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Nach den Büchern "Ein paar Kurze" und "Nur kurz" ist mit dem vorliegenden Titel "Dreimal kurz" eine Trilogie mit Kurzgeschichten entstanden, die anfänglich vom Autor gar nicht geplant war. Doch auch diesmal ist er seinem Stil wieder treu geblieben und hat erneut die verschiedensten Themen zu kurzen Erzählungen verarbeitet. Ob Krimi, Fiktion, Liebe, Universum, Roboter, Gutenachtgeschichten oder Honigbienen, nichts ist vor seiner Fantasie sicher. Und genau wie zuvor ist es auch bei diesem Buch sein Anliegen, dass jedem Leser mindestens eine der Geschichten besonders gut gefallen möge.
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Seitenzahl: 321
Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?
Georg Christoph Lichtenberg (1742 - 1799),
Mathematiker, Physiker, Naturforscher und Schriftsteller
Saalfeld, 11.03.2020
Prolog
Umweltschutz
Der Besuch
Spazieren gehen
Blut
Müde
Die Gutenachtgeschichte
Drei Todesarten
Pech
Zirkus
Ehebruch?
Inselidylle
Zwei Kilo
Friedhof der Blödmänner
Eine Frage
Halb und halb
Die Aufgabe
Julia und Andreas
Parallele Dimensionen
Bienen
Mehlmanns Hochzeit
Magie
Die Wetterstation
Er und sie
Ein altes Buch
Bernhardts Freund
Verarsche
Raureif
Die Fremden
Depressiv
That’s life!
Hitze
Telefongespräch
Victor
Die Besessenen
Das Herz
Im riesigen Haus
Bierbach
Zwillinge
Delta 5 sendet falsch
pro bono
Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit
Epilog
Nach den Büchern „Ein paar Kurze“ und „Nur kurz“ lege ich Ihnen nun das dritte Buch mit Kurzgeschichten ans Herz. Wenn Sie ins Internet schauen, dann finden Sie dort auf unterschiedlichen Seiten die folgende, stets ähnlich lautende Formulierung:
Kurzgeschichten sind eine der bekanntesten Textformen, wobei sich der Name von den amerikanischen ‚Short Stories‘ ableitet. Sie zeichnen sich dabei vor allem durch ihre Kürze aus, weshalb sie meist anhand ihres sehr komprimierten Inhalts erkennbar sind. Das bedeutet, dass das Wesentliche verstärkt und konzentriert vom Autor offenbart wird.
Dementsprechend hoffe ich, dass ich wenigstens so wesentlich und konzentriert geschrieben habe, dass Ihnen mindestens eine meiner Geschichten gut bis sehr gut gefällt.
Übereinstimmungen bzw. Ähnlichkeiten von Namen, Orten, Geschehnissen oder sonstigen Dingen sind ungewollt und wären rein zufällig.
Ich widme dieses Exemplar all den Menschen, die mein Leben positiv berührt haben.
Der Mann in Orange breitete verzweifelt beide Arme aus und beteuerte weinerlich: „Bitte glauben Sie mir doch, ich tue alles für die Umwelt, wirklich alles. Ich mache keine Spazierfahrten mehr mit dem Auto, nein, ich benutze es nur noch, wenn es unbedingt nötig ist. Ich fliege mit keinem Flugzeug mehr, sondern fahre mit der Bahn in den Urlaub. Ich trenne jeglichen Müll bis auf den letzten Schnipsel Papier. Ich verzichte auf Wannenbäder und dusche jetzt nur noch, einfach um Wasser zu sparen. Fünf Tage die Woche esse ich kein Fleisch, manche Woche sogar sechs Tage. Meine Einkäufe tätige ich zu fünfundneunzig Prozent in Bio-Läden. Ich benutze seit Jahren nur noch Einkaufstaschen aus Stoff und keine Plastebeutel mehr. Mein Mineralwasser kaufe ich nur noch in Glasflaschen, um somit ebenfalls Plastik zu sparen. Eingeschweißte Wurst kommt bei mir gar nicht mehr auf den Tisch, sondern ich kaufe nur noch bei Metzgern, die ihre Ware nicht in Plastefolie einpacken. Ich verspeise auch nur Eier von freilaufenden Hühnern. Einmal im Monat gehe ich mit Gleichgesinnten in Parks und sammele dort Müll auf. Auch Flaschen und Gläser entsorge ich ordnungsgemäß nach ihrer Farbe. Ich drehe der Umwelt zu liebe die Heizung nicht mehr voll auf und nehme mir lieber eine Decke, damit ich nicht friere. Außerdem spende ich regelmäßig Geld für Umweltvereine. Und Kreuzfahrten mit Luxuslinern kommen für mich gleich gar nicht in Frage. Beim Wäschewaschen verzichte ich auf Weichspüler und ich benutze nur Reiniger auf Essigbasis. Sämtliche Haushaltsgeräte wie Kühlschrank, Fernseher oder Waschmaschine haben die Energieeffizienzklasse A+++ und ich habe auch alle Glühlampen gegen LEDs ausgetauscht. Selbst meinen Computer benutze ich kaum noch, nur um hier auch noch einiges an Energie einzusparen. Natürlich habe ich auch den Stromanbieter gewechselt und bekomme ausschließlich grünen Strom aus sogenannten erneuerbaren Quellen. Und wenn ich Kartoffeln koche, dann benutze ich, wie die Leute nach dem zweiten Weltkrieg, eine sogenannte Kochkiste, die zur Isolierung mit einer alten Decke ausgekleidet ist. Das heißt, die Kartoffeln bleiben auf dem Herd ab dem Zeitpunkt des Kochens nur noch eine einzige Minute, dann kommt der Topf in die zugedeckte Kiste und dort verweilt er etwa 45 Minuten ohne weitere Energiezufuhr. Dann sind die Kartoffeln gar. Und bevor ich es vergesse, ich habe meinen Garten in ein Feuchtbiotop umgebaut. Ja, auch Trinkhalme aus Plaste benutze ich nicht mehr und auch kein Plastikbesteck. Übrigens zünde ich auch keine Kerzen mehr an, seit die Wissenschaftler herausgefunden haben, dass dadurch Feinstaub erzeugt wird. Und nun sagen Sie mir mal ganz ehrlich: Was hätte ich denn noch alles tun sollen?“
Sein uniformiertes Gegenüber erwiderte mit etwas Traurigkeit in der Stimme: „Am besten wäre gewesen, Sie hätten den Umweltminister nicht umgebracht!“
Torsten Wollhaus war nicht unbedingt die hellste Kerze auf der Torte. Außerdem schielte er ein klein wenig. Aufgrund dieses Blicks hatten ihm die Kollegen im Büro den Spitznamen ‚Silber‘ verpasst. Da er aber ein freundlicher Mensch war, hörte er ohne Widerspruch auf diesen Namen. Warum die Menschen jedoch das Schielen als Silberblick bezeichneten, blieb ihm stets unklar. Er arbeitete als kleiner Angestellter in der Abteilung ‚Zukunftsforschung‘ und war eigentlich dafür verantwortlich, die eingehende Post zu sortieren und auszuteilen, sowie Postausgänge in der Firmendatenbank zu vermerken. Aber ohne zu murren erledigte er auch andere Arbeiten, wie zum Beispiel Papierkörbe leeren oder das Beschaffen von Kugelschreiberminen. Da er keine großen Ansprüche an sein Leben stellte, war er mit der geringen Entlohnung und seiner kleinen Einzimmerwohnung im Großen und Ganzen zufrieden, obwohl das Mini-Badezimmer eine halbe Treppe tiefer gelegen war. Nur eine Freundin hätte er sich noch gewünscht. Wahrscheinlich wäre es dieser bei ihm auch gut gegangen, aber keine wollte anbeißen. Torsten war eben zu schüchtern. Seine Freizeit verbrachte er meistens vor der Fernsehkiste. Bei schönem Wetter schnappte er sich aber auch gelegentlich sein Fahrrad und strampelte sich die Seele aus dem Leib. Es handelte sich um sein zweites Rad, denn das erste hatte man ihm aus dem Keller gestohlen. Da er nicht viel Geld besaß, nahm er jetzt seinen Drahtesel mit in die Wohnung. Noch ein weiteres Fahrrad hätte er sich nicht leisten können. Allerdings konnte er sich nun kaum noch in seinem Zimmer drehen und wenden. Aber er nahm es mit Humor, wie er auch sonst alles in seinem Dasein positiv sah. Bestimmt wäre sein Leben weiterhin ohne besondere Einschnitte verlaufen, wenn nicht eines Tages ein seltsamer Mensch an seine Tür geklopft hätte. Der Mann trug einen Overall, der eher wie ein Baby-Strampler aussah, als dass er einem Kleidungsstück für Erwachsene ähnelte. Als Torsten öffnete, fragte die Erscheinung höflich: „War das recht so?“ Torsten zog die Stirn in Falten: „Wie bitte?“ Der Mann wiederholte: „War das recht so?“ Torsten hielt den Kopf etwas schief, als ob er dadurch besser hören würde: „Ich verstehe Sie immer noch nicht“. Der Mann schien einigermaßen verwirrt zu sein: „Ich wollte doch nur bescheiden ermitteln, ob das mit dem Klopfen der üblichen Sitte gehorcht. Wenn man sich dem Domizil eines Unbekannten nähert, so klopfe man an den Rahmen des Fensters oder an die festen Teile der Türe, um eingelassen zu werden. Ist dem nicht so? Oder habe ich mich getäuscht, und man spricht hierzulande in einem anderen Duktus?“ Torsten wusste immer noch nicht, was er von der ganzen Sache halten sollte: „Und was wollen Sie nun eigentlich von mir?“ Der Fremde drängte sich an Torsten vorbei ins Zimmer: „Sie besuchen“. Dann blickte er sich mehrmals fragend um: „Und wo geht es nun hinein in Ihre Behausung?“ „Das hier ist mein Heim, mehr gibt es nicht“, sagte Torsten, „und wenn es Ihnen nicht gefällt, dürfen Sie gern wieder gehen. Das wäre sowieso das Beste!“ Der Mann war eine geraume Weile sprachlos. Dann stotterte er: „Ich habe dieses nicht erwartet. Wohnen in diesem Jahrhundert alle derart gedrängt?“ Torsten wurde ungehalten: „Und waren Sie in ihrem Jahrhundert schonmal beim Psychiater?“ Der Fremde schien die Frage als völlig normal zu betrachten: „Vor drei Tagen. Den nächsten Termin habe ich in zwei Monaten. Aber sagen Sie mal, woher wissen Sie denn eigentlich, dass ich aus einem anderen Zeitmaß komme? Man hat mir gesagt, dass in Ihrem Jahrhundert noch niemand etwas von Zeitreisen gehört haben könnte, da diese noch gar nicht erfunden gewesen seien“. Torsten griff sich an den Kopf: „Behaupten Sie ernsthaft aus der Zukunft zu kommen? Das ist doch hirnrissig. Schon Albert Einstein hat bewiesen, dass man höchstens in die Vergangenheit reisen kann, denn die hat es ja mal gegeben. Die Zukunft existiert aber noch gar nicht, die kommt erst noch. Und was nicht existiert, kann man auch nicht besuchen. Das weiß ich von meinen Kollegen aus der Firma“. Der Fremde lächelte mild: „Mein Freund, Sie vergessen, dass von uns aus gesehen dieses Jahrhundert hier weit in der Vergangenheit liegt. Und wie Sie gerade selbst ausführten, kann man die Vergangenheit besuchen“. In Torstens Gehirn machte sich ein unangenehmer Gedanke breit: „Heißt das etwa, dass jetzt jede Menge Zeittouristen über uns herfallen?“ Der Mann schüttelte den Kopf: „Nein. Nein bestimmt nicht. Sie müssen wissen, dass ich so etwas wie ein Scout bin. Ich bin der erste, der in die Vergangenheit geschickt wurde. Logischerweise soll ich zunächst die Lage checken, ob es sich lohnt und entsprechend angenehm ist, in die Vergangenheit zu reisen. Schließlich kostet so eine Reise einen Haufen Geld. Aber ich kann Sie beruhigen, ich werde absolut niemandem empfehlen in eine dermaßen beengte und trostlose Zeit zu reisen. Und jetzt darf ich mich empfehlen!“ Er drehte sich um und stolperte die steile Treppe hinunter.
Am nächsten Tag erzählte Torsten aufgeregt seinen Kollegen, dass er nun aus erster Quelle wüsste, warum bisher noch nie ein Mensch aus der Zukunft gekommen wäre, um die heutige Menschheit zu besuchen. Die Kollegen verbissen sich das Lachen oder schauten unauffällig zur Seite. Torsten Wollhaus war eben nicht unbedingt die hellste Kerze auf der Torte.
Wieso? Ich kann auch kochen. Na ja, vielleicht kann es Mami etwas besser. Ein ganz klein wenig. Was? Von wegen angebrannt. Das kannst du in deinem Alter noch gar nicht schmecken. Hoppla, das ist nun wirklich kein Grund zum Heulen. Na komm, Burschi, da gehen wir jetzt mal ein bisschen spazieren. Was? Natürlich, wenn du unbedingt willst, auch auf den Spielplatz. Willst du unbedingt? Es hat aber vorhin geregnet, da müssen wir uns gut anziehen. Was meinst du mit ‚wer’? Ich ziehe dich an. Mami ist ja nicht da. Bitte? Das habe ich dir schon dreimal erklärt. Sie ist mit deinem Schwesterchen zur Mutter-Kind-Kur. Quatsch, wir Männer brauchen so was nicht. Na ja gut, das war aber damals eine einmalige Ausnahme. Ich musste halt mal etwas abnehmen. Da war ich aber auch nur eine einzige Woche weg. Komm jetzt, anziehen! Wir wollen doch spazieren und nicht diskutieren. Als erstes die Gummistiefelchen. Da kannst du dann durch die Pfützen patschen. Wieso zu eng? Seit gestern kannst du doch nicht so viel gewachsen sein. Was? Von Svenja? Warum sagst du das nicht gleich? Ich drücke und zerre wie ein Idiot, und du guckst einfach zu, anstatt zu sagen, dass die Dinger von deiner Schwester sind. Entschuldige mal, ich kann doch nicht alles wissen. Moment! Auch Jungen können rosa Sachen haben. In deinem Alter sollte ein Junge noch nicht so sexistisch sein! Äh, das erkläre ich dir, wenn du mal groß bist. Bitte? Quark, so ein großer Junge bist du nun auch wieder nicht, aber hilf mir jetzt mal deine Gummistiefel zu suchen! Die? Na endlich! Was? Verarsch mich nicht! Nein ‚Arsch’ darf man nicht sagen, aber die können einfach nicht zu eng sein, das sind doch deine ureigensten Stiefel, oder haben wir etwa drei Kinder? Meine ich doch, das sind deine. Was macht Mami immer? Verflixt sag das doch gleich. Du kannst doch auch mal mitdenken. Schließlich bist du schon groß. Also zieh den Stiefel wieder aus, wir werden die Socken einfach herausnehmen. Deine Mutter kommt aber auch auf Ideen. Bei mir meckert sie, dass ich meine Socken überall herum liegen lasse, und selbst stopft sie die Dinger überall hin. Ja, ja, du hast recht. Im Stiefel ist nicht überall. Jetzt die Jacke. Wieso gefällt die dir nicht? Ach so, von Svenja. Und die hier? Auch! Und deine? Die? Das hässliche Ding? Heul nicht, das war ein Scherz! Ein so großer Junge wie du wird doch wohl einen Spaß erkennen. Ich habe dein Taschentuch nicht, nimm meins. Und hör endlich auf zu plärren, sonst kriegst du einen Grund! Also, in Gottes Namen, wir ziehen diese Jacke an. So! Siehst du, es geht auch ohne Mami. Bitte? Woher soll ich wissen, wo deine Mütze ist. Ist doch wohl deine. Die nicht? Wieso ausgerechnet diese nicht? Svenja! Gut! Die hier? Na geht doch! Nun aber los! Wen? Hugo? Du willst deinen Teddy mit auf den Spielplatz nehmen? Das kommt überhaupt nicht in Frage. Erstens lachen dich die Mädchen aus und zweitens wird Hugo viel zu dreckig. Jetzt hör endlich auf zu heulen! Stopp! Ruhe! Das Handy hat geklingelt. Wer? Ach so, Mami. Nein, nein, der heult nicht, wir spielen bloß. Natürlich geht’s uns gut. Wir wollen gerade raus. Auf den Spielplatz. Ach wo, du hältst uns nicht auf. Ja, Küsschen auch für Svenja. Tschau! So, Burschi, jetzt aber! Klar darfst du die Tür aufmachen. Aber doch nicht so. Mein Gott, bist du blöd. Da, jetzt haben wir den Dreck. Es regnet schon wieder. Nix mit Spielplatz. Warum trödelst du auch immer so herum. Und hör auf zu heulen! Ich mach dir den Fernseher an. Nein, zum Teufel, wir brauchen Mami nicht.
Das Wetter konnte sich an diesem frühen Morgen nicht so richtig entscheiden, ob es noch herbstlich oder schon winterlich daherkommen sollte. Auf der linken Seite des kleinen Marktplatzes waren die metallenen Laternen bereits mit Reif bedeckt. Auf der rechten Seite, nahe dem Rathaus, war davon noch nichts zu bemerken. Die Menschen, die eigentlich auf dem Weg zur Arbeit waren, verharrten neugierig hinter dem rotweißen Polizei-Absperrband. Kommissar Riemer kniete vor einer großen, roten Pfütze und drückte das Diensthandy ans Ohr: „Ja, hier auch. Genau wie bei Euch. So anderthalb Meter lang. Auf den ersten Blick würde ich es tatsächlich für Blut halten. Ich bringe die Probe gleich ins Labor. Was? Ich wird verrückt. Selbst Hohlbach ist im Außeneinsatz? Wieviel Pfützen sind denn das eigentlich insgesamt? Ach du Scheiße! Kein Wunder, dass ich hier auch noch die Arbeit der Spurensicherung übernehmen muss. Am besten wir lassen die Tatortreiniger aus den umliegenden Bezirken einfliegen. Also dann bis zur Dienstberatung!“ Unter Ächzen stemmte Riemer seinen massigen Körper hoch und ließ das Handy in die Tasche gleiten. Dann hob er das Absperrband an und verschwand in Richtung Dienstwagen. Dabei drückte er unbewusst die Hand auf seine alte Schussverletzung. Manchmal tat es eben noch weh.
Im Labor wurde er schon erwartet. Ein Mitarbeiter nahm ihm das Röhrchen mit der roten Flüssigkeit ab: „Tierblut!“ Der Kommissar stutzte: „Das sehen Sie schon von außen? Donnerwetter!“ Der Laborant grinste: „Sie sind schon der Dreizehnte mit dem Zeug. Und auf zwanzig weitere warten wir noch. Da hat sich einer einen absolut beschissenen Streich ausgedacht. Dreiunddreißig Blutlachen innerhalb unserer Stadt. Kein Wunder, dass die Polizei völlig überfordert ist“. Riemer drehte sich um und verließ den Raum, etwas Unverständliches nuschelnd. An der Tür stieß er mit einem jungen Mann zusammen, der auch einen Beweismittelbeutel in der Hand trug, in welchem sich ebenfalls ein Röhrchen mit Blut befand. Der Kommissar hielt ihn am Arm fest: „Hoppala, Mehlmann, was machen Sie denn hier? Ich denke, Sie haben sich versetzen lassen?“ Kommissar-Anwärter Mehlmann wurde rot: „Ja, äh, nein, äh, ich hab’s mir überlegt und will doch lieber hierbleiben“. Riemer stutzte: „Wieso das denn auf einmal? Sie werden doch nicht etwa Sehnsucht nach mir haben?“ Mehlmann quetschte sich an dem korpulenten Riemer vorbei: „Nicht wegen Ihnen, wegen einer Frau. Ach übrigens, Sie sollen sofort zu Hohlbach kommen!“ Kommissar Riemer trat auf die Straße und murmelte vor sich hin: „Das arme Mädel. Dass jemand so einen Pedanten gernhaben kann. Na ja, auch auf dem dürrsten Ast sitzt manchmal ein Vögelchen. Wahrscheinlich sind die Frauen in dieser Gegend etwas Besonderes. Schließlich ist Schimmler ja auch wegen einer Frau aus Halle zurückgekommen. Was gehts mich an“.
Als Riemer das Büro von Hohlbach betrat, saßen die Kommissare Bärschneider und Straubinger bereits an dem alten Konferenztisch. Hauptkommissar Hohlbach hingegen lief wie von der Tarantel gestochen hin und her: „So eine Sauerei! Diese Mistkerle! Erschießen müsste man diese Bagage! Man soll es nicht glauben, in meinem Zuständigkeitsbereich! In meinem! Mich verarschen! Uns alle vorführen! Das darf einfach nicht wahr sein!“ Riemer zog sich geräuschvoll einen Stuhl heran: „Nicht aufregen Chef! Wegen so eines blöden Streichs. War doch nur Tierblut“. Hohlbach blieb stehen: „Das ist ja wieder typisch. Riemer, Riemer. Sie kommen wie immer aus dem Mustopf. Sie leben wie immer hinterm Mond. Sie haben wie immer keine Ahnung. Tierblut, ha! Während alle Beamten unserer Dienststelle, ob mit oder ohne Uniform, durch die Gegend gestolpert sind, um wie die Idioten rote Pfützen zu begutachten, hat sich kein Schwein darüber Gedanken gemacht, dass die ganze Scheiße nur ein raffiniertes Ablenkungsmanöver sein könnte. Und während wir Rindviecher neben irgendwelchen seltsamen Blutlachen rumstanden, haben diese verfluchten Mistbolzen den Geldtransport vor unserer Bankfiliale überfallen. War ja ganz einfach. War ja kein Polizist in der Nähe. Und die zwei Pfeifen von der Security dürfen ja laut Vorschrift keinerlei Waffen tragen. Außer vielleicht diesem leckeren Pfefferspray, dass sich die Ganoven schon zum Mittagstisch auf ihr Steak sprühen. Nun liegen beide Überfallene mit einer Platzwunde an der Rübe bei Mama im Bettchen. Ich könnte kotzen!“ Straubinger stützte sein Kinn in die rechte Hand und sagte tonlos: „Der Chef drückt sich heute wieder sehr blumig aus“. Im gleichen Moment trat Kommissar Schimmler in den Raum, eine größere Tüte in der Hand haltend: „Leute, ich habe eine Jacke in der Nähe meiner Pfütze gefunden. Blutverschmiert, in einer Mülltonne. Ich bringe sie gleich in unser Labor“. Riemer wandte sich ihm zu: „Und mach den Kollegen mal ein bisschen Dampf. Wir brauchen die DNS von der Jacke schon gestern“. Daraufhin legte Bärschneider seine Stirn in Falten: „Ich denke das heißt DNA?“ Seine Kollegen guckten ihn entgeistert an. Hohlbach dozierte kopfschüttelnd: „DNS ist doch bloß die deutsche Schreibweise und bedeutet Desoxyribonukleinsäure. DNA dagegen ist Englisch und heißt deoxyribonucleic acid. Das sollte man in unserem Beruf eigentlich wissen“. Bärschneider winkte ab: „Wie auch immer. Für mich steht fest, dass wir es mit einer ganzen Mannschaft zu tun haben. Dreiunddreißig so große Blutpfützen können wohl kaum von einer einzelnen Person innerhalb einer Nacht angelegt werden“. Hohlbach stemmte seine Hände in die Hüften: „Da wären wir anderen gar nicht draufgekommen, Sie Genie. Und weil Sie so klug sind, dürfen Sie jetzt mit Riemer den Tatort untersuchen!“
Als Kommissar Riemer nach der Tatortbesichtigung nach Hause kam, war er genauso schlau wie vorher. Jemand hatte die Überwachungskameras abgeschaltet und es war auch sonst nicht die geringste Spur zu finden gewesen. Wo sollte man da ansetzen? Am besten würde er erst mal etwas trinken. Eine Flasche Rotwein wäre jetzt genau richtig. Aber nach dem dritten Glas schlief er ein. Es war schon gegen Morgen, als ihn sein Handy aus dem Schlaf riss. Es war seine Exfrau. Zuerst wollte er den Ruf einfach wegdrücken, dann überlegte er sich es doch anders: „Ja?“ Die Stimme am anderen Ende klang besorgt: „Ist unsere Tochter bei dir?“ „Nein. Was ist los?“ „Sie war heute Nacht nicht zu hause. Ich mache mir solche Sorgen“. Riemer musste lächeln: „Du vergisst wieder mal, wie alt sie ist. Wenn sie eine eigene Wohnung hätte, würdest du das gar nicht mitbekommen haben. Sie ist schließlich erwachsen. Hast du sie angerufen?“ Eine Weile war Stille, dann gestand die Frau: „Nein. Ich will nicht, dass sie denkt, ich spioniere ihr nach. Kannst du nicht …?“ „Ach, damit ausgerechnet ich wieder der Buhmann bin! Aber meinetwegen“. Er legte auf und massierte seine schmerzenden Schultern. Es wäre wahrscheinlich doch besser, wenn er nicht am Tisch schlafen würde. Widerstrebend wählte er die Nummer seiner Tochter. Sie meldete sich nach mehrmaligem Klingeln: „Papi? Bist du das? Ist was passiert? Weißt du eigentlich, dass normale Menschen um diese Zeit noch schlafen?“ Der Kommissar entgegnete leise: „Schatz, wo bist du? Deine Mutter macht sich wieder mal unnötig Sorgen. Sie hat mir die Hölle heiß gemacht“. Seine Tochter klang verlegen, als sie antwortete: „Entschuldige, dass du es auf diese Art erfährst. Ich wollte es dir schon früher sagen. Ich habe einen neuen Freund. Zurzeit bin ich hier bei ihm. Aber mach dir keine Sorgen, wir wollen heiraten. Wirklich!“ Riemer musste schlucken: „Na das sind mal Neuigkeiten. Aber jetzt rufst du deine Mutter an und erzählst ihr alles. Abgemacht?“ „Abgemacht!“
Hohlbach thronte wie ein Kaiser hinter seinem massiven Schreibtisch: „So ihr zwei, ich habe inzwischen ermittelt, woher das Tierblut stammt. Die Großschlachterei aus dem zehn Kilometer entfernten Waldlingen hat telefonisch einen Einbruch gemeldet“. Kommissar Bärschneider frotzelte: „Großartige Ermittlung. Da haben Sie ja ein Haufen Arbeit gehabt“. Riemer stieß ihm mit dem Ellenbogen hart in die Seite: „Schnauze!“ Hauptkommissar Hohlbach lief kurz rot an, dann hatte er sich wieder im Griff: „Bärschneider, Sie fahren zu der Schlachterei. Die Spurensicherung dürfte dort inzwischen fertig sein. Sprechen Sie mit jedem, den Sie erwischen können. Jede Information könnte uns weiterhelfen. Also Abmarsch! Und Sie, Riemer, suchen mir den Schimmler. Ich will endlich wissen, was mit der gefundenen Jacke los ist!“ „Na prima“, murmelte Riemer im Hinausgehen, „ich bin wieder mal der Laufbursche“.
Auf dem Weg zu seiner Tochter hatte der Kommissar Rosen gekauft. Jetzt stand er vor der Adresse, die ihm seine Tochter genannt hatte. Die Adresse ihres Freundes. Als er geklingelt hatte, öffnete Kommissar-Anwärter Mehlmann die Tür. Riemer erschrak: „Um Gottes Willen Mehlmann, ist was mit meiner Tochter?“ Mehlmann erwiderte etwas befangen: „Oh nein. Nein, nein. Wirklich nicht. Sie erfreut sich bester Gesundheit. Aber kommen Sie doch erstmal rein!“ Argwöhnisch betrat Riemer die Wohnung. Seine Tochter kam aus der Küche, stellte sich neben Mehlmann, legte ihren Arm auf dessen Schulter und offenbarte fröhlich schmunzelnd: „Darf ich dir meinen Freund vorstellen? Eventuell kennst du ihn schon“. Der Kommissar war wie vom Donner gerührt und es dauerte eine geraume Zeit, bevor er wieder einen Ton herausbrachte: „Na, dann gratuliere ich auch!“ Danach zwangen ihn seine zitternden Knie in den nächstbesten Stuhl. Mehlmann hielt ihm die Hand hin: „Ich heiße Jens. Aber das wissen Sie ja schon“. Riemer nahm die Hand wie in Trance: „Ich brauche jetzt was zu trinken“. Seine Tochter verschwand kurz und kam mit einer Flasche Sekt und drei Gläsern zurück. Beim Anstoßen fiel Riemers Blick zufällig auf eine Jacke, die auf dem Sofa lag. Sein geschulter Blick verriet ihm, dass das Ding für einen Erwachsenen verhältnismäßig klein war: „Wem gehört diese Joppe da?“ Jens Mehlmann blickte zur Seite: „Ach die? Die gehört meinem kleinen Bruder. Der kommt mich manchmal nach der Schule besuchen, wenn unsere Mutter noch auf Arbeit ist“. Als wäre im Stuhl eine Sprungfeder verbaut, schnippte der Kommissar in die Höhe: „Entschuldigt Kinder, aber ich muss sofort los!“ Dann stürmte er Hals über Kopf davon und ließ zwei hilflose Gesichter zurück, die sich lange ratlos anblickten.
Riemer drückte aufgeregt den Hörer des alten Telefons an sein rechtes Ohr: „Schimmler, hole doch bitte mal die besagte Jacke aus dem Asservatenraum und komm damit in mein Büro!“ Schimmler wunderte sich: „Was willst du denn damit? Die DNS war doch gar nicht in unserer Datenbank“. Riemer grunzte: „Na mach schon! Du wirst es gleich begreifen“. Dann öffnete er die linke Schublade seines Schreibtisches und fischte sich einen Schoko-Riegel heraus. Soll doch der Teufel abnehmen! Anschließend holte er aus der rechten Seitentür seinen alten Fotoapparat, den er bisher nur sehr selten benutzt hatte. Als Schimmler mit der Jacke eintrat, begrüßte ihn Riemer überschwänglich: „Hallo Schimmelchen! Hier nimm mal die Kamera!“ Kommissar Schimmler konterte: „Hallo Riemchen. Ich heiße immer noch Schimmler“. Beide schauten sich einen Moment lang mit hochgezogenen Augenbrauen an, dann mussten beide lachen. Riemer hatte inzwischen die Jacke auf seinem Schreibtisch ausgebreitet: „Mach ein paar Aufnahmen. Ich selbst komme mit dieser Fotoknipse nämlich nicht so ganz zurecht. Meine Bilder waren bisher immer verwackelt oder verwaschen“.
Der Rektor der ansässigen Universität war zunächst ganz und gar nicht begeistert, als zwei Herren von der Kripo mit mehreren Fotos in seinem Büro auftauchten. Nach Riemers Ausführungen lenkte er jedoch ein: „Also gut, dass wohl Ältere kaum so eine moderne Jacke tragen, sehe ich ein. Aber warum kommen Sie ausgerechnet an unsere Uni?“ Kommissar Schimmler mischte sich ein: „Irgendwo müssen wir ja anfangen. Und Markenklamotten sind hier möglicherweise häufiger als an der Realschule“. Der Rektor nickte: „Von mir aus. Wenn es Ihnen hilft, weise ich die Sekretärin an, ihnen die Jahrbücher zu zeigen“.
Viele Tassen Kaffee später, sprang Schimmler plötzlich auf: „Heureka! Ich habe ihn. Eindeutig die gleiche Jacke. Oder wie mein Mathe-Professor immer gesagt hat, absolut eineindeutig!“
Der junge Mann zitterte am ganzen Körper: „Ich bin kein Verräter. Ich sage nichts. Außerdem sollte mein Vater hier sein“. Kommissar Riemer schüttelte den Kopf: „Du bist achtzehn und damit alt genug. Und auch wenn du nichts sagst, haben wir dich am Haken. Der Abstrich aus deiner Wange stimmt mit der DNS der Jacke überein. Und das Blut an der Jacke ist identisch mit dem gestohlenen Tierblut aus der Schlachterei in Waldlingen, wie mein Kollege Bärschneider ermittelt hat. Also Einbruch und Diebstahl hast du schon mal an der Backe. Willst du auch noch den Arsch für andere hinhalten? Deine Entscheidung. Ein Geständnis würde die aber helfen. Ich denke, da wäre dann bei Gericht eine Bewährung drin. Was sagst du?“
Etwa zwei Stunden später brach der Student zusammen. Er gestand, dass alle Jungs seiner Klasse den Schlachthauseinbruch und das Anlegen der Blutlachen zu verantworten hatten. Ein unbekannter Mann hatte ihnen zehntausend Euro geboten. Angeblich sollte es nur ein harmloser Streich sein.
Nachdem alle Kommilitonen im Kommissariat versammelt waren, erstellte der Phantombildzeichner ein Porträt unter Berücksichtigung aller Hinweise. Als Riemer das Bild sah, griff er sofort zum Telefonhörer: „Chef, wir brauchen einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss! Ich möchte einen alten Bekannten besuchen“.
Drei Uniformierte begaben sich hinter das Haus, während Schimmler, Mehlmann und Riemer nach mehrmaligem Klopfen, Klingeln und Rufen durch die Vordertür in das Gebäude eindrangen. Sie fanden einen am Boden liegenden Mann mit einer Schussverletzung im Unterbauch. Bereits auf dem Weg ins Krankenhaus erlag der Angeschossene seiner Verletzung. Allerdings hatte er noch kurz vorher dem mitfahrenden Gesetzeshüter das amtliche Kennzeichen eines Transporters nennen können. Der Rest war Routine. Die Autobahnpolizei konnte das Fahrzeug ermitteln, den Täter dingfest machen und die Beute bis auf ein paar Hunderter sicherstellen.
In der anschließenden Dienstberatung lobte Hauptkommissar Hohlbach zunächst die Arbeit des Teams. Dann sagte er widerwillig: „Und ein besonderer Dank geht an unseren Kollegen Riemer, der aufgrund seiner Intuition wieder einmal dafür gesorgt hat, dass ein Ganove an die Kandare genommen wurde“. Riemer nickte mit einem Blick nach rechts: „Aber jetzt muss ich erstmal jemand anderen fürchterlich an die Kandare nehmen. Und zwar ganz gewaltig!“ Dann führte er beide Hände in Richtung Mehlmanns Hals. Auf diese Bewegung hin sprang der neben ihm sitzende Kommissar-Anwärter mit rotem Kopf auf, hastete unter dem Gelächter seiner Kollegen aus dem Raum und wurde an diesem Tag nicht mehr im Kommissariat gesehen.
Wie üblich war ich wieder einmal in meinem Sessel eingeschlafen. Jetzt kam ich langsam zu mir. Das merkte ich besonders daran, dass meine Ohren, wie von der Natur her vorgesehen, Geräusche an mein Gehirn weiterleiteten. Aha, der Fernseher lief also noch. Meine Augenlider waren aber zu schwer, um das zu bestätigen. Da bezahlt man nun Fernsehgebühren und kann vor Müdigkeit nur Radio hören. Irgendein Kerl in dem Kasten sagte gerade, dass eine Frau Müller einen Herrn Müller geheiratet hätte und beide trügen nun den Doppelnamen ‚Müller Müller’. Wahrscheinlich war das witzig, denn man konnte allgemeines Gelächter vernehmen. Verflixt, warum gingen meine Augen eigentlich nicht auf? Letzten Endes meinten meine Ohren, wenn die Augen nicht arbeiteten, dann bräuchten sie das wohl auch nicht. Also dämmerte ich wieder weg. Dann hatte ich einen Traum. Ich ging mit meinem Sohn an der Hand die Wendeltreppe in meiner alten Wohnung hinauf. Als ich oben angekommen war, stand ich auf dem Leipziger Bahnhof und hatte die Leine eines Schäferhundes in der Hand. Ein saublöder Traum. Aber irgendwie empfand ich das als völlig normal. Dies schien zu bestätigen, was meine damalige Freundin immer gesagt hatte. Ich hätte einen maximalen Sprung in der Schüssel. Oder auch zwei. Dem entgegen konnte ich an mir selbst keinerlei dissoziative Störungen erkennen, wie der Fachmann zu sagen pflegt. Und einen kleinen Tick hat doch wohl jeder. Es gibt doch auch schließlich andere Leute, die Stufen zählen, nicht nur mich. Ich wohne ganz oben in unserem Wohnblock und es sind genau neunundsiebzig Treppenstufen von der Haustür bis zu meiner Wohnung. Natürlich zähle ich nicht immer alle Stufen, nein, nur beim Hinaufsteigen. Im Hinuntergehen Treppenstufen zu zählen halte ich für abartig. Ansonsten bin ich völlig normal. Na gut, die eine oder die andere Abweichung gegenüber der restlichen Menschheit muss ich wohl doch zugeben. Wenn beispielsweise andere Männer einen Wasserhahn laufen sehen, müssen sie oftmals pinkeln. Ich nicht, ich muss ausspucken. Ist doch kein Verbrechen. Und bei Gehwegplatten setze ich die Füße derart, dass keine Fuge von meinen Schuhen berührt wird. Mache ich aber nicht immer so. Neulich war mir das ganz egal. Da war ich nämlich betrunken. Es war Bierfest. Auf unserem Marktplatz in einem großen Zelt. Zunächst musste ich eine ganze Weile stehen. Es war kein Sitzplatz mit einer geraden Nummer frei. Ich würde mich niemals auf einen ungeraden Platz setzen. Nie. Als dann die Sechzehn frei wurde, saß ich mitten in dem ortsansässigen Motorrad-Clan. Die haben mir ständig Schnaps spendiert. Ich glaube, die haben sich über mich lustig gemacht. Aber die werden sich noch wundern, wenn die Außerirdischen kommen. Früher habe ich immer einen selbstgebastelten Hut aus Alu-Folie getragen. Ich vermute ja, dass nicht nur die Aliens in unser Gehirn gucken wollen. Auch die Behörden verfügen bestimmt über alle möglichen Strahlen. Gottseidank ist es bei der heutigen Mode ja erlaubt eine schlampige Strickmütze zu tragen. Also mache ich das. Da sieht man die Alu-Folie nicht mehr.
Ich glaube langsam, ich sollte jetzt aufwachen. Mich ärgerte selbst im Schlafmodus, dass der Fernseher Strom verbraucht, ohne dass ich etwas sehe. Wo doch heutzutage alles teurer wird. Aber da sind nur die dran schuld, die immer wieder streiken. Da muss dann der Lohn erhöht werden und der Unternehmer hebt ständig die Preise seiner Produkte an, um weiterhin satten Gewinn zu machen. Ständig gibt es solche Erhöhungen. Die durchschnittliche Inflation in Deutschland liegt, wie man leicht nachlesen kann, zurzeit im Jahresmittel um die 2 %. Und die Mieten verteuerten sich seit 1990 durchschnittlich um über 40 %. Aber bei mir haben sich jedes Jahr lediglich die Schulden erhöht.
Verflixt, warum wache ich nicht endlich auf? So ein Halbschlaf kann einen ziemlich nerven. Und gerade ich bin sowieso immer leicht zu nerven. Neulich hat einer ‚Spinner’ zu mir gesagt, bloß weil ich ein Willkommensschild für die Außerirdischen gebastelt hatte. Diese Bemerkung hat mich genauso genervt wie das Dilemma damals, als ich meine Brieftasche verlor, mit allen Papieren. Und dann haben die mein Passbild für den neuen Ausweis abgelehnt, nur weil ich darauf gelacht habe. Behördenwillkür. Da erzählt jeder, dass man das Leben leichter erträgt, wenn man Humor hat, und diese Arschgeigen lehnen mein Bild ab. Dabei musste ich zweieinhalb Stunden warten, bevor ich im Bürgerbüro drankam. Erst als sich der Kaffeeduft verflüchtigt hatte, wurde ich aufgerufen. Wahrscheinlich benützen Beamte deshalb keine Zellstoff-Taschentücher, weil da häufig ‚Tempo’ draufsteht. Aber ich sollte nicht andere Leute schlecht machen. Obwohl einige von denen auch einen absoluten Klatsch haben. Die Flat Earth Society behauptet ja heute noch, dass die Erde eine Scheibe ist. Vielleicht sollte man die an den Rand dieser Scheibe stellen und einen kleinen Schubs geben. Allerdings glaube ich persönlich die Sache mit der Area fifty one. Mir kann immerhin keiner erzählen, dass wir im Weltraum die einzige intelligente Rasse sind.
Jetzt sollte ich aber endlich aufwachen!
Das Fernsehgerät stellte sich ab. Nach drei Stunden geschieht das automatisch. Habe ich so eingestellt, weil ich so oft beim Fernsehen einschlafe. In der einsetzenden Stille glaubten meine schläfrigen Ohren ein Geräusch in der Wohnung zu vernehmen. Blitzartig war ich wach. Warum nicht gleich so? Irgendetwas klapperte in meinem Flur. Jetzt hätte ich gern eine Keule gehabt, aber die große Taschenlampe würde es wohl auch tun. Ich riss die Wohnzimmertür auf und holte zum Schlag aus. Mein geplanter Schrei blieb mir im Hals stecken und die Taschenlampe fiel ungenutzt auf den Boden. Vor mir stand ein Alien, ein kleines grünes Männchen, etwa einen Meter fünfzig groß. Es legte seinen dünnen Finger an die schmalen Lippen, schloss seine großen, schwarzen Augen und machte: „Pssst!“ Was dann passierte, ist mir im Nachhinein nicht so ganz klar. Mich armen Gebeutelten übermannte nämlich eine lähmende Ohnmacht.
Als ich wieder zu mir kam, bemerkte ich zwei Dinge gleichzeitig. Erstens ein nasses Handtuch auf meiner Stirn und zweitens das grüne, grinsende Gesicht des Aliens über meinem Kopf. Mein Selbsterhaltungstrieb katapultierte meine beiden Hände, so schnell wie es eben ging, an die Gurgel des Außerirdischen und ich drückte zu: „Was hast du mit mir gemacht? Wieso war ich ohnmächtig? Willst du mich umbringen? Was tust du überhaupt hier in meiner Wohnung?“ Genauso schnell wie ich ihn gepackt hatte, entwand sich der Grüne meinem Griff. Er grinste, wie mir schien, ziemlich überheblich: „So viele Fragen auf einmal? Wie wäre es zunächst mit einer?“ Ich richtete mich auf: „Woher kennst du unsere Sprache?“ Er setzte sich gelassen neben mich: „Das ist eine ziemlich dämliche Frage. Auf eurem Planeten werden etwa 6500 Sprachen gesprochen. Eingeteilt in fast 300 genetische Einheiten, 180 Sprachfamilien mit mehr als einer Sprache und 120 sogenannter isolierter Gebietssprachen. Glaubst du denn, ich kann wirklich alle dieser unterschiedlichen Sprachen sprechen? Ich bin froh, wenn ich eine einzige perfekt beherrsche. Deine Frage hätte also nicht sein dürfen: ‚Woher kennst du unsere Sprache‘, sondern hätte korrekterweise lauten müssen: ‚Woher kennst du meine Sprache‘. Begriffen?“ So eine Zurechtweisung, dazu noch von einem kleinen, grünen Etwas, nervte mich gewaltig. Ich konnte nicht anders, richtete mich auf und schlug ihm mit der flachen Hand vor die Stirn: „Halt bloß die Fresse, du Klugscheißer! Du bist hier auf der Erde. Also verhalte dich auch so!“ Er stand auf und brachte sein ungewöhnliches Gesicht ziemlich nahe an meins: „Ach so? Sollte ich vielleicht lieber eine Atombombe werfen? Das macht man doch so auf der Erde, oder?“ Ich öffnete den Mund, sagte aber keinen Ton. Mir fehlten einfach die Argumente. Er bohrte nach: „Oder?“ Trotzig wie ein kleines Kind sagte ich abwehrend: „Ich habe noch nie eine Bombe geworfen, und schon mal gar keine Atombombe“. Der Grüne setzte sich wieder: „Langsam, langsam. Ich glaube, wir hatten keinen guten Start. Am besten, wir fangen nochmal von vorn an“. Ich nickte automatisch, setzte mich ebenfalls und fragte versöhnlich: „Also, woher kommst du?“ Er rieb sich einige Zeit an der Nase und antwortete dann leise: „Sei nicht sauer, aber ihr habt für meine Galaxie noch keinen Namen. Ist zu weit weg. So mehrere Milliarden Lichtjahre. Nicht mal eure besten Teleskope haben uns bisher entdeckt. Übrigens, was ich dir noch sagen wollte, du kannst deinen Alu-Helm ruhig abnehmen. Wenn ich tatsächlich in dein Gehirn gucken will, kann mich so ein bisschen Folie kaum abhalten. Zudem würde mir das Ganze kaum etwas bringen. Unsere Technik kann zwar die elektrischen Nervensignale in deiner Rübe lokalisieren, aber menschliche Signale können wir bisher leider noch nicht auswerten“. Ich kratzte mich am Hinterkopf: „Und wie viele von euch sind hier auf der Erde?“ Der Kerl gab so etwas Ähnliches wie ein Lachen von sich: „Natürlich nur ich allein. Was glaubst du denn wieviel Energie nötig ist, um Milliarden von Lichtjahren zu überwinden? Das geht nur mit einer ganz kleinen Rakete. Da hätten zwei von uns niemals Platz drin gehabt“. Das leuchtete mir ein: „Und warum bist du gerade zu mir gekommen?“ „Zufall. Ich bin in dem Wäldchen vor deinem Häuserblock gelandet und habe meine Rakete als Baum getarnt. Beinahe wäre ich auch noch aufgeflogen, weil so ein Blödmann vorbeigekommen ist, der Bäume umarmt. Aber der ist dann doch vorbei gegangen. Danach habe ich aus Forschungsgründen eine menschliche Wohnung gesucht, die ich eventuell besichtigen könnte. Und deine Tür war die einzige, die nicht abgeschlossen war“. Während ich etwas dümmlich grinste, nahm ich mir innerlich vor, demnächst immer abzuschließen. Man weiß ja nie, was sonst noch für seltsame Wesen im Universum unterwegs sind. Meine Nachlässigkeit war mir ein klein wenig peinlich. Um mich davon abzulenken, ging ich an meinen Wohnzimmerschrank und holte eine Flasche Gilka nebst zwei Gläsern: „Magst du einen?“ Mein grüner Freund hielt den Kopf schief: „Was ist das?“ „Ach“, entgegnete ich, „das trinkt man hierzulande bei freudigen Ereignissen“. Ich goss ein, und trank mein Glas aus. Er hatte mich genau beobachtet und tat Desgleichen. Was dann geschah, war für mich völlig unerwartet. Zunächst schien es ihm die Luft zu verschlagen, danach färbte sich sein gesamter Körper aschgrau und er röchelte wie ein sterbender Hirsch. Sein Kopf fiel vornüber und der gleichsam leblose Körper rutschte auf den Boden. Ich war wie vom Donner gerührt. Vielleicht war er ja nur ohnmächtig und käme gleich wieder zu sich. Oder möglicherweise schlief er nur? Ich hievte den Leblosen auf das Sofa und deckte ihn zu. Um mich zu beruhigen, trank ich noch einen oder zwei. Als die Flasche leer war, musste ich feststellen, dass mein Kumpel inzwischen schneeweiß geworden war und langsam zu zerfallen begann. Innerhalb einer Stunde lag nur noch ein Häufchen Staub auf meiner Couch. In meiner Not holte ich den Staubsauger. Eins war mir aber klar, wenn ich diese Geschichte jemanden erzählen würde, wäre mir die Klapsmühle sicher. In meinem Kopf arbeitete jemand mit einem Presslufthammer. Ich ließ mich in meinen Sessel fallen und schaltete den Fernseher ein, um mich abzulenken. Und wie immer, schlief ich vor dem Gerät ein. Ab und zu kämpfte ich wie gewöhnlich mit meinem Halbschlaf. Gegen drei Uhr morgens wurde ich wach. Ob dann der Wunsch der Vater des Gedankens war, wusste ich nicht so ganz genau, aber mir wurde schlagartig klar, dass ich das Ganze nur geträumt haben konnte. Also lebte ich beruhigt mein Leben weiter, bis, ja bis in der Zeitung stand, dass es zwei Forstarbeitern nicht gelungen sei, einen bestimmten Baum zu fällen. Angeblich sei er aus einem Stoff, den man auf der Erde bisher noch nie gefunden hätte. Und jetzt, nach meinem Zeitungsinterview, kann ich nur allen versichern, in der Psychiatrie lebt es sich absolut sorgenfrei.