Drinnen - Till Raether - E-Book

Drinnen E-Book

Till Raether

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Beschreibung

Bestsellerautor Till Raether über den wichtigsten Ort im Leben: das eigene Zuhause Im Durchschnitt ziehen wir in unserem Leben viereinhalbmal um. Jedes Mal verändert es unser Leben, oft ändert es auch uns selbst. Denn wie wir wohnen, ist zwar oft von äußeren Faktoren beeinflusst, es ist aber auch Ausdruck unserer Wünsche, unseres Selbst. Die eigenen vier Wände können Rückzugsort sein, Puffer- und Kreativzone, Familienhort, ein selbst gebautes Nest, das nie ganz fertig wird. Davon erzählt Till Raether in Drinnen und erkundet die Magie des Einziehens und Ankommens. Der Autor und Kultkolumnist lässt uns eintauchen in seine eigene Wohnbiografie, nimmt Einzugstraditionen unter die Lupe sowie den Umgang mit Gästen und Kleinkram (bzw. mehr oder weniger ausgegorenen Aufbewahrungssystemen). Nicht zuletzt stellt sein persönlicher wie kenntnisreicher Essay die Frage, was das "richtige" Wohnen ausmacht, das Heimischwerden an einem Ort, wo wir am allermeisten wir selbst sein können. »Wohnen ist die unmittelbarste, alltäglichste und konkreteste Art, zu leben. Wie wir einander in der Wohnung Platz machen, wen wir reinlassen und wen nicht, womit wir uns zu Hause umgeben und wie wir es uns schön machen – das handelt alles davon, wie wir leben wollen und wie wir leben können.« Till Raether

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Seitenzahl: 143

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Till Raether

Drinnen

Vom Einziehen und Ankommen

Originalausgabe

© 2024 Arche Literatur Verlag,

ein Imprint der Atrium Verlag AG, Zürich © 2024 Till Raether

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: DIEK Design/Sarah M. Hensmann, Jemgum, unter Verwendung eines Motivs von © Mari Saito 2024

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03790-156-4

 

www.arche-verlag.com

www.facebook.com/ArcheVerlag

www.instagram.com/arche_verlag

Für Alena Schröder, virtuelle Mitbewohnerin

Merk dir, was du geträumt hast:

Wohnen ist leben

Es gibt diesen Moment, wenn alle anderen weg sind.

Egal, wo man und mit wem man gerade irgendwo eingezogen ist. Ob allein in ein WG-Zimmer oder ins Studentenwohnheim. Als Paar in die erste gemeinsame Wohnung. Als Familie in ein Reihenhaus. Frisch geschieden in die Wohnung in der Nähe der Schule der Kinder. In das vernünftige, aber kleine Apartment in der Seniorenwohnanlage.

Egal, ob mithilfe von Freundinnen und Freunden, eines Umzugsunternehmens oder ganz allein, mit ein paar Kartons und blauen Ikea-Taschen voller Anziehsachen und Kleinkram. Mit eigenen Möbeln oder in die Einrichtung von anderen, vielleicht zur Zwischenmiete.

Egal, wie, wo, mit wem oder ohne wen: Es kommt der Moment, da ist man allein in der neuen Wohnung. Die Tür zum WG-Zimmer geht zu, die anderen, die hier wohnen, gehen ins Bett. Der Mensch, mit dem man von jetzt an zusammenwohnt, liegt neben einem und ist schon eingeschlafen oder tut so. Die Kinder haben ihre neuen Zimmer erobert, das neue Haus oder die neue Wohnung knackt und seufzt, fremde Geräusche, unvertraute Schatten, der Geruch von Pappe, Holz und Dispersionsfarbe.

Ich habe in meinem Leben viele erste Momente in neuen Wohnungen und Zimmern verbracht, unter ganz unterschiedlichen Umständen. Mal war ich ganz allein, in einem Studentenwohnheim in New Orleans, und die Klimaanlage war so laut, dass ich meine eigenen Gedanken kaum verstand, und ich fühlte mich so einsam, dass ich dankbar war, als wenigstens eine Kakerlake durchs Bild lief. Mal hatte ich, obwohl es Ende der Achtziger- und nicht Anfang der Fünfzigerjahre war, eine Zimmerwirtin, in einem alten Haus am Stadtrand von München, und mein Zimmer hatte eine Waschnische, selbst geknüpfte Wandteppiche und eine Obstschale, morgen sollte meine Journalistenausbildung anfangen, und noch nie war ich so weit weg von zu Hause und so am richtigen und falschen Ort zugleich. Mal lag ich allein in der Zweizimmerwohnung in Wilmersdorf, die ich mir mit einem Freund erschlichen hatte, denn der Wohnberechtigungsschein galt eigentlich für seinen Bruder und ihn, und ich hörte, wie die Schritte meines Freundes sich im Treppenhaus entfernten, weil er die erste Nacht lieber noch aufschieben und stattdessen zu seiner Freundin fahren wollte. Mal lag ich mit Jetlag und Herzklopfen wach neben meiner amerikanischen Freundin in der Wohnung, die sie für uns beide in Seattle gemietet hatte, endlich keine Fernbeziehung mehr, und konnte mein Glück und meine Furcht kaum fassen. Mal war ich wieder zurück in Deutschland und hasste meine halb leere, kalte Wohnung, die mir fremd geworden war, weil meine Untermieterin sie abgewohnt und die Miete nicht mehr überwiesen hatte, und alle meine in den Keller weggeräumten Bücher waren bei einem Rohrbruch zu Pappmaschee verschmolzen. Mal bin ich mit der Frau, die ich zwei Jahre später geheiratet habe, in unsere erste gemeinsame Wohnung in Hamburg gezogen, und über uns trampelte laut und demonstrativ die Hauswartsfrau, mit der wir es uns bereits beim Einzug verscherzt hatten. Mal war es eine Woche vor Weihnachten, im viel zu spät fertig gebauten Neubauviertel, und an unserem Fußende stand das Kinderbett mit unserer zehn Wochen alten Tochter, unser drei Jahre alter Sohn lag zwischen uns. Dreißig Jahre, dachte ich beklommen. So lange werden wir das Ding abbezahlen. Wie soll das gehen? Wie weit ist das weg. Inzwischen sind es nur noch zwölf. Aber die dreißig Jahre fingen an mit der ersten Nacht.

Ganz zu schweigen vom ersten Abend, der ersten Nacht in der Einliegerwohnung im Souterrain eines Fertighauses in einem Vorort der Kleinstadt Coburg, am Wochenende vor meinem ersten Praktikum; der ersten Nacht im Kinderzimmer unserer neuen Wohnung in Berlin, einen Monat vor meiner Einschulung; in meiner zwanzig Quadratmeter großen ersten eigenen Wohnung in Hamburg, mit Küchenzeile und Vollbad, sodass fürs Zimmer neun Quadratmeter blieben, die zur Hälfte weg waren, als ich den Futon zum ersten Mal aufklappte; meinem allerersten Bett in Hamburg im fensterlosen Hobbykeller eines Kollegen meines Vaters, in der Woche vorm Mauerfall.

Und so weiter. Ich bin sehr oft umgezogen, aber das Gefühl in diesem ersten Augenblick allein war immer dasselbe. Eine Mischung aus Beklommenheit und Zuversicht. Das Chaos steckt einem noch in den Knochen, die unfassbare Anstrengung, die damit verbunden ist, das eigene Leben komplett auf den Kopf gestellt, vollständig aus- und halbwegs wieder eingeräumt zu haben. All die Entscheidungen, die dazu führen, dass man plötzlich ganz woanders ist als noch bis gestern und vorige Woche. All das Glück, das man gehabt hat, die Kompromisse, die man geschlossen hat, die Abstriche, die man gemacht hat.

Die Risiken, die man eingegangen ist. Ist das der richtige Ort? Ist das der richtige Mensch hier neben mir oder im anderen Zimmer? Bin ich der richtige Mensch oder einfach nur eine Summe von halbherzigen Entscheidungen, die ich bis zu diesem Moment getroffen habe?

Ich glaube, ich hätte mich gern ein, zwei Stunden hingesetzt und meine Gedanken sortiert. Vielleicht, indem ich etwas lese, worin ich mich wiederfinde oder wovon ich mich abgrenzen kann. Etwas, was mich aufheitert, indem es meine positiven Gefühle verstärkt und meine nicht so positiven auffängt und ernst nimmt, vielleicht aber auch auflöst und nicht so ernst nimmt, wie sie sich selber nehmen. Das heißt, ich hätte gern das gehabt, was dieses Buch sein möchte.

 

Es ist ein Buch übers Wohnen, aber nicht in dem Sinne, dass man mit Designklassikern nichts falsch machen kann oder was doch; dass es Vorteile hat, Bücher nach Umschlagfarben zu sortieren, aber dass man dann künftig mit jedem neuen Besuch wieder darüber reden muss; dass man am schnellsten und effektivsten völliges Chaos aufräumt, indem man beim Wegräumen die Reihenfolge Müll, schmutziges Geschirr, Schmutzwäsche, Spielsachen, Papier und Bücher einhält; dass man es behaglicher hat mit punktueller als allgemeiner Beleuchtung und so weiter. Zwar schwingt hier und da das eine oder andere davon mit, und irgendwo werde ich sicher erwähnen, dass für mich das Schönste wäre, mit Sofa in der Küche zu wohnen, und dass ich meine Bücher gar nicht ordne, und warum.

Aber eigentlich ist Wohnen doch die unmittelbarste, alltäglichste und konkreteste Art zu leben. Wie wir einander in der Wohnung Platz machen, wen wir reinlassen und wen nicht, womit wir uns zu Hause umgeben und wie wir es uns schön machen – das handelt alles innerhalb von vier Wänden davon, wie wir leben wollen und wie wir leben können. Im Durchschnitt ziehen wir in unserem Leben viereinhalbmal um. Jedes Mal verändert es unser Leben, oft verändert es auch uns selbst. Darum soll es in diesem Buch gehen.

 

Oft schenken einem die Leute zum Einzug Brot und Salz. Der Brauch kommt wohl daher, dass Brot und Salz im Christentum als Geschenke des Himmels galten und man mit diesem Geschenk Gottes Segen fürs neue Heim symbolisch ausdrückte. Eine andere, etwas modernere Erklärung ist, dass Brot für Sicherheit und Versorgung steht und Salz für die Würze im Leben. Beides ist wichtig, ohne Brot und Salz geht es nicht. Aber Träume gehören auch dazu.

Bei all meinen Einzügen hatte ich das Gefühl, etwas erreicht und hinter mir und noch ganz viel vor mir zu haben. All die Lampen, die noch angebracht werden müssen. Die alte Wohnung übergeben. Wir brauchen eine Fußmatte. Eine Fußmatte! Niemand hat einem gesagt, dass das Erwachsenenleben daraus besteht, lauter Einzelteile anzuschaffen. Und dann daraus, diese Einzelteile mit sich herumzuschleppen. Und dann daraus, sich zu fragen, ob sie Joy sparken. Es hört nie auf.

Erschöpfung und Aufbruch. Abschied und Ankommen. Ich glaube, ich hab mich vor diesen Gefühlsmischungen irgendwann immer in einen unruhigen Schlaf geflüchtet, vielleicht auch ins Hin- und Herwälzen. Es gibt diesen alten Brauch, an den meine Eltern mich immer wieder erinnert haben, wenn ich irgendwo neu eingezogen bin. Merk dir, was du in der ersten Nacht in der neuen Wohnung träumst. Weil es in Erfüllung gehen wird? Weil es irgendwie bedeutsam ist? Ehrlich gesagt weiß ich den zweiten Teil nicht mehr genau, aber die Bedeutung des ersten Traumes in der neuen Wohnung hat sich mir als groß eingeprägt.

Ich kann mich an keinen einzigen dieser Träume erinnern, und ich glaube, ich konnte es jedes Mal schon am nächsten Morgen nicht mehr. Weil ich nicht bewusst geträumt hatte, vor lauter Erschöpfung, wegen Schlaflosigkeit. Oder weil ich zur Feier des Einzugs eine Flasche Rotwein getrunken hatte. Trotzdem sage auch ich jetzt jedes Mal, wenn Menschen, die mir nahe sind, die erste Nacht in ihrer neuen Wohnung verbringen: Merk dir, was du geträumt hast!

Vielleicht ist die Bedeutung dieses Brauches gar nicht so konkret auf den Traum in der ersten Nacht bezogen, den es zu entschlüsseln gilt, nach dem Motto: Du hast von einer schweren Last auf der Brust geträumt, als würde ein Kobold auf dir hocken? Unbedingt die Bücherregale an der Wand fixieren! Du hast geträumt, du würdest in einer märchenhaften Lagune mit versunkenen Schätzen schwimmen? Lieber eine Klempnerei anrufen, um den Brauchwasserzufluss abzudichten, statt das selbst zu machen. Vielleicht gibt es nichts zu entschlüsseln, sondern es gilt, die Aufforderung ganz und gar wörtlich zu nehmen: Merk dir, was du geträumt hast.

Wohnen hat mit Dübeln und Silikonfugen, mit Klappsofas und Toilettenhockern zu tun. Aber eben auch mit dem Traum davon, wie wir eigentlich leben wollen. Merk dir, was du geträumt hast, als du hier eingezogen bist. Als du dich für einen Neuanfang entschieden, eine Veränderung akzeptiert, endlich einen Ort gefunden hast. Merk dir, wie du leben willst, und lass es nicht ganz und gar verschwinden unter Alltag und Logistik. Und wenn eines Tages der Alltag und die Routine, vielleicht auch die Erschöpfung, zu überdecken drohen, wie man einmal leben wollte, dann ist es vielleicht eine gute Gelegenheit, sich an den alten Volksglauben zu erinnern: Weißt du noch, was du geträumt hast? Als du hier eingezogen bist? Und vielleicht ist dieser alte Traum, dieser alte Plan noch brauchbar, und es ist schön, ihn wieder hochzuholen und zu betrachten. Vielleicht zeigt sich dabei auch, dass er aufgebraucht ist und ersetzt werden muss. Durch eine neue Vision davon, wie man wohnen und leben will. Besser, sich dessen bewusst zu werden, als einfach immer so weiterzumachen.

 

Davon abgesehen gibt es wirklich kaum etwas Schöneres als sicher an der Wand befestigte Bücherregale. Man kann diese Befestigung immer noch nachholen, der Aufwand ist nicht groß, aber der Effekt ist riesig. Man hat dann so einen Fels in der Brandung, man kann sich anlehnen und festhalten, wenn man kurz Kraft schöpfen muss. Und es ist schön, wenn es zumindest eine Stelle im Leben und in der Wohnung gibt, wo nichts wackelt.

Primeln für alle:

Richtig ankommen

Meine Mutter war Berlinerin, was sich unter anderem darin äußerte, dass sie fünfundsiebzig werden musste, um endlich nach Hamburg zu ziehen. Und dass sie sich dann in Hamburg niemals richtig wohlfühlte, obwohl hier ihre Kinder lebten (zum Beispiel ich). Das lag, wurde sie nicht müde zu erklären, daran, dass das Wetter so schlecht und die Hausfassaden so dunkel waren. Es tat mir sehr leid, denn damit hatte sie sich ausgerechnet die beiden Dinge ausgesucht, an denen weder meine Schwester noch ich irgendetwas ändern konnten.

In Wahrheit aber lag es womöglich auch an etwas anderem. Nämlich daran, dass meiner Mutter ein sehr unherzlicher Empfang bereitet wurde. Als ich mit ihr auf dem Einwohnermeldeamt war, um ihr beim Ummelden zu helfen, sagte meine Mutter »Guten Morgen«. Dies ist an und für sich nichts Ungewöhnliches, in Berlin gilt es sogar als Gipfel der Liebenswürdigkeit. Die Sachbearbeiterin hielt inne und sagte: »In Hamburg sagt man Moin, daran können Sie sich gleich mal gewöhnen.«

Ich habe später immer wieder darüber nachgedacht, und ich bin mir sicher, dass es nett gemeint war. Womöglich sogar als eine Art Willkommensgruß, eine verklausulierte Art von: Mensch, jetzt sind Sie eine von uns! Moin!

Wie so oft, wenn Menschen in Hamburg charmant oder witzig sein wollen, fand dies jedoch im Ton einer Zurechtweisung statt. Dies gilt hier, wo ich seit 1999 wohne, als trockener Humor. Man kann damit anfangen, was man will, aber in diesem Kapitel geht es darum, wie man willkommen geheißen wird, wenn man irgendwo neu ankommt oder einzieht, und wie man sich selbst am neuen Ort willkommen heißt. Trockener Humor eignet sich dafür nicht.

 

Meine Mutter zog in eine Seniorenwohnanlage des Deutschen Roten Kreuzes, wo es im Erdgeschoss eine Art Pförtnerin und Beratungsangebote gab und einen Gemeinschaftsraum, in dem man geliefertes Mittagessen einnehmen, Bücher ausleihen oder sich mit anderen zum Spielen treffen konnte. Meine Mutter war eigentlich eine Eigenbrötlerin, aber auf so eine widersprüchliche, zwischendurch doch auch immer wieder kontaktfreudige Art, und sie wollte auch nicht nur in ihrer Anderthalbzimmer-Wohnung versauern. Deshalb ging sie eines Tages in den Aufenthaltsraum, als sich dort gerade eine Gruppe zu einem Brettspiel versammelt hatte. Ich glaube, es ist meiner Mutter nicht ganz leichtgefallen, die Runde zu unterbrechen und etwas zu sagen wie: »Darf man sich hier dazusetzen?« Jedenfalls antwortete einer von den Leuten am Tisch: »Nein, das ist strengstens verboten.«

Mir ist als jemand, der zu diesem Zeitpunkt bereits fast zwanzig Jahre in Hamburg gewohnt hatte, völlig klar, wie das gemeint war. Frotzelnd, freundlich, nach dem Motto: Na, aber selbstverständlich, was für eine Frage! Leider sprach meine Mutter kein Norddeutsch, sie ärgerte sich einfach nur und ging wieder in ihre Wohnung. Ich fürchte, die anderen hielten sie in diesem Moment vielleicht sogar für humorlos und verstockt. Gründlicher kann ein An- und Willkommen nicht fehlschlagen.

 

Ich erzähle das in dieser Ausführlichkeit, weil ich es mir erstens zur Lebensaufgabe gemacht habe, die Frau vom Bezirksamt Altona und den Mann aus dem Aufenthaltsraum der DRK-Anlage ausfindig zu machen und ihnen, ihren Kindern und ihren Enkelkindern das Leben zur Hölle zu machen. Dies tut hier aber eigentlich nichts zur Sache. Sondern das Zweite: Ich erzähle es, weil ich glaube, man muss sich beim Ankommen und Zurechtfinden auf die einfachste und konventionellste Weise verständigen, unabhängig von regionalen Gepflogenheiten und persönlichen Vorlieben. Möglichst primitiv, ganz leicht verständlich, menschliches Verhalten als einfachstes Piktogramm.

Ich möchte deshalb an dieser Stelle meine Liebe erklären zur kleinen Topfpflanze von der Sonderverkaufsfläche beim Blumenladen, Discounter oder Baumarkt, am liebsten gleich auf der Zwölfer-Papppalette, die einzelne Pflanze unter zwei, drei Euro. Im direkten und im übertragenen Sinne.

Im direkten Sinne, weil niemand etwas dagegen haben kann, wenn es an der Tür klingelt, und draußen sind die Neuen von schräg gegenüber, sagen ihren Namen, Guten Morgen, und überreichen die Primel. Oder das Heidekraut. Meinetwegen je nach Jahreszeit auch einen winterharten Bodendecker im Einzeltopf für den Balkon. Wer keinen Balkon und keinen Übertopf hat, kann sich das eine Weile aufs Fensterbrett stellen oder mit Untertasse auf den Esstisch, es ist wirklich völlig egal, was die Leute damit machen. Es ist weniger kontrovers als eine Tafel Schokolade oder selbst gebackene Kekse (wer weiß, wer gerade auf Zucker verzichtet), von Wein oder so ganz zu schweigen. Die preiswerte, sagen wir ruhig: die billige Topfpflanze ist das freundliche Nicken unter den Geschenken.

Und dieses Geschenk wirkt dann einerseits als Geste der unverbindlichen, fast kostenlosen Ehrenbezeugung: Ja, schaut, wir wollen euch damit zeigen, dass wir umgängliche Menschen sind und dass wir anerkennen, neu in eine Gemeinschaft zu kommen, die bisher auch ohne uns klargekommen ist. Andererseits ist jedes Geschenk eine Verpflichtung, die die Beschenkten dadurch, dass sie es annehmen, anerkennen. Anthropologen haben ganze Bücher darüber geschrieben, wie durch Geschenke Verbindungen entstehen. Eine Primel oder eine Erika ist einfach die netteste und dabei auch leidlich dekorative Art zu sagen: Guckt, wir tun euch symbolisch etwas Gutes, und dafür seid ihr bitte auch nett zu uns. Das ist eine ganz klare und einfache Botschaft, die man aber wortwörtlich nie so aussprechen würde.

 

Im übertragenen Sinne plädiere ich aber auch für die Primel. Also dafür, dass man sich selbst quasi der neuen Umgebung wie eine Primel schenkt. Weil auch die Ankunft im neuen Haus, im neuen Stadtteil in anderer Hinsicht möglichst klar und einfach sein sollte: Ich möchte mir und anderen eindeutig signalisieren, dass ich hier nicht nur existieren, sondern leben möchte. Das bedeutet, ein Teil einer Umgebung, einer Gemeinschaft zu werden. Das bedeutet, sich zu fragen: Wie will ich hier leben, was bringt es mir, hier zu leben, und daraus folgend: Was bringt es den anderen hier, dass ich hier lebe? Reicht es mir, jemand zu sein, der in diesem Stadtteil, in dieser Straße hin und wieder durchs Bild läuft, der ein bisschen Platz wegnimmt, nicht schmutzt, aber ansonsten eher ein Phantom ist?

Ich bin an vielen Orten gewesen, wo genau das meine Rolle war, ein flüchtig grüßendes Phantom, und ich schäme mich nicht deswegen. Ich war vielleicht nur ein paar Monate da, oder ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt, wegen Liebeskummer, Heimweh, Depression oder weil ich noch keine dreißig war.