Mühlviertler Todesspur - Eva Reichl - E-Book

Mühlviertler Todesspur E-Book

Eva Reichl

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Beschreibung

In der Ratgöbluckn in Perg, dem größten begehbaren Erdstall im Mühlviertel, wird eine Frau tot aufgefunden. Um ihren Leichnam sind Kerzen aufgestellt. Der Lebensgefährte und die beste Freundin des Opfers geraten unter Mordverdacht, als Chefinspektor Oskar Stern sie in flagranti erwischt. Doch als am nächsten Tag eine zweite weibliche Leiche entdeckt wird und keine Verbindung zwischen den Opfern besteht, weiten die Ermittler die Tätersuche aus und stoßen auf viele Hindernisse. Dabei gerät Stern so sehr unter Druck, dass er in eine Falle des Mörders tappt.

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Eva Reichl

Mühlviertler Todesspur

Kriminalroman

Zum Buch

Jung. Schön. Tot. In der Ratgöbluckn in Perg, dem größten begehbaren Erdstall im Mühlviertel, wird eine junge Frau tot aufgefunden, die zwei Wochen lang als vermisst galt. Um ihren Leichnam sind Kerzen aufgestellt. Chefinspektor Oskar Stern vermutet, dass sich der Täter in einer Zeremonie von seinem Opfer verabschiedet hat. Verdächtigt werden der Lebensgefährte und die beste Freundin des Opfers, die Stern in flagranti erwischt, als er die Todesnachricht überbringt. Doch als in der Perger Kirche die Leiche einer zweiten Frau gefunden wird und keine Verbindung zwischen den Opfern besteht, weiten die Ermittler die Tätersuche aus und stoßen auf viele Hindernisse. Eines davon heißt Silvia Burgstaller, die Stern bei seinem letzten Fall kennengelernt hat. Prompt taucht in den sozialen Netzwerken ein heimlich aufgenommenes Video von einem Treffen mit ihr auf, in dem die Polizei kritisiert wird, dass sie lieber Kaffee trinke, statt zu ermitteln. Als dann ein drittes Mordopfer auf dem Perger Hauptplatz abgelegt wird, gerät Stern dermaßen unter Druck, dass er in eine Falle des Mörders tappt.

Eva Reichl wurde in Oberösterreich geboren und lebt mit ihrer Familie im unteren Mühlviertel. Nach einer kaufmännischen Ausbildung arbeitet sie heute als Controllerin und entdeckte schon früh ihre Leidenschaft fürs Schreiben. Mit ihrer Mühlviertler Krimiserie mit Chefinspektor Oskar Stern und den Thrillern rund um Diana Heller verwandelt sie ihre Heimat, das wunderschöne Mühlviertel, in einen Tatort getreu dem Motto: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Böse liegt so nah?

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Eva Reichl

ISBN 978-3-8392-7712-6

Widmung

Für meine Eltern

1. Kapitel

Stern fühlte sich wie ein Schuljunge, der noch grün hinter den Ohren war und zum Rapport beim Schuldirektor antreten musste. Genau wie damals stand er auf der einen Seite des Schreibtisches, während ihn von der anderen durchdringende Blicke trafen. Es kam selten vor, dass er keine Antwort parat hatte, wenn sein Vorgesetzter ihm etwas an den Kopf warf. Oder dass sich kein Wort des Widerstandes in ihm regte, wenn Bormann allzu sehr den Chef raushängen ließ. Aber heute war das der Fall.

Neben ihm hatte Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht die Arme kampfeslustig in die Hüften gestemmt. Wütend wie eine in den Krieg ziehende Amazone starrte sie Bormann an. Stern hatte ihr schon vor Minuten das Feld überlassen und wartete auf die nächste verbale Attacke auf den Dienststellenleiter des Landeskriminalamtes. Das verschaffte ihm Zeit, sich gedanklich zurechtzulegen, wie er aus der Sache rauskommen konnte.

»Ich finde das ungeheuerlich von Ihnen!«, fauchte Grünbrecht Bormann an. »Ich will wissen, wer sich über mich beschwert hat! Und zwar jeden einzelnen Namen will ich von Ihnen erfahren!«

»Sie werden verstehen, dass ich Ihnen die nicht nennen kann. Zeugenschutz, wenn Sie so wollen«, echauffierte sich Bormann. Er schien nicht glauben zu können, dass sie dieses Gespräch führten.

Genauso wenig wie Stern.

»Jetzt sag halt auch mal etwas!«, forderte Grünbrecht den Chefinspektor auf. Durch die Aufregung waren ihre Wangen gerötet.

»Ja mei …«, setzte Stern an, etwas möglichst Intelligentes in die Runde zu werfen, doch ihm fiel nichts ein. »Er hat ja nicht ganz unrecht …«

»Bei dir vielleicht, aber nicht bei mir!«, fuhr Grünbrecht ihn an, wobei ihre mithilfe eines Zopfgummis zu einem Pferdeschwanz gebändigten braunen Locken wild hin und her sprangen.

»So hab ich das nicht gemeint, und außerdem …«

»Ich aber!«, unterbrach Grünbrecht den Chefinspektor. »Du fährst Auto, als wärst du bereits hundert Jahre alt! Meine Oma ist schneller unterwegs als du.«

»Du hast gar keine Oma«, erwiderte Stern, der um die Familienverhältnisse seiner Kollegin Bescheid wusste. Seit ihr Verlobter Edwin Mirscher bei einem Polizeieinsatz getötet worden war, gab es nur noch Mara und ihren Vater, mit dem sie allerdings keinen Kontakt pflegte. Wusste der Teufel wieso! Darüber schwieg sie sich aus.

»Aber wenn ich eine hätte, würde sie schneller fahren als du! Kein Wunder, dass sich die Kollegen über deinen Fahrstil beschweren.« Grünbrecht war stinksauer.

»Schluss jetzt …«, versuchte Bormann, die Debatte abzukürzen.

»Ich sehe nicht ein, weshalb ich ein Fahrtraining absolvieren soll«, giftete Grünbrecht wieder den sich einmischenden Dienststellenleiter an. »Ich bin bei einem Einsatz schon vor Ort, da ist Stern noch nicht einmal in sein Auto gestiegen!«

»Das ist es ja gerade«, erwiderte Bormann. »Niemand will bei Ihnen mitfahren, da Ihr Fuß wie bei einer Formel-1-Pilotin am Gaspedal klebt.«

Grünbrecht war für einen Augenblick sprachlos.

»Außerdem hab ich von den Kollegen der Verkehrspolizei das hier bekommen.« Bormann schob der Gruppeninspektorin über den Schreibtisch hinweg ein Blatt Papier zu.

»Was ist das?« Grünbrecht nahm es in die Hand und las. Ihre Gesichtsfarbe wechselte von einem echauffierten Rot in ein erschrockenes Weiß. »Das kann ich erklären …«

»Ja? Mit 100 Kilometer pro Stunde durchs Ortsgebiet ohne Blaulicht und Martinshorn? Auf die Erklärung bin ich gespannt.« Bormann lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme und wartete.

»Ich musste da ganz dringend zum Yogakurs, ich war viel zu spät dran …«

»Im Ernst? Yoga?« Bormann sah nicht gerade belustigt drein.

»Ja, das entspannt mich, und ich dachte …« Grünbrecht verstummte ob des eisigen Blickes des Dienststellenleiters.

»Es ist mir scheißegal, was Sie dachten!«, brauste der auf. »Ich musste den Kollegen von der Verkehrspolizei weismachen, dass es sich um einen verdeckten Einsatz handelte, der so geheim war, dass nicht einmal ich davon Kenntnis hatte!«

»Äh … ja, Chef … danke, Chef«, sagte Grünbrecht nun ein wenig handzahmer.

Stern grinste in sich hinein, wagte jedoch nicht, etwas anzumerken.

»Ich weiß nicht, was daran lustig sein soll«, wandte sich Bormann ihm zu.

Sterns Gesicht verfinsterte sich umgehend, um den Dienststellenleiter nicht weiter zu provozieren. Wenngleich er es schon unterhaltsam fand, dass Grünbrecht diesen Rüffel einstecken musste. Für ihn war es nämlich ebenso beängstigend, bei ihr mitzufahren. Seine Kollegin war hinterm Steuer unberechenbar, und wenn sie nach einer Schreckensfahrt heil an ihrem Ziel ankamen, verspürte er oftmals das Bedürfnis, zum Dank fünf Ave Maria zu beten, obwohl er nicht gläubig war.

»Im Gegensatz zu Grünbrechts Fahrstil lässt Ihrer, Stern, zu wünschen übrig, was Schnelligkeit und Dynamik anbelangt. Warten Sie …« Bormann schlug sein Notizbuch auf und blätterte bis zur gesuchten Seite. Er lehnte sich mit dem Buch in der Hand zurück und las laut vor: »›Stern fährt wie eine Schnecke beim Mittagsschlaf.‹« Ohne aufzublicken, fuhr er nach einer kurzen Pause, in der sich der Inhalt der eben vorgetragenen Textzeile so richtig hatte entfalten können, fort: »›Man schämt sich für die Polizei, wenn der Wagen des Chefinspektors mit Blaulicht in einem derart gemäßigten Tempo vorfährt, als handelt es sich um eine Besichtigungsfahrt …‹ Oder hier, das gefällt mir besonders …« Bormann tippte auf seine Unterlage. »›Meine Tochter macht gerade den L17 und fährt nach tausend Kilometern bereits wesentlich besser als Stern …‹ Wollen Sie noch mehr hören?« Der Dienststellenleiter klappte das Notizbuch zu und richtete den Blick auf sein Gegenüber.

»Nicht wirklich«, brummte der Chefinspektor. Denn auch, wenn ihm die Meinungen der Kollegen nicht fremd waren, schmerzte es ihn, die Kritik so geballt von seinem Vorgesetzten mitgeteilt zu bekommen.

»Gut, dann haben wir das ja schon mal geregelt.« Bormann setzte sich kerzengerade auf seinen Stuhl, als wäre das nicht alles gewesen. Als machte er sich bereit, eine längere Ansprache zu halten oder etwas noch Unangenehmeres zu verkünden, das auch tatsächlich nicht lange auf sich warten ließ. »Sie beide nehmen an einem Fahrtraining im Ausbildungszentrum in Ansfelden teil. Sie sind dort für morgen angemeldet.«

»Was?«, entfuhr es Grünbrecht schroff, da sie diese Dienstanweisung sichtlich als Beleidigung empfand.

»Was?«, echote Stern, dem nicht klar war, wie das zusammenpasste. Schließlich war sein Ruf der eines Langsamfahrers und jener von Grünbrecht der einer Raserin. Wie sollten diese Gegensätze unter einen Hut zu bekommen sein?

»Natürlich haben Sie zwei verschiedene Trainer und unterschiedliche Kursinhalte, das versteht sich ja wohl von selbst«, redete Bormann weiter.

»Aber … aber …« Grünbrecht war wie gelähmt und starrte den Dienststellenleiter mit aufgerissenen Augen an. Offensichtlich fehlten ihr die Worte.

»Raus jetzt!«, machte Bormann deutlich, dass er nicht beabsichtigte, über seine Anordnung zu diskutieren.

»Ich …« Grünbrecht fuchtelte umständlich mit den Händen herum. Anscheinend war sie noch nicht zum Aufgeben bereit.

Stern hingegen wandte sich zum Gehen. »Komm, Mara! Das Ganze wird vielleicht sogar lustig.«

»Lustig? Was soll daran lustig sein? Und wie kannst du so ruhig bleiben?«, rief Mara ihm nach und folgte ihm zur Tür hinaus, die hinter ihr offen blieb.

»Tür zu!«, brüllte Bormann, doch beide ignorierten die Aufforderung.

»Ich muss zum Fahrtraining, ob ich nun sauer auf Bormann bin oder nicht. Er lässt nicht mit sich reden, so viel steht für mich fest«, sagte Stern über die Schulter hinweg zu seiner Kollegin, während sie den Flur entlanggingen. »Da ist es mir lieber, ich bin nicht sauer, sondern gut gelaunt, oder?«

»Das stimmt zwar, fühlt sich aber trotzdem falsch an«, resümierte Grünbrecht.

Sie erreichten das Großraumbüro, in dem die Gruppeninspektoren Hermann Kolanski und Martin Heinze hinter ihren Monitoren saßen und an einem Cold Case arbeiteten. Zwischen aktuellen Ermittlungen – und wann immer sich Zeit erübrigen ließ – wurden neue Spuren in alten Fällen gesucht, allerdings leider viel zu selten gefunden.

»Und? Was hat Bormann von euch gewollt?«, fragte Kolanski und strich sich die langen Haare, die seitlich angegraut waren, hinter die Ohren. Über der Stuhllehne in seinem Rücken hing wie gewohnt seine schwarze Lederjacke.

»Wir sollen ein Fahrtraining absolvieren«, berichtete Stern.

Die Köpfe der Kollegen drehten sich wie die der beiden alten Männer aus der Muppet Show synchron in Richtung Grünbrecht. Als sie jedoch ihre versteinerte Mimik sahen, wagte keiner von ihnen einen blöden Kommentar abzugeben, wenngleich Stern an ihren zuckenden Mundwinkeln erkannte, dass der Drang dazu nicht unerheblich war. Es kostete sie sichtlich Mühe, diesen zu unterdrücken.

»Okay«, sagte Kolanski, ohne den Blick von Grünbrecht abzuwenden.

»Das ist nicht okay!«, zischte ihn die Gruppeninspektorin an.

»Schon gut«, schaltete sich Stern ein. »Wir werden das hinter uns bringen, Mara, es ist ja bloß ein Tag. Und dann ist alles wieder gut, klar?«

»Klar«, würgte Grünbrecht hervor, als hätte sie etwas Giftiges gegessen.

Kolanski verdrehte die Augen, und Heinze verschwand hinter seinem Monitor, um nicht unabsichtlich in die Schusslinie von Grünbrecht zu geraten. Stern wusste, dass Letzterer lieber in Deckung ging, wenn die Gruppeninspektorin schlechte Laune hatte, da das Verhältnis der Kollegen nicht ganz ungetrübt war. Grünbrecht haderte noch immer damit, dass Heinze nach dem Tod ihres Verlobten Mirscher ins Team gekommen war, quasi als Ersatz für ihn – was zwar einerseits stimmte, andererseits aber nicht. Niemand konnte einen anderen Menschen ersetzen.

Stern verließ das Büro der Kollegen und ging hinüber in sein eigenes. Irgendwie freute er sich auf das Fahrtraining. Im Gegensatz zu Grünbrecht, die seiner Meinung nach ohnehin ein Fahrtalent war, nur halt viel zu schnell durch die Gegend raste, würde er davon profitieren. Sein Ruf, was das Fahren anbelangte, war katastrophal, demnach konnte es für ihn nur besser werden. Dass das Fahrtraining jedoch nicht so ablaufen würde, wie er sich das vorstellte, wusste er zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht.

2. Kapitel

Stern schwitzte. Er fuhr nun seit eineinhalb Stunden auf dem Gelände des Fahrausbildungszentrums in Ansfelden im Kreis mit einmal mehr Geschwindigkeit und ein anderes Mal weniger Hindernissen. Das Gefühl, dass sich dadurch sein Fahrstil verbesserte, stellte sich jedoch nicht ein. Auch ließ ihn das hin und wieder theatralisch gehauchte Seufzen seines Fahrtrainers keine Steigerung seiner Fahrkünste annehmen. Viel eher gewann er den Eindruck, als wäre der Instruktor oftmals kurz davor, auszusteigen und den Wagen anzuschieben. Stern war froh, als sich die zweite Trainingseinheit endlich dem Ende neigte und sein Coach ihm mitteilte, dass es Zeit für eine Pause sei.

Der Chefinspektor lenkte seinen Audi A6 vom Übungsgelände, stellte ihn auf dem angrenzenden Parkplatz ab und stieg aus. Sein Trainer tat es ihm gleich und fragte ihn, ob er Kaffee wolle. Der Chefinspektor bejahte. Daraufhin schlurfte der großgewachsene Mann Ende 30 in Richtung Koffeintankstelle davon, um seine Lebensgeister wieder in Schwung zu bringen, da es die absolvierte Trainingsfahrt seines Schülers offenbar nicht vermocht hatte. Stern konnte es ihm nicht verübeln.

Während der Chefinspektor draußen vor dem Gebäude auf den Kaffee wartete, sah er zu, wie Grünbrecht auf die Schleuderplatte zuraste, diese mit den Vorderrädern passierte und die automatische Steuerung die Platte mit den Hinterrädern des BMW darauf zur Seite schob. Der Wagen geriet dadurch wie auf einer vereisten Fahrbahn bei zu hoher Geschwindigkeit ins Schleudern, und Grünbrecht hatte alle Hände voll zu tun, ihn auf dem dahinterliegenden nassen Asphalt zu stabilisieren. Der BMW drehte sich und rutschte in die angrenzende Wiese. Im Grün kam er zum Stillstand. Jedoch nur für kurze Zeit. Die Gruppeninspektorin gab Gas und umrundete den Abschnitt mit der Schleuderplatte mit quietschenden Reifen, bis sie wieder am Anfang anlangte. Dann beschleunigte sie und raste erneut auf die Schleuderplatte zu.

Am Rand der Strecke hatten sich Schaulustige eingefunden, die den Höllenritt der Gruppeninspektorin begeistert verfolgten. Die meisten davon waren Führerscheinneulinge, die drei bis neun Monate nach erfolgreicher Absolvierung der Führerscheinprüfung ein Mehrphasentraining absolvieren mussten. Lautstark feuerten sie die Gruppeninspektorin an.

Sterns Coach kam mit zwei Becher Automatenkaffee zurück und reichte einen davon dem Chefinspektor.

»Danke.« Stern nahm das Getränk und trank schlürfend. Das Gebräu war lauwarm und schmeckte wie die Brühe im Landeskriminalamt.

»Ihre Tochter ist ziemlich gut drauf«, sagte der Trainer und gönnte sich ebenfalls einen Schluck. Ihn schien der Geschmack nach verbrannten Bohnen nicht zu stören.

»Oh, das ist nicht meine Tochter«, stellte Stern rasch richtig.

Im selben Augenblick näherte sich Grünbrechts BMW und hielt auf dem Parkplatz an. Die Türen gingen auf und die Gruppeninspektorin stieg aus. Stern fiel auf, dass ihre Wangen gerötet waren. Nachdem ebenso der Instruktor den Wagen verlassen hatte, klatschen sich die beiden ab. Stern bezweifelte, dass das Training jenen Effekt bei Grünbrecht haben würde, den sich Bohrmann gewünscht hatte. Aber das war nicht sein Problem.

»Das war toll!«, rief Grünbrecht ihrem Chef zu. »Ich hätte niemals gedacht, dass das so viel Spaß macht!«

»Sie sind ja auch ein Naturtalent«, hörte Stern Grünbrechts Coach sagen. Die beiden kamen beschwingt auf ihn zu.

»Ja, das ist sie«, bestätigte er.

»Das Aquaplaning und Schleudern war aufregend, einfach fantastisch! Das sollten wir noch mal machen!«, sagte Grünbrecht noch immer voll im Geschwindigkeitsrausch.

»Das können wir, vielleicht sogar gleich nach der Pause, wenn keine andere Gruppe dort trainiert. Warten Sie, ich seh im Plan nach.« Der Instruktor verschwand im Gebäude.

»Ich freue mich, dass es dir nun doch gefällt. Gestern warst du deswegen stinksauer«, erwiderte Stern amüsiert.

»Da wusste ich auch nicht, wie toll das wird«, antwortete Grünbrecht aufgedreht. Und mit einem Nicken in Richtung von Sterns Plastikbecher fragte sie: »Woher hast du den Kaffee?«

»Von mir«, antwortete Sterns Instruktor und zeigte dabei seine strahlend weißen Zähne, die Stern bisher gar nicht aufgefallen waren, weil gelangweilt geschlossene Lippen sie verdeckt hatten. »Sie fahren wirklich spitze! Ich würde sogar sagen, Sie könnten an Rennen teilnehmen. Ich sehe das, für so etwas habe ich ein Auge. Sie sind wie ein Diamant, dem lediglich die Politur fehlt.«

Stern fand, dass der Fahrtrainer mit seinen Komplimenten übertrieb, was er mit Argwohn registrierte. Schließlich war es noch nicht lange her, dass Grünbrecht ihren Verlobten zu Grabe getragen hatte. Irgendwie weckte das – und dass der Mann nur noch Augen für Sterns Kollegin hatte und ihn keines Blickes mehr würdigte – seinen Beschützerinstinkt. Oder was auch immer.

»Danke«, erwiderte Grünbrecht.

»Ich lade Sie gerne auf einen Kaffee ein«, versprühte der Mann weiterhin seinen Charme, was Stern nun auch verbal auf den Plan rief.

»Diese Brühe würde ich nicht gerade als Kaffee bezeichnen«, sagte er und hielt den beiden seinen Becher hin. »Mein Abwaschwasser zu Hause schmeckt besser als das.«

»Wir haben drinnen ein nettes Café. Wenn Sie wollen, können wir dort ein Tässchen Espresso, einen Cappuccino oder einen Latte macchiato trinken«, sagte der Trainer und bot Grünbrecht wie ein italienischer Gigolo seinen Arm an. Stern schien für ihn nicht mehr zu existieren. Vielleicht hätte er vorhin den Irrtum, dass Grünbrecht seine Tochter war, nicht aufklären sollen. Dann hätte er jetzt entsprechend reagieren können.

»Danke, das ist nett«, erwiderte die Gruppeninspektorin, der nicht aufzufallen schien, dass der Instruktor mit ihr flirtete.

»Wenn Sie mich bitte begleiten wollen«, blieb der Mann hartnäckig und setzte zum Gehen an. Er schien lediglich darauf zu warten, dass Grünbrecht ihm ein Zeichen ihres Einverständnisses gab.

»Äh … ich bleibe lieber bei meinem Chef, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Wo kann ich mir einen Kaffee holen?«

»Chef?«, wiederholte der Mann.

»Chef wie Chefinspektor von der Mordgruppe am Landeskriminalamt Oberösterreich«, klärte Stern den Mann auf, der gleich viel weniger breit lächelte. Denn obwohl im Fahrausbildungszentrum Ansfelden regelmäßig Polizeischüler ihr Training absolvierten, war es doch etwas anderes, einen langgedienten Chefinspektor der Mordgruppe vor sich zu haben.

»Alles klar … äh … Dann hole ich jetzt mal … äh … Ihren Kaffee.« Der Trainer verschwand im Gebäude.

»Bei dem hast du gewaltigen Eindruck hinterlassen«, merkte Stern an.

»Glaubst du?« Die Gruppeninspektorin wirkte nicht sonderlich interessiert. Sie blickte auf die Piste mit der Schleuderplatte, auf der gerade Führerscheinneulinge weitaus weniger rasant wie sie selbst zuvor ihre Reaktion auf überhöhte Geschwindigkeit auf einer rutschigen Fahrbahn unter Beweis stellten.

»So wie der dich angeschaut hat …«

Von Grünbrecht kam keine Reaktion.

»Tut mir leid, dafür ist es wohl noch zu früh«, erkannte Stern. Mara Grünbrecht war Mitte 30, attraktiv und hatte durchaus das Aussehen, auf den Laufstegen dieser Welt mitlaufen zu können. Ihre schulterlangen braunen Haare wirbelten in Locken um ihren Kopf, wenn sie, so wie jetzt durch den durchs Fahren ausgelösten Adrenalinkick, die Füße nicht stillhalten konnte.

»Dafür wird es immer zu früh sein, Oskar. Aber das Fahrtraining heute macht echt Spaß.« Mit undurchdringlicher Miene, von der Stern nicht ablesen konnte, wie weit sie den Tod ihres Verlobten schon verarbeitet hatte, schaute sie den Führerscheinneulingen beim Training zu.

Eine Weile standen sie schweigend einfach nur so da, und Stern war froh, als sein Fahrtrainer mit einem Tablett mit zwei Tassen Kaffee, Milch und Zucker zurückkehrte. Das sah deutlich vielversprechender aus als der zuvor gereichte Plastikbecher. Der Mann warf sich wirklich ins Zeug, um bei Grünbrecht zu landen, das musste Stern zugeben. Davon profitierte nun ebenso er.

»Hier, bitte!« Der Instruktor reichte ihnen den frisch aufgebrühten Espresso. »Wir können auch reingehen und drinnen im Café …«

»Ich möchte lieber den Neulingen zuschauen und so schnell wie möglich selber wieder fahren«, sagte Grünbrecht und deutete auf das Trainingsgelände.

Die Augen des Verehrers leuchteten ob Grünbrechts Begeisterung fürs Fahren, auch wenn nicht er es sein würde, der später neben ihr im Wagen säße. Er würde sich erneut mit der lahmen Ente von Chefinspektor herumplagen müssen, schien er zu denken, als er Stern nun doch mit einem Blick bedachte, wenn auch mit einem flüchtigen.

Davon ließ sich Stern seine gute Laune aber nicht verderben. Das Fahrtraining war gar nicht mal so schlecht, es bescherte ihm einen Tag, an dem er sich nicht mit Mord und Totschlag beschäftigen musste. Genüsslich schlürfte er den Espresso, der ausgezeichnet schmeckte, was er dem Mann mitteilte. Als sie die Tassen geleert hatten und Grünbrechts Instruktor mit der frohen Botschaft auftauchte, dass sie gleich wieder zur Schleuderplatte durfte, stiegen sie kurz darauf gestärkt in ihre Wagen.

»Jetzt zeigen Sie mal, was Sie wirklich draufhaben«, sagte der Coach zu Sterns Überraschung. »Schließlich sind Sie ein Chefinspektor!«

»Besser wird’s nicht«, erwiderte Stern. Er war davon ausgegangen, dass der Instruktor längst erkannt haben müsste, wo seine Defizite lagen.

»Ach, kommen Sie! Das glaube ich Ihnen nicht. Sie sind Polizist!«, stichelte der Mann.

»Chefinspektor«, wies Stern ihn auf die richtige Bezeichnung hin und startete den Motor. »Verfolgungsjagden machen die Kollegen von der Streife.«

»Sie haben doch gewiss eine Fahrausbildung, oder?«

»Die liegt schon eine Weile zurück …«

»Sehen Sie! Und das, was Sie dort gelernt haben, rufen wir jetzt aus Ihrem Langzeitgedächtnis ab. Erinnern Sie sich, wie das damals gewesen ist, fühlen Sie die Geschwindigkeit, als Sie durch die Straßen gejagt sind mit Blaulicht und Sirene … Ihre ersten Tage als Polizist … Da hat es doch bestimmt gejuckt in Ihrem Fuß, als Sie das Gaspedal unter Ihrer Sohle gespürt haben, quasi mit einem Freifahrtschein, mal ordentlich auf die Tube zu drücken und über die Straßen zu fegen …«

Stern musterte seinen Trainer von der Seite. Dieser hatte die Augen geschlossen und den Kopf angehoben, als meditierte er. »Na, wenn Sie meinen«, brummte er. Dann ließ er den Fuß – wie eben vom Trainer beschrieben, nur halt gemäßigter – auf das Gaspedal niedersinken und lenkte den Audi durch den geöffneten Schranken auf die Trainingspiste, nahm die erste Kurve, beschleunigte auf der Geraden und bremste, als die nächste Kurve immer näher kam. Ein leises Quietschen der Räder war zu vernehmen, und Stern hatte den Eindruck, dass es ihn seitwärts gegen die Fahrertür drückte.

»Na also! Sie können es ja doch!« Die Begeisterung des Trainers sprang auf Stern über, und er fühlte sich plötzlich mutig, beherzter auf das Pedal zu steigen.

»Wissen Sie was? Wir fahren jetzt auch auf die Schleuderplatte«, schlug der Instruktor vor und verkündete seinen Plan sogleich über Funk Grünbrechts Coach.

»Halten Sie das für eine gute Idee, ich meine …«

»Das wird bestimmt ein Mordsspaß!«, erwiderte der Mann und dirigierte Stern zum Start der Anfahrt.

Stern zweifelte, dass der Trainer und er dieselbe Vorstellung von Spaß hatten, dennoch befolgte er dessen Anweisung. Wenn der Mann schon so gute Laune versprühte, wollte er sie nicht gleich dämpfen. Die vorigen Stunden waren sicher langweilig für ihn gewesen.

Sterns Audi beschleunigte, ebenso sein Herzschlag. Die Vorderräder erreichten die Platte. Alles war gut. Die Hinterräder setzten auf dem griffigen Belag der Schleuderplatte auf. Selbige bewegte sich rasch nach rechts. Nichts war mehr gut. Der Wagen driftete nach links. Stern lenkte gegen. Vor ihm schoss eine Wasserfontäne aus dem Boden, die ein Hindernis symbolisierte. Der Chefinspektor fuhr mitten in sie hinein. Von gut war er ganz weit weg.

»Nicht schlecht, aber Sie haben gerade ein anderes Fahrzeug gerammt«, sagte der Coach. »Es könnte auch ein Kind gewesen sein.«

Stern wusste, dass diese Formulierung in Wahrheit bedeutete, dass er es versaut hatte. Von einem unerklärlichen Ehrgeiz gepackt verlangte er: »Noch einmal bitte!«

»Gerne«, erwiderte der Trainer. »Also zurück zum Start.«

Stern umrundete die Piste und brachte den Audi in Ausgangsposition.

»Und los!«, kam es vom Beifahrersitz.

Stern ließ den Fuß auf das Gaspedal sinken. Der Audi fuhr an, wurde immer schneller, erreichte die Platte, schleuderte, und Stern lenkte in Fahrtrichtung. Der Wagen fing sich und fuhr nur noch halb in die Wasserfontäne.

»Noch mal!«, sagte Stern mit zusammengebissenen Zähnen. Er wollte die Aufgabe unbedingt bewältigen. Das musste doch zu schaffen sein!

Er fuhr mit dem Wagen zurück zur Anfahrtsposition und blieb dort stehen. Der Coach erteilte ihm letzte Anweisungen. Dann machte sich Stern bereit. Er spürte, dass es dieses Mal klappen würde, und gab Gas. Der Audi raste auf die Platte und hernach auf die Wasserfontäne zu. Stern kurbelte und lenkte, was das Zeug hielt, und steuerte rechts an der Fontäne vorbei.

»Ja!«, brüllte er.

»Na, das hätten Sie nicht gedacht, was ich aus Ihnen rausholen kann, was?«, fragte der Trainer sichtlich zufrieden.

Stern freute sich, konnte jedoch nicht antworten, da er sich auf das Fahren konzentrieren musste. Schließlich wollte er das Ganze noch einmal wiederholen, jetzt, wo er den Dreh raushatte. Er brachte den Wagen erneut in Ausgangsposition, blieb aber nicht mehr stehen, sondern fuhr gleich auf die Schleuderplatte zu. Im selben Augenblick läutete sein Handy. Stern ignorierte es.

»Sollen wir anhalten?«, fragte der Instruktor.

Das Klingeln verstummte, demnach hatte er seine Antwort.

Der Chefinspektor umklammerte das Lenkrad, die Vorderräder setzten auf der Platte auf. Erneut ertönte der Klingelton.

»Wer ist es?«, presste Stern genervt zwischen zusammengekniffenen Lippen hervor. Er wollte jetzt nicht aufhören, er musste die Gunst der Stunde nutzen. Sein Ego verlangte danach, obwohl er sich eingebildet hatte, dass er längst akzeptiert hatte, dass er kein guter Fahrer war.

»Bormann«, las der Trainer vom Borddisplay ab, während der Audi über die nasse Piste schlitterte und mitten in die Wasserfontäne krachte.

»Scheiße!«, fluchte Stern und wurde langsamer.

»Soll ich für Sie abheben?«, fragte der Coach, der Sterns Zerrissenheit offenbar spürte. Gerade jetzt, wo es eben noch so überraschend gut gelaufen war, rief ausgerechnet sein Vorgesetzter an, der wissen müsste, dass Stern nicht rangehen konnte. Schließlich hatte er ihn zu diesem Fahrtraining geschickt.

»Das wäre nett …«, sagte er gequält und umrundete die Trainingspiste.

Der Mann tippte auf das grüne Hörersymbol.

»Hallo? Stern? Bormann hier!«, drang die Stimme des Dienststellenleiters aus den Lautsprechern.

»Was gibt es denn?«, fragte Stern bemüht, sich gleichzeitig aufs Reden und Fahren zu konzentrieren. Es funktionierte nicht wirklich. Als der Audi erneut die Ausgangsposition erreichte, hielt er an.

»Wir haben einen Mord in Perg. Sie müssen Ihr Training abbrechen und hinfahren. Ich habe Ihr Team schon verständigen lassen. Die Kollegen sind bereits unterwegs …«

Stern sah, wie Grünbrechts BMW von der Trainingsstrecke abfuhr, den Schranken passierte und die Kollegin den Instruktor auf dem Parkplatz aussteigen ließ.

»Wo in Perg?«, fragte er und fuhr Grünbrecht hinterher. Der Coach öffnete mit einem Handschalter den Schranken, und Stern steuerte den Audi hindurch. Währenddessen verließ Grünbrecht das Gelände, und Stern hielt seinen Wagen vor dem Gebäude, um sich von seinem Trainer zu verabschieden.

»In der Ratgöbluckn«, lautete die Antwort.

»Wo bitte?«, fragte Stern.

»Die Ratgöbluckn! Die kenne ich!«, rief der Coach dazwischen.

»Wer ist das?«, drang Bormanns Stimme aus der Freisprecheinrichtung.

»Lukas Pichler! Ich bin der Fahrtrainer Ihres Chefinspektors«, stellte sich der Mann selber vor.

Im Auto herrschte für einen Augenblick Schweigen, nur die Motorengeräusche waren zu hören.

»Die Fahrstunde ist noch nicht vorüber.« Stern setzte den Audi wieder in Bewegung, damit er Grünbrechts BMW nicht aus den Augen verlor. Doch auf dem Testgelände zu rasen war etwas anderes, als dies auf der Straße zu tun, wo einem Autos und LKWs entgegenkamen, Fußgänger die Fahrbahn querten und langsamer fahrende Fahrzeuge überholt werden mussten. Bald waren von Grünbrechts Wagen nur noch die roten Rücklichter zu sehen. Wenn er sich nicht beeilte, würden auch die verschwinden.

»Aber … aber Sie können doch nicht einen Zivilisten …«

»Auf Wiedersehen, Chef!«, rief Stern.

Lukas Pichler verstand sofort. Umgehend drückte er auf den roten Hörer auf dem Display und trennte die Verbindung. »Hab ich gerade Ihren Vorgesetzten aus der Leitung geschmissen?«, fragte er.

»Ja«, antwortete Stern knapp.

»Cool!«

»Wissen Sie wirklich, wo diese Dings…luke ist?« Denn wenn nicht, musste er den Mann irgendwo absetzen, dann war er ihm nicht von Nutzen.

»Ratgöbluckn«, wiederholte Pichler den korrekten Namen. »Und ja, ich weiß, wo die ist. Zumindest ungefähr. Wenn wir Ihre Kollegin nicht aus den Augen verlieren, brauchen wir ihr ohnehin nur hinterherzufahren. Wie wir gehört haben, hat sie denselben Anruf erhalten.«

Da hatte der Mann recht, dessen Namen Stern nun endlich kannte.

»Gut, Herr Pichler. Die Frage kommt etwas spät, aber haben Sie etwas dagegen, wenn Sie mich begleiten und mir helfen, dass mich Grünbrecht nicht abhängt?« Stern war sich sicher, dass genau das passieren würde, wenn er allein im Wagen säße, auch wenn die letzte halbe Stunde des Trainings durchaus vielversprechend gewesen war.

»Ich freue mich, wenn Sie mich mitnehmen.« Lukas Pichler strahlte. »Ich war noch nie bei einem Polizeieinsatz dabei.«

»Kein Wunder, Sie sind ja auch kein Polizist.«

»Schalten wir das Blaulicht und die Sirene ein?«

»Das ist ein Zivilwagen. Aber irgendwo müsste ein Blaulicht sein, wahrscheinlich hinten im Fußbereich. Das können Sie aufs Dach klemmen.«

Der Fahrtrainer warf einen Blick auf die Rücksitzbank. »Da ist nichts.«

»Dann liegt es im Kofferraum.«

Ein wenig war Pichler enttäuscht, das sah Stern ihm an. Schließlich sagte er: »Macht nichts. Ich finde es auch so aufregend genug, dass ich mitfahren darf.«

»Wie schön, dass es jetzt sogar für Sie noch ein toller Tag wird«, spielte Stern auf das Fahrtraining an.

»Ich habe im Gegensatz zu Ihnen nie an Ihnen gezweifelt, Herr Chefinspektor«, erwiderte Pichler motivierend. »Und nun zeigen Sie, was Sie draufhaben! Dort vorne geht es irgendwann auf die Autobahn … Geben Sie Gas … Langsamer … Achtung, Fußgänger … Wieder Gas geben … Das lahme Vehikel verblasen wir! Los, Blinker an und überholen! … Sie haben freie Fahrt!«

3. Kapitel

Stern befolgte Pichlers Anweisungen, bis sie dicht am Heck von Grünbrechts BMW klebend die Perger Ortstafel passierten. Der Chefinspektor war mächtig stolz auf sich, weil ihn die Gruppeninspektorin nicht hatte abhängen können, und lenkte seinen Audi die Linzer Straße hinein bis ins Stadtzentrum. Dort bogen sie links in die Lebinger Straße ab und von dort in die Mühlsteinstraße, wo sie nach wenigen Metern die Geschwindigkeit auf Schritttempo drosselten. Seitlich führte eine schmale Straße, die gerade mal breit genug für einen Wagen war, einen Hang hinauf. Eine Anhäufung von Einsatzfahrzeugen mit blau blinkenden Lichtern verhinderte jedoch eine Zu- und Abfahrt.

»Wir halten hier an. Ich gehe das letzte Stück zu Fuß.« Stern parkte den Audi hinter Grünbrechts BMW. Weiter vorne entdeckte er die Harley-Davidson von Gruppeninspektor Martin Heinze. Bestimmt war Kolanski auch schon da. Aufgrund des mit Spurensicherern und uniformierten Polizeibeamten bevölkerten Weges hinauf in den Wald wusste er, dass irgendwo dort oben der Tatort sein musste.

»Und wie komme ich wieder nach Ansfelden?«, fragte Pichler und lugte neugierig aus dem Seitenfenster, wo die Maschinerie für so einen Einsatz längst zu laufen begonnen hatte. Spurensicherer schlüpften in weiße Overalls, und die Kollegen der örtlichen Polizei sperrten den Zugang mit einem rot-weißen Flatterband ab. Uniformierte bezogen seitwärts des Aufgangs Stellung und achteten darauf, dass nur Befugte die Absperrung passierten.

»Ein Polizeiwagen wird Sie bringen«, sagte Stern. »Und danke, dass Sie mich begleitet haben. Es hat mir wider Erwarten großen Spaß gemacht. Am allermeisten hat mir ja die Fahrt nach Perg gebracht, weil ich da das Gelernte in die Praxis umsetzen konnte, dank Ihnen, Herr Pichler.« Stern öffnete die Wagentür und wollte aussteigen, als ihn die nächste Frage des Fahrtrainers innehalten ließ.

»Würden Sie Ihrer Kollegin bitte meine Handynummer geben?« Pichler schaute durch die Windschutzscheibe nach vorne, wo Grünbrecht ungeduldig auf ihren Chef wartete, die Arme in die Hüften gestemmt und zu den Kollegen oben am Hang hinaufblickend. Dann kritzelte er auf ein Papiertaschentuch mehrere Ziffern.

Stern ließ sich noch einmal zurück in den Sitz sinken und sah den Fahrtrainer mitleidig an. »Ich würde mir da keine allzu großen Hoffnungen machen.«

»Ist sie verheiratet?«

Stern dachte an die improvisierte Zeremonie in dem alten Bauernhaus, wo Edwin Mirscher, Grünbrechts damaliger Verlobter, bei einem Polizeieinsatz angeschossen worden war und Stern den beiden seinen Ehering überlassen hatte, damit Grünbrecht und Mirscher sich symbolisch das Jawort hatten geben können. Bei dieser Erinnerung bildete sich ein dicker Kloß in seinem Hals.

»Ja«, krächzte er, auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Aber in diesem Augenblick empfand er es als die einzig richtige Antwort. Er räusperte sich, stieg aus und wartete, bis Pichler es ihm gleichtat.

»Hätte ich mir denken können«, meinte der Fahrtrainer und zerknüllte das Taschentuch.

Stern verabschiedete sich von dem Mann und bat einen Uniformierten, den Instruktor zurück nach Ansfelden zu bringen, und wenn dieser es wünschte, mit Blaulicht und Sirene. Sozusagen als Dankeschön dafür, dass er ihn dazu motiviert hatte, während der Fahrt hierher über sich selbst hinauszuwachsen. Vielleicht zudem als Trost, weil das mit Grünbrecht nichts werden würde. Die Gruppeninspektorin war inzwischen vorangegangen.

Stern trat auf das Absperrband zu, hob es an und schlüpfte hindurch. Anschließend ging er den Weg hinauf, der als Stephaniehain beschildert und der Gemahlin des Erzherzogs Rudolf, Prinzessin Stephanie von Belgien, gewidmet war, wo er besagte Ratgöbluckn erwartete. Bei etwa der Mitte des Aufstiegs ließ ihn ein Hupen den Kopf zur Mühlsteinstraße drehen. Dominik Weber, der Gerichtsmediziner, fuhr heran und machte lautstark auf sich aufmerksam. Dem Chefinspektor fiel aber nicht nur der heraneilende Gerichtsmediziner auf, sondern ebenso die wunderbare Aussicht auf das flache Machland, jene Region im Donautal, welche sich von Mauthausen donauabwärts bis nach Saxen erstreckte. Davor ragte der Kirchturm der Stadt Perg mit seinem roten Dach in die Höhe, als wollte er den Blick des Betrachters auf sich und die ihn umringende Kleinstadt ziehen.

Weber parkte den Wagen hinter Sterns Audi, öffnete die Fahrertür und rief: »Warte, Oskar!« Von der Rücksitzbank holte er seinen Koffer.

Seltsam, dachte Stern, dem auffiel, dass ihm die Freude, vor Weber am Tatort gewesen zu sein, heute fehlte. Diesen kindischen Wettstreit zelebrierten sie normalerweise bei jedem neuen Mordfall, und er rieb es dem Gerichtsmediziner ausgiebig unter die Nase, wenn er gewonnen hatte. Doch heute war das anders. In letzter Zeit hatte sich zwischen ihnen eine Männerfreundschaft entwickelt, obwohl sie beide ganz unterschiedliche Typen waren.

»Grüß dich, Dominik!«, sagte Stern, als Weber zu ihm aufschloss.

»Grüß dich, Oskar. Ich hab gehört, du und Mara musstet ein Fahrtraining absolvieren. Hat es sich gelohnt?«, wollte der Gerichtsmediziner wissen.

Stern versuchte einzuschätzen, wie Weber das meinte und ob bei ihm dieses Wetteifern, wer als Erster einen Tatort erreichte, gerade wieder aufflammte. War die Frage, ob es sich gelohnt habe, eine Anspielung darauf gewesen? Oder gar eine Stichelei? »Kann ich dir noch nicht sagen«, entschied er sich deshalb für eine neutrale Antwort.

»Das wird schon«, erwiderte Weber und klopfte Stern auf die Schulter. »Mit ein bisschen Übung hast du das bald im Griff.«

Stern glaubte zu erkennen, dass Weber es ernst meinte, und musste zugeben, dass ihm die neue Männerfreundschaft gefiel. »Na, dann lass uns mal sehen, was wir heute haben.«

»Ich tippe auf einen Toten«, witzelte der Gerichtsmediziner.

»Was du nicht sagst«, antwortete Stern. »Und ich dachte, wir wären hier, um uns die Sehenswürdigkeiten von Perg anzuschauen.«

»Die Ratgöbluckn ist eine davon«, wusste Weber.

»Du kennst die?« Stern war überrascht. Aber eigentlich war er es nicht. Dominik Weber war häufig im Land unterwegs, ging gerne wandern und kam auf diese Weise weit herum.

»Kennen ist zu viel gesagt. Ich weiß, dass es sie gibt, mehr nicht.«

»Na dann!«

Die beiden Männer schritten in stiller Eintracht das letzte Stück des Weges hinauf bis zur besagten Ratgöbluckn, einem aus dem Mittelalter stammenden Höhlensystem. Der Eingang war beidseitig mit einer Steinmauer befestigt und durch ein schmiedeeisernes Tor vor unbefugtem Zutritt gesichert. Der Bereich rund um den Zugang war auch hügelaufwärts mit einem polizeilichen Flatterband abgesperrt, damit ihn den Stephaniehain entlangflanierende Spaziergänger nicht betreten konnten. Das Großaufgebot an Einsatzkräften hatte natürlich jede Menge Neugierige angelockt, die hinter den Absperrbändern ausharrten, um einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Oder um zu erfahren, was denn überhaupt passiert war.

»Wurde die Tür aufgebrochen?«, fragte Stern den Spurensicherer, der selbige gerade aus mehreren Perspektiven fotografierte. Neben dem Eingang stand auf dem Boden eine Schachtel mit Überzügen für die Schuhe. Stern und Weber nahmen je ein Paar heraus und schlüpften hinein.

»Ja, das Schloss ist verbogen.« Der Beamte in dem weißen Overall ließ die Kamera sinken und deutete auf Kratzspuren in dem Metall. »Jemand hat so lange in dem Schloss herumgestochert, bis der Bolzen zurückgesprungen ist oder er ihn gewaltsam hat zurückschieben können. Entweder mit einem Dietrich, einem Schraubenschlüssel oder etwas Ähnlichem. Fachkundig sieht mir das Ganze jedenfalls nicht aus. Das war kein Profi, sondern einer, der zwar Ahnung von Schlössern dieser Art hat, aber nicht das richtige Werkzeug.«

Stern warf einen Blick auf den Verschließmechanismus. Jemand hatte sich gewaltsam Zutritt verschafft und das eiserne Schloss geöffnet – nicht ohne Schäden zu hinterlassen. »Wer hat die Leiche gefunden?«

Der Spurensicherer deutete auf einen Mann mittleren Alters, der neben einer Polizistin abseits des Höhleneingangs wartete und zu ihnen herübersah. Er hielt die Arme verschränkt und beobachtete die Vorgänge um ihn herum. Auf Stern machte er nicht den Eindruck, als hätte ihm der Leichenfund sonderlich zugesetzt.

»Mit ihm rede ich später«, sagte er. Er wollte sich zuvor einen Überblick über den Tatort und das Opfer verschaffen, um die Aussage des Mannes besser einschätzen zu können. Außerdem brannte er darauf, endlich zu erfahren, was sie in der Höhle erwartete.

»Dafür wird er dir auf ewig dankbar sein«, meinte Weber. »Er ist hier oben im Augenblick nämlich der Einzige, der nicht im Landeskriminalamt oder in der Gerichtsmedizin arbeitet. Alle anderen müssen hinter den Absperrbändern ausharren. Er wird in der nächsten Zeit die gefragteste Person im ganzen Bezirk sein. Jeder will schließlich erfahren, was er hier mitbekommen hat.«

Stern lachte. »An was du immer denkst.« Amüsiert schüttelte er den Kopf. Für ihn war die Verschiebung der Vernehmung des Mannes auf einen späteren Zeitpunkt ein taktischer Zug, der es ihm ermöglichen sollte, besser einschätzen zu können, ob der Finder der Leiche verdächtig war oder nicht. Es gab Fälle, bei denen die Täter zur Polizei gingen und einen Mord meldeten, um den Verdacht von sich zu lenken.

»Ich weiß, an mir ist ein Psychologe verloren gegangen«, witzelte Weber.

»Gott bewahre!«, stieß Stern gespielt entrüstet aus. »Reicht es dir nicht mehr, an Toten herumzuschnipseln?«

»Mit meinen Klienten kann ich nicht reden.«

»Doch, kannst du.«

»Aber sie antworten nicht. Zumindest nicht mit Worten.«

»Das kann auch ein Segen sein«, sagte Stern und betrat vor dem Gerichtsmediziner die unterirdische Anlage. Gleich zu Beginn ging es ein wenig bergauf. Elektrisches Licht leuchtete das verzweigte Gänge- und Kammernsystem unterschiedlich hell aus, sodass Stern zumindest sehen konnte, wohin er auf dem sandigen Boden trat. Mit jedem Schritt, den er machte, wurden die Geräusche von draußen leiser. Der Chefinspektor stellte fest, dass der modrige Geruch, der typisch für Höhlen dieser Art war, hier drinnen fehlte. Anscheinend war die Ratgöbluckn gut belüftet.

»Das ist wirklich interessant«, ertönte Webers Stimme in Sterns Rücken. »Für die damalige Zeit war das eine starke Leistung, solche Höhlen und Gänge in das Gestein zu hauen. Höchst beeindruckend! Weshalb die das wohl gebaut haben?«

»Um sich vor Feinden zu schützen«, mutmaßte Stern, betrachtete die Einbuchtungen und Nischen, an denen sie gerade vorbeikamen, und hielt inne. Es war auffallend, dass Bereiche mit härteren Gesteinsmassen einfach stehen gelassen worden waren. Wahrscheinlich war man zu der damaligen Zeit nicht in der Lage gewesen, sie zu entfernen. Überhaupt war das Gestein unterschiedlichen Ursprungs. Schichten aus verwittertem Granit wechselten sich ab mit jenen aus weichem Sandstein – das Ergebnis von mehreren Millionen Jahre alten Meeresablagerungen.

»Es könnte auch friedliche Gründe gehabt haben, warum sie das gemacht haben«, warf Weber ein. »Vielleicht weil es im Sommer draußen zu heiß gewesen ist. Hier drinnen ist es kühl, da hat man Lebensmittel über einen längeren Zeitraum lagern können. Fleisch, Speck, Wein … Kühlschränke gab es damals ja noch nicht.«

»Glaub mir, unsere Gattung handelt selten aus friedlichen Gründen. Der Mensch ist ein Raubtier, und davor haben sich die Erbauer der Höhle offenbar schützen wollen. In Zeiten der Kreuzzüge sind die Ritter und ihre Knappen bestimmt auch die Donau entlanggekommen und haben die Dörfer und Städte geplündert. Essen, Frauen … Die hatten ja unmöglich so viel bei sich, dass sie sich über Monate hinweg versorgen und all ihre Bedürfnisse hätten stillen können. Keine schöne Vorstellung, wenn du mich fragst. Vor allem nicht für die Frauen und Kinder.«

»Du bist immer so negativ …«

»Ich arbeite am Landeskriminalamt, was erwartest du?«

»Ein paar positive Gedanken würden dir hin und wieder nicht schaden.«

»Ich bin positiv genug«, fand Stern und ging weiter.

»Ha!«, lachte Weber auf.

»Ja, Doktor Freud, ist schon gut.«

Stern und Weber drangen tiefer in das unterirdische Kammern- und Gängesystem ein. Von der Welt außerhalb war mittlerweile nichts mehr zu hören, nur ihre eigenen Geräusche, verursacht durch das Auftreten von in Schutzhüllen steckenden Sohlen auf dem sandigen Boden, begleiteten sie. Darunter mischten sich stetig lauter werdende Stimmen aus dem tieferen Inneren der Höhle.

»Da bin ich jetzt aber gespannt«, murmelte Weber hinter Stern gehend.

»Dem schließe ich mich an.« Stern hatte noch nie an so einem Tatort ermittelt und fragte sich, wie lange es wohl gedauert haben mochte, bis die Leiche gefunden worden war, da ihm ein süßlicher Geruch in die Nase stieg. Es war der Geruch des Todes, den jeder Leichnam irgendwann zu verströmen begann. Der eine durch Medikamenteneinnahme und Hitzeeinwirkung früher, der andere aufgrund von Sauerstoffentzug und einer kühleren Umgebungstemperatur später. Auf alle Fälle lag der Tod dieses Opfers geraume Zeit zurück.

Als Stern die nächste Kammer betrat, erwartete ihn ein bizarres Bild. Auf dem Boden lag eine weibliche Leiche, die Hände auf der Brust gefaltet, wie es fromme Menschen oftmals bei Andachten taten. Rund um die tote Frau standen abgebrannte Teelichter. Als sie entfacht gewesen waren, konnte ihr Anblick durchaus ein tröstlicher gewesen sein, als habe sich jemand auf diese Weise von der Toten verabschiedet. Wie ein Mord sah das Ganze auf den ersten Blick jedenfalls nicht aus. Eher wie eine Grabkammer – fehlten nur die Grabbeigaben, die es in früheren Kulturen oftmals gegeben hatte. Auch konnte Stern keine Wunde und kein Blut ausmachen. Nur der Geruch von verwesendem Fleisch ließ ihn wissen, dass die Frau am Boden nicht bloß schlief, sondern tot war. Ebenso deutete die Farbe der Haut darauf hin, dass der Todeszeitpunkt einige Zeit zurücklag.

»Grüß euch!«, begrüßte Hermann Kolanski die Eintretenden. Er und die Gruppeninspektoren Mara Grünbrecht und Martin Heinze standen rund um die sorgfältig abgelegte Leiche herum, als wollten sie ein Gebet sprechen. Nur ihr Gesichtsausdruck wegen des Geruchs passte nicht dazu.

»Grüß euch!«, erwiderten Stern und Weber unisono.

Martin Heinze nickte ihnen zu und sagte: »Und, Chef? Was hältst du davon?«

»Hm …« Stern ließ sich mit einer Antwort Zeit, um keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Erst nachdem er sich alles angesehen hatte, sagte er: »Die Zurechtmachung der Toten erweckt für mich den Anschein, als habe derjenige, der sie hergebracht hat, sie sehr gemocht. Die vielen Teelichter hat er schließlich auch hierherschaffen müssen, und wenn man jemanden aus Hass oder Rache umbringt, zündet man keine Kerzen an.«

»Vielleicht war ihr Tod ein Unfall«, spekulierte Heinze und fuhr sich mit der Hand durch seine blonden Haare, die sich mit zunehmender Länge immer stärker zu Locken kräuselten.

»Wenn sie durch einen Unfall gestorben wäre, hätte man das doch der Polizei melden können«, entgegnete Grünbrecht. »Aber schaut sie euch an: Das sieht nicht wie ein Unfall aus.« Sie deutete auf das Opfer, das mit einer Jeans und einer hellblauen Bluse bekleidet war. Beide Kleidungsstücke wiesen keinerlei Flecken auf und erweckten sogar den Eindruck, als wären sie frisch gewaschen und gebügelt und ihr erst ganz zuletzt übergezogen worden. Außerdem hatte ihr der Täter das blonde Haar gekämmt und es seidig glänzend über die Schulter gelegt.

»Wissen wir, wer sie ist?«, fragte Stern.

»Sie hatte keinen Ausweis bei sich oder sonst etwas, womit wir sie identifizieren können. Auch keine Tasche«, erklärte Grünbrecht.

»Ich checke die Vermisstenanzeigen.« Heinze wischte auf seinem ultramodernen privaten Smartphone herum, welches sich die Polizei niemals als Diensthandy leisten könnte. »Leider habe ich hier drinnen keinen Empfang, ich geh kurz mal raus …«

»Alles klar.«

Nachdem Heinze die Höhle verlassen hatte, stellte sich Stern neben Grünbrecht und Kolanski und gab dem Gerichtsmediziner das Zeichen, dass die Leiche ihm gehörte. Gespannt warteten die Kriminalbeamten auf seine erste Einschätzung, was Ursache und Zeitpunkt des Ablebens anbelangte.