörder hat dem Mann die Beine abgeschnitten. Außerdem hat er für Chefinspektorin Lotta Meinich vom LKA Linz eine Nachricht hinterlassen: „Lügen haben kurze Beine“. Lotta weiß zunächst nicht, wo sie ansetzen soll, denn der Tote war Anwalt und Lokalpolitiker und hat sich nicht nur Freunde gemacht. Lottas Vater, Chefinspektor im Ruhestand, entdeckt im OÖ. Tagblatt einen Hinweis darauf, dass der Täter bald erneut zuschlagen wird. Doch wo und wann?

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Seitenzahl: 365

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Eva Reichl

Drei Leichen zum Frühstück

Oberösterreich-Krimi

Zum Buch

Tod mit Aussicht Am Ufer des Traunsees wird ein Toter gefunden. Der Mörder hat ihm beide Beine abgeschnitten und eine Nachricht für die Ermittler hinterlassen: »Lügen haben kurze Beine«. Ein ermordeter Anwalt und Lokalpolitiker, dem Lügen vorgeworfen werden – Chefinspektorin Lotta Meinich und ihr Kollege Daniel Prischko vom LKA Linz wissen nicht, wo sie mit ihren Ermittlungen ansetzen sollen. Bald entpuppt sich ein vermeintlicher Unfall auf einer Baustelle in Urfahr ebenfalls als Mord, da der Täter auch dort ein Sprichwort zurückgelassen hat. Als dann Lottas Vater Gustav, ein Chefinspektor im Ruhestand, im OÖ. Tagblatt unter den Todesanzeigen ein neues Sprichwort entdeckt, ist klar, dass der Täter ein drittes Mal zuschlagen wird. Können Lotta und ihr Partner diesen Mord verhindern? Doch nicht nur der Fall setzt Lotta unter Druck, auch dass ihr Vater sich immer wieder in die Ermittlungen einmischt, kostet sie einige Nerven. Würde er das nicht tun, hätte Lotta die Gefahr vielleicht erkannt. So aber kommt der Mörder ihr und ihrem Vater viel zu nahe.

Eva Reichl wurde in Oberösterreich geboren und lebt mit ihrer Familie im unteren Mühlviertel. Schon früh entdeckte sie ihre Leidenschaft für kreative Ausdrucksformen und hat vieles ausprobiert. Glas- und Materialkunst, Malen. Geblieben ist das Schreiben, da Worte kraftvoll sind und eigene Welten erschaffen können. Mit ihren Krimis und Thrillern verwandelt sie ihre Heimat Oberösterreich in einen Tatort getreu dem Motto: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Böse liegt so nah?

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.

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Alle Rechte vorbehalten

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung einer Illustration von: © Lutz Eberle

ISBN 978-3-7349-3148-2

Zitat

Schreiben ist Silber, Lesen ist Gold.

1. Kapitel

Lotta Meinich verbrachte gerne Zeit mit ihrem Vater, da diese Stunden ihr stressiges Leben als Chefinspektorin entschleunigten. Andererseits war es genau Gustav Meinichs Langsamkeit, die Lotta oftmals auf die Palme brachte, weil sie in den unpassendsten Momenten in Erscheinung trat.

Doch so ein Moment war dies gerade nicht.

»Was liest du da?«, fragte sie und biss von ihrer Brotscheibe mit selbst gemachter Bauernbutter ab. Bevor sie von Linz nach Steyregg gefahren war, hatte sie einen frisch gebackenen Laib Roggenkrustenbrot bei ihrem Lieblingsbäcker am Pfarrplatz geholt, ein Brot, das kein anderer so gut hinbekam wie die Naturbackstube: außen knusprig und innen zartweich. Lotta liebte den Geruch. Er erinnerte sie an ihre Kindheit, als ihre Großmutter selbst Brot gebacken hatte und Lotta es nicht hatte erwarten können, ein Stück davon zu kosten.

»Mhm«, brummte Gustav Meinich als Antwort, was so viel bedeutete, wie dass er mit dem Lesen des OÖ Tagblatts noch nicht fertig war und nicht gestört werden wollte.

»Wenn du mich zum Frühstücken einlädst, könnten wir doch zumindest miteinander reden«, probierte Lotta es erneut, mit ihrem Vater ein Gespräch anzufangen.

»Gleich«, ließ Gustav seine Tochter wissen.

Lotta schenkte sich Kaffee aus einer Glaskanne nach, die auf einem Korkuntersetzer auf dem Tisch stand. Ihr Vater war alt geworden, dachte sie, auf seinem Kopf befand sich kein einziges dunkles Haar mehr, und die weißen Haare schienen immer dünner zu werden. Falten zogen sich über seine Stirn, wenn er so wie jetzt in etwas vertieft war. Ebenso waren seine Lachfalten zu wahren Gräben in der Haut geworden. Die silberne Lesebrille saß mittig auf seiner Nase und verlieh ihm den Ausdruck eines Gelehrten. Zweifelsohne war Gustav Meinich ein intelligenter Mann, auch wenn seine Sturheit und seine Eigensinnigkeit seit seiner Pensionierung mit jedem Jahr ausgeprägter wurden.

»Das war kein Unfall«, sagte Gustav und legte die Zeitung auf den Tisch neben seinen Frühstücksteller, auf dem sich nur noch Brösel befanden.

»Was meinst du?«, hakte Lotta nach und strich ihre glatten, schulterlangen schwarzen Haare hinter das Ohr.

»Das mit dem Toten auf der Baustelle in Urfahr.« Gustav schaute seine Tochter über den Rand seiner Lesebrille an und nahm einen Schluck Kaffee.

»Das ist doch schon eine Woche her«, erinnerte sich Lotta. »Steht das erst heute in der Zeitung?«

Gustav zuckte mit den Schultern und schmierte sich ein frisches Butterbrot.

»Zeig her!« Lotta streckte den Arm nach dem OÖ Tagblatt aus.

»Ich bin noch nicht fertig«, brummte Gustav.

»Du kriegst es wieder.«

Gustav gab nach und reichte ihr die Zeitung.

»Die ist vom Montag, Papa. Heute ist Samstag. Wieso liest du das alte Ding? Die Nachrichten darin sind längst überholt.«

»Ich hab bisher keine Zeit gehabt«, erklärte Gustav. »Es ist so viel los gewesen …«

Lotta überlegte, ob es möglich war, dass sich ihr Vater nicht mehr daran erinnerte, dass er das OÖ Tagblatt schon gelesen hatte. Ihr war aufgefallen, dass er langsam vergesslich wurde. Erst vor zwei Wochen hatte er sie an ihrem freien Tag zum Frühstücken eingeladen, war dann aber nicht zu Hause gewesen. Später hatte er behauptet, dass er sie angerufen habe, um ihr kurzfristig abzusagen, weil sein Freund Rudi Gablonser seine Hilfe gebraucht habe. Auf Lottas Handy waren jedoch keine entgangenen Anrufe verzeichnet gewesen.

»Ihr Pensionisten seid immer im Stress«, sagte sie und las den Bericht über den Unfall auf einer Großbaustelle in Urfahr, wo ein Wohngebäude mit 75 angeblich bezahlbaren Wohnungen errichtet wurde. »Das war ein Unfall, Papa, ein Kollege von mir hat sich das angeschaut. Wir haben auf der Dienststelle darüber geredet, der Baumeister ist vom fünften Stock in die Tiefe gestürzt und hat sich das Genick gebrochen. Er war sofort tot. Er hat noch den Plan in Händen gehalten, als Bauarbeiter ihn in der Früh gefunden haben, das steht sogar in der Zeitung.«

»Und das findest du nicht seltsam?«, fragte Gustav mit vollem Mund.

»Was?«, hakte Lotta nach.

»Dass er den Plan in Händen gehalten hat, obwohl er fünf Stockwerke hinabgefallen ist«, präzisierte Gustav.

»Mein Kollege hat mit den Arbeitern geredet, die haben gesagt, dass ihr Chef häufig spät am Abend oder sogar mitten in der Nacht aufgekreuzt ist, um den Baufortschritt zu überprüfen. Das ist nicht die einzige Baustelle gewesen, die er geleitet hat. Er war ein Workaholic …«

»Ein was?«, fragte Gustav.

»Ein Workaholic ist einer, der zu viel arbeitet«, erklärte Lotta ihm.

»Kann man das nicht auf Deutsch sagen?«, murrte der 74-Jährige. »Ihr jungen Leute müsst immer irgendwelche Begriffe verwenden, die unsereins nicht versteht und uns dann alt vorkommen lässt.«

»So soll das natürlich nicht sein, Papa, tut mir leid«, erwiderte Lotta rasch.

Gustav winkte ab. »Was war jetzt mit den Arbeitern?«

»Von denen war niemand überrascht, dass der Unfall passiert ist. Im Gegenteil! Die haben schon viel früher damit gerechnet, weil ihr Chef einfach zu viel gearbeitet hat. Wenn du übermüdet und nicht bei der Sache bist und einen falschen Schritt auf so einem Gerüst machst, dann geht es mit dir halt bergab.« Lotta machte mit der Hand eine Abwärtsbewegung Richtung Holzboden, der unter der Ecksitzgruppe mit einem grün und orange gemusterten Teppich bedeckt war. Der Teppich hatte schon dort gelegen, als Lotta als kleines Mädchen hier gespielt hatte. Sie glaubte, dass ihre Mutter ihn ausgesucht hatte.

»Habt ihr alle befragt?«, wollte Gustav wissen. »Alle, die dort arbeiten?«

»Natürlich! Und die Bewohner in den umliegenden Häusern auch. Niemand hat etwas mitgekriegt, und keinem ist etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Wir schlampen nicht, das weißt du.«

»Was ich alles weiß, geht auf keine Kuhhaut. Und dass die Polizei nicht schlampt, kann ich leider nicht bestätigen.« Gustav seufzte.

»Was meinst du damit?«, fragte Lotta.

Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Ach, das ist lange her. Alte Sachen soll man nicht aufwärmen.« Gustav Meinich hatte 40 Jahre im Polizeidienst gestanden und war nun seit über 14 Jahren im Ruhestand. In seiner aktiven Zeit hatte er einiges erlebt und über manches davon redete er nicht gerne. Die Polizeiarbeit hatte sich seither stark verändert. Technische Entwicklungen und das Internet hatten sowohl die Ausübung von Verbrechen als auch deren Bekämpfung revolutioniert.

»Da hast du recht«, pflichtete Lotta ihrem Vater bei.

»Aber das mit dem Baumeister in Urfahr ist noch nicht lange her«, stellte Gustav fest und tunkte die Kruste seines Brotes in den Kaffee, was Lotta mit Schaudern registrierte.

»Trotzdem war es ein Unfall.« Sie reichte ihrem Vater die Zeitung zurück und entdeckte in seinem Häferl mehrere Brösel, die an der Oberfläche schwammen.

»Wer von den Kollegen hat den Fall denn bearbeitet?«, wollte Gustav erfahren.

»Der Michael Gsteinhauer«, gab Lotta preis, obwohl sie lieber über etwas anderes reden wollte als über die Arbeit.

»Den kenne ich nicht.«

»Der ist auf die Dienststelle gekommen, da warst du schon in Pension.«

»Und wie ist er so, dieser Steinhauer?«

»Gsteinhauer, Papa. Der Steinhauer ist der österreichische Schauspieler und Kabarettist.«

»Dann halt Gsteinhauer«, wiederholte Gustav den Namen schmatzend. In seinem Kaffeehäferl verschwand ein vollgesogener Brösel von der Oberfläche und sank geräuschlos in die Tiefe, wo er sich mit den anderen bereits ertränkten zu einem Brotbrei vermengen würde.

Lotta erinnerte sich daran, dass ihre Oma die gleiche Prozedur mit sämtlichen trockenen Lebensmitteln vollzogen hatte. Altes Brot, Zwieback, Biskotten, ja sogar Soletti waren in Kaffee, Milch oder Kakao getunkt und anschließend in jemandes Mund geschoben worden. Als Lotta noch klein gewesen war, war sie oftmals dieser Jemand gewesen. Später hatte sie sich zum Unverständnis ihrer Großmutter dagegen gewehrt. Wie es ausschaute, war ihr Vater nun im gleichen Alter wie Lottas Oma damals. Und irgendwann würde sie selbst in diesem Alter sein und …

»Ich hab dich etwas gefragt«, schreckte Gustav seine Tochter aus ihren Gedanken hoch.

»Ja? Was denn?« Lotta hatte nichts mitbekommen.

»Wie der Gsteinhauer so ist, will ich wissen«, wiederholte Gustav seine Frage.

»Eh okay. Der Gsteinhauer hat sich das gründlich angeschaut. Nicht überall, wo einer stirbt, steckt gleich ein Verbrechen dahinter.« Dass ihr Vater das leckere Krustenbrot in einen Brei verwandelte, hielt sie jedoch schon für eines. Das behielt sie aber für sich. Sie hegte den Verdacht, dass sich ihr Vater langweilte, auch wenn er mit dem Zeitungslesen angeblich nicht hinterherkam – warum auch immer. Jedenfalls deutete der Umstand, dass er anfing, hinter allem ein Verbrechen zu vermuten, darauf hin, dass ihm die Arbeit selbst nach so vielen Jahren im Ruhestand noch fehlte. Erst neulich hatte er behauptet, dass seiner Nachbarin etwas zugestoßen sei, da er vor Tagen einen verdächtigen Wagen vor ihrem Haus beobachtet und sie seither nicht mehr gesehen habe. Ihre Leiche liege bestimmt im Schlafzimmer und verrotte, ohne dass es jemandem auffiele. Gustav hätte sogar den Notruf gewählt, wenn Lotta nicht hinübergegangen wäre und Sturm geläutet hätte. Niemand hatte ihr die Tür geöffnet. Daraufhin hatte sich Lotta von Gustavs Hysterie anstecken und von den Kollegen der Dienststelle die Handynummer der Frau in Erfahrung bringen lassen. Als Lotta sie angerufen hatte, hatte sie ihr erzählt, dass sie bei ihrer Tochter sei und ihr mit den drei Kindern helfe, die allesamt krank seien.

»Ich spür das im Urin, dass da einer nachgeholfen hat«, sagte Gustav und versenkte die nächste Brotkruste im Kaffee.

»Papa, nicht schon wieder … Können wir jetzt bitte in Ruhe weiterfrühstücken und uns über andere Dinge unterhalten als über einen Mord, der keiner ist? Zum Beispiel darüber, was du so machst, sodass du keine Zeit zum Zeitunglesen hast.«

»Du erzählst mir aber, wenn du etwas von diesem Gsteinhauer erfährst«, verlangte Gustav.

»Klar, das mache ich«, antwortete Lotta wohl wissend, dass das nicht passieren würde. Der Fall war wahrscheinlich längst abgeschlossen.

Gustav nickte. Damit schien er zufrieden zu sein.

»Da wäre noch etwas«, sagte er dann jedoch.

Lotta stöhnte auf und hoffte, dass ihr Vater es nicht mitbekommen hatte. Sie wollte nicht genervt wirken, auch wenn sie seine Hartnäckigkeit oftmals als anstrengend empfand. Doch jedes Mal überkam sie danach ein schlechtes Gewissen, und sie nahm sich vor, mehr Geduld aufzubringen und für ihn da zu sein, wie einst er für sie da gewesen war. »Ja, was denn?«

»Ich glaub, du warst schon lange nicht mehr am Grab von der Mama. Sie täte sich freuen, wenn du sie wieder einmal besuchst.«

Der frühe Tod ihrer Mutter war ein wunder Punkt in Lottas Leben. Sie war acht Jahre alt gewesen, als Theresa Meinich auf dem Heimweg von der Arbeit bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Lotta erinnerte sich noch gut an den Moment, als ihr Vater sie mit verweinten Augen von der Großmutter abgeholt und ihr mitgeteilt hatte, dass ihre Mutter nun ein Engel sei und auf sie aufpassen würde. Nächtelang hatte Lotta in den Himmel gestarrt und gehofft, ihre Mutter würde ihr ein Zeichen schicken. Sie hatte gebetet und gefleht, alles möge nur ein Albtraum sein. Sie hatte ihre Mutter beschimpft und sich sogar einzureden versucht, dass sie sie hassen würde, weil sie Lotta auf der Erde zurückgelassen hatte. Weil sie sie nicht mitgenommen hatte. Jede Nacht war es Lotta vorgekommen, dass Sterne vom Firmament verschwanden und der Nachthimmel immer finsterer wurde. Manchmal dachte sie das selbst heute noch.

»Du hast recht, Papa. Ich fahr nachher zu ihr und zünde eine Kerze an.«

Gustav lächelte.

Lottas Handy gab einen Signalton von sich. Dann noch einen. Zwei Nachrichten. Vielleicht etwas Dringendes? Sie zog das Smartphone aus der Tasche und wischte darauf herum.

»Ich dachte, du hast heute frei?«, sagte Gustav, ohne aufzublicken.

»Hab ich auch«, erwiderte Lotta auf das Display konzentriert.

»Schaut aber nicht so aus.«

»Du kennst das ja, das war zu deiner Zeit nicht anders.«

»Zu meiner Zeit war vieles anders.«

»Ich weiß, früher war alles besser. Das hast du schon tausendmal gesagt.« Lotta verdrehte die Augen.

»Weil es stimmt. Damals hat es in Österreich kaum einen Mord gegeben. Das haben wir bloß aus dem Fernsehen gekannt, aus den Filmen und aus Amerika. Weil die da drüben ganz deppert nach Waffen sind. Und wenn Depperte Waffen haben, dann weiß man eh, was dabei rauskommt. Brauchst dich ja nur auf der Welt umzuschauen. Überall finden Kriege statt und die Menschen schlagen sich die Schädel ein!«

Lotta steckte ihr Handy in die Tasche und stand auf. »Ich muss los«, sagte sie und drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Wange.

»Was ist denn passiert?«

»Es gibt einen Toten.«

»Ist er ermordet worden?«

»Das weiß ich nicht, dafür ist es zu früh.« Lotta schlüpfte in ihre Lederjacke. Trotz des beginnenden Frühlings war es morgens noch ziemlich kühl. Mehr als zehn Grad zeigte das Thermometer nicht an. Tagsüber war es in den letzten Tagen schon angenehm warm geworden, sodass mancherorts die Frühlingsblüher wie Tulpen und Narzissen aus der Erde drängten. Aber wer sich dazu verleiten ließ, dünnere Kleidung anzuziehen, lief Gefahr, vom Märzenkäubl erwischt zu werden, wie der Volksmund eine drohende Verkühlung bezeichnete.

»Ruf mich an, wenn du mich brauchst«, sagte Gustav. Seine Augen glänzten, was Lotta schon lange nicht mehr bei ihrem Vater gesehen hatte. Hatte sie doch recht, dem alten Mann war langweilig.

»Das mache ich«, sagte sie und lächelte ihn an, obwohl sie wusste, dass diese Situation nicht eintreten würde. Schließlich war ihr Vater aus dem aktiven Dienst beim Landeskriminalamt längst ausgeschieden und sie war nun die Chefinspektorin.

»Ich hab mein Handy immer dabei«, rief Gustav ihr nach.

»Pfiat dich, Papa!« Lotta winkte ihrem Vater zum Abschied zu.

2. Kapitel

Lotta Meinich folgte den Angaben des Navigationsgerätes in ihrem zivilen VW Passat nach Gmunden. Dort lotste sie die Frauenstimme von der Nordspitze am Ostufer des Traunsees über die Traunsteinstraße zu einem von Einsatzfahrzeugen überfüllten Parkplatz mit dem passenden Namen »Unterm Stein«. Erst kürzlich hatte der ORF eine Sendung über diese Gegend ausgestrahlt, fiel Lotta ein, während sie aus dem Seitenfenster zum Traunstein sah, der als höchster Berg der Region bis auf 1.691 Meter Seehöhe hinaufragte. Der Wächter des Salzkammergutes wurde er genannt, hatte sie sich von dem Beitrag gemerkt, doch offenbar hatte dieser Wächter seine Aufgabe nicht erfüllt, denn am Fuße des Berges gab es eine Leiche. Lotta war schon mehrmals am Traunsee gewesen, meist zum Baden. Dann lag sie in der Sonne, las ein gutes Buch und sprang zwischendurch ins glasklare Wasser. Da der Traunsee zu den fünf kältesten Seen in Österreich zählte, versprach er in den heißen Sommermonaten eine willkommene Abkühlung.

Lotta stellte ihren Dienstwagen hinter den ihres Kollegen Daniel Prischko. Er hatte nicht auf sie gewartet, sondern war schon zum Fundort der Leiche aufgebrochen. Ein Uniformierter, der darauf achtete, dass keine neugierigen Schaulustigen das rot-weiße Absperrband zu dem vom Südende des Parkplatzes abgehenden Weg übertraten, wies Lotta die Richtung.

»Da lang, Frau Chefinspektorin«, sagte er und deutete zwischen Häuser und Hecken hindurch.

»Danke.« Lotta folgte dem Pfad hinab zum Seeufer. Ein schmaler Schotterstreifen führte von Bucht zu Bucht. Zwischen aus dem Ufer ragenden Baumstämmen und angeschwemmtem Holz kletterte die Chefinspektorin den Schotterstreifen in ihren wanderuntauglichen Schuhen mehr entlang, als dass sie ging. Nur weil sie die Kollegen ein gutes Stück weiter vorne schon sehen konnte, zweifelte sie nicht daran, dass sie auf dem richtigen Weg war. Endlich erreichte sie den Kiesstrand.

»Grias euch!«, rief sie in die Runde aus Polizisten und Kollegen von der Tatortsicherung und nahm sich aus den am Seeufer bereitgestellten Schachteln Handschuhe und Überzüge für die Schuhe heraus. Sie streifte beides über und trat näher an das Opfer heran, das von der Hüfte abwärts im Schotter zu stecken schien. Es war ein Mann, Lotta schätzte ihn auf Mitte 50. Er trug ein weißes Hemd, eine hellblaue Krawatte und ein dunkelblaues Sakko. Sein Körper war zur Seeseite gewandt, als starrte er aufs offene Wasser hinaus. Die Augen drückten Qualen aus und der Mund war geöffnet, als brüllte der Mann vor Schmerzen. Dass er nicht erst nach seinem Tod hierhergebracht worden war, schloss Lotta aus dem vielen Blut, das rund um das Opfer die Kiesel rotbraun gefärbt hatte. Der Menge nach zu urteilen, mussten es mehrere Liter sein, die der Mann verloren hatte. Die sanfte Brise trug den metallischen Geruch hinaus aufs Wasser, worüber Lotta nicht gerade unglücklich war. Das Wenige, das von der Hose zu sehen war, war blutdurchtränkt, und auf dem weißen Hemd befanden sich unzählige Spritzer. Die Leiche lockte erste Insekten an.

»Ich hoffe, du hast nicht gefrühstückt.« Mit diesen Worten empfing Daniel Prischko seine Vorgesetzte. Die Sonnenbrille hatte er in seine dunkelbraunen Haare geschoben.

»Geht schon«, winkte Lotta ab. Dass die männlichen Kollegen seit ihrer Ernennung zur leitenden Chefinspektorin gerne sähen, wie sie angesichts eines derart grauenvollen Anblicks grün im Gesicht wurde, wusste sie. Aber diesen Gefallen tat sie ihnen nicht.

»Und? Wie war es bei deinem Vater?«, fragte Prischko. Er trug wie Lotta Jeans und Lederjacke.

»Wie immer«, erwiderte Lotta wortkarg. Sie wollte ihrem Kollegen nicht mitteilen, dass sie froh gewesen war, zu einem Einsatz fahren zu können, statt bei ihrem Vater zu bleiben, der in alten Zeitungen alte Geschichten las und hinter allem ein Verbrechen witterte. Mit ihrem schlechten Gewissen deswegen musste sie allein klarkommen.

»Das hier ist jedenfalls nicht wie immer«, lenkte Prischko das Gespräch auf den Toten. »Sieh mal da rüber!« Der Gruppeninspektor deutete den Schotterstreifen am Seeufer entlang. Vor einem in das Gewässer ragenden Strauch, der gerade erste Blätter austrieb, knieten Tatortsicherer auf dem Boden. Die Gerichtsmedizinerin telefonierte ein wenig abseitsstehend und verdeckte mit ihrem knielangen beigen Frühlingsmantel, der sich bei jedem Windstoß wie ein Segel aufblähte, die Sicht auf das, was für die Kollegen von der Tatortgruppe offensichtlich von Interesse war.

»Haben wir noch ein Opfer?« fragte Lotta.

»Schau selber. Sonst würde ich ja wie bei einem guten Witz die Pointe verraten.«

Lotta ging die gut 20 Meter weiter. Auf halber Strecke kam sie an einer Stelle vorbei, wo noch mehr Blut in den Boden gesickert war. Die Kieselsteine waren unregelmäßig rotbraun gefärbt. Zweifelsohne war das Blut auch in den See gelangt, das erkannte sie an den Spuren an dessen Ufer.

Hatte der Mörder sein Opfer hier getötet?

Wie hatte er den Mann umgebracht, dass der Tote so viel Blut verloren hatte?

Überrascht blieb Lotta stehen. Im Sediment des Seeufers steckten zwei Beine, mit den Füßen nach oben. An den Füßen befanden sich braune Lederschuhe.

»Sind das seine?«, fragte die Chefinspektorin die Männer, die gerade rund um die Gliedmaßen Spuren sicherten, und deutete hinüber auf den Torso.

»Das werden die Laborergebnisse zeigen«, erwiderte einer.

»Wir gehen aber davon aus«, sagte ein anderer.

Lotta nickte. Klar, für Fakten war es zu früh, das wusste sie. Dennoch war es naheliegend, dass hier ein Mensch einen anderen auseinandergeschnitten und die Körperhälften mit den blutigen Enden voran in den Boden gesteckt hatte.

Was für ein krankes Hirn machte so etwas?

»Krass, nicht?«, fragte Prischko, als Lotta mit der Begutachtung fertig war.

»Jedenfalls außergewöhnlich«, fand sie.

Die Gerichtsmedizinerin beendete ihr Telefonat. »Tut mir leid«, stieß sie in Richtung der Kriminalbeamten aus und strich sich ein paar blonde Strähnen, die sich aus dem Zopfgummi gelöst hatten, aus ihrem Gesicht. Im Gegensatz zu Lotta, die am liebsten Jeans und weite Pullis oder Shirts trug, war sie stets modisch gekleidet. Heute in einem pinken Hosenanzug und weißen Sneakers, die jedoch wegen des Gangs am Seeufer entlang nicht mehr ganz so strahlend sauber waren. »Nele ist krank, und Paul ist völlig überfordert, zumal Sophie quietschvergnügt durch die Wohnung springt und ausgerechnet den Blumenstock vom Tisch gestoßen hat, den ich von meiner Schwiegermutter zum Geburtstag geschenkt bekommen habe. Dabei sind die Blätter geknickt, die Blüten abgebrochen und der Topf ist zerbrochen. Das wird wieder ein Theater geben!« Ilsa Vorkramer stieß theatralisch die Luft aus.

»Wegen Sophie?«, hakte Lotta nach. »Das hat sie doch sicher nicht absichtlich gemacht.«

»Nein, wegen meiner Schwiegermutter! Sie hat den hässlichsten Blumenstock, den sie finden konnte, für mich ausgesucht, darauf wette ich. Mit so einem grässlichen braunen Übertopf. Sicher behauptet sie jetzt, dass ich ihn extra so hingestellt habe, dass er beim Spielen zu Bruch geht.«

»Ihr versteht euch nicht besonders«, schloss Lotta aus dem Gehörten.

»Das ist noch untertrieben«, erwiderte Ilsa. »Aber das ist mir mittlerweile wurscht. Schlimm ist nur, dass Nele krank ist und Paul so seine Nöte hat, die Sophie zu bändigen. Die Kleine hat Hummeln im Hintern. Es ist eh nur eine Frage der Zeit, bis auch sie Fieber kriegt. Und dann wahrscheinlich als Nächstes der Paul.« Ilsa Vorkramer lächelte gequält. Dass sie trotz des anspruchsvollen Jobs als Gerichtsmedizinerin, die für sämtliche forensischen Fälle in Oberösterreich und Salzburg zuständig war, noch zwei Kinder großzog, auch wenn ihr Ehemann Paul den Löwenanteil davon übernahm, bewunderte Lotta.

»Was kannst du uns denn schon sagen?«, fragte sie.

»Nicht viel«, gab Ilsa Vorkramer unerwartet zu. Normalerweise war sie darauf erpicht, mit ihrem Wissen und ihrer Schnelligkeit zu glänzen. Das war auch so eine Frauensache: Immer mussten 120 Prozent abgeliefert werden, während sich viele männlichen Kollegen mit weitaus weniger zufriedengaben, diese Erfahrung hatte Lotta schon mehrmals gemacht. »Außer dass es das Werk eines Geisteskranken ist«, fügte die Gerichtsmedizinerin mit einem Seufzen hinzu, weil erneut ihr Handy läutete.

Lotta zog überrascht die Augenbrauen hoch.

»Das war unprofessionell, ich weiß. Aber schaut euch die Sauerei an.« Ilsa drückte den Anruf weg und deutete den schmalen Schotterstreifen entlang.

»Die Inszenierung des Opfers ist schon bizarr«, pflichtete Prischko ihr bei. »Es sieht wie ein Wurm aus, der in der Erde steckt und von dem nur der Anfang und das Ende rausragen.«

»Oder wie eine Schlange«, sagte Ilsa.

»Glaubt ihr, der Täter wollte so etwas darstellen?« Lotta bezweifelte das, wenngleich es dem Mörder sicher um mehr als bloß den Tod des Opfers gegangen war. Möglicherweise verbarg sich in der Zurschaustellung der Leiche eine Botschaft, die sie noch nicht begriffen hatte.

»Der Körper ist verdreht. Das Gesicht und die Zehen weisen in Richtung See, und wenn die Darstellung andeuteten soll, dass der Körper unter der Erde weitergeht, was bei der Distanz zwischen Oberkörper und Beine natürlich völliger Quatsch ist, dann müsste der ja auch zum See gewandt sein, was unlogisch ist. Passender wäre es, wenn der Kopf zum Ufer hin ausgerichtet wäre und die Füße in die entgegengesetzte Richtung zeigten. Also wenn es eine Darstellung eines Wurmes oder einer Schlange sein soll, dann ist sie meines Erachtens anatomisch nicht korrekt«, tat Ilsa ihre Meinung kund.

»Künstlerische Freiheit, wenn man so will«, warf Prischko ein.

»Das ist natürlich möglich«, gab die Gerichtsmedizinerin zu.

»Wissen wir, wer der Tote ist?«, fragte Lotta.

»Er hatte keinen Ausweis bei sich. Ich mach mal ein Foto von ihm und checke die Vermisstenanzeigen.« Prischko ging den schmalen Schotterstreifen zurück zum Oberkörper des Toten und fotografierte ihn mit dem Smartphone. Das waren Fotos, die niemand auf seinem Handy haben wollte, nicht einmal Kriminalbeamte.

»Wurde er hier umgebracht?«, fragte Lotta und blieb an der Stelle mit dem meisten Blut auf den Kieselsteinen stehen. Sie scannte das kahle Gebüsch mit den Augen, ob sie etwas entdeckte, mit dem die Leiche in der Mitte durchtrennt worden sein könnte, sah aber nichts. Dann wandte sie sich um in Richtung See und ließ ihren Blick über das anfangs seichte Wasser gleiten. Auch dort war nichts zu erkennen, was einer Säge oder Ähnlichem glich. Nur Sediment und Steine.

»Das viele Blut spricht jedenfalls dafür. Wenn die Aorta durchtrennt und die Blutung nicht gestoppt wird, tritt in wenigen Minuten der Exitus ein.« Ilsa stellte sich neben Lotta.

»Was glaubst du, was für ein Werkzeug der Täter benutzt hat?«, fragte die Chefinspektorin.

»Sobald wir die Leichenteile aus dem Sediment geholt haben, untersuche ich die Wundränder. Dann kann ich dir mehr sagen. Eins vorweg: Mit einem Küchenmesser ist das nicht zu schaffen, immerhin befinden sich in dieser Region starke Knochen.« Die Gerichtsmedizinerin deutete kreisförmig auf die Oberschenkel und das Becken. »Eine Säge wird er wohl schon benutzt haben.«

»Die hat er zum Tatort mitnehmen müssen …«, überlegte Lotta laut.

»Klar! Hier gibt es nichts, was dafür geeignet wäre«, pflichtete Ilsa ihr bei.

»Demnach war es ein geplanter Mord und keine Tat im Affekt«, schloss Lotta.

Ilsa nickte. »Davon gehe ich aus.«

»Er hat ihn auch irgendwie hierherschaffen müssen.« Lotta sah in beide Richtungen des Seeufers, wo es unmöglich war, mit einem Wagen herzufahren. Blieb nur der See. Oder war das Opfer gar selbst zu seiner Hinrichtung gekommen? War es arglos in einen Hinterhalt geraten?

»Das rauszufinden fällt dann wohl in dein Aufgabengebiet.« Die Gerichtsmedizinerin schenkte ihr ein Lächeln, das allerdings verschwand, als ihr Handy erneut läutete.

»Wann ist er denn gestorben?«, fragte Lotta rasch, bevor die Gerichtsmedizinerin abermals telefonieren würde. Wie es schien, brauchte ihr Mann mit den Kindern wirklich dringend Hilfe.

»Irgendwann heute Nacht. Mehr weiß ich noch nicht …« Ilsa Vorkramer wandte sich entschuldigend ab und drückte das Handy an ihr Ohr. »Was ist denn jetzt schon wieder? … Nein, das darf sie natürlich nicht … Ich hab noch … Nein, jetzt …«

Lotta sah auf den Traunsee hinaus, der dunkel zurückstarrte. Sie wusste, dass er mit seinen 191 Metern der tiefste See Österreichs war und alles für immer verschlang, wenn niemand danach suchte. Schon mehrere Menschen hatten ein nasses Grab in ihm gefunden. Die meisten Toten waren Unfallopfer gewesen, aber auch das Opfer eines aufsehenerregenden Mordfalls war in diesem See beseitigt worden. Lotta erinnerte sich, dass im Jahr 2016 ein Mann aus Hessen seine Frau getötet, zerstückelt und die Leichenteile in mehreren Koffern verpackt im Traunsee versenkt hatte. Anschließend hatte er sich selbst ertränkt. Die Tat hatte wochenlang für Schlagzeilen gesorgt, und Lotta war sogar nach Darmstadt gefahren, um sich mit den hiesigen Kollegen abzustimmen.

Doch der Fall damals war mit jenem heute nicht vergleichbar. Der Täter aus Deutschland hatte seine Frau und sich selbst in den Tiefen des Sees verschwinden lassen wollen. Der jetzige Mörder hatte sein Opfer hingegen inszeniert. Er wollte, dass der Mann gesehen wurde. Dass sein Tod wahrgenommen wurde. Dass sie alle verstanden, warum er hatte sterben müssen.

Doch Lotta verstand nicht. Noch nicht.

»Taucher sollen den Traunsee nach einer Säge absuchen«, sagte sie zu Prischko, als er zurückkam. »Vielleicht hat der Täter sie ins Wasser geworfen. Ich würde das so machen. Wenn er eine Motorsäge verwendet hat, kriegt er das Blut niemals mehr ab, das setzt sich in sämtlichen Ritzen fest und wird im Labor entdeckt, das weiß mittlerweile jeder. Ich bin mir sicher, dass er sich ihr entledigt hat.«

»Ich gebe es gleich weiter«, nahm der Gruppeninspektor die Anweisung entgegen.

»Hast du wegen der Identität des Toten etwas rausgefunden?«, fragte Lotta.

»Noch nicht. Die Kollegen geben Bescheid, sobald sie die Vermisstenanzeigen überprüft haben. Es kann natürlich sein, dass der Mann bislang gar nicht als vermisst gemeldet wurde, weil er zum Beispiel alleine lebt und niemand seine Abgängigkeit bemerkt hat.«

Lotta nickte. Dass das Ableben von Menschen unentdeckt blieb, war keine Seltenheit. Oftmals dauerte es Tage, bis jemandem auffiel, dass die Person in der Nebenwohnung tot war. Meist deuteten überfüllte Briefkästen oder ein sich ausbreitender Verwesungsgeruch darauf hin.

Das wäre auch bei ihr selbst der Fall, dachte Lotta. Seit sie geschieden war, hatte sie nur noch ihren Vater, und gelegentlich sahen sie einander mehrere Tage nicht. Gut, sie telefonierten häufig, aber manchmal ging sie nicht ran, weil er sie zu den unmöglichsten Zeiten anrief. Hin und wieder meldete sie sich erst am nächsten Tag bei ihm, und wenn es ihr zeitlich gar nicht in den Kram passte, wartete sie, bis er sie wieder kontaktierte …

»Ich frag mich, wie der Täter sein Opfer hergebracht hat. Der Zugang zum Seeufer ist an dieser Stelle ja nicht besonders komfortabel. Und dass der Tote freiwillig hergelaufen ist, mit Anzug und Krawatte und in diesen Schuhen, kann ich mir eigentlich nicht vorstellen«, unterbrach Prischko Lottas Gedanken mit einer Überlegung, die sie selbst schon angestellt hatte. Den schmalen Kiesstreifen zum Ufer nahmen höchstens Wanderer. Das am Seeufer wachsende Gestrüpp hing teilweise über den Weg, wodurch es noch schwieriger wurde, ihn zu begehen.

»Vielleicht hat er ihn mit einer Waffe bedroht. Mit einer Pistole im Rücken gehst du die Strecke, auch in solchen Schuhen. Es gibt noch eine Straße weiter oben, die für den allgemeinen Verkehr allerdings gesperrt ist«, teilte die Chefinspektorin dem Kollegen mit.

»Schon, aber die mündet viel weiter vorne in den Miesweg. Da müsste der Täter mit seinem Opfer von der anderen Seite hergewandert sein, und die Strecke von dort hierher ist nicht viel besser als der Weg, den wir genommen haben«, erwiderte Prischko.

»Du kennst dich in der Gegend aus?« Lotta war neugierig.

»Als die Kinder noch klein waren, waren wir viel wandern«, erklärte der Gruppeninspektor. »Unter anderem am Traunsee.«

Lotta wusste, dass Prischko bis heute unter seiner Scheidung litt. Vor allem, wenn er an die Zeit erinnert wurde, als er, seine Ex-Frau und seine beiden Töchter noch eine richtige Familie gewesen waren. Er gab nach wie vor seiner Ex-Frau die Schuld am Scheitern ihrer Ehe und damit am Zerbrechen seiner heilen Welt und behauptete, dass er es nicht habe kommen sehen. Dass sie nie mit ihm darüber gesprochen habe, bevor sie die Scheidung eingereicht hatte. Lotta vermutete jedoch eher, dass Prischko nicht richtig zugehört hatte oder nicht hatte zuhören wollen, wie das oftmals bei Ehepaaren der Fall war, die sich auseinanderlebten.

»Der Täter könnte ein Boot genommen haben. Wenn das Opfer bewusstlos gewesen ist, was ich aufgrund seines grausamen Tods hoffe, dann wäre ein Boot die einfachste Möglichkeit gewesen, hierher ans Ufer zu gelangen«, überlegte Lotta laut.

»Wir können unmöglich alle Boote am Traunsee auf Spuren untersuchen. Dafür bräuchten wir eine ganze Armee an Tatortsicherern, die wir nicht haben«, wandte Prischko ein.

»Es gibt noch eine Variante, wie das Opfer hergekommen sein könnte«, sagte Lotta.

»Der Täter hat es unter einem Vorwand hergelockt«, sprach Prischko diese Möglichkeit auch schon aus.

»Der Mann trägt einen Anzug und Lederschuhe. Wandern war der gewiss nicht. Also ist er kein Zufallsopfer.«

»Es muss jedenfalls einen schwerwiegenden Grund gegeben haben, warum er in diesem Aufzug den Weg auf sich genommen hat. Ein Freundschaftstreffen war das gewiss nicht.«

»Vielleicht steht sein Auto vorne auf dem Parkplatz«, fiel Lotta ein. »Überprüf das bitte!«

»Soviel ich weiß, darf man dort nur drei Stunden parken. Wenn ein Wagen schon länger da steht, haben wir einen Anhaltspunkt.« Prischko drückte das Handy an sein Ohr und gab den uniformierten Kollegen den Auftrag, sämtliche Autos auf dem Parkplatz »Unterm Stein« zu kontrollieren.

»Wer hat ihn eigentlich gefunden?«, fragte Lotta, als Prischko das Telefonat beendet hatte.

»Ein Ehepaar, das den Miesweg entlangwandern wollte. Die beiden werden von der Rettung vorne auf dem Parkplatz versorgt, die haben einen Schock. Kein Wunder, bei dem Anblick. Da willst du ein paar schöne Stunden verbringen und etwas für deine Fitness tun und stolperst nicht buchstäblich, sondern tatsächlich über eine Leiche. Noch dazu über eine so übel zugerichtete.«

»Dann schlage ich vor, wir gehen zurück und …«

»Kommt ihr mal?«, wurde Lotta von einem Tatortsicherer unterbrochen. Er stand neben dem im Seeufer steckenden Oberkörper und hielt etwas in der Hand.

Lotta und Prischko traten näher.

»Was ist das?«, fragte die Chefinspektorin.

»Das hatte der Tote in der Brusttasche seines Hemds.« Der Tatortsicherer streckte den Kriminalbeamten einen gefalteten Zettel entgegen.

Lotta nahm ihn mit ihren behandschuhten Händen und faltete ihn auseinander. Auf dem weißen A4-Papier waren vier Worte aufgedruckt in einer Schrift, die aussah, als wäre der Text per Hand geschrieben worden.

»Und? Was steht drauf?«, fragte Prischko neugierig.

»Lügen haben kurze Beine«, las Lotta vor.

»Wow!« Prischko war sichtlich beeindruckt. »Das passt zu der Leiche«, stieß er aus und schaute auf das Opfer neben ihnen, als müsste er sich vergewissern, dass dieses tatsächlich keine unteren Extremitäten mehr hatte. »Wir haben es also mit einem Täter zu tun, der gerne mit Lebensweisheiten um sich schmeißt.«

»Ich wüsste nicht, was das für eine Lebensweisheit sein soll«, warf Lotta ein und deutete auf die Leiche. Danach reichte sie den Zettel dem Tatortsicherer zurück, der ihn in einen Asservatenbeutel steckte.

»Das Opfer hat es mit der Wahrheit nicht so ernst genommen, wenn man dem Täter Glauben schenken darf. Denn wenn doch, hätte er ihm nicht dieses Sprichwort in die Brusttasche gesteckt, damit wir es finden. Es ist eine Botschaft an uns«, schlussfolgerte Prischko.

»Und wieso bringt er den Mann ausgerechnet an diesem Ort um?«, fragte Lotta.

»Weil er hier ungestört seine kranke Vision in die Tat umsetzen konnte«, mutmaßte der Gruppeninspektor. »Am Seeufer bist du weitab vom Schuss, da stört dich niemand. Wenn das Opfer geschrien hat, dann hat es niemand gehört. Der Traunsee hat seine Schreie verschluckt und ist wahrscheinlich der einzige Zeuge dieser schrecklichen Tat.«

»Der Traunsee ist der einzige Zeuge«, wiederholte Lotta. »Das könnte ein Buchtitel sein.«

Prischko lächelte. »Ich gebe mir Mühe …«

Sein Handy läutete. »Die Kollegen von der Dienststelle«, murmelte er und nahm das Gespräch entgegen.

Während der Gruppeninspektor telefonierte, überlegte Lotta, ob es eine Verbindung zwischen dem Opfer und diesem Ort geben könnte. Sie glaubte nicht, dass die Stelle vom Täter zufällig ausgewählt worden war, dafür erschien sie ihr zu speziell. Sie sah nach oben, wo die Gesteinsmassen des Traunsteins hoch über ihnen aufragten. Sofort fühlte sie sich winzig und unbedeutend. Berge hatten diese Wirkung auf sie. Ihre millionenalte Beständigkeit und ihre überragende Dimension regten Lotta an, über so manches in ihrem Leben nachzudenken und zu hinterfragen, ob sie alles richtig machte.

»Wir wissen, wer das Opfer ist«, unterbrach Prischko erneut ihre Gedanken.

Sie wandte sich ihm zu. »Ja?«

»Vincent Molov«, las Prischko von seinem Display ab. Offenbar hatten ihm die Kollegen von der Dienststelle die relevanten Daten über das Opfer aufs Handy geschickt. »Er war Rechtsanwalt in Kirchdorf an der Krems und dort im Stadtgemeinderat tätig. 53 Jahre alt, verheiratet, eine erwachsene Tochter.« Prischko steckte das Smartphone wieder ein.

»Ein Rechtsanwalt und Politiker, der von seinem Mörder bezichtigt wird, gelogen zu haben«, fasste Lotta zusammen. »Da weiß man ja gar nicht, wo man anfangen soll. Beide Berufsgruppen würden im Augenblick keinen Beliebtheitswettbewerb gewinnen, und das meine ich nicht als Lebensweisheit.«

Prischko lachte.

Nun klingelte Lottas Handy. Auf dem Display stand »Papa«. Sie seufzte innerlich.

»Willst du nicht rangehen?«, fragte der Kollege.

Lotta hatte tatsächlich in Erwägung gezogen, es nicht zu tun, änderte aber ihre Meinung. »Ja, Papa?«

»Wisst ihr schon, wer der Tote ist?«, drang Gustavs aufgeregte Stimme an ihr Ohr.

Die Chefinspektorin wandte sich ab und ging ein paar Schritte am Seeufer entlang. Es mussten ja nicht gleich alle mitkriegen, dass sie mit ihrem Vater redete. Es reichte schon, dass Prischko davon wusste. »Ja, aber ich kann dir …«

»Geht es um den vermeintlichen Baustellenunfall in Urfahr? Bist du dort und schaust dir alles an? Ein bisschen spät, aber immerhin …«

Lotta hörte den Tadel in den Worten ihres Vaters und ärgerte sich über ihn. Noch immer mischte er sich in die Polizeiarbeit ein, obwohl diese ihn längst nichts mehr anging. »Nein, es geht nicht um den Baustellenunfall, aber ich …«

»Ein neuer Mord also?«, schlussfolgerte Gustav.

»Tut mir leid, ich muss jetzt …«

»Komm heute zum Abendessen, dann kannst du mir alles in Ruhe erzählen. Es gibt Schnitzel mit Bratkartoffeln, das magst du doch so gerne«, lockte der alte Mann seine Tochter.

»Heute ist Samstag, Papa. Schnitzel kochst du sonst nur sonntags«, wunderte die sich.

»Dann ist heute eben Sonntag«, erwiderte Gustav Meinich. »Man muss flexibel sein, Kind. Auch in der Ermittlungsarbeit! Also, kommst du?«

Lotta verdrehte die Augen. »Ja, mach ich.«

»Gut! 18 Uhr. Und sei pünktlich!«

Die Verbindung wurde unterbrochen.

Lotta starrte auf das Display. Sie hasste es, wenn ihr Vater einfach auflegte, ohne sich zu verabschieden. Außerdem hatte er es schon wieder geschafft: Er hatte sie dazu gebracht, etwas zu tun, was sie nicht wollte. Mit dem Schnitzel an einem Samstag hatte er ihr einen Köder hingeworfen und sie hatte zugeschnappt. Aber das war das letzte Mal, nahm sie sich vor. Das allerletzte Mal!

3. Kapitel

Lotta Meinich fuhr mit ihrem Dienstwagen nach Kirchdorf zu der Adresse des Toten, auf ihrem Beifahrersitz saß Daniel Prischko. Sie mussten die nunmehrige Witwe über das Ableben ihres Ehemannes informieren. Das war eine Aufgabe, die niemand gerne übernahm, auch Lotta nicht. Als Chefinspektorin gehörte es jedoch dazu.

Der VW Passat hielt vor einem schmucken Stadthaus in der Kirchdorfer Innenstadt. Dem Gebäude war anzusehen, dass es den Besitzern nicht an Geld mangelte. Die Rahmen um die Fenster des zweistöckigen Hauses hatten Handwerker stuckartig herausgearbeitet, die Fassade wirkte dadurch dreidimensional. Ein Portal mit einer Doppeltür und einer großzügigen Überdachung aus Glas und Nirosta hieß die Besucher willkommen. In ein Schild aus poliertem Metall gleich neben der Tür war in großen Buchstaben »Dr. Vincent Molov, Rechtsanwalt« eingraviert.

»Wie es ausschaut, war das nicht nur seine Wohnadresse, sondern er hat hier auch gearbeitet«, schlussfolgerte Lotta und drückte auf die Klingel.

»Das bietet sich ja auch an«, erwiderte ihr Kollege. »Das Gebäude ist nicht gerade klein und hat eine gute Lage.«

»Ich würde das nicht wollen, Arbeit und Privates so eng beieinander. Das wäre, als würden wir über der Dienststelle wohnen«, meinte Lotta.

»Dann müsste ich nicht ständig im Stau stehen. Die Linzer Zufahrtsstraßen sind zu den Stoßzeiten ständig verstopft.« Prischko sah es offenbar pragmatisch.

»Dafür müsstest du bei jeder Kleinigkeit ins Büro kommen, weil alle wissen, dass du in zwei Minuten zur Stelle bist«, zeigte Lotta einen nicht von der Hand zu weisenden Nachteil auf. »Du wärst quasi immer im Dienst.«

»Wie man halt damit umgeht.« Prischko drückte noch einmal auf die Klingel. »Ich schalte mein Handy aus und kriege gar nicht mit, was sich ein Stockwerk unter mir abspielt.«

»Wer’s glaubt«, ätzte Lotta, die den Kollegen mittlerweile gut kannte, immerhin arbeiteten sie schon seit Jahren zusammen. Prischko war ehrgeizig und hätte selbst gerne den Rang eines Chefinspektors. Er machte keinen Hehl daraus, dass er aus seiner Sicht noch nicht am Ende der Karriereleiter angekommen war.

»Keiner da«, stellte er fest.

Lotta blickte in beide Richtungen die Straße entlang. Die Geschäfte reihten sich wie Perlen auf einer Schnur zu einer Kette aneinander und wurden stark frequentiert. Menschen mit guter Laune und Einkaufssackerln flanierten durch die Innenstadt und stärkten sich in den zwischen den Geschäften liegenden Gaststätten und Cafés. »Schön ist es hier. Nicht so laut und hektisch wie in Linz«, fand sie.

»Angeblich ist Kirchdorf flächenmäßig die kleinste Bezirkshauptstadt Österreichs«, erwiderte Prischko, und Lotta wunderte sich, weshalb er so etwas wusste. Doch bevor sie ihn danach fragen konnte und der Gruppeninspektor auch schon zum Wagen zurückging, weckten zwei Damen, die eingehakt die Straße entlangkamen, Lottas Aufmerksamkeit. Umgekehrt schien es ebenso zu sein.

Prischko öffnete die Beifahrertür. »Auf was wartest du? Es ist keiner da. Ich schlage vor, wir …«

»Da, schau mal!« Lotta deutete mit dem Kinn in Richtung der Frauen: eine stark geschminkte Blondine mit an den Knien aufgerissener Jeans sowie grauem Poncho mit Fellrändchen und eine etwa gleichaltrige Frau, die gänzlich in Schwarz gekleidet war.

Der Gruppeninspektor warf die Autotür wieder zu.

»Wollen Sie zu mir?«, fragte die Mittfünfzigerin mit dem Überwurf. Sie und ihre Begleiterin hatten die Kriminalbeamten mittlerweile erreicht.

»Wir wollen zu Frau Molov«, erwiderte Lotta.

»Edith Molov, das bin ich«, bestätigte ihr Gegenüber.

»Chefinspektorin Lotta Meinich, das ist Gruppeninspektor Daniel Prischko. Wir müssen mit Ihnen reden, Frau Molov. Es geht um Ihren Mann.«

»Haben Sie ihn gefunden?«, fragte die Angesprochene alarmiert.

»Wir würden das gerne drinnen besprechen«, wich Lotta einer Antwort aus. Es konnte ja sein, dass die Ehefrau bei der Nachricht vom Tod ihres Mannes zusammenbrach, das musste nicht auf offener Straße geschehen.

»Dürfen wir Ihre Ausweise sehen?«, fragte die Begleiterin. »Heutzutage laufen so viele Betrüger herum, die sich als Polizisten ausgeben, und Sie tragen nicht einmal eine Uniform.« Die Schwarzgekleidete deutete an den Kriminalbeamten hinunter.

»Natürlich.« Lotta zog ihren Ausweis aus der Tasche und hielt ihn ihrem Gegenüber hin, Prischko tat es ihr gleich.

»Keine Ahnung, ob die echt sind.« Die Frau war sich nach wie vor unsicher.

»Wir sind wirklich von der Polizei, genauer gesagt, vom Landeskriminalamt Oberösterreich. Und wir wissen, wo Ihr Mann ist, Frau Molov. Sie haben ihn vor zwei Stunden als vermisst gemeldet. Reicht Ihnen das, damit Sie uns glauben, dass wir echte Polizisten sind?«

Der Gesichtsausdruck der Frau veränderte sich. »Ja, ich glaube Ihnen. Nur jemand von der Polizei kann wissen, dass ich Vincent als vermisst gemeldet habe. Nicht einmal meiner Tochter hab ich es gesagt, sie soll sich keine unnötigen Sorgen machen. Aber Emma weiß Bescheid, sie ist meine beste Freundin.« Die Anwaltsgattin schaute ihre Begleiterin besorgt an, die genauso beunruhigt nickte. Das Auftauchen der Kriminalbeamten bereitete den Frauen offenkundig Angst. »Kommen Sie!« Edith Molov hatte es plötzlich eilig, wandte sich der Eingangstür zu und sperrte sie auf. Im Vorraum gab sie den Code für die Alarmanlage ein und führte die Inspektoren in ein modernes Esszimmer mit schwerem Holztisch und schwarzen Lederstühlen. »Also, was ist passiert?«, fragte sie, ohne den Ermittlern einen Platz anzubieten.

»Es tut uns leid, Ihnen das mitteilen zu müssen … Ihr Mann ist tot«, sprach Lotta die schreckliche Wahrheit aus.

Edith Molov schlug die Hand vor den Mund.

Ihre Begleiterin trat zu ihr und drückte sie an sich.

»Nein!«, stieß die Witwe aus und wand sich in den Armen ihrer Freundin wie ein waidwundes Tier. Sie weinte, schluchzte, wimmerte und ließ sich von der Schwarzgekleideten zu einem Stuhl führen.

»Ich ruf das Kriseninterventionsteam an.« Lotta wählte die eingespeicherte Nummer und schilderte die Situation.

»Wie ist er denn …? Hatte er … einen Autounfall?«, fragte Edith Molov nach einer Weile leise. Offenbar hatte sie den ersten Schock überwunden.

Die Frau in Schwarz griff nach ihrer Handtasche, die sie auf einem Lederstuhl abgestellt hatte, zog eine Packung Taschentücher heraus und reichte eines davon ihrer Freundin. Wie in Trance griff diese danach.

»Nein …« Lotta schüttelte den Kopf und überlegte, ob die Frau schon so weit war, die ganze Wahrheit auszuhalten. Sie hoffte, dass sie nicht nachhaken und jemand vom Kriseninterventionsteam das Gespräch bald übernehmen würde. Andererseits hatte die Witwe natürlich ein Recht darauf, alles zu erfahren.

»Wie dann?« Edith Molovs Stimme war mehr ein Hauchen. Ihre Schminke war verschmiert, und Tränen traten ihr unaufhörlich aus den Augen. Vermischt mit dem Kajal und der Wimperntusche hinterließen sie auf den Wangen unansehnliche dunkle Spuren.

»Er wurde ermordet«, sagte Lotta. Aus Erfahrung wusste sie, dass Betroffene ohnehin nicht lockerließen, bis sie sämtliche Informationen kannten.

Der Witwe verschlug es die Sprache.