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Eine bunt gemischte Sammlung von Kurzgeschichten, die teilweise vom Autor selbst erlebt wurden, meistens aber reine Fantasie-Produkte sind. Dabei werden Themen aus den verschiedensten Genres behandelt. Man findet beispielsweise unerwartete Aktivitäten in einem verlassenen Dorf neben einer vergnüglichen Beschreibung der Mangelwirtschaft in der DDR. Alte Volksmärchen werden neu interpretiert und selbst erdachte Märchen und Sagen runden dieses Thema ab. Auch der Bereich SiFi wird durch die Beschreibung von Begegnungen mit Aliens oder der Zerstörung unserer Erde abgedeckt. Fiktive Kriminalfälle kann man gleichermaßen antreffen wie einfühlsame Liebesgeschichten. Bei vielen Erzählungen wird man vom unvermuteten Schluss überrascht.
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Seitenzahl: 363
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Wenn ein Autor behauptet, sein Leserkreis
habe sich verdoppelt, liegt der Verdacht
nahe, dass der Mann geheiratet hat.
William Beaverbrook (1879-1964)
engl. Politiker u. Zeitungsverleger
Saalfeld, 05.03.2016
Vorwort
Oma Gerlach
Die Geschichte
Lachkrampf
Eine Tote
Vatertag
Roaner und Leaner
Das grüne Tuch
Die Tierversammlung
Der blinde Appendix
Irene
Santa
Namensänderung
Märchen vom winzigen Königreich
Klaus Bartlowitz
Verhinderter Auftritt
Bernhard
Die Mega-Energie-Batterie
Die Aufgabe
Vorurteile
Die Maus
Der dicke Mann
Der graue Krieg
Schlaf schön
P38
Die Geschwister
Die Farbe Rot
Gutes tun
Der erste Schritt
Mondsüchtig
Unheilvolle Zeit
Opernkarten
Sage von der Lockerberg-Eiche
Drei Bücher
Sport
Was danach geschah
Ein entscheidender Wunsch
Glück
Der Schneider
Mord
Der Fußabtreter
Unsichtbar
Königsland
Zweimal kurz
Ulrike
Kreuzfahrt
Antimaterie
AIW
Heinzelmännchen
Kidnapping
Müll
Über den Autor
Goethe schrieb einst: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“. Dem entsprechend liegt vor Ihnen jetzt ein kunterbuntes Sammelsurium von Kurzgeschichten. Die einen habe ich selbst erlebt, die meisten jedoch entstammen meiner Fantasie. Märchen werden neu interpretiert oder sind selbsterdacht. Der Bereich SiFi wird gestreift und fiktive Kriminalfälle findet man genauso wie Liebesgeschichten. Falls Ihnen eine derart ungeordnete Sammlung widerstrebt, dürfen Sie dieses Scriptum getrost beiseite legen. Ich werde Ihnen deswegen nicht böse sein.
Übereinstimmungen bzw. Ähnlichkeiten von Namen, Orten, Geschehnissen oder sonstigen Dingen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
Die vorliegenden Kurzgeschichten widme ich meinen beiden Söhnen, die trotz elterlicher Scheidung anständige Kerle geworden sind.
Die Wolken gaben freundlicherweise etwas Himmel frei und die Sonne konnte mit ihren Strahlen die Spitze des kleinen Kirchturms kitzeln, dessen Uhr wie immer verzweifelt versuchte, dem Fluss der Zeit hinterher zu rennen. Schon in den nächsten Tagen sollte der Strom für den nachgerüsteten, aber überforderten Elektromotor abgestellt werden und dann bekämen die müden Zahnräder des ehrwürdigen Getriebes endlich ihre verdiente Ruhe. Es gab sowieso keinen Menschen mehr, der in Erwartung der Mittagspause seinen Blick auf das verblasste Zifferblatt gelenkt hätte. Die Fenster der verlassenen Häuser verloren ihren Glanz, ähnlich wie die Augen eines Toten. Kein Gespräch, kein Gesang, kein Kinderlachen und auch kein Maschinenlärm waren zwischen den bröckelnden Mauern zu hören. Nur ab und an, wenn Gevatter Wind wieder einmal sehr arg blies, durchbrach das Klappern eines losen Fensterladens die allumfassende Stille. Ein paar possierliche Feldmäuse, die einzig verbliebenen Lebewesen im Dorf, stahlen die letzten der liegen gebliebenen Weizenkörner und keine mordlustige Katze kam ihnen dabei in die Quere.
Der Grund für den unvermeidlichen Exodus lag einige Meter tief unter dem rauen Pflaster der Dorfstraße. Ein dickes Braunkohleflöz sollte helfen, den unendlichen Energiehunger der Menschen zu stillen.
Als die Evakuierung des Dorfes publik wurde, waren bei Weitem nicht alle seiner Bewohner sofort damit einverstanden. Aber nach und nach gewann die Einsicht in das Unabwendbare die Oberhand. Die junge Generation war sowieso schon vor geraumer Zeit in Gegenden mit florierender Industrie geflohen und die Alten starben, wie es die Natur vorsah, einer gemächlich nach dem anderen. In der näheren Umgebung gab es weder eine Einkaufsmöglichkeit noch eine Arztpraxis, keine Gaststätte und kein Kino, keine Bushaltestelle und keinen Friedhof. Und so siedelten die verbliebenen Einwohner schweren Herzens aus ihren alten Häusern in weit ab gelegene Neubauten um. Mit einer stolzen Ausnahme: Oma Gerlach. Die alte Dame wohnte seit 97 Jahren in ihrem etwas windschiefen Häuschen. Sie war darin geboren worden und wollte auch darin sterben. Ihre Enkelin, Susanne Gerlach, kam täglich für zwei, drei Stunden vorbei um zu kochen, zu waschen und zu putzen, das Abendbrot bereit zu stellen und für den nächsten Tag das Frühstück vorzubereiten. Schmeißfliegenartig marschierten aber auch täglich irgendwelche Anzugtypen an, die Oma Gerlach überreden wollten, endlich ihr geliebtes Haus aufzugeben. Manche flehten händeringend um Einsicht, einige versuchten ihr ein Altersheim schmackhaft zu machen und wiederum andere drohten mit einer Zwangsräumung. Aber Susannes Großmutter blieb standhaft wie der Kölner Dom. Es war, als würde eine unbekannte Kraft die Frau an das alte Haus fesseln. Aber das gnadenlose Schicksal spielte dann doch den Schlipsträgern einen Trumpf in die Hände. Morbus Alzheimer suchte sich die alte Dame aus, um sie in das unbekannte Land des Vergessens zu entführen. Ihre Enkelin übergab die Verwirrte behutsam und unter Tränen an ein Pflegeheim. Dem Tod des Dorfes stand nun nichts und niemand mehr im Wege. In knapp vier Wochen würden die Schaufeln riesiger Bagger die Überreste einer einst blühenden Landschaft in das unerbittliche Nirvana reißen.
Gleißend verströmte die Sonne ihre mittägliche Hitze über das verlassene Dorf, als der Motorlärm eines sich nähernden Autos die ängstlichen Feldmäuse in ihre schützenden, unterirdischen Gänge trieb. Ein Geländewagen raste, braungelbe Staubwolken erzeugend, über die holprige Dorfstraße, bremste hart ab und schob sich mit surrendem Getriebe ein Stück zurück. Der Fahrer wartete geduldig bis sich der wirbelnde Staub gelegt hatte und stieg dann neugierig aus. Weiße Schuhe, eine geblümte Hose, ein bunt kariertes Hemd und eine verspiegelte Sonnenbrille stempelten ihn zu einem Fremdkörper in dieser Umgebung. Langsam schritt der Eindringling über das Kopfsteinpflaster und betrachtete sorgsam Haus für Haus. Dann zog er ein vergoldetes Smartphon aus der Gesäßtasche, suchte nach einer ganz bestimmten Telefonnummer und sprach aufgeregt auf den angewählten Teilnehmer ein. Nach Beendigung des wortreichen Dialoges schwang sich der Buntgekleidete wieder hinter sein Lenkrad, wendete den Wagen in einer sandigen Einfahrt und brauste zurück in die Richtung, aus der er soeben gekommen war.
Es dauerte keine drei Tage, dann war die Erlaubnis erteilt. Genau für drei Wochen. Als die Stromgeneratoren ihre nächtliche Arbeit aufnahmen, packten die Feldmäuse ihren Rucksack und verzogen sich schimpfend in ruhigere Gefilde. Die riesigen Scheinwerfer schossen ihr grelles Licht auf die herrenlosen Häuser und gelegentlich ließ eines davon sein Gebälk gehörig knacken. Ein anscheinend wichtiger Regisseur hetzte wie von der Tarantel gestochen bald hierhin, bald dahin, schwitzte und fühlte sich wie ein Feldherr, der eine entscheidende Schlacht zu schlagen hatte. Da und dort lobte er überschwänglich die Mitarbeiter, hier und da schimpfte er wie ein wütender Rohrspatz. Der Hauptdarsteller übte fortwährend die Aussprache ein und desselben Satzes, die Komparsen langweilten sich wie immer und das Catering kam mit dem Kaffeekochen kaum hinterher. Requisiteure schlugen Löcher in Wände oder täuschten mit schwarzer Farbe Brandflecke auf Zäunen und Dächern vor. Dann putzten die Kameraleute noch einmal gründlich die Glaslinsen ihrer sündhaft teuren Aufnahmetechnik und versammelten sich vor Oma Gerlachs ehemaliger Bleibe. Die Angehörigen des Teams „Special Effects” hatten einige Brandsätzen in dem unschuldigen Haus verborgen und ein Stuntman wartete im Inneren nervös auf seinen Einsatz, bekleidet mit feuerfester Unterwäsche und einem Feuer abweisenden Spezialanzug. Kaum hatte der Regisseur „Action“ in das Megafon gerufen, brannte das Haus auch schon lichterloh. Eine Minute später kam der Stuntman von Flammen umhüllt aus dem Inferno gerannt und warf sich außerhalb des Blickfeldes auf den Boden, wo ihn zwei Helfer mit Feuerlöschern von der sengenden Hitze befreiten. Zehn Sekunden danach rief der Regisseur „Cut“ und alles war vorbei. Die Kameraleute demontierten ihr Arbeitsgerät und die diesmal nicht eingesetzten Darsteller bezogen ihre Wohnwagen. Die Techniker schalteten die schweren Scheinwerfer ab und der Regisseur fuhr mit seiner Assistentin in die nächstgelegene Stadt, um nach getaner Arbeit ein oder zwei Bierchen zu zischen. Nur das arme Haus brannte weiter und beleuchtete mit dem unruhigen Schein seiner Flammen die mobilen Unterkünfte, in denen schon lange kein Licht mehr brannte. Als am Morgen die aufgehende Sonne verwundert die Szenerie betrachtete, waren von Oma Gerlachs alter Wohnstätte nur noch ein paar angekohlte Steine und ein Fähnchen Rauch übrig. Die Filmleute hatten somit den anrückenden Baggern die Abrissarbeiten geringfügig erleichtert.
Einen Tag nach dem Dahingehen ihres Häuschens, schloss auch Oma Gerlach für immer die ermatteten Augen. Beim Entrümpeln ihres Schranks fanden die Mitarbeiter des Pflegeheims ein vergilbtes Testament. In diesem benannte die Verstorbene ihre Enkelin Susanne als Erbin von achtzehntausend Euro, welche die alte Frau schon vor Jahren hinter der hölzernen Vertäfelung ihres geliebten Heims versteckt hatte.
Zudecken! Ich sag das nicht zweimal! Zudecken! Ja, ich erzähl dir schon noch deine Geschichte. Aber still hinlegen! Nein, Mutti kann heute nicht vorlesen. Warum, warum, weil sie nicht da ist. Überstunden. Und deinen Finger kannst du dir sonst wohin stecken, aber nicht in die Nase! Hör auf zu zappeln und hör zu. Mal sehen, ob ich die Geschichte noch zusammen bringe. Achtung, es geht los: Also … äh … hier … also es einmal, ja, einmal war’s. Daran sieht man, dass es nicht heute war, sondern damals, also früher als man sich noch höflich für Geschenke bedankte, auch wenn man den Dreck gar nicht haben wollte.
Da sagte die Mutter zu ihrer Tochter … warte … also die Mutter von der Mutter hatte der Tochter, also ihrer Enkelin so eine komische, selbstgeklöppelte Mütze geschenkt und da sagte die Mutter … also nicht die Oma … die sagte also, dass man sich dafür bedanken müsse. Heutzutage hätte man den Müll einfach dem Roten Kreuz weitergereicht. Aber damals sagte die Mutter zu ihrer Tochter, sie hätte da wohl einen Korb mit einem selbstgebackenen Kuchen, der nicht ganz gelungen sei, aber die Oma merke das in ihrem Alter sowieso nicht mehr. Und dazu noch eine Flasche Wein. So ein billiges Zeug mit Schraubverschluss, das die Mutter irgendwann mal selbst geschenkt bekommen habe. Diesen Kram solle sie also zur Oma bringen, in ihr kleines Häuschen im Wald. Heute müsste die Tochter den Korb wahrscheinlich ins Altersheim bringen, weil das Haus schon längst gepfändet worden wäre. Aber ich schweife ab.
Also sagte die Mutter noch, es sei ganz wichtig, dass die Tochter nicht vom Wege abkäme. Als ob es irgendeinen praktischen Nutzen hätte, einem Teenager Vorschriften zu machen. Damals, als mir mein Vater das Rauchen verbot, habe ich extra damit angefangen. Und als ich dann alt genug war, um rauchen zu dürfen, habe ich damit aufgehört. Und wenn mein Vater gewusst hätte, dass wir schon mit vierzehn im Gebüsch … äh … ist ja auch egal. Und obwohl das Leben viel zu kurz ist, um ein langes Gesicht zu machen, zog die Tochter eine Fresse, so lang wie die Warteliste beim Augenarzt. Maulend und betont schwungvoll zerrte sie den Korb vom Tisch, in der böswilligen Hoffnung, dass der Henkel abrisse. Damals aber waren die Waren noch von guter Qualität. Heute wäre eine Sollbruchstelle eingearbeitet, damit man sich einen neuen Korb … äh … ich merk schon, ich schweife wieder ab.
Also machte sich die Tochter auf den Waldweg. Die Mutter hatte ihr vorher noch den komischen Deckel von der Oma auf den Kopf drapiert. Kaum drei Schritte außer Sichtweite, hockte sich das Mädchen hin und öffnete erstmal den Wein. Schließlich ist Alkohol nicht gut für alte Leute. Etwa nach einer halben Flasche stellte unser Fräulein fest, dass sich plötzlich die Anzahl der Bäume verdoppelt hatte. Auch gab es zwei Waldwege. Und genau in diesem Moment kam der böse Herr Wolf daher. Er war vorzeitig wegen guter Führung entlassen worden, denn er hatte es geschafft, seinen Psychologen zu verarschen. Als er die Kleine sah, steuerte er direkt auf sie zu und fragte hinterhältig, was sie denn da so mache. Leicht lallend erklärte die Beschwipste wie das mit der Mütze, dem Korb, dem Kuchen, dem Wein, der Mutter, der Oma und dem Häuschen im Wald zusammenhing. Herr Wolf überlegte kurz, stellte der Maid anheim noch einen Strauß Blumen zu pflücken und machte sich flugs auf den Weg zu besagter Großmutter. Dort angekommen zog er den sogenannten Enkel-Trick durch. Er verstellte seine Stimme, gab sich als Enkelin aus und die arglose, alte Frau öffnete prompt die Tür. Kaum im Haus, vernaschte er erbarmungslos die erschrockene Oma. Inzwischen war aber auch schon unsere kleine Weinselige eingetroffen. Sie trat durch die geöffnete Tür und konnte gerade noch sagen: Aber Großmutter, was hast du da für einen großen …? Und schwups vernaschte sie der Herr Wolf ebenfalls. Nun ja, die Geräusche hörte draußen ein gewisser Herr Jäger, ein älterer Mann, der immer vorbeikam um die Großmutter zu … äh … zu besuchen. Und weil ihm die Sache nicht ganz geheuer war, zückte er sein Taschenmesser. Das Messer mit den roten Griffschalen und dem weißen Kreuz darauf war damals sehr teuer gewesen. Neben einem Flaschenöffner, einem Korkenzieher, einem Schraubendreher, einer kleinen Säge, einer Mini-Schere und einer Lupe besaß es früher auch einmal einen Zahnstocher, aber der war inzwischen verloren gegangen.
Verflixt, ich schweife doch schon wieder ab.
Also, Herr Jäger griff zum Taschenmesser, ging ins Haus, sah die Bescherung und … äh … die restlichen, blutigen Einzelheiten erspare ich dir lieber. So ein aufgeschnittener Bauch ist schließlich keine schöne Sache.
Die Moral von der Geschichte ist jedenfalls, das musst du dir merken: Kinder sollten wirklich keinen Alkohol trinken.
Was ist denn an dieser Geschichte seltsam? Musst du noch mal Pipi? Na gut, ich lass das Licht noch eine Weile an. Ich frag mich bloß, was du machen willst, wenn ich dir mal eine gruselige Geschichte erzähle. Und deck dich endlich zu!
Die folgende Geschichte ist recht kurz. Dafür ist sie aber auch wahr. Wenn ich sie ab und an zum Besten gebe, schwöre ich stets, dass sie wirklich passiert ist. Denn viele glauben, ich hätte mir nur einen Gag ausgedacht. Es ist die Geschichte von einem Lachkrampf.
Obwohl ich nicht in der DDR geboren wurde, habe ich dort vierzig Jahre lang gelebt. Falls es einer vergessen haben sollte, Deutschland war früher einmal zweigeteilt. In die BRD und in die DDR. Wir hatten damals allerdings unsere eigene Auslegung für die jeweiligen drei Buchstaben: Blödes Reiches Deutschland und Der Dämliche Rest.
Nach der Wiedervereinigung konnte man oft den Satz hören: „Es war nicht alles schlecht in der DDR“. Natürlich war nicht alles schlecht. Aber genauso natürlich war auch nicht alles gut. Ganze Stadtviertel verfielen und für eine Südfrucht musste man stundenlang anstehen.
Mein persönliches Problem war außerdem, dass ich keine passenden Herren-Lackschuhe bekam. Ich war damals freischaffender Künstler und verdiente mein Brot als Magier und als Conférencier. Schwarze Lackschuhe gehörten da zum guten Ton.
Ein Teil des Berufsbildes war logischerweise, eine Stadt nach der anderen zu bereisen. Und das Erste in jedem neuen Ort war, ein Schuhgeschäft zu finden und nach Lackschuhen der Größe dreiundvierzig zu fragen.
Um die Pointe dieser Geschichte zu verstehen, muss man zwei Dinge kennen. Zum einen den Umstand, dass ich ziemlich albern bin, zum anderen einen ganz bestimmten Witz. Er ist eher flach und lautet so:
Ein Mann trifft seinen Freund auf der Straße und bemerkt, dass dieser einen braunen und einen schwarzen Schuh trägt. Darauf aufmerksam gemacht, sagt der Freund: „Das muss heutzutage Mode sein. Ich habe zu hause noch so ein Paar“.
Soweit so gut.
Als ich im Sommer des Jahres 1982 in Dresden gastierte, eilte ich folglich als Erstes in das Schuhgeschäft auf der Prager Straße. Gleich zwei Verkäuferinnen bemühten sich um mich, da sonst niemand weiter im Laden war. Eine der beiden meinte, im Lager wäre noch ein Paar in entsprechender Größe und trippelte davon, um diese zu suchen. Als sie mit einer Schachtel unter dem Arm zurückkam, schlug mein Herz höher. Allerdings machte mich die Dame darauf aufmerksam, dass die Schuhe einen kleinen Mangel hätten, für welchen sie mir aber einen Preisnachlass gewähren würde. Das Innenleder des einen Schuhs war nämlich grau und das Innenleder des anderen braun. Nun, dachte ich so bei mir, wenn ich die Schuhe trage, sieht das von außen sowieso kein Schwein. Hocherfreut, dass ich endlich zu Lackschuhen gekommen war, ging ich zur Kasse. In diesem Moment sagte die zweite Verkäuferin mit einem Blick in die geöffnete Schuhschachtel: „Komisch, ich hab gestern schon so ein Paar verkauft“. Leute, ehrlich, das war zuviel. Ich konnte mich nicht mehr halten und ging in die Knie. Mir liefen vor Lachen die Tränen über die Wangen, während ich in zwei völlig fassungslose Frauengesichter blickte. Es war der erste Lachkrampf meines Lebens. Ich hatte zwar meine Lackschuhe, aber in diesem Laden kann ich mich bis heute nicht mehr sehen lassen.
Die kleine Motivkneipe war vollbesetzt. Von den Wänden blickten bärtige Recken mit erhobenen Schwertern furchterregend in den schummrigen Gastraum und neben dem Eingang stand eine mannshohe, leicht angerostete Ritterrüstung. Mittelalterliche Hellebarden und Streitäxte waren mit Ketten gesichert, damit kein Gast im Alkoholrausch auf die Idee kommen konnte, diese eventuell zu benutzen. Der Wirt, in Wams und Lederschürze gekleidet, eilte schwitzend zwischen seinem Tresen und den grob gezimmerten Tischen hin und her, um so schnell wie möglich den Durst der Anwesenden zu stillen. Manchmal rief er auch etwas Unverständliches in ein kleines Fenster hinter der Theke. Das war dann meist eine Essensbestellung, die seine Frau in der Küche geschickt umzusetzen wusste. Bierdunst mischte sich mit dem Geruch von gebratenen Zwiebeln und aus gut getarnten Lautsprechern dudelte historische Musik. In der hintersten Ecke saß ein relativ ungleiches Paar. Der Mann schien so gar nicht in dieses Milieu zu passen. Er trug einen auffälligen, dunkelgrauen Anzug mit dünnen, hellgrauen Streifen, sowie eine weinrote Krawatte und ein farblich passendes Einstecktuch. Mit beiden Händen gestikulierend redete er auf seine schlicht gekleidete Partnerin ein, welche aber energisch mit dem Kopf schüttelte: „Nein, nein, nein. Ich bin nach meiner Operation in den Ruhestand versetzt worden. Jetzt führe ich ein bürgerliches Leben und gehe jeden Tag ins Büro. Außerdem beträgt meine Kündigungsfrist drei Monate. Ich könnte gar nicht von Heut auf Morgen aufhören. Das würde sofort auffallen!“. Der Mann winkte lässig ab: „Wir regeln das schon. Man wird dir Morgen einen Aufhebungsvertrag anbieten. Tut mir leid, aber wir müssen dich reaktivieren. Es steht sonst weiter niemand zur Verfügung“. Er zog eine schwarz glänzende Brieftasche aus dem Jackett und rief unüberhörbar: „Herr Ober, zahlen!“. Dann sagte er leise: „In so eine beschissene Kneipe gehe ich nie wieder. Das nächste Mal treffen wir uns in Dresden, im Hilton“.
„Ich bin Irene Wohlgard. Doktor Irene Wohlgard. Hier ist mein Personalausweis, mein polizeiliches Führungszeugnis und das Empfehlungsschreiben von Professor Mühlhaus“. Die dunkelhaarige Frau mittleren Alters legte die Dokumente auf den glatten Tisch, welcher durch eine aufgeklebte Folie das Aussehen von rauem, rissigem Holz vorgaukelte. Einer der Sicherheitsleute steckte den Ausweis in den Schlitz eines kleinen, schwarzen Kastens, an welchem kurz darauf ein Lämpchen aufleuchtete. „So, jetzt werden wir noch die Iris und die Retina Ihrer Augen registrieren. Dann können Sie hier ab sofort jeden Zugang öffnen, indem Sie eines der Augen vor die rot gekennzeichneten Scanner am Türrahmen halten“.
Kommissar Riemer goss sich noch etwas Wein nach und biss in das letzte Stück Pizza Spinaci. Plötzlich wanderte sein billiges Diensthandy, getrieben vom Vibrationsalarm, quer über den Tisch und verformte fröhlich summend einen Tropfen Rotwein zu einer Wellenlinie. Der Kommissar grabschte mit seinen Wurstfingern genervt nach dem Störenfried und rief mit vollem Mund: „Falls es sich noch nicht herumgesprochen hat, ich habe jetzt Feierabend!“. Die Stimme am anderen Ende klang höchst ärgerlich: „Und wenn Sie nicht innerhalb der nächsten zwanzig Minuten hier in der Dienststelle sind, werden Sie für immer Feierabend haben, weil ich Sie nämlich höchstpersönlich feuern werde! Ist das klar?“. Mist, das war Kriminalhauptkommissar Hohlbach, sein Chef. Genannt Monkey-Face. Riemer putzte etwas Spinat vom Display und stopfte das Handy in die ausgebeulte Hemdtasche, in welcher sich schon sein Notizbuch und ein angekauter Kugelschreiber breit machten. Auf dem Weg zum Auto fiel ihm ein, dass er bereits eine halbe Flasche Wein getrunken hatte. Ach was, warum sollte er ausgerechnet heute Abend in eine dieser blöden Verkehrskontrollen schlittern.
Die Straßenlaternen kämpften vergeblich gegen den undurchdringlichen Nebel an. Ein paar vereinzelte Schneeflocken schwebten sanft durch die klamme Luft und erlitten auf der etwas wärmeren Fahrbahn den unvermeidlichen Wassertod. Das Auto des Kommissars kroch langsam über den feuchten Asphalt. Einen Unfall hätte sich sein Fahrer zum jetzigen Zeitpunkt nicht unbedingt leisten können. Riemer war sich sicher, dass seine Kollegen ohnehin schon in ihren warmen Betten lagen und gewiss etwas Besseres zu tun hatten, als eine Alkoholkontrolle durchzuführen. Doch wie zum Hohn, sah er plötzlich durch den dichten Nebel den schwachen Schein eines blinkenden Blaulichts. Glücklicherweise winkte ein Uniformierter Riemers Wagen vorbei. Der Kommissar konnte gerade noch ein Auto erkennen, das sich um einen Strommast gewickelt hatte. Zwei Feuerwehrleute waren mit schwerem Gerät dabei, den Raser aus dem Klumpen Metall herauszuschneiden. Riemer schüttelte den Kopf: „Bestimmt wieder einer, der unter Alkohol gefahren ist“.
Als der Kommissar das Büro betrat, saß sein Chef halb auf dem Schreibtisch und ließ das rechte Bein baumeln, während die linke Zehenspitze gerade noch so den Fußboden berührte. Mit verschränkten Armen sah er Riemer an, als wolle er ihn zum Abendbrot verspeisen. Dieser setzte sich gemächlich auf seinen Stuhl, ohne den Mantel auszuziehen: „Und?“. Hohlbach rutschte vom Tisch herunter und eine dicke Zornesfalte zeichnete sich auf seiner gewölbten Stirn ab: „Wann?“. Seine Faust landete auf Riemers Schreibtisch: „Wann wollten Sie es mir endlich sagen?“. Riemer lehnte sich mit schief gehaltenem Kopf zurück: „Was denn, bitte schön?“. Sein Chef beugte sich zu ihm herunter und zischte wütend: „Dass es in meiner Stadt ein geheimes Labor gibt, welches schon seit geraumer Zeit unter Beobachtung des BND steht. Wie mir der Innenminister soeben am Telefon mitgeteilt hat, wissen Sie das schon seit drei Jahren. Aber ich bin ja nur Ihr Vorgesetzter. Mir braucht man ja nichts zu erzählen. Wissen Sie was, ich habe langsam Ihre Alleingänge satt. Warum haben Sie mich nicht informiert?“. Riemer stand schwerfällig auf, streifte seinen Mantel ab und hängte ihn über die Stuhllehne: „Weil ich nichts sagen durfte. Das Ministerium hat mich vor drei Jahren zum Stillschweigen verdonnert und Sie sind ja bekanntlich erst seit zwei Jahren hier“. Er popelte sich respektlos im rechten Nasenloch: „Sagen Sie bloß, ich musste mich wegen dem Quatsch durch den Nebel quälen?“. Hohlbach konnte sich nur mit Mühe beherrschen: „Wohl kaum. Und außerdem heißt es: Wegen des Quatsches. Genetiv!“. Durch Riemers Gehirn huschte der Satz: „Affengesichtiger Besserwisser!“ und er musste lächeln. Sein Chef wurde noch wütender und schnaubte: „In diesem gewissen Labor liegt eine Frauenleiche herum. Die Spurensicherung habe ich schon hinbeordert. Und Sie, Sie werden den Fall aufklären, und zwar innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden, sonst gnade ihnen Gott. Und noch eins, das Ding ist ganz oben angebunden, ganz oben. Diskretion, mein Lieber, absolute Diskretion!“.
Alexander Koslow, der Leiter der Einrichtung, ein schlanker Mittfünfziger, fuhr sich mit seinen manikürten Fingern durch die dichten, unnatürlich weißen Haare. Dieser Mist konnte möglicherweise das Ende seiner Karriere bedeuten. Sein Assistent öffnete vorsichtig die Tür: „Der Kommissar wäre jetzt da“.
Riemer kniete neben der Leiche, während die Männer der Spurensicherung ihre sieben Sachen wieder einpackten. Als Alexander Koslow eintrat, erhob sich der Kommissar und fragte: „Wer war sie?“. Der Weißhaarige lehnte sich unsicher an eine der glatten Wände: „Doktor Irene Wohlgard. Aus Leipzig. Physikerin. Sie war erst seit ein paar Tagen bei uns angestellt“. Riemer zückte sein Notizbuch: „Und was genau hat sie hier gemacht?“. Koslow verzog schmerzlich das Gesicht: „ Das darf ich nicht sagen“.
Die dezent geschminkte Blonde vom Standesamt schüttelte ihren hübschen Kopf, obwohl das der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung sicherlich nicht sehen konnte: „Tut mir leid, aber eine Irene Wohlgard ist bei uns nicht registriert. Und schon gar keine Doktor Wohlgard“.
Martina Mertens, eine etwas dünn geratene Pathologin, stand in dem sehr geräumigen, weiß gefliesten Obduktionsraum wie ein dürrer Grashalm in einem ausgetrockneten Salzsee. Nachdenklich zog sie die Mundwinkel nach unten und hob gleichzeitig die Schultern: „Das Einzige was ich gefunden habe, ist eine ziemlich alte, künstliche Herzklappe. Eine sogenannte Kugelkäfigprothese nach Starr-Edwards. Der Tod könnte möglicherweise durch das Versagen der Klappe eingetreten sein, aber ich halte das für äußerst unwahrscheinlich. Das Ding ist in allerbestem Zustand und von einer Hämolyse war auch nichts zu finden. Eigentlich müsste die Dame immer noch leben“.
Kommissar Riemer fummelte mit seinen dicken Fingern ein paar Büroklammern auseinander, welche sich mit aller Macht an den kleinen Magneten auf seinem Schreibtisch klammern wollten. Plötzlich hielt er inne. Dann wandte er sich seinem Computer zu und rief im Internet Abbildungen von Herzklappen auf. Schließlich griff er aufgeregt zum Telefon.
„Wie gesagt, ich darf nichts sagen“. Alexander Koslow hob entschuldigend die Arme. Riemer grinste: „Nun, nehmen wir an, ich würde behaupten in Ihrem Labor gäbe es starke Elektromagneten. Wenn das nicht so wäre, könnten Sie das doch getrost dementieren, oder?“. Koslows Gesicht wurde zu Stein: „Das kann ich nicht dementieren“.
Hohlbach schüttelte den Kopf: „Nein, das wird nicht funktionieren. Der BND gibt da bestimmt nichts preis“.
Er nahm den Hörer in die andere Hand und kratzte sich zögernd am Hinterkopf. „Na gut, Riemer. Der einzige Faktor, der mich bewegt den Minister damit zu behelligen, ist die Tatsache, dass Sie den Grund für diesen mysteriösen Tod herausgefunden haben“.
Der Mann, der eben abgelehnt hatte sich zu setzen, nahm mit spitzen Fingern das Foto entgegen und sagte abfällig: „Selbstverständlich weiß ich nicht wer diese Frau ist“. Dann verließ er ohne ein weiteres Wort Hohlbachs Büro, stieg in seinen Wagen und schlug mehrmals wütend auf das Lenkrad: „Dieser blöde Arsch hätte doch nie eine Frau mit einer Herzklappe in das Labor einschleusen dürfen! So ein Rindvieh!“. Dann startete er den Wagen und wiederholte: „So ein dreimal dämliches Rindvieh!“.
Und so kam es, dass Kommissar Riemer die Anweisung erhielt, die Ermittlungen einzustellen und den Fall nicht weiter zu verfolgen. Noch in der gleichen Nacht hielten drei Lastkraftwagen einer Umzugsfirma vor einem bestimmten Labor und tags darauf wurde ein gewisser Herr im graugestreiften Anzug auf die Straße gesetzt. Deshalb würde er leider nie wieder genug Geld für das „Hilton“ haben.
Für Mütter gibt es einmal im Jahr den berühmten Muttertag. An diesem Tag bekommen sie etwas geschenkt. Für Väter gibt es den Vatertag. Die Väter bekommen nichts geschenkt. Außerdem ist das nicht mal ein richtiger Vatertag, sondern Christi Himmelfahrt. Die armen, benachteiligten Männer müssen diesen Umstand wettmachen, indem sie einem Gewerbe kräftig unter die Arme greifen. Dem Gewerbe, das Alkohol produziert.
Wir waren damals eine Truppe, die locker fünfzehn Kilometer am Stück laufen konnte. Heute bin ich froh, wenn ich bis zum Supermarkt gelange, ohne hinterher ins Sauerstoffzelt zu müssen. Unsere Freizeitgestaltung bestand aus sehr sinnvollen Tätigkeiten. Wie zum Beispiel um einen Holzkohlengrill herum zu stehen, auf dem sich Fleischbrocken wälzten, deren Größe einen Vegetarier allein durch den Anblick schlagartig in Ohnmacht versetzt hätte. Oder wir fuhren unter Außerachtlassung der Wetterlage zum Zelten. Abends hockten dann alle um ein gewaltiges Lagerfeuer und sangen schweinische oder frauenfeindliche Lieder, während zwei oder drei Flaschen eines undefinierbaren Alkohols herumgereicht wurden. Das Zeug schmeckte wie Laternenpfahl ganz unten und wenn man es verschüttete, fraß es sich durch Holz. Nachdem sich alle die nötige Bettschwere angetrunken hatten, wurde einer ausgelost, der während der Nacht das Feuer am Brennen halten musste. Der saß dann mit einem kleinen Rest von einer Flasche neben der Feuerstätte und jedes Mal, wenn er aus seinem Sekundenschlaf aufschreckte, legte er etwas Holz nach. Bei Tagesanbruch brannte das Feuer lichterloh, der Bursche aber war klipperkaputt. Die anderen schleppten sich in die viel zu kleinen Zweimannzelte. Trotz Schlafsack bibberten alle vor Kälte und was der eine ausatmete, atmete der andere ein. Am Morgen kam jeder völlig übermüdet aus seiner Koje gekrochen und war ebenfalls klipperkaputt. Zuhause schwärmten wir dann, wie schön es gewesen sei.
Wir hatten noch eine Gemeinsamkeit: Einen „Präsent 20“ Anzug. Oder auch eine Präsent 20 Kombination. Das Material war eine Entwicklung der Chemieindustrie und bestand zu 100 Prozent aus Polyester. Zwar war der Stoff etwas schweißtreibend, hatte aber den großen Vorzug, absolut nicht zu knittern. Leider war das Ganze nichts für Raucher. Wenn man ein Zündholz ansteckte und ein klitzekleines Fünkchen brennenden Schwefels verirrte sich auf die Hose, bildete sich dort sofort ein Loch von der Größe einer Haselnuss. Man erzählte allgemein die Legende, dass ein Pfeifenraucher aus Versehen mit seinem Feuerzeug den Arm des Nachbarn berührt haben soll, worauf sich dessen kompletter Ärmel unter kurzem Aufglühen in Rauch auflöste.
Als unser Haufen beschloss am nächsten Vatertag eine Wanderung durchzuführen, kaufte ich mir einen nagelneuen Regenschirm. Es galt als zünftig, einen großen, schwarzen Herrenschirm mitzuführen, der eine lange Metallspitze sein Eigen nannte und somit als Stütze diente, falls man zu vorgerückter Stunde nicht mehr des Stehens mächtig war. Außerdem befestigten die meisten am Griff eine Fahrradklingel, deren Gebrauch deutlich den Alkoholpegel des Besitzers kundtat. Ich befestigte, dem Gruppenzwang gehorchend, ebenfalls so eine Klingel an meinem neu erworbenen Eigentum und fand, dass mir der Schirm mittels dieses Accessoires richtig ans Herz gewachsen war.
Jeder von uns hatte an jenem Tag etwas sogenannten Proviant mitgebracht. Korn, Rum, Wodka und sogar Eierlikör wanderten schneller von Mund zu Mund als unsere Beine zur nächsten Kneipe. In dieser angekommen, schwemmte jede Menge Bier die obligatorische Bockwurst in den alkoholdurchweichten Magen. So war es nicht weiter verwunderlich, dass sich unsere Reihen nach und nach lichteten. Beispielsweise legte sich plötzlich einer der Wandervögel schnarchend in den Straßengraben und war, trotz kräftigen Schüttelns, nicht wieder aus dem Land der Träume zurückzuholen. Ein anderer ging ins Unterholz, um eine „Stange Wasser“ abzustellen und ward nie wieder gesehen. Dann gab es auch noch einen kleinen Unfall. Einer der Kerle stach, beim Versuch sein Gleichgewicht wieder zu erlangen, mit der Spitze seines Regenschirms in den Fuß des Nebenmannes, der dummerweise nur Sandalen trug. Wir ließen den Blutenden unter der Beteuerung zurück, von der nächsten Kneipe aus ein Taxi anzurufen. Ich vermute, er sitzt heute noch dort. Auf halbem Wege waren wir dann nur noch zu zweit und beschlossen, ausnahmsweise in der nächsten Schenke sesshaft zu werden. Das Laufen mit weniger als drei Alkoholisierten macht einfach keinen Spaß. Wir landeten in einer wenig frequentierten Waldgaststätte. Der Wirt schien sehr daran interessiert zu sein, sein aktuelles Bierfass schnellstens leer zu bekommen, denn er trank mindestens genauso viel, wie er an die Gäste ausschenkte. Zur Polizeistunde schloss er selig lächelnd die Eingangstür ab und trank mit uns weiter. Wir spielten „Der Vorletzte zahlt!“. Dabei kreist ein Bierkrug mit zwei Litern Inhalt von Mund zu Mund und jeder nimmt einen Schluck. Irgendwann sticht dann einen der Hafer und er trinkt den Krug auf Ex leer. Der bedauernswerte Kerl, der zuvor aus dem Ding getrunken hat, muss nun zwei Liter Bier bezahlen. Wenn man das zu dritt spielt, ist man entweder ganz schnell pleite oder volltrunken. Ich war beides. Gegen zwei Uhr nachts machten wir uns, nach kräftigem Schulterklopfen, in einer Art Seemannsgang auf die Socken. Ich weiß nicht mehr genau wann, aber plötzlich war mein Kumpel nicht mehr da. Ehrlich gesagt beeindruckte mich das nicht besonders. Es begann zu regnen, nein, zu schütten. Die Wassermassen hätten die Hölle auslöschen können. Ich öffnete unbeholfen meinen liebgewonnenen Regenschirm. Die Tropfen prasselten ohrenbetäubend auf den straff gespannten Stoff. Da ging mir der Gedanke durch das leicht benebelte Hirn, dass doch dieses heißgeliebte Regendach nagelneu war. Und nun wurde mein Liebling nass. Der arme Schirm. Voller Mitleid faltete ich meinen Regenschutz wieder zusammen und stopfte das Gerät zurück in seine Hülle. In der Überzeugung ein gutes Werk getan zu haben, stolperte ich klatschnass weiter. Es dauerte gar nicht lange und ich wusste nicht mehr, wo ich mich befand. An eine Taschenlampe hatte keiner von uns gedacht und so ging es mir, wie es einst Rotkäppchen ging. Ich kam nämlich vom Wege ab. Indes bemerkte ich diesen schicksalhaften Umstand erst dann, als mein linkes Bein plötzlich in einem Bach stand. Das Bachbett war blöderweise etwas tiefer als die Umgebung, auf welcher mein rechtes Bein ruhte. Ich hätte mich gern bei dem Versuch aufzustehen selbst beobachtet. Es begann zu dämmern. Irgendwann trugen mich meine müden Füße per Zufall vor ein kleines, entzückendes Wohnhaus. Es muss so gegen Vier gewesen sein. Hinter einem der Fenster brannte jedenfalls schon Licht. Ich warf ein paar kleine Steinchen dagegen, wobei wohl die ersten zehn daneben gingen. Eine schimpfende Frau im Morgenmantel öffnete einen Fensterflügel. Angesichts meiner erbarmungswürdigen Gestalt wurde sie milder gestimmt und auf meine Frage nach der nächsten Stadt, wies sie mir kopfschüttelnd den Heimweg.
Als ich an meinem Haus ankam, war Gott sei Dank kein Mensch weiter auf der Straße. Im Schlafzimmer streifte ich lediglich meinen nassen Anzug ab und warf mich ohne zu waschen aufs Bett. Nach zwölf Stunden bleiernem Schlaf kamen die Lebensgeister langsam und qualvoll zurück. Mein Kopf hätte in diesem Zustand nur quer durch den Türrahmen gepasst. Dafür war mein Regenschirm verschwunden. Hoffentlich würde ihn jemand finden, der ihn genauso respektvoll behandelte wie ich. Mein Anzug lag völlig zusammengeknautscht auf dem Boden. Als ich ihn aufhob, war nicht eine einzige Knitterfalte zu sehen. Hoch lebe Präsent 20! Nieder mit dem Alkohol!
Es hatte über siebzig Jahre gedauert, alle benötigten Teile ins All zu schaffen und dort zusammenzubauen. Offiziell waren die zwei riesigen Raumstationen sogenannte Sammler. Das Volk auf der Straße nannte sie aber „Staubsauger“, was nicht einmal ganz falsch war. Die eine Station saugte Staub und Gase aus den Weiten des Universums, die andere fing kleinste Partikel Antimaterie ein. Das Eingesammelte würde dem interstellaren Raumschiff der dritten Generation, namens „Cassandra“, als Antrieb dienen, da das Zusammenbringen von Materie und Antimaterie ungeheure Energie freisetzen konnte. In zehn Jahren sollte das Raumschiff zum Stern Epsilon Eridani starten. Dreißig Menschen mussten dann in Gel-Tanks, unter Zwangsbeatmung und künstlicher Ernährung, sechzehn Jahre lang schlafen, bis „Cassandra“ 89 Prozent der Lichtgeschwindigkeit erreicht und anschließen wieder auf Null abgebremst hätte. Danach sollte erforscht werden, ob sich in der Staubscheibe des an-gesteuerten Gestirns tatsächlich der Planet „Epsilon Eridani C“ verborgen hielt, und wenn ja, welche Eigenschaften dieser vorweisen konnte. Nach Erledigung der Aufgabe würde das Raumschiff auf dem gleichen Weg, wie es gekommen war, zur Erde zurückkehren.
Dreißig Personen aber befürworteten die Mission ohne Einschränkungen. Das waren die dreißig, die man als Mannschaft für die „Cassandra“ ausgewählt hatte. Zehn Personen Personal, zehn Techniker und zehn Forscher. Levin gehörte zu den Forschern. Er war Professor für Linguistik, neunundzwanzig Jahre alt und sprach bereits über vierzig Sprachen. Unter anderem beherrschte er auch die Klicklaute der Damara, einer afrikanischen Volksgruppe mit Siedlungsgebiet in Namibia. Bei der geplanten Mission würde Levins Aufgabe darin bestehen, eingefangene Signale, die eventuell von einer anderen Zivilisation stammten, zu bewerten und zu übersetzen. Levin wusste damals noch nicht, dass er die Erde nie wieder betreten würde.
Der Weg zur Zubringer-Rakete war von protestierenden Menschen verstopft. Es war nicht sicher, ob die Polizei rechtzeitig den Weg frei bekäme. Sollte man das im Orbit befindliche Raumschiff nicht rechtzeitig erreichen, müsste der Start um ein Jahr verschoben werden. Levin wusste nicht, ob er dann noch den nötigen Mut besitzen würde, um Familie und Erde zu verlassen. Schließlich bahnte ein Wasserwerfer den Weg zur Rakete und die dreißig Auserwählten hoben von der Erdoberfläche ab. Das Andocken an das gewaltige Raumschiff erfolgte problemlos. Hilfspersonal erwartete sie bereits und half ihnen die wenigen, persönlichen Sachen zu verstauen. Dann begaben sich alle zu den Gel-Tanks. Das waren unscheinbare, graue Kisten aus Aluminium, rund zwei Meter lang. Die Mitglieder der Mannschaft mussten sich der Reihe nach entkleiden, eine Art Hose anziehen, welche mit Schläuchen verbunden war und dann noch einen ebenso bestückten Integralhelm aufsetzen. Nach Verschließen des Tanks wurde ein Gel eingeleitet, das den gesamten Tank ausfüllte und einen Wirkstoff enthielt, der durch die Haut der Menschen eindrang und diese in einen tiefen Schlaf versetzte. Levin war der Letzte und bezog den, in Flugrichtung gesehen, vordersten Tank. Nachdem auch hier das Gel eingeleitet worden war, bestieg das Hilfspersonal die angedockte Rakete und kehrte mit dieser zur Erde zurück. Dann löste das Kontrollzentrum den Start des Raumschiffes nach einem kurzen Countdown aus. „Cassandra“ begann langsam aber stetig die Geschwindigkeit zu erhöhen.
Als das Schiff nach knapp neun Jahren eine Geschwindigkeit von 254.823.589 m/s, also rund 89 Prozent der Lichtgeschwindigkeit erreicht hatte, sollten die Antriebsdüsen automatisch abschalten und der Bremsvorgang eingeleitet werden. Das geschah aber nicht. Bei erreichen von 92 Prozent der Lichtgeschwindigkeit trat das ein, was einige Wissenschaftler vorausgesagt hatten. Die Teile des Schiffes wurden um Vieles schwerer als berechnet. Streben knickten ein, Wände barsten. Die Gel-Tanks wurden zusammengequetscht und die Menschen darin starben. Nur der in Fahrtrichtung vorderste blieb heil, weil kein weiterer Tank Druck auf ihn ausübte. Bei 95 Prozent der Lichtgeschwindigkeit verstummten endlich die Antriebe, aber die Bremsdüsen zündeten nicht. Und so torkelte das Raumschiff weitere Jahre unkontrolliert durch die unendliche Weite des Weltalls. Irgendwann zwang die Gravitation eines unbekannten Sterns die „Cassandra“ in eine unregelmäßige Kurve und bald darauf geriet das Schiff in den Bereich eines Planeten, der es mit seiner Masse Stück für Stück zu sich heranzog. Das Schicksal wollte es, dass dieser Planet in einer habitablen Zone seinen Mutterstern umkreiste. Es gab flüssiges Wasser und die Luft bestand zu 22,3 Prozent aus Sauerstoff. Erzeugt wurde dieses lebenswichtige Gas seltsamerweise durch den Zerfall von bestimmten Mineralien, die massenhaft auf dem Planeten vorrätig waren. Die Schwerkraft war nur wenig höher als auf der Erde und die Durchschnittstemperatur betrug 30 Grad Celsius. Nur etwas war völlig anders als auf dem Heimatplaneten der Menschen: Es gab keine Vegetation. Aber es gab Leben, intelligentes Leben, hochentwickelt. Als das Schiff durch die Atmosphäre raste, glühte es hell lauf. Dann stürzte es in ein flaches Meer.
Das riesige Bergungsschiff der Roaner hatte alle Mühe, mit seinen acht Kränen den Mittelteil des zerrissenen Raumschiffes nach oben zu holen. An Land wurde alles mit Schneidbrennern zerteilt und gleich an Ort und Stelle nach Materialien sortiert. Das sollte die Wiederverwertung der wichtigen Rohstoffe erleichtern. Als man auf eine längliche, graue Kiste stieß, wurde diese äußerst vorsichtig geöffnet. Man kannte sich schließlich mit Sternentechnologie noch nicht so gut aus. Umso größer war die Überraschung, als man in der Kiste eine mit Glibber bedeckte Person fand, die den Roanern sehr ähnelte und auch noch Lebenszeichen erkennen ließ. Man brachte das Geschöpf schnellstens in das nächstgelegene Haus für Hilfslose, in welchem sich die klügsten Heilkünstler um den Zustand des Gefundenen kümmerten.
Als Levin zu sich kam, wusste er seine Umgebung nicht einzuordnen. Alles war in einem ungewohnten Blassrosa gehalten. Ein seltsamer Kerl mit enormen Ohren und komplett schwarzen Augen beugte sich über ihn und brachte fremde Laute hervor. Dann trat eine zweite dieser Kreaturen hinzu und dann noch eine. Bald war er von diesen seltsamen Wesen umringt. Sie ähnelten ein wenig den Menschen, hatten aber hellere Haut und keine Haare auf dem Kopf. Später stellte er fest, dass ihre Hände sechsfingrig waren und einen zweiten Daumen besaßen. Nach einer Weile verschwanden fast alle wieder, nur ein einzelner Vertreter dieser Rasse blieb bei ihm. Dieser wiederholte ständig das Wort „Argan“, bis Levin begriff, das es dessen Name war. Er zeigte auf sich: „Levin“.
Dann richtete er seinen Finger auf den Anderen und sagte: „Argan“. Dieser zeigte nun wiederum auf Levin und sagte seinerseits: „Läwinn“.
Für den Rest des Tages ließ man ihn allein, wahrscheinlich, damit er sich erholen konnte. Gegen Abend verspürte Levin Hunger. Aber sein Zimmer war abgeschlossen und keiner reagierte auf das Klopfen. Gleich am nächsten Morgen, als Argan das Zimmer betrat, sagte Levin: „Essen“ und zeigte mit dem Finger in seinen geöffneten Mund. Argan schien sofort zu verstehen. Er entfernte sich und kam nach kurzer Zeit mit einer kleinen Schüssel zurück, die gebratenes Fleisch enthielt. Argan zeigte auf seinen Mund und sagte: „Hokuma. Ässn“. Levin zögerte zuerst, sagte sich dann aber, dass er sterben würde, sollte er keine Nahrung zu sich nehmen. Also begann er, trotz aller Bedenken, zu essen. Es war gutes Fleisch.
Zwei Jahre waren vergangen und Levin sprach fließend die Sprache der Roaner. Man hatte ihm eine kleine Wohnung in einer Ansiedlung zugewiesen. Seltsamerweise war es ihm aber verboten, die Grenzen der Siedlung zu übertreten. Tagsüber musste er arbeiten, knapp sieben Stunden. Auch auf diesem Planeten galt, wer essen will, der muss arbeiten. In einer kleinen Fabrik montierte er Gewehre, die den irdischen Jagdflinten unwahrscheinlich ähnlich sahen. Mit der Zeit fühlte er sich heimisch und besaß sogar einen Freund namens „Bärott“. Ihm war klar, dass er die Erde nie im Leben wiedersehen würde. Sogar an das eintönige Essen hatte er sich gewöhnt. Da es keine Vegetation gab, bestand es stets nur aus Fleisch; gekocht, gebraten oder auch roh. Aber irgendetwas schienen die Einheimischen vor ihm geheim zu halten. Wenn hinter seinem Rücken getuschelt wurde, glaubte er öfters das Wort „Jagd“ wahrgenommen zu haben.
Als das dritte Jahr vorüber war, betrat Bärott eines abends unverhofft seine Wohnung. „Du bist die richtige Zeitspanne bei uns und hast dich nicht gegen uns gestellt. Deshalb ist es Zeit für das Aufnahmeritual“. Levin wurde neugierig: „Was bedeutet das?“. Bärott setzte sich: „Man wird dir ein personengebundenes Jagdgewehr aushändigen und einmal im Jahr wirst du, wie jeder von uns, Leaner jagen. Solltest du dabei deine Waffe verlieren, wirst du aus unserer Gemeinschaft ausgestoßen. Weigerst du dich zu jagen, wirst du auch ausgestoßen. Dein Ansehen aber wird steigen, je mehr Leaner du von der Jagd mit zurückbringst“. Levin war klar, dass er sich einordnen musste, wenn er auf diesem Planeten überleben wollte. Also bekam er am nächsten Tag eine Plakette um den Hals gehängt, die ihn als anerkannten Roaner auswies und ihm erlaubte, die Siedlung zu verlassen. Dann erhielt er eines der Gewehre, die er selbst zusammengebaut hatte. Weil es ein Jagdgewehr war, glaubte er, die zu jagenden „Leaner“ seinen irgendwelche Tiere.
Er hatte sich getäuscht. Zwei Armeen, ausgestattet mit Jagdwaffen, prallten aufeinander. Levin bemerkte, wie die Toten und Verletzten vom Schlachtfeld gezogen wurden. Aber nicht von den eigenen Leuten, sondern jede Seite versuchte so viele Gegner wie möglich in ihr sicheres Hinterland zu bringen. Während er noch darüber nachdachte, wurde Levin von einer Kugel getroffen und brach ohnmächtig zusammen.
Er erwachte in einem Lazarett mit starken Schmerzen in der Brust. Mehrere Personen umstanden seine Liege. Levin bemerkte, dass ihre Augen nicht schwarz sondern braun waren. Das mussten die Leaner sein. „Wer oder was bist du?“, fragte einer von ihnen, „deine Plakette sagt, du wärst Roaner. Bist du aber nicht. Dein Körper ist anders“. Levin versuchte sich aufzurichten und stöhnte vor Schmerz: „Ich bin ein Mensch, komme von einem anderen Planeten und bin hier gestrandet“. Der Leaner kratzte sich am Kopf. Anscheinend konnte er das Gesagte nicht recht einordnen: „Und wie lange bist du schon hier?“. Levin erwiderte wahrheitsgemäß: „Drei Jahre“. Der leanische Kämpfer zog die Stirn in Falten: „Und hast du in dieser Zeit gegessen?“. „Ja sicher“. „Dann verstehe ich deine Plakette. Du hast bisher ungefähr neun Leaner verspeist“. Levin wurde schwindlig: „Was soll das heißen?“. Sein Gegenüber setzte sich auf den Rand der Liege: „Weil du anders bist, werde ich es dir erklären. Ich nehme an, die Roaner haben es dir nicht gesagt. Auf diesem Planeten gibt es nur zwei Lebensformen. Leaner und Roaner. Leaner essen Roaner und Roaner essen Leaner. Einmal im Jahr gibt es die große Jagd. Dann werden Vorräte aus getöteten Gegnern angelegt. So können beide Seiten ein weiteres Jahr überleben“. Levin erbrach sich.
Ein paar Tage später waren sich die Leaner einig, dass die Rasse Mensch einfach zu süßlich schmeckt.