DSA 109: Hjaldinger-Saga 3 - Eis - Daniel Jödemann - E-Book

DSA 109: Hjaldinger-Saga 3 - Eis E-Book

Daniel Jödemann

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Beschreibung

Die unaufhaltsamen Myriaden des Imperiums und die Flotte des mächtigen Hauses Charybalis stehen dank der Unterstützung der finsteren Meeresdämonin Charypta kurz vor ihrem Ziel: der endgültigen Eroberung und Auslöschung des stolzen Volkes der Hjaldinger. Jurga, die seit ihrer Kindheit Visionen von einem mysteriösen Schutzgeist erhält, weiß von diesem, dass jenseits des Immermeers Rettung wartet. Inzwischen sind mehrere Hjaldinger-Sippen bereit, unter ihrer Führung die gefährliche Reise zu wagen und mit ihren Drachenschiffen nach Osten aufzubrechen, auch wenn es noch nie zuvor gelungen ist, den Ozean zu überqueren. Allerdings sind nicht alle Hjaldinger davon überzeugt, dass auf der anderen Seite des Immermeers tatsächlich ein neues Land auf sie wartet. Und auch die Charybalis geben nicht so leicht auf … Eis ist der dritte Band der dreiteiligen Hjaldinger-Saga, die erzählt, wie die sagenumwobene Anführerin Jurga die Ahnen der Thorwaler nach Aventurien führte.

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Impressum

Ulisses SpieleBand US25729EPUBTitelbild: Florian HäckhKarte: Steffen BrandRedaktion: Nikolai HochLektorat: Daniela KnorKorrektorat: Frauke ForsterUmschlaggestaltung und Illustrationen: Steffen Brand, Nadine Schäkel, Patrick SoederLayout und Satz: Jörn Aust, Michael Mingers

Administration Christian Elsässer, Cora Elsässer, Carsten Moos, Sven Paff, Stefanie Peuser, Marlies Plötz, Markus Plötz Marketing Philipp Jerulank, Björn Meyer, Katharina Wagner, Wolfgang G. Wettach Ulisses Digital Alina Conard, Nico Dreßen, Thomas Engelbert, Nele Klumpe, Julia Metzger, Phillip Nuss, Maximilian Thiele, Jan Wagner, Carina Wittrin, Kai Woitczyk Verlag Zoe Adamietz, Jörn Aust, Mirko Bader, Steffen Brand, Bill Bridges, Timothy Brown, Simon Burandt, Carlos Dias, Christiane Ebrecht, Frauke Forster, Christof Grobelski, Kai Großkordt, Darrell Hayhurst, Nikolai Hoch, Nadine Hoffmann, Johannes Kaub, Christian Lonsing, Matthias Lück, Susanne Majewski, Thomas Michalski, Elisabeth Raasch, Nadine Schäkel, Maik Schmidt, Ulrich-Alexander Schmidt, Nils Schürmann, Eric Simon, Alex Spohr, Ross Watson Vertrieb Stefan Heinrichs, Jan Hulverscheidt, Anke Kühn, Thomas Schwertfeger, Stefan Tannert

Copyright © 2021 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems. DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN, UTHURIA und THE DARK EYE sind eingetragene Marken der Ulisses Spiele GmbH, Waldems. Alle Rechte vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Daniel Jödemann

Eis

Hjaldinger-Saga III

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Nach einer Idee von Daniela Knor

Dramatis Personae

Die Havar-Sippe

Vardur Arnarssun – Enkel der verstorbenen Hersirin Salbjerg

Horm Ohnehand – Vardurs bester Freund

Arnthrud – eine Freundin Vardurs

Solwa – eine angesehene Skaldin

Esa – eine Heilerin

Erla – erfahrene Schiffbauerin und Steuerfrau

Otur – Sohn von Salbjerg und Onkel Vardurs

Mardal – eine blinde Saithakwena

Fridgerd – eine Kriegerin

Eindridi – ein Krieger

Yoldra Saunsduhter – ein Familienoberhaupt der Sippe

Halljadur – ein Bauer

Jarngerd – eine Bäuerin

Die Aasa-Sippe

Gautaz Dagurssun –Hersir der Sippe

Hrok – ein junger Krieger

Godrun – eine Runenmagierin

Stainar – ein Krieger und Schiffbauer

Haukur – ein Krieger

Die Hagni-Sippe

Jurga Tjalfsduhter – Hersirin der Sippe

Hasgar Tjalfssun – Jurgas Bruder

Tjalf – Jurgas Vater

Hjalda – Jurgas und Hasgars Stiefmutter

Grani Tjalfssun – Jurgas und Hasgars Stiefbruder

Tola Hjaldasduhter – Jurgas und Hasgars Stiefschwester

Die Gunna-Sippe

Katla Oddasduhter –Hersirin der Sippe

Thidrik Hrodmarssun – ein Runaman (Runenmagier)

Skidi Gautazsun – der kleine Sohn Katlas und Gautaz’

Odda – Katlas Mutter

Die Isleif-Sippe

Solweig Thordisduhter – Hersirin der Sippe

Sunna Solweigsduhter – Solweigs Tochter

Thursdur Gudmundurssun – ein erfahrener Steuermann der Isleif-Sippe

Jofridis – Thursdurs Nichte

Hjalbera – eine Kriegerin

Sigvatur – ein Krieger

Die Groa-Sippe

Ullbjern Eirikssun – Hersir der Sippe

Firnvild Ullbjernsduhter – die Tochter Ullbjerns

Faravid Berassun – ein junger Skalde und Xelias’ bester Freund

Arnfridis – eine Kriegerin

Serkaz Thurassun – ein Krieger

Wrekar – Firnvilds Vargaz, ein Halbwolf

Imperiale

Pythatheriope te Aldangara – eine Optimatin und Spionin

Aegobarenes ul Charybalis – Strategu und Befehlshaber der ­Myriade 5 Thalassia

Palomelios te Aldangara – ein Optimat

Pheronolios te Aldangara – ein Optimat

Isodoras an Charybalis – Pythatheriopes Adjutant in der Myriade 5 Thalassia

Darene – eine Sklavin Pythatheriopes

Weitere Personen

Xelias Arnarssun – der Halbbruder Vardurs

Ragnvald Steinbjernssun – der Hersir der Baukaz-Sippe

Alsvinn – der Hersir der Hallaz-Sippe

Brandur – der Hersir der Joreida-Sippe

Hallerna – die Hersirin der Kjora-Sippe

Kolfaz – der Hersir der Frodi-Sippe

Oddbjerg – ein Mitglied der Ingwar-Sippe

»In den Tagen der Ahnen lebte ein Mann, der Havar hieß.

Vornehmer Abkunft war er,

aus einem Geschlecht, das der Gott Ullramnar selbst gezeugt hatte.

Groß war der Ruhm seiner Taten,

und es erfüllte die Herzen der Krieger mit Stolz, an seiner Seite zu kämpfen.

In den Tagen Havars lebte ein Kuninga1, der Uskur hieß.

Ein Löwengestaltiger war er,

denn die Löwengestaltigen herrschten damals über die Menschen.

Der Gott Khorraz war sein Vater,

und sein Wüten im Kampf füllte die Herzen der Krieger mit Furcht.

Maßlos wie Khorraz vergoss Uskur das Blut der Menschen,

blind und taub in seinem Rausch.

Die Lehren der Rondris, Khorraz’ göttlicher Schwester,

die den Kriegern Ehre gebot,

verschwendet waren sie an den schwarzmähnigen Kuninga.

Maßlose Wut erwuchs darüber unter den Menschen.

Die Völker des Nordens begehrten auf.

Nur Spott und Hohn hatte Uskur für ihren Hass übrig.

Feige Memmen nannte er sie.

Zum Zweikampf forderte er, was er für ein Volk von Schwächlingen hielt.

Da richteten sich die Augen der Menschen auf den Tapfersten unter ihnen,

Havar aus der Sippe Ullramnars.

Groß war Havars Zorn über die Schmähungen aus dem blutigen Löwenmaul.

Mutig trat er vor den Kuninga

und kühn waren die Worte, mit denen er Uskurs Ehre in Zweifel zog.

Da geriet auch der Khorrazsohn in heiligen Zorn und stellte sich Havar zum Kampf.

Freiheit vom Joch der Löwengestaltigen,

das war der Preis, um den sie stritten, einen Tag und eine Nacht hindurch,

bis die Sonne über dem Sieger aufging.

Tot lag der Kuninga auf verwüsteter Walstatt, zerbrochen war sein riesiges Reich.

Die Stämme des Nordens feierten Havar aus Ullramnars Sippe.

Freiheit machte er ihnen zum Geschenk.

Über dem löwengestaltigen Leib seines Gegners leistete der Held einen Schwur.

Nie wieder Knechtschaft zu dulden,

das erlegte er sich auf und seinen Kindern und Kindeskindern

und allen, die nach ihnen kamen.«

—aus der Havar-Saga,aufgezeichnet von der gelehrten Völkerkundlerin Dariaxena te Illacrion

1 hjaldingsche Bezeichnung für ›König‹

Was bisher geschah …

Erster Teil: Glut

Im Sommer 2114 imperialer Zeitrechnung lebt Vardur Arnarssun bei seinen Pflegeeltern am Angarfjord. Seine Mutter und Schwester erlagen einem Fieber, als er ein Kleinkind war, und sein Vater starb auf einer Seereise in den Süden Myranors. Salbjerg, seine Großmutter und Hersirin der Havar-Sippe, schickte ihn zu entfernten Verwandten.

Eines Tages taucht ein feindliches Drachenschiff im Angarfjord auf und überfällt die Siedlung. Wieder verliert Vardur seine Eltern. Er ist nun endgültig davon überzeugt, dass ein Fluch auf ihm liegt, der allen Unglück bringt, die ihm nahestehen, wurde Vardur doch bei seiner Geburt prophezeit, dass ihm ein schweres Los bestimmt ist.

Im Frühling 2119 IZ fährt er an Bord der Otta Thurehs gen Norden. Er lebt nun wieder bei seiner Großmutter in Havarskog, dem Stammsitz der Havar-Sippe. An den Küsten des Gletschermeeres treffen sie auf die geheimnisvolle Jurga Tjalfsduhter, die von ihrer Sippe, den Hagni, verbannt wurde. Obwohl Jurga abweisend ist, fühlt sich Vardur sofort zu ihr hingezogen.

Der Rückweg verläuft jedoch nicht so reibungslos wie die Hinfahrt: Jurga vereitelt eine Waljagd, indem sie beinahe das Schiff versenkt, das daraufhin von haushohen Wellen ergriffen wird. Die Gemeinschaft will sie deshalb zurücklassen, doch Vardur bürgt gegen ihren Willen für Jurga. Nach dem Angriff eines Nachtalben rettet Jurga einem verletzten Mitglied der Fahrtgemeinschaft das Leben, behauptet aber, dass dabei keine Magie im Spiel war. Manche glauben nun, sie sei eine Auserwählte des Meeresgottes Effar, doch Jurga besteht darauf, dass sie von einem anderen Wesen geleitet wird, das sie meist als ihren Schutzgeist bezeichnet. Sie kann selbst nicht sagen, um was es sich dabei genau handelt.

Gautaz Dagurssun, der Hersir der Aasa-Sippe, macht derweil auf dem Weg nach Süden bei der Hersirin Katla Oddasduhter Station, mit der er einen Sohn hat. Er erfährt dort, dass Katla Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg mit dem Imperium gehört hat.

Im weit entfernten Balan Mayek gibt sich zu dieser Zeit die Optimatin Pythatheriope te Aldangara als Mitglied des Hauses Charybalis aus. Sie will so für ihr eigenes Haus, die Aldangara, Informationen beschaffen, die sich im imperialen Senat gegen die Charybalis verwenden lassen. Schon lange ist der Kult der Daimonin Charypta und die wachsende Macht der Charybalis den anderen Häusern des Imperiums ein Dorn im Auge. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Charybalis Charypta wie eine Göttin verehren, was allerdings auch nicht verboten ist. Pythatheriope soll herausfinden, ob die Gerüchte wahr sind, dass die Charybalis noch dunklere Geheimnisse haben, vielleicht sogar nach der Macht im Imperium greifen wollen. Tatsächlich erhält sie einen Posten als Offizierin.

Zurück in Havarskog nimmt Vardur an einem großen Opferfest, dem Sumarblot teil, das zur Sommersonnenwende stattfindet. Er wähnt sich zunächst glücklich, weil Jurga ihn zum Fest begleitet, doch die Zeremonie gerät zur Katastrophe und die alte Orakelpriesterin prophezeit den Untergang Hjaldingards.

Salbjerg nimmt die Prophezeiung ernst und liest aus den kryptischen Worten eine Warnung vor einem Angriff des Imperiums heraus. Vardur gerät zunächst in Streit mit ihr, weil er aufgrund seines Fluchs keinen Ehrgeiz hat, seiner Großmutter im Amt des Hersirs zu folgen. Schließlich willigt er aber ein, sie zu Ullbjern Eirikssun zu begleiten, dem einflussreichen Hersir der Groa-Sippe. Dieser unterstellt den Imperialen schon lange, dem Bösen zu dienen und es auf Hjaldingard abgesehen zu haben. Bei den Groa trifft bald auch Katla ein, die ebenfalls von einer Prophezeiung beim Sumarblot zu Ullbjern getrieben wurde. Die drei Hersire entschließen sich, einen gemeinsamen Erkundungstrupp nach Trivina zu schicken, um herauszufinden, ob das Imperium tatsächlich einen Angriff plant. Vardur und Jurga melden sich freiwillig für diese Aufgabe und stechen mit einigen anderen in See.

In der Zwischenzeit erhält die Flotte in Balan Mayek den Befehl, gen Trivina auszulaufen. Ein junger Halbhjaldinger namens Xelias, der in Trivina lebt, merkt nun am eigenen Leib, dass die Stimmung gegen die ›Barbaren‹ immer feindseliger wird.

Vardur und seine Gefährten erfahren durch Xelias, der – wie sich bald herausstellt – sein Halbbruder ist, dass die imperiale Flotte bereits auf dem Weg sein soll.

Die Hjaldinger nehmen Xelias mit und wollen aus Trivina fliehen, werden jedoch von Kriegsschiffen des Imperiums gestellt. Es gelingt Vardur, Xelias und Jurga zwar, dem Feind zu entkommen, doch ihr Schiff sinkt. Jurga beschwört ihre Kameraden, durchzuhalten, und wendet sich an ihren Schutzgeist. Tatsächlich tauchen Delfine auf, die die Schiffbrüchigen retten.

Zweiter Teil: Sturm

Im Frühjahr 2120 Imperialer Zeitrechnung beginnen die Truppen des Imperiums mit ihrem Angriff und rücken sowohl mit einer Landstreitmacht, als auch mit einer Flotte auf Hjaldingard vor.

Die Hjaldinger stellen sich ihren Gegnern in der Wildnis ihrer Heimat und fügen ihnen immer wieder Verluste zu. Jurga erweist sich dabei als geschickte und glückliche Anführerin, die von vielen ihrer Landsleute respektiert wird. Vardur, der fürchtet, dass er der Frau, die er liebt, mit seinem Fluch schadet, lässt sie schließlich zurück und macht sich auf den Weg nach Hause.

Auch der Halbhjaldinger Xelias wird nun von vielen Hjaldingern akzeptiert, ausgerechnet Ullbjerns Tochter Firnvild Ullbjernsduhter, für die er insgeheim Gefühle hegt, bleibt aber abweisend und demütigt ihn gar.

Ullbjern bittet Gautaz, den Hersir der Aasa-Sippe, derweil, sich ihm anzuschließen und die imperialen Invasoren zu bekämpfen. Der stolze Gautaz lehnt ab, viele andere Sippen folgen jedoch Ullbjerns Ruf und nehmen unter seiner Führung den Kampf gegen das Imperium auf.

Jurga erhält zu dieser Zeit eine Vision von ihrem Schutzgeist und sieht den Untergang ihrer Heimat, einen Schiffsverband und ein weites Eismeer. Sie kommt zu der Überzeugung, dass sie ihr Volk über das Immermeer nach Osten führen soll – auch wenn nach dem Glauben der Hjaldinger der Ozean irgendwo dort endet und seine Wasser über den Rand ins Nichts stürzen. Dennoch berichtet sie ihren Landsleuten von der Vision.

Gautaz, der nach einem Überfall auf seine Sippe seine Meinung geändert hat, trifft nun gemeinsam mit Katla in der Siedlung von Vardurs Sippe ein.

Salbjerg will ihren Enkel zu dieser Zeit endlich als ihren Nachfolger vorschlagen, doch das Hjalding, die dazu einberufene Versammlung, wird gestört, als ein Mitglied der Havar-Sippe die hochschwangere Katla aus Rache für vergangene Taten verletzt. In einem rituellen Kampf entscheidet Katlas Stellvertreter Gautaz die Auseinandersetzung für sich. Die Nachfolge Salbjergs bleibt für den Moment noch offen.

Die Hjaldinger sind sich uneinig über Jurgas Vision. Jurga heilt erneut einen Verwundeten und ruft einen Sturmwind, um ein imperiales Fluggerät zu zerstören, das die Hjaldinger angreift. Damit beeindruckt sie ihre Landsleute noch mehr und schart weitere Anhänger um sich.

Pythatheriope bemüht sich derweil, ihrer Aufgabe als Spionin nachzugehen, auch wenn sie nun als Offizierin an der Unterwerfung der Hjaldinger beteiligt ist. Sie entgeht nur knapp der Entdeckung durch den einflussreichen und ambitionierten Strategu Aegobarenes ul Charybalis, den Befehlshaber ihrer Myriade. Dieser spricht ihr gegenüber jedoch eine Einladung zu einem geheimen Zirkel von Eingeweihten aus. Pythatheriope hofft, so endlich mehr über die Charybalis und ihre Pläne herauszufinden und dann etwas in der Hand zu haben, was die Aldangara gegen das Haus verwenden können.

In Hjaldingafjord sammeln sich unter Ullbjerns Führung immer mehr Sippen zum Widerstandskampf. Eine Abgesandte der Aldangara verspricht, dass ihr Haus Truppen schicken wird, um den Hjaldingern zu helfen. Sie warnt aber auch davor, dass der Thearch persönlich seine gefürchtete Tighrirgarde entsandt hat, um dafür zu sorgen, dass der Feldzug mit einem Erfolg endet.

Jurga findet in der Zwischenzeit ebenfalls immer mehr Anhänger, die vom Wirken ihres Schutzgeistes und ihrer Vision beeindruckt sind. Ullbjern bietet ihr an, mit ihm gemeinsam gegen die Imperialen vorzugehen und erst dann dem Rat des Schutzgeistes zu folgen, wenn ihr Kampf tatsächlich glücklos ausgeht. Jurga lehnt diesen Vorschlag klar ab, da sie aufgrund ihrer Vision davon überzeugt ist, dass ihr Widerstand gegen die Übermacht aussichtslos ist. Viele betrachten sie dafür als Feigling.

Die Hjaldinger bemannen Schiffe und ziehen der imperialen Flotte entgegen, doch die Auseinandersetzung endet in einer schmerzhaften Niederlage mit etlichen Toten, als ihre Gegner Charyptas daimonische Kreaturen rufen und auf ihre Feinde hetzen.

Nach der verlorenen Schlacht sind nun viele Sippen, darunter auch die von Vardur, Gautaz und Katla, bereit, sich Jurga anzuschließen und die Flucht über das Immermeer anzutreten, um das prophezeite neue Land zu finden. Ullbjern und andere Hjaldinger wollen sich dagegen den Imperialen stellen und ihre Heimat verteidigen.

Prolog

Hagnisdala, Brajan 2111 IZ

Jurga legte sich mit einer solchen Inbrunst in die Riemen, dass das kleine Boot auch mit einem Segel kaum rascher vorangekommen wäre. Hasgar ließ die engen Maschen des Fangnetzes durch seine Finger gleiten und prüfte die Senker, die das Netz in der vorgesehenen Tiefe halten würden. Er hatte das engmaschigste ausgewählt, das sie besaßen. Sie konnten es sich nicht leisten, Beute entkommen zu lassen, selbst im Sommer. Schon ein Korb voller Strohfische wäre heute ein großer Erfolg.

»Das Meer.« Er blickte zurück, über die weite Wasserfläche hinweg und bis zur Küste. Das Gletschermeer lag so glatt und reglos da wie ein Spiegel. Die grauen Wolkenfronten, die Glaiwa den Blick verwehrten, spiegelten sich darin wider. Feine weiße Nebelschwaden schwebten knapp über der Oberfläche. »Es schmeckt mir nicht. Die See ist zu ruhig. Effar hat sich abgewandt. Wäre er hier, würde er das Meer in Wallung bringen.«

Die Muskeln an Jurgas Armen spannten sich bei jedem neuen Zug an. Sie hielt die Augen auf das Boot gerichtet und sah nicht zurück nach Hagnisdala. Sie hatte gerade erst ihren dreizehnten Winter erlebt und war nicht so kräftig wie Hasgar. Er wusste es aber besser, als seiner Schwester das Rudern abzunehmen. Zorn und Frustration suchten nach einem Weg aus ihr heraus. Besser so, als es mit den Fäusten zu tun – oder sich mit Vater anzulegen. Jurgas Wangen röteten sich mit jedem Zug mehr.

Es war früh am Morgen und die Sippenrune, die ihre Stiefmutter Jurga auf den linken Oberarm aufgemalt hatte, war immer noch frisch. Dennoch hatte seine Schwester sofort ihr Wams übergezogen, auch wenn sie so Gefahr lief, dass das Hautbild verwischte. Hasgar verzichtete auf ein Obergewand. Selbst so weit im Norden war es im Frühsommer warm genug.

Über der flachen Bucht zu Füßen der Hardun stiegen feine Rauchsäulen aus den Hütten von Hagnisdala empor. Dahinter, umgeben von Nebel und Wolken, ragten schroffe Gebirgszüge in den Himmel. Ein Anblick, der ihm so vertraut war wie der seines Handrückens. Die Hardun schützten die Odalwik vor den harschen Winden des Eiwara, des ewigen und unendlichen Meeres auf der anderen Seite der Halbinsel.

»Hagnisdala sieht vom Wasser aus immer so klein aus«, murmelte Hasgar. »Es erinnert mich daran, wie groß die Welt wirklich ist und wie wenig ich schon davon gesehen habe. Ergeht es dir genauso?«

Jurga fuhr mit ihren gleichmäßigen Ruderbewegungen fort.

»Hab ein Auge auf die Gletschermöwen, wenn wir später das Fangnetz einholen.« Er wies zum Himmel. »Erinnerst du dich noch, als mir letzten Sommer eine Möwe diesen Dotterbutt aus dem Netz stahl – den, der so lang war wie mein Arm?«

Endlich reagierte sie. »Er wächst mit jeder Erzählung. Das nächste Mal ist der Dotterbutt so lang wie dein Bein. Danach dann so groß wie das Boot.«

Er grinste. »Da du mich nicht verraten wirst, kann mich auch niemand der Lüge bezichtigen.«

Jurga hatte den ganzen Morgen kaum drei Worte über die Lippen bekommen. Das war nicht ungewöhnlich, aber er hatte gehofft, dass es half, wenn sie endlich allein waren und Hagnisdala und damit ihr Vater Tjalf und ihre Stiefmutter Hjalda nur noch fingerkuppengroße Punkte am Horizont waren.

»Nur drei Sommer Geduld und sie stechen dir auch die Sippenrune.« Er wies auf ihren Arm. »Dann musst du nicht mehr jeden Morgen bei Hjalda vorsprechen.«

»Ich hab nichts gegen sie«, presste Jurga hervor, ohne dem Blick ihres älteren Bruders zu begegnen. »Ganz egal, was Vater behauptet.«

Hasgar räusperte sich. Hätte sie all das doch am Ufer zurückgelassen. »Halt dich etwas weiter südlich. Letztens habe ich bei Alfarz’ Insel zwei volle Netze aus dem Wasser gezogen, wir sollten dort unser Glück versuchen.« Er sah zurück. »Wenn uns die Möwen nicht bestehlen.«

Noch waren die ebenso frechen wie flinken Räuber nicht auf die Kinder des Hersirs aufmerksam geworden. Die Gletschermöwen blieben an den Klippen. Dabei waren die pfeilschnellen Vögel doch eigentlich gerissen genug, um zu wissen, dass leichte Beute heraussprang, wenn eines der kleinen Boote von Hagnisdala auf das Meer hinausfuhr. Niemand konnte es ihnen verdenken – so hoch im Norden war jeder darauf angewiesen, dem kargen Land so viel wie nur möglich an Essbarem abzutrotzen.

Er seufzte laut. »Wünschst du dir nicht manchmal auch, Vater hätte die Sippe nicht hierhin zurückgeführt, als wir Eyjattur verlassen mussten?«

»Wir waren zu klein – selbst du. Behaupte nicht, du erinnerst dich noch daran.«

»Ein wenig«, beharrte er.

»Das hier ist unser Land«, presste Jurga hervor. »Es war nur richtig, dass wir hierher zurückkehren. Hier sind unsere Wurzeln, hier liegen unsere Ahnen begraben. Keine Sippe sollte sich zu weit von den Gebeinen ihrer Vorfahren entfernen – ist es nicht das, was Vater immer sagt?«

Hagnisdala war nach Hagni benannt, auf den sich auch ihre Sippe als Stammvater berief; ihr legendärer Ahn, der für seine Beharrlichkeit bekannt war und sich standfest geweigert hatte, seine Heimat zu verlassen.

»Zumindest müssen wir uns keiner Riesen erwehren.« Hasgar beendete die Prüfung des Netzes. »Sicher erinnern sie sich noch an die Abreibungen, die Hagni ihnen verpasst hat, und sie ziehen es vor, in ihren Höhlen zu bleiben. Trotzdem wünschte ich mir manchmal, im Sommer ein paar mehr Blumen blühen zu sehen und nicht Stunden damit zu verbringen, einige abgemagerte Fische zur Bereicherung unseres Speiseplans zusammenzutreiben. Schon etwas weiter südlich sind die Winter milder, die Wiesen grüner und das Wild zahlreicher.«

»So solltest du nicht reden, wenn du jemals in Vaters Fußstapfen treten willst.«

Er grinste flüchtig. »Ich denke nicht, dass das Hersirsamt in meiner Zukunft liegt.« Er musterte seine jüngere Schwester aufmerksam. »Jemand, der für seine Dickköpfigkeit und Sturheit bekannt ist, so wie Hagni und Vater, den wählen sie in unserer Sippe immer.«

»Das sind gute Nachrichten für Tola«, murmelte Jurga.

Schmunzelnd ließ er den Blick über die Wasseroberfläche wandern, den weiten grauen Spiegel. Sie kamen gut voran. Das Meer fiel kurz hinter der Bucht stark ab und das graublaue Wasser wurde von tiefdunklem abgelöst. Ein Stück entfernt ragte ein zerklüfteter Holm hervor. »Wir sind da, leg die Riemen beiseite. Kommen wir der Insel nicht zu nahe. Eine Nikwis lebt da, vergiss das nicht. Sie wird zornig und die Fische vertreiben, wenn wir sie stören.«

Jurga verharrte. Ihre dunkelgrünen Augen wanderten, wie so oft, zum Horizont – wie immer, wenn sie auf dem Meer waren, so als sähe sie dort etwas, was ihm verborgen blieb. In ihrem Gesicht regte sich kein Muskel.

Er kannte diesen Ausdruck nur zu gut. Ihre Gedanken waren woanders und sie vergaß alles um sich herum – so als lauschte sie einem fernen Lied, das über das Meer heran wehte. Früher hatte er sie bisweilen damit aufgezogen. Inzwischen wusste er, dass es mehr war als nur eine wunderliche Eigenart oder eine kindliche Marotte.

Doch es war besser, sie nicht darauf anzusprechen, selbst wenn ihr Vater sie hier draußen nicht hörte. Das Thema war zu brenzlig und führte nicht selten zu Geschrei und fliegenden Fäusten. Eine Ablenkung musste her.

»Auf mit dir!« Er gab ihr einen ungeduldigen Wink. »Hilf mir mit dem Netz, ehe die Fische zu dem Schluss kommen, dass sie heute nicht mehr gefangen werden und sich ein anderes Boot suchen.«

Sie reagierte nicht, runzelte lediglich die Stirn. Sie strich sich über die Arme, so als fröstelte sie.

»Jurga?«, hakte er nach.

Ihre Augen huschten unruhig umher.

Hasgar folgte ihrem Blick, hinaus auf die weite dunkelgraue Wasserfläche, in der sich die Wolkenmassen widerspiegelten. Es war düster geworden, und das ungewöhnlich rasch. Doch selbst wenn nun Regen einsetzte oder ein Sturm aufkam, war die rettende Bucht von Hagnisdala nicht fern.

Allerdings lag auch der feine grauweiße Schleier immer noch über dem spiegelnden Meer – einer, der sich sonst nur im Frühjahr oder Herbst zeigte. Die Nebelschwaden regten sich kaum, kein Lüftchen versetzte sie in Wallung.

»Kehren wir besser um«, murmelte Jurga.

»Warum das?«

»Nur so ein Gefühl«, raunte sie, kaum noch zu hören.

Jeder andere würde sie ermahnen, ihre Warnung als unsinnig abtun – das Geschwätz eines verängstigten Kindes. Er wusste es nach all den Jahren besser. »Ist es … Ist er es? Spricht er mit dir?«

»So funktioniert es nicht, und das weißt du.« Jurga kniff die Augen zusammen und spähte hinaus aufs Gletschermeer.

Hasgar blickte sich um. »Das Meer ist doch ruhig. Denk daran, was Vater gesagt hat. Kehren wir besser nicht mit leeren Händen zurück.«

Seine Schwester riss sich von dem Anblick los und schüttelte den Kopf, so als vertriebe sie eine unangenehme Erinnerung oder einen störenden Gedanken. »Verzeih mir.«

Sie erhoben sich. Das Boot schwankte kaum unter ihren Füßen, als sie behutsam und hundertmal eingespielt das Netz entfalteten. Dabei achteten sie sorgsam darauf, dass sich die Senker nicht verwickelten.

»Willst du es werfen?«, bot Hasgar an.

Sie sah auf. »Du fragst doch sonst nicht. Warum heute?«

Er grinste schief. »Vielleicht habe ich ja …«

Ihre Augen weiteten sich. Sie hob abrupt die Hand. »Vorsicht, da …«

Ein heftiger Stoß erschütterte das Fischerboot. Hasgar wurde von den Beinen gerissen und landete kopfüber im Netz. »Was, bei Rondris …«

Jurga rappelte sich wieder auf. Alarmiert hob sie den Kopf, spähte über den Rand des Bootes hinweg. Was auch immer sie sah, Entsetzen lag in ihren Augen. »Hasgar …«

Er sah rundum nur Bordwände und über sich den stumpfgrauen Wolkenhimmel. Die Panik im Gesicht seiner Schwester ließ ihm einen kalten Schauder über den Rücken laufen. Verzweifelt kämpfte er gegen das Netz an. »Jurga! Hilf mir, verdammt!«

Ein weiterer Stoß ging durch das Boot und warf Jurga zu Boden. Dieses Mal neigte es sich bedenklich zur Seite und ein Schwall frostig-kalten Wassers schoss herein. Nur für den Bruchteil eines Augenblicks erhaschte Hasgar einen Blick auf einen dunklen, feuchten Leib, ehe sich die Bootswand wieder hob.

»Hilf mir!« Hasgar nestelte das Messer unter der Tunika hervor, das er wie alle Hjaldinger an einem Lederriemen um den Hals trug. Die Panik schnürte seine Brust zusammen. Was ging hier vor, was attackierte sie?

Stöhnend griff Jurga nach der Platzwunde an ihrem Hinterkopf.

Hasgar schob das Messer zwischen die Maschen.

Ein weiterer Stoß traf ihr Boot und ließ es ächzen.

Hastig durchtrennte Hasgar das einengende Netz und schob es beiseite. Noch im Aufrichten griff er nach der kurzen Harpune, die an der Bordwand lag. »War es ein Streifenhai? Hast du ihn gesehen, Jurga?« Er zog sich empor. »Bist du schwer verletzt?«

»Es geht schon«, presste sie benommen hervor und tastete nach ihrem Hinterkopf.

»Was war das?« Sein Blick flog über die Wasseroberfläche, auf der Suche nach einer Rückenfinne. Er umklammerte den Schaft der Harpune. Sie war dazu gedacht, größere Fisch zu erlegen, die sich im Netz verfingen, aber er machte sich ohnehin nichts vor: Töten konnte er einen ausgewachsenen Streifenhai oder gar einen Brackhai damit nicht, auch wenn sie eine willkommene Beute wären. Er konnte ihn allerdings davon überzeugen, sie in Frieden zu lassen.

»Es ist schnell«, warnte Jurga, immer noch benommen.

»Bleib unten!« Er wog die Waffe in der Hand. Nie zuvor hatte er sich gegen einen Hai wehren müssen, doch das war nicht der Moment, um zu zögern. Ich bin der Erwachsene hier und ich werde meine Schwester beschützen!

Seine Augen huschten umher, darum bemüht, den feinen Nebel über der still und reglos daliegenden See zu durchdringen. Keine Bewegung war zu sehen, kein Laut drang an seine Ohren, nur das heftige Pochen seines Herzens. Er hat aufgegeben. Hat es zwei Mal versucht und erkannt, dass wir keine Beute sind. »Nimm die Riemen!«, bat er. »Wir kehren um, das Netz ist ohnehin …«

»Hasgar!« Sie wies auf das Meer hinaus.

Die Oberfläche kräuselte sich dort, gerade einmal fünfzig Schritt entfernt. Der feine Nebel teilte sich, ein dunkler Schatten schob die Schwaden vor sich her. Er näherte sich rasch.

»Ich sehe keine Rückenflosse.« Er stemmte den rechten Fuß gegen die Bordwand hinter sich, wog die Harpune in der Hand. »Wenn er heran ist, werfe ich. Bleib unten, falls das Boot wieder schwankt!«

Der Schatten kam stetig näher, ein schlanker Umriss, der sich ihnen mit sich seltsam windenden Bewegungen näherte. Er zog eine Welle hinter sich her, die sich ebenso schlängelte wie der dunkle Leib.

Nur noch vierzig Schritt.

Er war viel zu groß für einen Hai. Der Angreifer bewegte sich schnell und nahm immer mehr Fahrt auf.

Hasgar hob die Harpune. Dass sie lediglich in einem winzigen Boot standen, konnte er nicht ändern. Er konnte nur versuchen, seinen zitternden Arm zu beruhigen und im richtigen Moment zu reagieren.

Zwanzig Schritt.

»Jurga, es ist wichtig, dass du mir zuhörst«, stieß er hervor. »Was auch passiert – rudere sofort zurück. Auf gar keinen Fall darfst du mich …«

In diesem Moment wandte sich der Angreifer ab, sank tiefer und schlug einen Haken – schneller und gewandter als jeder Hai. Lediglich ein sanftes Schaukeln ging durch ihr Boot, als die Welle sie erreichte.

Hasgar sah sich alarmiert um, die Harpune immer noch erhoben. »Siehst du ihn? Ist er getaucht?«

Jurga rappelte sich auf. Sie packte ihn am Arm. »Schau!«

Er wandte sich in die gewiesene Richtung.

Etwas Großes brach langsam durch die Wasseroberfläche, vielleicht einhundert Schritt entfernt. Eine Fontäne stieß zischend in die Luft empor, etliche Schritt hoch, aber schräg, zur Seite. Das fahle Zwielicht des bewölkten Tags gleißte auf feuchter grauer Haut und einem eckigen, langgezogenen Kopf.

Hasgar hatte schon einen Svartspiki gesehen, doch noch nie einen solchen Wal. Dennoch war eindeutig, womit sie es zu tun hatten. »Ein Antjahwalaz! So weit weg vom Eiwara?«

Jurga ließ den Blick nicht von dem Pottwal. Sie starrte ihn aus aufgerissenen Augen an.

»Siehst du den Kopf?«, fuhr er aufgeregt fort. »Der misst sicher zwei Mannslängen. Bestimmt ein Bulle, zwölf, vielleicht dreizehn Schritt lang!« Er suchte nach den Riemen. »Weißt du, was das bedeutet?«

Jurga reagierte nicht.

Der graue Riese näherte sich langsam, immer wieder tauchte sein klobiger viereckiger Kopf auf, immer wieder stieg sein Blas prustend in die Höhe. Seine Fluke, zwei große granitgraue Dreiecke, erhob sich träge aus dem Meer.

»Hasgar«, raunte seine Schwester. »Siehst du das?«

»Natürlich, er ist ja nicht zu übersehen.« Er legte hastig das zerschnittene Netz beiseite. »Ein Geschenk Effars! Vier oder fünf Boote werden reichen.«

»Siehst du das?«, hauchte Jurga. »Hasgar …«

Der Wal ließ sich nicht von ihnen beirren. Er setzte seinen Weg fort und würde das Fischerboot bald passieren.

Hasgar verharrte und musterte seine Schwester überrascht. Sie hatte die Augen weit aufgerissen. Tränen glänzten auf ihren Wangen. »War der Schlag auf den Kopf so heftig?« Er stieß sie an. »Setz dich, ehe du über Bord gehst! Ich rudere uns zurück. Der bringt die ganze Sippe durch den Winter.«

Der Pottwal ließ sich ein Stück weit unter Wasser sinken. Der Bulle war kräftig, bestimmt ausdauernd genug, um viele Harpunen zu ertragen und fünf oder sechs Boote zu schleppen, ehe er müde wurde.

Hasgar war noch nie bei der Waljagd dabei gewesen, es geschah nicht oft und er hatte erst vor Kurzem die Sippenrune erhalten. Vielleicht gestattete Vater es ihm heute. Nein – ganz sicher gestattet er es, wenn ich ihm die frohe Botschaft überbringe.

Abrupt wandte sich Jurga ihm zu, so als wäre ihre Benommenheit verflogen. Ihre Augen zogen sich zusammen. »Was redest du da?«

»Wir hofften auf ein Netz Fische und stattdessen macht uns das Meer dieses Geschenk! Im Dorf werden sie uns voller Dankbarkeit küssen.« Er nahm auf der Ruderbank Platz und legte sich die Riemen zurecht.

»Warte!« Jurga war mit einem Satz bei ihm. Das Boot schwankte, als sie ihm überraschend kraftvoll eines der Ruder entriss. »Das kannst du nicht tun! Das darfst du nicht!«

»Wovon redest du?« Er blickte verärgert zu ihr auf. »Wir verschwenden kostbare Zeit!«

Sie trat zurück, das Ruder fest an sich gepresst. »Schwör mir, dass du kein Wort über den Wal verlierst!«

»Du hast dir den Kopf heftiger gestoßen, als ich dachte.« Hasgar rappelte sich auf und griff nach dem Riemen. »Gib ihn mir!«

Jurga ließ nicht davon ab. Ihr Gesicht rötete sich. »Schwör es mir!«

Er riss den Riemen an sich. »Setz dich!«

Mit einem heiseren Schrei warf sie sich auf ihn und packte erneut das Ruder.

»Was ist nur in dich gefahren?« Er rang mit ihr, doch seine Schwester brachte nun eine überraschende Kraft auf. Ihr Gesicht rötete sich, sie knirschte mit den Zähnen und ihre Knöchel, die das Holz des Ruders umklammerten, wurden weiß.

Der Antjahwalaz ließ sich träge in die Tiefe sinken.

Das Boot schwankte heftiger, als die beiden ältesten Kinder Tjalfs verbissen miteinander rangen.

Mit enormer Anstrengung entriss Hasgar seiner Schwester den Riemen. »Reiß dich zusammen! Wir kentern!«

Sie stieß einen Schrei aus und sprang erneut vor.

»Schluss!« Hasgar versetzte Jurga einen Hieb mit der flachen Seite des Ruders und schickte sie zu Boden.

Sie sah zu ihm auf, ihr Gesicht vor Wut und Zorn verzogen. Sie griff nach der Bordwand.

»Bleib liegen!«, befahl er und hob drohend das Ruder. »Ich mag es nicht, den Erwachsenen herauszukehren, aber denk daran, dass ich schon die Sippenrune habe!«

Jurga zog sich empor. Ein dünner Faden Blut rann von ihrer Stirn herab. Sie presste scheinbar unzusammenhängende Worte hervor.

»Was tust du da?« Erneut hob Hasgar seine provisorische Waffe. »Wenn es sein muss, trage ich dich zurück! Willst du das?« Sie rappelte sich auf. Er hob den Riemen höher. »Jurga …«

Der Pottwal durchbrach direkt neben ihnen wieder die Wasseroberfläche, ein grauer Riese, der sie beide überragte. Prustend schoss sein Blas empor und ging auf sie nieder.

Erschrocken sank Hasgar auf die Knie. Die Welle erfasste das Boot, es neigte sich zur Seite.

Er sah zu Jurga auf, die einfach nur dastand und den Wal anstarrte. Der Antjahwalaz ließ sich langsam wieder unter Wasser sinken. Sie streckte die Hand aus, reckte sich ihm entgegen, so weit sie konnte, doch ihre Fingerspitzen erreichten ihn nicht. Ein verzückter Ausdruck lag in Jurgas Gesicht, eine Träne rann über ihre Wange. Der Meeresriese glitt an ihnen vorbei.

»Jurga, was ist nur in dich gefahren?«

Ein Schatten fiel auf sie.

»Vorsicht!«, stieß er hervor.

Die Fluke des Wals kam herab und traf krachend auf ihre Nussschale.

Hasgar wurde emporgeschleudert und landete im Wasser. Aufschlag und Kälte betäubten seinen Leib. Es wurde still und dunkel um ihn herum, tausende Luftblasen umtanzten ihn.

Hastig orientierte er sich, fand Licht, zwang sich dazu, seine tauben Glieder zu bewegen und Schwimmzüge zu machen.

Ein graues Ungetüm zog an ihm vorbei. Außer Reichweite, aber mächtig genug, dass ihn der Sog erfasste und mitzureißen drohte. Ein langgezogenes Knirschen erfüllte seine Ohren, vibrierte in seinen Knochen und betäubte seinen Schädel. Er schrie und stieß einen Schwall von Luftblasen hervor.

Irgendwie gelang es ihm, seine Arme und Beine dazu zu bringen, sich zu regen, und strebte hastig dem Licht entgegen. Prustend durchbrach er die Wasseroberfläche, kehrte zurück ins graue Zwielicht und sog die kalte Luft in seine Lungen.

Das Boot trieb mit dem Kiel nach oben. Hasgar hielt darauf zu. Wassertretend, eine Hand an den rauen Planken des Fischerbootes, sah er sich um.

Der feine Nebel hatte sich verflüchtigt und ein leichter Wind war aufgekommen, der die Oberfläche des Meeres kräuselte. Am Horizont ragten die Berge empor, die ihm den Weg zurück nach Hause wiesen.

»Jurga?« Er hustete, seine Augen glitten suchend umher.

Über ihm kreisten Gletschermöwen und verspotteten ihn höhnisch. Ein Stück entfernt trieb eines ihrer Ruder.

Sein Herz setzte einen Schlag aus. Wie lange ist sie schon unten? Ich habe sie verletzt! Hat sie das Bewusstsein verloren? Er holte tief Luft und ließ sich wieder in das kalte dunkle Wasser sinken. Blinzelnd blickte er umher. Gib sie mir zurück, Effar! Sie ist keine Opfergabe!

Da war nichts. Keine Bewegung, so weit seine Augen die düstere Welt unter der Meeresoberfläche durchdringen konnten.

Er durchbrach wieder die Oberfläche. »Jurga!«, schrie er heiser über das Wasser hinweg. »Jurga!«

Nur das Kreischen der Möwen antwortete ihm.

***

Hasgar eilte auf das Langhaus seiner Familie zu, Jurgas leblosen nassen Leib in den Armen. Grani und Tola blickten auf. Sie spielten mit den Holzfiguren, die er ihnen letzten Winter geschnitzt hatte: ein Wolf, ein Bär, ein Blutbüffel.

Die Zwillinge verstanden zunächst nicht und starrten ihre älteren Geschwister überrascht an. Dann trat Schrecken in ihre Gesichter.

»Hol Vater, Tola!«, befahl Hasgar seiner kleinen Schwester keuchend. Die Kälte hielt ihn nun fest im Griff. Seine Lungen schmerzten. »Grani, lauf zum Heiler! So schnell du kannst!«

Der Knabe starrte ihn aus großen Augen an. »Was ist mit …«

»Sofort!«

Er gehorchte und rannte los, so rasch ihn seine kurzen Beine nur trugen. Tola eilte bereits mit wippenden Zöpfen davon.

Hasgar duckte sich unter dem niedrigen Türrahmen und trat ein. Es roch nach Rauch, Wärme schlug ihm entgegen. »Schnell!«, rief er. »Sie braucht Hilfe! Jurga braucht Hilfe!«

Die in der weiten Halle arbeitenden Frauen und Männer sahen auf. Hjalda eilte sofort auf sie zu. Ihre Augen weiteten sich, als sie Jurgas blasses Gesicht sah. Rasch wischte sie sich ihre Hände am Rock ab und legte prüfend eine auf die Stirn ihrer Stieftochter. »Leg sie hier ans Feuer! Was ist passiert?«

Er schüttelte den Kopf. »Etwas griff das Boot an – ein Hai, denke ich. Sie fiel ins Wasser …«

Man räumte ihnen einen Platz an der Feuerstelle frei. Jemand warf ein Fell auf den Boden und Hasgar legte seine Schwester behutsam darauf ab.

»Rasch!«, befahl Hjalda. »Helft mir, ihr die nasse Kleidung auszuziehen. Holt Decken aus meiner Kammer!«

Er trat einen Schritt zurück und atmete schwer, seine Glieder schmerzten, salziges Wasser tropfte von seinem Haar herab und über sein Gesicht. Dennoch gab es nur einen Gedanken in seinem Kopf: Wenn sie stirbt, ist es meine Schuld.

Hjalda sah kurz auf. »Du wirst dir den Tod holen! Geh und beschaff dir etwas Warmes zum Anziehen.«

Er starrte seine Schwester an. Jurga wand sich, als Hjalda und die Übrigen ihr Beinlinge und Wams auszogen. Ihre Augen waren geschlossen, die Augäpfel dahinter zuckten und rollten umher. Sie presste halblaute Worte hervor, heiser und kehlig. Ihre blasse Haut glänzte vor Schweiß.

»Fieber«, stellte ihre Stiefmutter überrascht fest. »Sie glüht geradezu. Am Morgen ging es ihr doch gut.« Sie prüfte ihren Hinterkopf mit der Hand. Blut klebte an ihren Fingern. »Sie ist verletzt.«

Hasgar nickte nur stumm.

Man trug Wolldecken herbei und Hjalda bemühte sich, Jurga zuzudecken, auch wenn sich das Mädchen immer noch wand, die Decken von sich schob und die helfenden Hände sofort wieder wegschlug. Jemand legte Hasgar eine Decke über die Schultern. Er ließ den Blick nicht von seiner Schwester.

»Was ist passiert?« Tjalf trat in die Halle ein und eilte zur Feuerstelle. Tiefe Furchen zogen sich durch das wettergegerbte Gesicht des Hersirs.

Tola lugte zwischen den Umstehenden hervor, sie starrte ihre ältere Schwester aus weit aufgerissenen Augen an.

Hasgar rang mit sich. »Ein Hai hat unser Boot angegriffen – ein großer Brackhai, denke ich. Sie hat sich den Kopf angestoßen und stürzte ins Wasser.« Das ist nicht gelogen.

Der Hersir schob die Versammelten beiseite und trat nach vorne. »Was sagt sie da?«

Hjalda beugte sich über Jurga. Sie erstarrte, runzelte die Stirn. Dann winkte sie ab. »Sie ist verwirrt, sicher vom Schlag auf den Kopf. Es ist nichts.«

Tjalf kniete neben seiner Frau nieder. Kopfschüttelnd musterte er seine älteste Tochter. »Du solltest auf sie aufpassen, Hasgar«, knurrte der Hersir.

»Es geschah alles so schnell«, murmelte er.

Tjalf zog behutsam Jurgas Decke wieder höher.

»Nicht!« Sie riss die Augen auf. Ihre Pupillen waren stark geweitet und glänzten im Licht des Feuers. »Nicht! Die Insel …« Sie keuchte. »Siehst du die Insel? Der Tempel …«

Ihr Vater fasste sie fest bei den Schultern. »Jurga, hörst du mich?«

»Es brennt … frisst mich auf!« Sie wand sich unter seinem Griff, trat und schlug um sich. »Nicht! Wir müssen weg! Weg von hier! Sie kommen!«

»Jurga!«

»… musst mir zuhören … zwei Dinge habe ich noch zu tun …«

Tjalf schüttelte sie. »Kind! Beruhige dich!«

»Nein! Was du nicht verstehst, wird sie durchschauen«, stieß sie gehetzt hervor. Dann erstarrte Jurga und blickte zu ihrem Vater auf. »Schick mich … zurück«, raunte sie, »zu … ihm. Unter das Meer.« Sie sank wieder auf ihr Lager, krampfhaft atmend. Ihr Gesicht war gerötet, ihre Lippen blau, ihr ganzer Leib bebte und zuckte. Tjalf hatte Mühe, sie festzuhalten.

»Drawina steh uns bei«, stieß der Hersir hervor. Er schloss kurz die Augen und senkte den Kopf. Er sah aus wie ein Mann, der sich lange Zeit vor einer schweren, nicht rückgängig zu machenden Entscheidung gedrückt hatte und dem nun die Hände gebunden waren.

Tjalf erhob sich. Seine Stimme klang rau. »Es reicht.« Er wies auf seine Tochter. »Achte darauf, dass sie sich nicht verletzt, Hjalda. Lass sie nicht aus den Augen, bis der Heiler hier ist.«

Hasgar schloss zu seinem Vater auf, der mit entschlossenen Schritten zur Tür marschierte. »Was geschieht nun? Was hast du vor?«

»Was ich schon vor zwei Wintern hätte tun sollen«, raunte Tjalf. Er wandte sich um und sah zu seiner Tochter. Schmerz und Verzweiflung standen in seinen Augen. »Ich rufe den Saithaman, damit er den bösen Geist, der deine Schwester plagt, endlich austreibt.«

»Warte!« Hasgar griff nach seinem Arm. »Das kannst du nicht tun!«

Tjalfs Gesicht verfinsterte sich. »Warum nicht? Weiß mein Sohn, dessen Sippenrune noch frisch ist, besser als sein Hersir und Vater, wie ich mich um meine Tochter und um meine Sippe zu kümmern habe?«

Hasgar zog unsicher seine Hand zurück. »Sie wird es nicht wollen. Sie sagt doch immer, dass es kein böser Geist ist. Wenn wir abwarten, bis sie …«

»Genau das redet ein bösartiger Geist denen ein, die er in Besitz genommen hat!«, fuhr sein Vater auf. »Du hast sie gehört – er ist es, der ihr ständig diese Flausen eingibt! All das Gerede vom Meer! Er lockt sie zu sich! Ich will meine Tochter zurück.«

»Was, wenn es schiefläuft? Eine Austreibung kann sehr gefährlich sein.«

»Glaubst du, ich weiß das nicht? Was denkst du, warum ich so lange gezögert habe?« Tjalf atmete tief durch. »Wenn du erst Hersir bist, wirst du verstehen. Jetzt hol dir etwas Trockenes zum Anziehen, oder ich verliere dich auch noch an ein Fieber.« Er wandte sich ab und trat ins Freie.

Hasgar sah zu Jurga. Hjalda hielt sie fest und bemühte sich, sie durch leises Zureden zu beruhigen.

Seine Schwester war viel zu lange unter Wasser gewesen. Es war ein Wunder, dass sie noch lebte. Jemand hatte sie geschützt, und ein böser Geist tat so etwas nicht. Etwas anderes war hier am Werk.

»Nicht!« Jurga wand sich auf dem Lager am Feuer. »Sieh nicht hin!«

Er senkte den Kopf und wandte sich ab.

Kapitel 1

Hjaldingafjord, Brajan 2120 IZ

Hjaldingafjord, das Herz Hjaldingards, der Ort, an dem Yoldra einst die stolzen Sippen der Hjaldinger einte, stand in Flammen.

Xelias taumelte durch den Qualm, den Gestank von Brand und verkohltem Fleisch in der Nase. Die Schwaden schmeckten nach Tod. Die Hitze brachte seine Haut zum Glühen und raubte ihm den Atem.

Glaiwa hatte sich bereits mit Grausen abgewandt und war hinter den Horizont geflohen. Sie wollte nicht mit ansehen, was sich nun in Hjaldingafjord abspielte.

Faravid packte Xelias am Arm. »Weiter! Wir dürfen hier nicht verharren!« Er zog ihn hastig mit sich in eine Gasse zwischen zwei Langhäusern. »Still!«

Eine Gruppe Myrmidonen mit im Feuerschein glänzendem Rüstzeug eilte vorbei. Ihre Rüstungen waren bunt bemalt, das Rot darauf war aber keine Farbe.

Xelias wagte es nicht, sich zu regen oder auch nur zu atmen. Er klammerte sich an seine schlichte Axt wie ein Ertrinkender an ein Stück Holz. Seine Muskeln schrien vor Schmerz, seine Lungen protestierten. Sein Fuß – dort, wo ihn der Armbrustbolzen durchschlagen hatte – pochte in Agonie.

Die Myrmidonen liefen weiter. Das Scheppern ihrer Rüstungen verhallte.

Faravid atmete auf und senkte seine eigene Axt. »Los!«

Xelias humpelte hinter ihm her. »Wohin denn?«

»Sicherlich sammeln sich alle, die noch aufrecht stehen, bei Ullbjerns Halle, um die Angreifer zurückzuschlagen.« Der junge Skalde lugte um die nächste Ecke. »Sie haben uns auseinandergetrieben wie Wölfe die Schafsherde. Hoffen wir, dass Ullbjern besonnen genug war, sich zurückzuziehen. Seine Halle lässt sich besser verteidigen als die verwinkelten Gassen.«

Sie wagten es, den Schutz des Langhauses zu verlassen, und eilten weiter – so rasch, wie es Xelias schmerzender Fuß und die Beinverletzung, die Faravid durch die Kentema eines Myrmidonen erlitten hatte, nur erlaubten.

Eine brennende Kugel, einem stürzenden Stern gleich, fiel brüllend vom Himmel, erhellte für einen Moment die umstehenden Häuser und schlug ein Stück weit vor ihnen ein. Schreie hallten heran, neue Feuerbrände loderten gierig fauchend empor.

Xelias verharrte, blickte sich um. »Gibt es noch einen anderen Weg?«

Faravid wies in eine schmale Gasse. »Dort entlang …«

Ein dunkler Schatten mit Flügeln, einem gewaltigen Vogel gleich, fiel auf sie. Xelias packte seinen Begleiter und zog ihn mit sich, in den Schutz einer Hauswand. Der Schatten flog brummend über sie hinweg.

Xelias stützte sich schwer atmend an der Wand ab. »Wo sind die Aldangara?« Er lugte die Straße hinab. Leblose Körper lagen darauf verstreut – nur bei einigen davon handelte es sich um totes Vieh. Die Leichname waren verkohlt und kaum wiederzuerkennen.

»Die Imperja?« Faravids Hand zitterte, als er nach der Wunde an seinem Bein tastete. Immer noch rann Blut an seiner Wade herab.

»Antimelia hat uns Truppen ihres Hauses versprochen. Wir brauchen ihre Soldaten.«

»Wenn du mich fragst, war das ein Trick – eine Täuschung, damit wir uns sammeln und hier auf die Imperja warten. Bestimmt wollte sie sogar verhindern, dass zu viele Leute Jurga über das Meer folgen.« Er winke Xelias. »Gehen wir.«

Sie hasteten zwischen den Langhäusern hindurch. Weiter vorne erhob sich auf einem Hügel im Zentrum von Hjaldingafjord die Halle von Ullbjern Eirikssun. Doch das gewaltige Reetdach stand nun in hellen Flammen, nur die gekreuzten goldenen Drachengiebel ragten noch daraus hervor und trotzten dem Feuer.

Xelias trat hinter Faravid ins Freie.

»Firns Speer!«, stieß der Skalde aus.

Tote und Verletzte säumten die Wege, die zur Halle führten. Myrmidonen in glänzenden Panzern, über denen kleine Wimpel emporragten, bedrängten die Verteidiger. Immer wieder fiel ein Imperi, gefällt von einer mächtigen hjaldingschen Axt, doch es trat sofort ein anderer in die Bresche, die Kentema in beiden Händen.

Inmitten der verbissen streitenden Hjaldinger stand Ullbjern Eirikssun, Hersir der Groa-Sippe, die mit goldenen Knotenbändern versehenen hohen Tore seiner Halle im Rücken. Er schwang Laujakweldiz mit einer solchen Leichtigkeit, als hätte die Schlacht gerade erst begonnen und würde nicht bereits seit einem halben Tag toben. »Rondris’ Kralle!« Die Flammen glänzten auf den mit silbernen Bändern verzierten Klingen der Doppelaxt und auf den goldenen Armreifen an seinen mit unzähligen Runen übersäten Armen, von denen jede von einem bezwungenen Gegner oder einer erfolgreichen Seefahrt kündete. Wann immer Laujakweldizherabfuhr, spaltete sie einen Schädel, trennte einen Arm vom Leib eines Myrmidonen oder verpasste einem bemalten Insektenpanzer eine furchtbare Delle. Und jedes Mal gellte Ullbjerns Schlachtruf über die Kämpfenden hinweg: »Groa!«

Xelias starrte den Hersir einige bange Herzschläge lang reglos an.

»Er wird sie alle eigenhändig erschlagen!«, stieß Faravid hervor.

Xelias’ Blick fiel auf eine zusammengekrümmte Gestalt, die an der Ecke eines Langhauses hockte. Ein Vargaz stand über ihr. Das Fell des Halbwolfs war struppig und Blut glänzte darin im Feuerschein.

Xelias’ Herz machte einen Sprung. »Firnvild!« Er hastete auf sie zu.

Wrekar, der Vargaz, wirbelte herum. Seine blutbesudelten Lefzen enthüllten seine Zähne.

Xelias schrak zurück und hob hastig die Hände. Der Halbwolf gab ein warnendes Grollen von sich, das tief aus seiner Kehle aufstieg.

Firnvild regte sich nicht. Ihr Speer lag neben ihr, Blut sickerte aus einer Wunde an ihrer Seite. Ihr sommersprossiges Gesicht war geschwärzt, ihre Augen geschlossen. Ein Verband war fest um ihre Wade geschlungen.

Xelias’ Brust zog sich zusammen wie eine kalte Faust, die ihn packte. »Firnvild?« Er wagte es, einen weiteren Schritt zu machen.

Der Halbwolf setzte zum Sprung an.

»Wrekar, nein!« Firnvild sah auf und hob die Hand. Ihre Stimme war rau und bebte. »Nein!«

Der Vargaz wandte sich ihr sofort wieder zu, schnupperte kurz an ihrer zitternden Hand, dann leckte er sie winselnd ab.

Xelias wagte es, neben ihr niederzuknien. Auch Faravid trat näher, ließ den Halbwolf aber nicht aus den Augen.

Erschrocken griff Xelias nach ihrer Wunde. »Du bist verletzt!«

Ullbjerns Tochter stieß seine Hand beiseite. »Dachte, du bist schon längst weggerannt«, presste sie hervor und verzog schmerzerfüllt das Gesicht.

Ein Kommando hallte laut von den Langhäusern wider. Die Myrmidonen wichen zurück, sammelten sich und schlossen ihre Reihen. Dutzende ihrer Kameraden blieben leblos liegen.

Der Hersir reckte grimmig Laujakweldiz empor – die ›Löwendämmerung‹. »Habt ihr denn schon genug, ihr Kindsfäuste? Ich werde gerade erst warm!«

Hinter ihm nährten sich die Flammen an seiner Halle, fraßen sich durch das alte Holz, das vielen Generationen seiner Familie ein Zuhause gewesen war. Fünf weitere Frauen und Männer standen immer noch aufrecht, wenn auch schwer atmend, aus unzähligen Wunden blutend und kaum in der Lage, ihre Waffen zu heben. Xelias erkannte Serkaz unter ihnen, den breitschultrigen Krieger mit dem zu Zöpfen geflochtenen roten Bart, der fast ebenso viele Kriegerrunen trug wie Ullbjern.

Die Myrmidonen regten sich nicht. Wie Statuen standen sie da, der Feuerschein spiegelte sich auf ihren Rüstungen wider.

Der Hersir der Groa spuckte verächtlich aus. Mit den Flammen hinter ihm erschien sein Haar mehr als jemals zuvor wie die Mähne eines Löwen. »Kehrt besser zu eurem dreiäugigen Kuninga zurück, solange ihr das noch mit erhobenem Haupt tun könnt!«, schleuderte er den Soldaten entgegen. »Sagt ihm, dass Ullbjern Eirikssun noch immer steht, dass er Havars Axt trägt und niemanden passieren lässt, der die Halle seiner Ahnen betreten will! Er muss schon selbst herkommen und sie sich holen, wenn sie ihm so wichtig ist!«

Die Myrmidonen blieben stumm, die Kentemen in Händen und ihre Spitzen auf die schwer atmenden Hjaldinger gerichtet. Auf ein knappes Kommando hin öffnete sich ihre Formation. Sie bildeten eine Gasse.

Wrekar, der Vargaz, knurrte.

Drei weitere Krieger schälten sich aus dem Rauch hervor. Sie überragten die imperialen Soldaten um mehr als einen Schritt. Sie bewegten sich geschmeidig, lediglich leichte Rüstungen schützten ihre muskulösen Leiber. Ihr rotgoldenes Fell, durchzogen von schwarzen Streifen, glänzte matt im Feuerschein. Unruhig peitschten ihre Schwänze den Boden.

Xelias hatte noch nie einen mit eigenen Augen gesehen, doch es gab keine Zweifel daran, womit sie es zu tun hatten. Sein Mund war staubtrocken. »Tighrir«, stieß er hervor. Er wagte es nicht, seine Stimme zu erheben. »Die Tigergarde des Thearchen!«

Faravid duckte sich hastig hinter die Hausecke. »Die was?«

»Tighrir«, zischte Xelias. Er suchte nach dem richtigen Begriff im Hjaldingschen. »Tigramaniz!«

Die drei Tighrir passierten gelassen das Spalier, das die Myrmidonen gebildet hatten. Die Soldaten blickten stumm geradeaus. Die Tigergestaltigen trugen Schwertlanzen. Blut klebte an den Klingen und an ihren Rüstungen. Ihre Brustplatten zierten drei Augen auf schwarzem Grund – das Zeichen des Hohen Hauses, dem der Thearch angehörte.

Ullbjerns grimmiger Ausdruck schwand. Er senkte Laujakweldiz und nickte langsam, so als erkannte er, dass ein Moment gekommen war, auf den er lange gewartet hatte. Er straffte sich und wies mit der Axt auf die Neuankömmlinge. »Das ist schon besser. Endlich nehmt ihr mich ernst.«

Der Tighror in der Mitte der Dreiergruppe hob seine Schwertlanze. Ein mächtiger Backenbart zierte seine Wangen, also schien es sich wohl um einen Mann zu handeln – auch wenn Xelias das nicht mit Sicherheit sagen konnte. Er fletschte die Zähne. Muskeln, so dick wie Schiffstaue, spannten sich unter seinem schwarzgelben Fell.

»Wir können hier nicht bleiben«, setzte Xelias leise an, doch Firnvild winkte energisch ab.

Ullbjern hob die Doppelaxt, sodass der Tighror sie besser sehen konnte. »Dies ist die Klinge, die Uskur, den Löwenhäuptigen erschlug. Die Waffe, die das Volk der Hjaldinger von Unterdrückung und Knechtschaft befreite. Sie trinkt noch mehr Tyrannenblut, ehe ich den Weg in die nächste Welt antrete! Dein Fell wird mir als Umhang dienen, wenn ich in Hraiwagard einziehe, deine Knochen werde ich als Trophäe vorzeigen!«

Firnvild unterdrückte einen entsetzten Laut. Faravid warf ihr einen warnenden Blick zu.

Der Anführer der Tighrir warf sich gedankenschnell nach vorne, seine beiden Begleiter folgten ihm. Mit wenigen Sätzen erreichten sie die fünf letzten Krieger rund um den Hersir. Ein Hjaldinger wich gewandt einer Schwertlanze aus. Ein anderer wurde mit Urgewalt davon geschleudert und schlug ein Stück weit entfernt auf. Serkaz hob seine Axt und stellte den Anführer der Tighrir. Dieser parierte flink seinen Hieb und wischte ihn geradezu lässig mit der Pranke beiseite.

»Groa!«, schrie Ullbjern den Tigramaniz den Namen seiner Sippe entgegen und hob erneut die Axt. »Groa!«

»Vater«, presste Firnvild mühsam hervor und zog sich an der Hauswand empor. »Wir müssen ihm helfen.«

»Nein!« Xelias packte hastig ihren Arm. »Diesen Kampf können wir nicht gewinnen! Selbst Ullbjern nicht!«

Sie schüttelte seine Hand ab, ihre grünen Augen sprühten Funken. »Teigherz!«, schleuderte sie ihm entgegen. »Lauf zurück zu deiner Imperi-Mutter und versteck dich hinter ihrer Schürze, wenn du Angst hast!«

Laujakweldiz kam erneut herab. Der Tighror wich zur Seite aus und lenkte sofort die Schwertlanze gegen seinen Gegner. Sie fuhr über Ullbjerns Bein. Der Hersir stieß einen Schmerzensschrei aus, packte aber geistesgegenwärtig nach dem Schaft der Lanze. Mit der anderen Hand ließ er die schwere Doppelaxt auf den Tighror herabfahren. Die Klinge drang tief in dessen Brust.

Die zwei anderen Tigramaniz kamen auf die verbliebenen Verteidiger der Halle herab wie die Sense auf überreifes Korn. Die umstehenden Myrmidonen beobachteten reglos, wie die Tigergardisten die Hjaldinger niedermachten. Einer hob unter triumphierendem Brüllen einen abgetrennten Kopf empor, von dem Blut herabrann.

Xelias packte Firnvilds Arm, gerade als die junge Hersirstochter den Schatten des Langhauses verließ. »Nein!«

Sie setzte zu einer zornigen Erwiderung an, dann erstarrte sie.

Der Anführer der Tighrirgarde trieb Ullbjern mit einem Prankenhieb zurück zu den Toren der Halle. Krallen, so lang wie Dolche, fuhren über die Brust des Hersirs der Groa-Sippe. Blut schoss aus den Wunden hervor.

Das Feuer tauchte Ullbjerns Gesicht in rotes Licht. Er fand sich mit dem Rücken gegen das Tor wieder. Sein Schmerzensschrei ging im Fauchen der Flammen unter, die sein Langhaus gierig auffraßen.

Der Tighror holte mit der Lanze aus.

Firnvild stieß einen langgezogenen Schrei aus, der von Wut und Trauer und Entsetzen kündete.

Ein Kommando gellte durch die Nacht. Die Myrmidonen wandten sich zu ihnen um.

Ullbjern senkte den Blick, sah auf den Schaft der Schwertlanze. Sie hatte seinen Körper durchdrungen und steckte auf der anderen Seite in dem mit goldenen Knotenbändern verzierten Türblatt des Langhauses. Laujakweldiz, die Waffe Havars, mit der er einst den löwenhäuptigen Uskur erschlug, fiel dumpf zu Boden.

Der Hersir der Groa-Sippe tastete mit zitternden Händen nach der Lanze, doch das Leben rann nun mit jedem Herzschlag aus ihm heraus. Sein Blick traf den seiner Tochter. Er bewegte die Lippen. Blut quoll hervor.

Die Myrmidonen setzten sich in Bewegung.

Firnvild riss sich von Xelias los und hob den Speer. Mit einem wütenden Schrei rannte sie den Imperja entgegen. Wrekar überholte sie mit weiten Sätzen und stürzte sich mit heiserem Bellen auf die gepanzerten Krieger.

»Xelias!« Faravid schloss zu ihm auf. »Wir sitzen in der Falle!«

Alarmiert wandte er sich um.

Myrmidonen traten auch zwischen den brennenden Langhäusern hervor und hielten langsam auf sie zu.

Die Tore von Ullbjerns Halle stürzten um und rissen den Hersir mit sich zu Boden. Das Feuer loderte hell und gierig in den Himmel. Der Anführer der Tighrir stand reglos vor dem Inferno, ein dunkler Umriss vor dem Flammen, und blickte auf Ullbjerns Leichnam hinab.

Die Myrmidonen drangen auf Faravid und Xelias ein.

Xelias hob seine Axt. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.

Dann waren die gepanzerten Krieger heran.

***

Als Erstes verspürte er Schmerzen. Dann kam Verwunderung darüber, dass er überhaupt etwas spüren konnte.

Wie aus weiter Ferne drangen Worte zu ihm durch. »… am Leben?«

Xelias zwang sich, die Augen zu öffnen. Alles drehte sich um ihn herum. Bin ich in Hraiwagard? Warum empfinde ich dann Schmerz? Bin ich etwa ein Draugar? Empfinden Wiedergänger Schmerz?

Etwas Feuchtes, Raues fuhr ihm durch das Gesicht. Schlagartig fand er zu sich. Er hustete und krümmte sich.

Wrekar, der Vargaz, winselte leise. Seine Lefzen stanken nach Blut, in seinen Augen spiegelte sich Feuerschein wider.

»Ich fragte, bist du noch am Leben?«



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