DSA: Das Blut der Castesier 4 - Dunkles Verlangen - Daniel Jödemann - E-Book

DSA: Das Blut der Castesier 4 - Dunkles Verlangen E-Book

Daniel Jödemann

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Beschreibung

Die gefallene und versklavte Lucia kämpft als Gladiatorin in der Arena von Belenas. Doch auch außerhalb der Arena wird sie in Ereignisse hineingezogen, die für Lucia leicht tödlich enden könnten. Die Nekromantin Sabella bemüht sich, in den Intrigenspielen zwischen den Magiern der Akademie nicht aufgerieben zu werden. Gleichzeitig versucht sie, mehr über das Dunkle Verlangen zu erfahren, welches sie beherrscht, und der mysteriösen Dämonin auf die Schliche zu kommen, die sie verfolgt. Valerius steigt weiter in der Bosparaner Unterwelt auf, doch um Vergeltung am Mörder seiner Familie zu üben, muss er hohe Risiken eingehen, die nicht ohne Blutvergießen enden werden. Dunkles Verlangen ist der vierte Teil der sechsteiligen Reihe Das Blut der Castesier, eine epische Geschichte in den Dunklen Zeiten Aventuriens.

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Impressum

Ulisses SpieleBand US25721Titelbild: Dagmara MatuszakAventurien-Karte: Daniel JödemannRedaktion: Nikolai HochLektorat: Frauke ForsterKorrektorat: Claudia WallerUmschlaggestaltung und Illustrationen: Nadine Schäkel, Patrick SoederLayout und Satz: Nadine Hoffmann, Michael Mingers

DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN, UTHURIA und THE DARK EYE sind eingetragene Warenzeichen der Ulisses Spiele GmbH, Waldems. Copyright © 2019 by Ulisses Spiele GmbH. Alle Rechte vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN 978-3-96331-185-7Ebook-ISBN 978-3-96331-439-1

Daniel Jödemann

Dunkles Verlangen

Das Blut der Castesier IV

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Mit Dank anMareike Aurora und Thomas Ritzinger

Ein Wort der Warnung

Dieser Roman enthält eine Szene, die in ihrer Darstellung von Gewalt für einige Leser möglicherweise unangemessen sein könnte. Im Kontext gewaltsamer medizinischer Eingriffe am lebenden Objekt am Ende von Kapitel 7 wurde bewusst weitestgehend auf die Beschreibung empathischer Regungen seitens der Anwesenden verzichtet. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die auftretenden Personen mit der beschriebenen Form der Gewalt uneingeschränkt einverstanden sind.

Was bisher geschah

»Im Jahre 886 nach Horas’ Erscheinen reiste Fran der Glorreiche, Horas Invictus et Aeternus, Magus Maximus, nach Meridiana und kehrte mit kostbaren Schätzen der Waldmenschen aus Alanpha zurück. Insbesondere aber unterwies er in der Folge seine Hofmagier – darunter auch mich, den bescheidenen Verfasser dieser Zeilen – in vielen uns vollkommen unbekannten Ausprägungen der Magica necromantia.

Der Magus Maximus übte sich in Zurückhaltung, was den Ursprung jener neuen Rituale, Theoreme und Einsichten anging, welche uns die Totenerhebung so viel leichter von der Hand gehen ließen als zuvor. Einmal jedoch sprach er davon, dass ihm in den immergrünen Wäldern Meridianas von den Wudu ein Weg aufgezeigt worden war, wie er an nie zuvor gekanntes Wissen zu gelangen vermochte. Er hat lange geforscht und schließlich den Hauch der Niederhöllen gespürt, den Atem der Praecentora der Heulenden Finsternis, welcher ihm diese Erkenntnisse zuflüsterte.«

— aus Ars Moriendi,

von Magister Asteropaeus Bosparanius, 886 nach Horas’ Erscheinen

Band I: Blutnacht

Nur kurze Zeit, nachdem Yarum-Horasden Thron des Bosparanischen Reiches errungen hatte, ordnet er den Tod mehrerer einflussreicher Comites an, dem auch die Familie der Castesier zum Opfer fällt. Drei Kinder entkommen in der Blutnachtdem Massaker: Livia, die unter dem Namen Lucia Arponia von einer Comes als ihre Erbin großgezogen wird, Valerius, der auf der Straße aufwächst, und seine Zwillingsschwester Sabella, die von dem Magier und Nekromanten Andronicus aufgefunden und ausgebildet wird.

Vierzehn Jahre später tritt Lucia Arponia in die Legion ein und schließt sich dem Feldzug von Cassus Bosparanius an, einem Sohn des Horas, der seine Truppen nach Süden führt, um sich mit Eroberungen als Erbe für den Adlerthron zu empfehlen. Dank Cassus steigt Lucia zur Centuria auf und lässt sich zudem auf eine Affäre mit Tribun Flavius Aedinius ein. Sie ernennt den Veteranen Rufus Pulcher zu ihrem Stellvertreter.

Valerius schlägt sich in Puninum mit Diebstählen und Einbrüchen durch und arbeitet für den Nandurios-Priester Tacitus, der ihm bisweilen Aufträge vermittelt. Zwei Banden strecken in dieser Zeit ihre Hand nach Puninum aus: Die tulamidischen Mussadin unter ihrem Anführer Abu’Keshal, und die Fünf Banden Bosparans, die von dem rätselhaften Procurator kontrolliert werden. Valerius beginnt zu dieser Zeit eine Liebschaft mit der abenteuerlustigen Patrizierstochter Ariana Lusia.

Sabella folgt nach Jahren in der Provinz ihrem Meister Andronicus an die Akademie von Puninum. Obwohl sie das nötige Alter erreicht hat, weigert sich ihr Lehrmeister, sie zur Prüfung zuzulassen und aus seinen Diensten zu entlassen. Eines Nachts führt Andronicus eine Beschwörung durch, bei der eine mysteriöse körperlose Dämonin – der Geflügelte Schatten – auf Sabella aufmerksam wird.

Band II: Schwarze Schwingen

Eines Nachts wird Cassus von Wudu aus dem Feldlager entführt. Flavius, der das Geheimnis ihrer Herkunft kennt, erpresst Lucia und befiehlt ihr, den Sohn des Horas zu retten.

Lucia, Rufus und ihre Legionäre verfolgen die Entführer bis zum Dorf der Wudu. Diese wollen Cassus ihrem finsteren Todesgott opfern, Cassus’ Leibmagierin vermag den Strategus allerdings zu retten. Dabei erscheint die Dämonin mit den Schwarzen Schwingen, der Geflügelte Schatten, den Andronicus in diese Welt rief.

Lucia, Rufus und Cassus gelingt die Flucht ins Feldlager. Dort lässt Flavius sie verhaften, um die Vorgänge zu vertuschen. Lucia bemerkt Veränderungen an Cassus und ahnt, dass die Dämonin ihn immer noch beeinflusst.

Flavius will Lucia und Rufus aus dem Weg schaffen, doch den beiden gelingt die Flucht. Dabei opfert sich Rufus für Lucia. Kurz darauf wird die dem Tode nahe Lucia von Sklavenjägern aufgefunden.

Valerius findet derweil eines Nachts Ariana von den Mussadin ermordet auf – vorgeblich als Rache dafür, dass sich Arianas Vater mit den Fünf Banden Bosparans einließ. Valerius brennt auf Vergeltung. Dank Tacitus wird er zu Abu’Keshal vorgelassen und tötet die Anführerin der Mussadin. Dabei erkennt Valerius, dass Umbra, sein Leibdiener, vor vierzehn Jahren bei der Flucht aus Bosparan ums Leben kam und seitdem nur noch in seiner Vorstellung existiert. Er erkennt zudem, dass Tacitus von Beginn an für den Procurator gearbeitet und Valerius manipuliert hat, um Abu’Keshal auszuschalten. Er ließ auch Ariana ermorden.

Valerius folgt Tacitus nach Bosparan. Unterwegs wird ihm bewusst, dass ihm nicht nur Umbra erscheint: Er sieht auch die verstorbene Ariana und ein kleines Mädchen mit dunklen Haaren.

Sabella erkennt, dass Andronicus den Geflügelten Schatten, die geheimnisvolle Dämonin, wiederholt beschworen hat und Sabella die Erinnerungen an diese Beschwörungen nahm. Sie kann einige dieser Erinnerungen wiederherstellen und entsinnt sich so auch wieder, dass sie einst einen Zwillingsbruder hatte.

Sabella entschließt sich, ihren Lehrmeister zu töten. Andronicus offenbart ihr dabei, dass Sabella schon als Kind eine dunkle Seite in sich trug. Sabella reist nach Bosparan, um dort endlich ihre Prüfung zur Magierin abzulegen.

Band III: Stadt der hundert Türme

Lucia wird von dem Lanisto Darius Macrinus erworben, dem Besitzer eines Ludus, einer Gladiatorenschule. Sie soll dort für Auftritte in der Arena von Belenas ausgebildet werden. Darius’ Ludus hat jedoch schon bessere Zeiten gesehen, zudem fehlt dem Lanisto ein Erbe, der in seine Fußstapfen tritt.

Lucia gibt jede Hoffnung auf, ihren Sohn in Bosparan noch retten zu können. Sie bewährt sich in einem ersten Kampf, legt den Eid der Gladiatoren ab und erhält den Arenanamen Furia. Zugleich beginnt Lucia Gefühle für die LustsklavinCalera zu entwickeln.

Lucia macht sich durch ihren raschen Aufstieg bei den übrigen Gladiatoren unbeliebt, auch beim Primus des Ludus, dem Hjaldinger Rekker.

Auch dank der Erfolge von Lucia geht es mit dem Ludus wieder aufwärts. Darius vermählt sich nun mit Felicita Semesia, der Tochter des Rhesus Semesius Magnus, und bringt die Patriziertochter nach Belenas.

Valerius spürt Tacitus in Bosparan, der Stadt der hundert Türme, rasch auf. Er stellt aber schon bald fest, dass er ohne Unterstützung nicht weiterkommt, da Tacitus ständig von Leibwächtern umgeben ist. Auf der Suche nach Hilfe gerät er an Rufus, der überlebt hat, aber zu spät in Bosparan eingetroffen ist, um Lucias Familie zu retten. Rufus erklärt sich bereit, Valerius zu unterstützen. Er verhindert ein Attentat der Mussadin auf Valerius, die nach ihm suchen, um Rache für den Tod Abu’Keshals zu nehmen.

Valerius beschließt, Tacitus in eine Falle zu locken. Er etabliert sich unter dem Namen Hedonius Mundanus im Bosparaner Buchmachergeschäft, um Tacitus Konkurrenz zu machen. Valerius erwirbt ein Lupanar als Fassade für sein Unternehmen und richtet sein Augenmerk auf Tacitus’ skrupellose Vollstreckerin Amara, die auch schon Ariana tötete und ohne deren Unterstützung Tacitus angreifbar wird.

Sabella wird am Oktogon, der Magierakademie von Bosparan, vorstellig und weckt das Interesse von Magistra Arcavia Lucerna, der Lehrmeisterin für Nekromantie. Arcavia nimmt sie unter ihre Fittiche, damit sich Sabella auf die Examinatio, die Magierprüfung vorbereiten kann. Sabella begegnet auch Glaciana, der Cancellaria des Bosparanischen Reiches, Vorsteherin der Magiergilde und Leiterin der Akademie.

Um Sabellas Loyalität zu testen, lässt Arcavia sie in den Katakomben von Bosparan in eine Falle laufen. Dort wird sich Sabella erneut des Dunklen Verlangens bewusst, das in ihr lauert und ihr Drang zu morden wird stärker.

Arcavia offenbart Sabella, dass sie plant, Glaciana ihre Ämter abzunehmen und für die Nekromanten des Oktogons die Macht in der Gilde an sich zu reißen. Sabella stimmt widerwillig zu, sie zu unterstützen, um ihre Examinatio nicht aufs Spiel zu setzen.

Sie teilt schließlich einen verstörenden Traum mit Valerius und ahnt, dass ihr Bruder noch lebt. In dem Traum sieht sie auch das kleine Mädchen, das Valerius erscheint, und in dem dieser bereits seine vermeintlich verstorbene Schwester erkannt hat.

Kapitel 1

»Die Praetora muss keine Leiche unterm Bett verstecken«, gab Rufus zu bedenken. »Vielleicht gibt’s in Bosparan doch noch ein oder zwei ehrliche Beamte.«

Valerius ließ seine Augen durch die weitläufige, von mächtigen Säulen gestützte Eingangshalle der Curia wandern. »Ruf dir in Erinnerung, in welcher Stadt wir sind und wiederhole deine Worte danach noch einmal. Aber ohne zu lachen.«

Der Veteran schnaubte und hob den Arm, so als wolle er die Arme vor der Brust verschränken. Missmutig ließ er ihn wieder sinken.

Valerius musterte den ehemaligen Optio an seiner Seite, die breite Narbe, die sein schiefes Gesicht verunstaltete, die Hautbilder auf seinem Arm. Wie immer zog der breitschultrige, fast zwei Schritt aufragende einarmige Veteran die Blicke der Passanten auf sich. »Was ist nur mit dir?«

Rufus zuckte mit den Schultern. »Wenn ich nicht drüber nachdenke, kommt’s mir immer noch so vor, als hätt’ ich zwei.«

Valerius ließ erneut seinen Blick über die vorbeieilenden Menschen schweifen. Die Curia von Bosparan war fast ebenso gewaltig wie der Tempel des Götterfürsten Brajanos, dem sie auf dem Centrum Aventuricum gegenüberstand, so als wollten ihre Erbauer zeigen, dass die Stadtregierung den Göttern stolz die Stirn bot.

Zahllose Beamte der Stadt, angefangen bei den Aedilen und Curatores, über die Praetoren, die Urteile fällen konnten, bis hin zum Praefectus Urbis, dem Stadtpraefecten Bosparans, arbeiteten hier daran, dass in der Capitale des Reiches alle Zahnräder ineinandergriffen. Es war ein offenes Geheimnis, dass sich jedes dieser Räder nur zu gerne ölen ließ, um sich noch reibungsloser zu drehen. Praetora Selissa Sequana schien jedoch eine Ausnahme zu sein.

Rufus wies über die Menge hinweg. »Da.«

Valerius schaute auf. »Marius hatte recht – pünktlich wie der Brajanos-Gong.« Er wandte sich an seinen Begleiter. »Bist du bereit?«

Der Veteran verzog das Gesicht. »Du weißt, ich bin kein Schauspieler«, grollte er finster.

»Das hast du schon einmal behauptet und es lief ganz wunderbar. Denk einfach an dein Versprechen an deine Kameradin Lucia. Selissa hat die Arponier verurteilt. Wenn überhaupt jemand deine Fragen beantworten kann, dann sie. Warte nur, bis sie in der Mitte der Halle angekommen ist. Dort drüben, wo die meisten Menschen stehen.«

Rufus brummte eine unverständliche Erwiderung und machte sich auf den Weg. Er schlenderte der Praetora und ihren Begleitern entgegen.

Valerius schlug einen Bogen, bahnte sich einen Weg durch die Besucher und Beamten, die in die Halle hinein und aus ihr heraus eilten. Er behielt Selissa dabei im Auge und hätte Ariana so beinahe übersehen. Sie erwartete ihn mit verschränkten Armen. »Du vergeudest wertvolle Zeit.«

Valerius ignorierte die junge Frau, die nur er sehen und hören konnte.

***

Praetora Selissa war eine rüstige Frau Ende Fünfzig. Sie trug ihr graues Haar streng zurückgekämmt, besaß eine veritable Adlernase und trug eine strahlend weiße Toga. Sechs Leibwachen begleiteten sie und achteten darauf, dass keiner der Bittsteller ihr zu nahe kam.

»Wie soll uns das auf die Spur meines Mörders bringen?«, ereiferte sich Ariana.

»Tacitus kann auch noch ein oder zwei Tage warten«, wehrte Valerius ab, ohne den Blick von Selissa zu nehmen. »Rufus hat schon so viel für mich getan, da ist es nur richtig, wenn wir ihm ebenfalls einen Gefallen tun.«

»Du verlierst dein Ziel aus den Augen!«

Selissa Sequana setzte sich in Bewegung. Die Leibwächter bahnten ihr einen Weg durch die Menge.

Rufus näherte sich der Gruppe. »Praetora!«, rief der Veteran aus. »Praetora Selissa!«

Die Wachen hielten die Praetora zurück und stellten sich Rufus in den Weg. Hinter Selissa drängten weitere Passanten heran. Valerius tauchte in die Menge ein.

»Ich verlange, angehört zu werden«, rief Rufus aus. »Ich bin ein Veteran!«

Viele der Umstehenden verharrten und musterten ihn neugierig. Fünf der Leibwächter entschieden sich, den hünenhaften Störenfried gemeinsam anzugehen und versperrten ihm den Weg. Nur einer blieb an der Seite der Praetora.

Selissa musterte Rufus skeptisch. Ihre Toga besaß einen purpurnen Rand, ein Vorrecht der Beamten Bosparans. Sie hatte sich die Toga über die linke Schulter geworfen. Viele nutzten die Tasche, die dabei unter dem rechten Arm entstand, um darin Gegenstände aufzubewahren.

»Ich bin Veteran, ich will angehört werden!«, rief Rufus erneut aus. Alle Augen in der Halle richteten sich nun auf ihn.

Feqz, führe meine Hand!, bat Valerius in Gedanken. Er trat an die Praetora heran. Seine Finger glitten in Selissas Tasche. Er ignorierte das verlockende Gefühl eines prall gefüllten Geldbeutels, ertastete eine zusammengerollte Schriftrolle und stieß auf etwas festes, rundes. Er entschied sich und griff zu.

»Praetora!« Rufus stemmte sich gegen die Leibwächter. »Ich bin ein Veteran der Coverna!«

Valerius duckte sich und verschmolz wieder mit der Menge.

Selissa winkte. »Lasst ihn passieren, ich möchte wissen, was jener braver Legionär Bosparans zu sagen hat.«

Valerius kehrte zu dem Platz unter dem Fenster zurück, wo sie auf die Praetora gewartet hatten. Feqz hatte ganz offensichtlich Gefallen an seinem Kunstgriff gefunden. Er zog sein Diebesgut hervor: Ein Medaillon aus Elfenbein, dessen feine Schnitzerei Brajanos zeigte, den Götterfürsten und Herrn der Gesetze. Auf der Rückseite war eine Sonne eingraviert, umgeben von einem Segensspruch. Die Inschrift war sehr filigran – genauso gut hätte Valerius versuchen können, die Ameisen in einem Ameisenbau zu zählen. Die Buchstaben wimmelten durcheinander und wollten sich nicht zu Worten zusammenfügen.

Valerius wartete, bis sich die Menge auflöste und Selissa mit ihren Leibwächtern die Curia verließ.

Rufus gesellte sich zu ihm und atmete auf. »Sowas will ich nie wieder machen.«

»Wie hat sie reagiert?«, erkundigte sich Valerius amüsiert.

»Verständnisvoll«, stöhnte Rufus. »Wird sich für versehrte Veteranen einsetzen und so fort.«

Valerius lachte. »Wer weiß, vielleicht hast du sogar noch ein gutes Werk getan?«

Der Veteran musterte ihn finster. »Hat’s sich zumindest gelohnt?«

Valerius wies das Medaillon vor.

Rufus’ Stirn legte sich in Falten. »Lux Brajani te illumineat«, las er vor.

»Möge Brajanos’ Licht dich erleuchten«, murmelte Valerius.

»Ich wünschte, er würde es«, raunte Ariana ihm ins Ohr. »Damit du endlich den Weg siehst, der wirklich zu deinem Ziel führt.«

Rufus verzog das Gesicht. »Das ist alles?«

Valerius lächelte. »Das ist alles.«

»Kein Liebesbrief, kein Schlüssel für’n geheimes Versteck, kein Schuldschein?«

»Das waren lediglich Beispiele. Ich habe nicht behauptet, dass wir auch zwingend eines davon finden werden.«

Rufus wies auf das Medaillon. »Na, prima. Nun wissen wir, dass die Praetora gottesfürchtig ist und Brajanos ehrt. Gut für die, über die sie zu Gericht sitzt. Beweist uns, dass ich recht habe.«

»Ich bin mir da nicht so sicher«, murmelte Valerius. Er hielt den Anhänger ins Licht. »Vielleicht …« Er fuhr mit den Fingern über den Rand des Medaillons. Es kribbelte in seinen Fingerspitzen – wie in den Momenten, wenn er einem hartnäckigen Schloss gut zuredete. »Es ist mit bloßem Auge nicht zu erkennen, aber ich spüre einen Spalt.« Er klappte das Medaillon behutsam auf. Eine kleine Schnitzerei war darin verborgen, das Abbild eines lächelnden jungen Manns, der ein Gewand mit breitem Kragen trug.

»Ein heimlicher Geliebter?«, mutmaße Rufus hoffnungsvoll. »Steht da ein Name?«

»Kein Name.« Valerius schüttelte den Kopf. »Sieht er der Praetora nicht irgendwie ähnlich?«

Rufus zuckte mit den Schultern. »Mag sein.«

Valerius hielt das Bild ins Licht. »Ein Gänsesymbol, siehst du? Auf seinem Gewand.«

»Ein Sacerdos der Travina?«, mutmaßte Rufus. »Hat die Praetora denn Priester in der Verwandtschaft?«

Valerius schüttete den Kopf. »Nicht, soweit mir bekannt ist.« Er schloss das Medaillon wieder. »Hören wir uns im Tempel der Travina um.«

Sie verließen die Curia. Im Freien begrüßte sie ein warmer Frühlingsschauer. Valerius zog sich die Kapuze über den Kopf. Zügig überquerten sie das weite Rund des Centrum Aventuricum, in dessen Mitte sich der goldene Nullmeilensteinstein erhob. An dem belebten Platz trafen die fünf wichtigsten Verkehrswege des Reiches zusammen, die schon sprichwörtlich allesamt nach Bosparan führten: die Via Belena, die Via Yaquiria, die Via Cuslicum, die Via Yulagia und die Via Auria. Hier entsprang auch die kolossale Hochstraße, die zum Horatin und damit zur Horaszitadelle hinaufführte.

Valerius und Rufus tauchten in die überfüllten Straßen der Altstadt ein und folgten ihnen bis zum Forum des Arn-Horas, an dem sich der Tempel Travinas erhob, der Göttin des Herdfeuers, der Treue und der Familie. Reinweiße Säulen trugen ein Vordach, das sich rund um das große Bauwerk zog. Die Tempelwand dahinter war Orange bemalt, in der heiligen Farbe der Göttin.

»Wär’s nicht schön, wenn die Praetora ein Verhältnis mit einem Sacerdos der Travina hat?«, murmelte Rufus.

Zu Füßen der Tempelstufen hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet, die den Worten eines beleibten Ausrufers lauschten. »Erfreuliche Nachrichten von des Horas’ Legionen, welche die Grenzen des stolzen Bosparanischen Reiches verteidigen!«, verkündete er mit weittragendem Bariton. »Die Strafexpedition der Großadmiralin Callinica Vatinian wurde von Erfolg gekrönt: Die heldenhafte Admiralin kehrte vor wenigen Tagen mit den Häuptern der feigen Nordlandbarbaren, die Grangor brandschatzten, zurück ins Reich und legte die Köpfe unserem weisen Vater zu Füßen! Der großmütige Horas Invictus überreichte Callinica als Zeichen der Anerkennung einen Adlerstab.« Der Ausrufer ließ seine Worte für einen Moment wirken, ehe er fortfuhr. »Gute Nachrichten erreichen uns auch aus der südnächsten Provinz des Reiches: Strategus Cassus Bosparanius sammelt derzeit seine Truppen für den entscheidenden Schlag gegen die ketzerischen Tulamiden des Sündenpfuhls Elem. Zur Verstärkung seines Vorhabens entsendet der weise Horas die Legio XIII Ferrata nach Meridiana. Möge Brajanos die Hand über den Strategus und unsere Legionäre halten!«

»Eins muss ich ihm lassen«, brummte Rufus. »Gibt nicht leicht auf.«

»Wer?«, hakte Valerius nach.

»Nicht wichtig.«

Valerius winke den Veteranen weiter. Sie stiegen die wenigen Stufen zu dem doppelten Säulengang hinauf, zwischen denen die heiligen Gänse der Travina frei herumliefen. Aus der Nähe erkannten sie, dass der Anstrich des Göttinnenhauses hier und da abblätterte.

Rufus wies auf einen ergrauten Sacerdos der Travina in orangefarbener Tunika, der am Hauptportal ein junges Ehepaar verabschiedete.

Valerius trat näher. »Travina mit dir, Sacerdos!«

»Travina auch mit euch.« Der Priester nickte ihnen lächelnd zu und rückte seine abgetragene Tunika zurecht. »Was führt euch zum Tempel der Heiligen Mutter, gute Herren?«

»Eine Frage.« Valerius zog das Medaillon hervor und klappte es auf. »Erkennst du diesen Mann?«

Der Sacerdos hielt die Schnitzerei ins Licht und musterte sie. »Wenn mich meine Augen nicht trügen, ist das Dolabellus. Zumindest, als er noch jünger war, wird er so ausgesehen haben.«

»Dolabellus?«, wiederholte Valerius. »Kein Familienname?«

»Glaubt mir«, erwiderte der Alte gütig lächelnd. »Er besitzt keinen Familiennamen.«

»Ist er ein Sacerdos?«

»Das ist er nicht.« Der Alte schmunzelte. »Er umsorgt die Gänse.«

»Die Gänse?«, warf Rufus ein.

»So ist es«, bestätigte der Priester. »Er füttert sie, pflegt sie.« Er zögerte. »Warum fragt ihr? Welches Interesse habt ihr an Dolabellus?«

»Hat er denn keine Familie?«, hakte Valerius nach.

Der Sacerdos schüttelte den Kopf. »Er hat nur uns.«

Valerius räusperte sich. Es behagte ihm nicht, den Alten zu belügen. »Aus Gründen der Diskretion muss ich dich darum bitten, keine weiteren Fragen zu stellen. Aber es besteht die Möglichkeit, dass eine lange verschollene Verwandte von Dolabellus auf der Suche nach ihm ist.«

Der Priester nickte langsam. »Ich verstehe. Das erklärt so einiges.«

»Tut es das?«

»Die Unterhaltszahlungen.« Der Alte lächelte. »Jemand zahlt jährlich und seit fast dreißig Jahren dafür, dass Dolabellus bei uns unterkommt. Ich wüsste wirklich gerne, welche großzügige Seele sich des armen Mannes angenommen hat, damit ich sie in meine Gebete einschließen kann. Ich hätte nur nicht erwartet, dass es sich um Verwandtschaft handelt.«

Valerius warf Rufus einen Blick zu. »Dürfen wir mit ihm sprechen?«

Der Sacerdos musterte ihn prüfend, dann gab er Valerius einen Wink. »Folgt mir.«

Er führte sie durch die Säulengänge und um den Tempel herum. »Dort, das ist er. Ich bin mir aber nicht sicher, ob euch ein Gespräch viel Nutzen bringt.«

Überrascht starrte Valerius den Mann an, der zwischen den Säulen hockte und den Gänsen Futter zuwarf. Dolabellus war deutlich über fünfzig, sehr viel älter als auf seiner Abbildung. Er trug eine einfache, fleckige orangefarbene Tunika. Ein Narbengeflecht bedeckte sein Gesicht bis hinab zu seinem Hals und seinem rechten Arm. Nur wenige Haarsträhnen wuchsen auf seinem Kopf. Er beobachtete mit einem seeligen Gesichtsausdruck die schnatternden Vögel. Er besaß die markante Nase der Sequaner.

»Das ist Dolabellus?«, erkundigte sich Valerius bei dem Sacerdos.

»Das ist er. Er kam mit einem Brief ohne Unterschrift und einem Beutel Münzen zu uns. Das Schreiben war nicht von ihm. Der Verfasser bat uns darin, ihn aufzunehmen.« Er zögerte. »Ihr seid tatsächlich im Auftrag seines Gönners hier?«

»Wie ich schon sagte, kann ich dazu leider nichts sagen.« Valerius wandte sich an den Priester. »Du hast uns sehr geholfen. Ich danke dir, Sacerdos.« Er zog einen goldenen Aureal hervor. »Für eure Armenküche.«

Er wartete nicht auf eine Antwort und verließ gemeinsam mit Rufus den Säulengang.

»Was hat all das zu bedeuten?«, erkundigte sich der Veteran.

»Ich vermag es noch nicht zu sagen«, gab Valerius zu. »Wenn wir nun jedoch die Karten, die Feqz uns zugeteilt hat, in der richtigen Folge ausspielen, wird es uns noch dienlich sein.«

***

Die Tür des Amtszimmers flog auf und Praetora Selissa eilte festen Schritts herein. Ihr Blick fiel auf Valerius und sie verharrte abrupt. »Wer bist du?« Sie wandte sich um und bemerkte nun auch Rufus, der sich vor die Tür stellte. »Wie seid ihr hier hereingekommen?« Sie zögerte. »Der Veteran von heute Mittag. Aus der Coverna?«

»Bitte ruf nicht deine Wachen, Praetora«, bat Valerius. »Wir sind nicht hier, um dir zu schaden. Lediglich, um mit dir zu sprechen. Dir droht keine Gefahr von uns.«

Selissa warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Wenn ihr ein Gespräch sucht, vereinbart einen Termin mit meinem Secretarius.« Sie wies zur Tür. »Geht nun, oder ich werfe euch eigenhändig aus der Curia!«

Valerius lächelte. Die Beamtin imponierte ihm und selbst Rufus hob anerkennend die Augenbrauen. »Du kannst das Thema frei wählen, Praetora: Wir können entweder über den Grund unseres Eindringens sprechen oder über Dolabellus.«

Selissa starrte ihn einen Moment lang ungerührt an. Dann verhärteten sich ihre Gesichtszüge. Sie ließ sich hinter ihrem Schreibtisch nieder. »Ich habe euresgleichen schon oft genug gesagt, dass ihr es nicht übertreiben sollt. Auch meine Geduld kennt Grenzen. Drängt mich besser nicht an die Wand!«

»Du zahlst seit nahezu dreißig Jahren für ihn«, stellte Valerius ungerührt fest und trat vor ihren Schreibtisch. »Es scheint mir nicht so, als hättest du Interesse daran, dass sein Aufenthaltsort bekannt wird.«

Die Praetora musterte ihn finster. »Bist du nicht etwas zu jung, um einer Praetora Bosparans zu drohen?«

»So jung wie es Dolabellus damals war?«

»Überspanne den Bogen nicht! Das kannst du auch gerne so an den Procurator weitergeben, oder wer auch immer euch zwei geschickt hat.«

Valerius warf Rufus einen warnenden Blick zu. »Es spielt keine Rolle, wer uns geschickt hat. Wir sind hier, um mit dir über die Arponier zu sprechen.«

Die Beamtin musterte ihn ehrlich überrascht. »Die Arponier?«

»Warum wies man dich an, Anklage gegen sie zu erheben?«, bohrte Valerius nach. »Welches Interesse hatte der Horas daran?«

»Welches Interesse?«, wiederholte Selissa. »Sein Interesse bestand darin, Verräter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Er hätte jedes Recht gehabt, Fastidia umgehend wegen Hochverrats hinrichten zu lassen. Der Horas und Heliodan achtet jedoch Brajanos’ Gebote und gestand einer angeklagten Comes zu, sich vor dem Antlitz des Götterfürsten zu verteidigen.«

»Ist das der einzige Grund? Verrat?« Valerius beugte sich vor. »Comites verfügen über Ländereien, Besitz, über beachtliche Vermögen. Besitztümer, die der Krone zufallen, wenn eine edle Familie geächtet wird.«

Rufus hob die Hand. »Warte, deswegen sind wir nicht …«

»Was willst du damit andeuten?«, unterbrach ihn die Praetora. »Fastidia verriet den Horas und das Reich. Ihre Schuld war erwiesen.«

»Wodurch?«

»Durch ein umfassendes Schuldeingeständnis, nachdem Fastidia mit ihrem Vergehen konfrontiert wurde.«

Valerius schüttelte den Kopf. »Ein Eingeständnis? Unter Folter und Drohungen?«

»Warum diskutieren wir über die Begleitumstände der Anklage?«, hakte Selissa nach. »Welches Interesse hegt dein Auftraggeber an den Arponiern?«

»Mein Interesse gilt der Wahrheit«, erwiderte Valerius harsch. Ärger stieg in ihm auf, ein bitterer Geschmack sammelte sich in seinem Mund. Beamte wie Selissa hatten damals sicher auch dem Massaker an seiner Familie einen legalen Anstrich gegeben. Sofern der Horas seinem Vater überhaupt eine Verhandlung zugestanden hatte.

»Lass mich dir die Wahrheit über die Arponier berichten«, bot Selissa an. »Trage es so zu deinem Auftraggeber.«

Rufus trat vor. Valerius hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. »Ich höre zu.«

»Die Arponier entgingen bereits vor einigen Jahren einer Verurteilung«, fuhr die Praetora fort. »Damals waren sie noch Clientes eines Comes, der ebenfalls wegen Verrats hingerichtet wurde. Fastidia wandte sich zu dieser Zeit gegen ihren Patronus, lieferte der Sonnenlegion sogar freiwillig dessen Tochter aus.«

Valerius schaute auf. »Wer war ihr Patronus?«

»Capitus, das Oberhaupt der Castesier.«

Er erschrak. Vater. »Sie tat es freiwillig?«, wiederholte Valerius entsetzt. Livia – die Praetora sprach von seiner ältesten Schwester Livia. Die Mutter von Rufus’ Kameradin hatte seine Schwester auf dem Gewissen!

»Rede weiter!«, mischte sich Rufus ein. »Was weißt du noch über die Arponier?«

Selissa ignorierte ihn und musterte Valerius streng. »Du scheinst mir zu jung zu sein, um dies alles mitbekommen zu haben. Die Castesier gehörten zu einer Gruppe von Comites, die sich bereits kurz nach der Krönung gegen den Adlerthron stellten, doch Brajanos’ Gerechtigkeit fand sie alle. Seitdem dient der Name der Castesier als Warnung an alle, die sich gegen die göttliche Ordnung stellen. Das Resultat sind nun siebzehn Jahre ohne Umsturz, Thronfolgekrieg oder einen in seinem Bade ermordeten Horas. So etwas hat Bosparan schon lange nicht mehr gesehen.«

Valerius hörte gar nicht mehr zu. Die Arponier hatten seine Familie hintergangen und verraten, anstatt ihnen zur Seite zu stehen, anstatt sie zu unterstützen – gerade, als ihr Patron sie am dringendsten gebraucht hatte! Sie trugen Mitschuld am Leid seiner Familie. An seinem Leid. Am Tod von Bella, am Tod von Livia und dem all seiner Geschwister.

Rufus schüttelte energisch den Kopf. »In der Nacht, als die Sonnenlegion kam, sind zwei Menschen aus dem Haus der Arponier entkommen. Wer?«

Selissa schmunzelte. »Ich hielt mich in dieser Nacht nicht in der Nähe des Anwesens auf.«

»Hast doch sicher die Verurteilten befragt.« Rufus starrte die Richterin drohend an. »Wer ist der Sonnenlegion durchs Netz geschlüpft?«

Die Praetora zögerte. »Warum sollte ich dir antworten?«

Valerius atmete tief durch. »Wegen deines Bruders, wegen deines guten Rufs«, schlug er vor. »Beantworte die Frage!«

Selissa rang mit sich. »Eine Sklavin soll entkommen sein, eine Amme, mit Fastidias Enkel. Zumindest wurden die beiden nicht aufgefunden.«

»Ihre Namen?«, drängte Rufus.

»Der Name des Jungen lautet Lucius. Er ist Fastidias Enkelkind. Der Name der Amme lautet«, Selissa überlegte kurz, »Rumira oder Rumina?«

Rufus’ Augen weiteten sich. »Er lebt«, stieß er hervor. »Wo sind sie hin?«

Selissa zuckte mit den Schultern. »Die Sonnenlegion durchkämmte ganz Alt-Bosparan. Ein Zeuge wollte eine Frau und ein Kind passenden Alters in jener Nacht auf der Via Aventis zwischen Calceus und Haldurias gesehen haben. Aus diesem Grunde klopfte die Legion sogar in Haldurias an etliche Türen – jedoch vergeblich. Wenn ihr mich fragt, befinden sie sich bereits in Rommilys oder Drôl.«

Rufus nickte. »Danke.« Er gab Valerius einen Wink. »Gehen wir.«

Valerius zögerte. Er hatte noch so viele Fragen.

Rufus fasste ihn am Arm. »Lass uns gehen! Sind schon viel zu lange hier.«

»Wartet!«, rief Selissa. Sie schloss kurz die Augen. »Lasst meinen Bruder in Frieden, hört ihr?«

Valerius und Rufus warfen sich einen Blick zu.

»Er wusste es nicht besser«, beharrte die Praetora. Nun schlich sich doch noch eine Spur Verzweiflung in ihre Stimme. »Dolabellus hatte immer schon eine …«, sie rang mit sich, »eine Zuneigung zu Feuer, schon als Kind. Es lag ihm fern, jemanden zu töten. Er würde nicht einmal verstehen, was man ihm vorwirft, wenn bekannt wird, dass er noch lebt. Da, wo er jetzt ist, kann er niemandem mehr schaden. Er sollte die Jahre, die ihm noch bleiben, in Frieden leben dürfen. Ich bitte euch, lasst von Dolabellus ab!«

Valerius zögerte. »Vergiss, dass wir hier waren, Praetora, und wir vergessen deinen Bruder.«

Die Beamtin starrte ihn einen langen Moment lang an. Dann nickte sie.

Valerius und Rufus verließen die Curia wieder. »Die rechtschaffenste Richterin der Stadt ist doch nicht so rechtschaffen wie wir dachten«, murmelte der Veteran. »Wir leben also immer noch in Bosparan und sind nicht allesamt in Brajanos’ Paradiese eingezogen.«

»Was sie getan hat, tat sie, um ihren Bruder zu schützen, ihre Familie«, widersprach Valerius leise. »Seit dreißig Jahren lebt sie schon damit. Würdest du nicht dasselbe tun?«

Rufus zuckte mit den Schultern. »Auf die Gefahr hin, mich selbst ins Unglück zu stürzen?«

»Du tust auch alles, was nötig ist, um den Sohn deiner Kameradin zu finden«, wandte Valerius ein.

»Wie dem auch sei, wir wissen nun, wohin sie damals geflohen sind.«

»Haldurias ist groß«, gab Valerius zu bedenken. »Ein wahres Labyrinth.«

»Nicht für Menschen, die dort aufgewachsen sind.«

Valerius warf dem Veteranen einen Seitenblick zu, schwieg aber. Sie waren auf der Suche nach Mitgliedern einer Familie, die seine eigene verraten hatte. Mit einem Mal hatte er Zweifel daran, ob er Rufus’ Vorhaben immer noch gutheißen konnte.

Kapitel 2

Sabella musterte das Gebäude. Sie stand in der Straße hinter dem Ludus Cestillus, so wie es der Valerius aus ihren Träumen gesagt hatte, und tatsächlich gab es hier ein Lupanar. Allein die Tatsache, dass dieser Valerius bis hierhin Recht behalten hatte, weckte Beklommenheit in ihr.

Das Gebäude stand in einer der schmalen Gassen, die vom Olrukeum fortführten. Die zur Straße weisenden Läden im Erdgeschoss der Insula waren zu dieser späten Stunde bereits geschlossen. Eine Laterne über dem Zugang zum Freudenhaus warf Licht auf die Tür. Die Intarsien darauf bildeten Weinreben und springende Pferde ab. Wenn sie dem Traumbild Glauben schenkte, erwartete ihr Zwillingsbruder sie dahinter.

Wenn sie die Augen schloss, drängten sich erneut die verstörenden Traumbilder der vergangenen Nacht in ihren Verstand: die Toten. Das blutrote Licht. Das kleine Mädchen. ›Es bricht an. Das Reich der Toten. Das Zeitalter des Blutes.‹

Es gab einen Grund dafür, dass Valerius in ihrem Traum erschienen war. Sie musste diesen Grund in Erfahrung bringen.

Sabella atmete tief durch, dann legte sie die letzten Schritte zum Eingang zurück. Sie stieß die Tür auf. Gedämpftes Licht, Gelächter und Musik begrüßten sie.

Sie fand sich in einem Schankraum wieder, dessen eine Seite von einer langen Theke dominiert wurde. Die Wand dahinter zierte ein beeindruckendes, wenn auch äußerst frivoles Fresko. Rundum reihten sich abgetrennte Nischen entlang der Wände, in denen Gäste mit leicht bekleideten Sklaven zusammensaßen. Das schummrige Kerzenlicht reichte nicht bis in jede Ecke und Nische.

Zögerlich schaute Sabella sich um. Den jungen Mann mit den braunen Augen sah sie nicht. Sie kam sich töricht vor. Ihr Bruder war lange tot. Natürlich hielt er sich nicht in einem Lupanar auf.

Sie wandte sich wieder ab, doch eine Sklavin mit einer blonden Perücke trat ihr in den Weg. »Ich begrüße dich in Raias Namen im Hause des Hedonius. Du besuchst uns zum ersten Mal, sofern ich mich nicht irre? Mein Name ist Suava, ich bin deine Gastgeberin.«

Sabella zögerte. Ihr Blick huschte zum Ausgang hinüber. »Hedonius?«, wiederholte sie leise. Sie räusperte sich. »Wer ist das?« Sie musterte Suavas Handrücken, auf denen die Initialen ›HM‹ eintätowiert waren.

Suava lächelte. »Der Besitzer dieses Hauses – Hedonius Mundanus.«

Sabellas Hoffnung schwand. Der Traumgott Bidarius hatte sich einen schlechten Scherz mit ihr erlaubt und nun verschwendete sie wertvolle Zeit in einem suspekten Etablissement. Was würde wohl geschehen, wenn Magister Cornificius erfuhr, dass sie sich hier herumtrieb?

Die Sklavin wies mit einladendem Lächeln auf eine freie Nische. »Möchtest du dich nicht setzen? Ich lasse dir einen Becher Wein bringen.«

»Ich sollte besser wieder gehen«, murmelte Sabella. Ihre Wangen wurden heiß.

Suava lächelte. »Sei unbesorgt, du bist zu nichts verpflichtet. Trink etwas, ich lasse dir einen Becher auf Kosten des Hauses bringen. Wenn du dann doch noch Raias oder Belkelels Ruf hörst, kannst du ihm immer noch folgen. Wenn nicht, dann wird dir niemand einen Vorwurf machen.«

Sabella wagte es nicht, ein weiteres Mal zu widersprechen. »Wie du meinst.« Sie ließ sich in der ihr zugewiesenen Nische nieder. Ein Schluck Wein, ehe sie wieder zum Oktogon zurückkehrte. Das ließ sie in der kommenden Nacht hoffentlich besser schlafen und hielt den Traumgott auf Abstand.

Sabella ließ ihren Blick erneut durch den Raum wandern. Was trieb Menschen nur dazu, ein solches Haus aufzusuchen? Alle Gäste machten den Eindruck, bestens gelaunt zu sein. Ein übergewichtiger Mann flüsterte einer kichernden Sklavin etwas zu. Eine muskulöse Frau ließ sich von einem Lustsklaven mit Trauben füttern. In einer Nische direkt gegenüber saß ein dunkelhäutiger Mann, ein Tulamide, allein und über seinen Weinbecher gebeugt. Auch er hatte wohl nicht gefunden, wonach er gesucht hatte.

Eine junge Frau trat an Sabellas Tisch heran und stellte einen Becher vor ihr ab. »Willkommen in Hedonius’ Haus!«, grüßte sie lächelnd. »Ich bin Marica. Darf ich mich zu dir setzen oder ziehst du die Gesellschaft eines Mannes vor? Mein Dominus beschäftigt die einfühlsamsten Unterhalter der Stadt.«

Sabella schaute auf. Marica trug wie alle Kurtisanen hier ein halb durchsichtiges, rosenfarbenes Gewand, unter dem sich deutlich ihre bloßen Brüste abzeichneten. Sie hatte ein eher gewöhnliches Gesicht, aber ein einnehmendes, offenes Lächeln. Ihr nussbraunes Haar trug sie sorgsam hochgesteckt.

Sabella wurde sich bewusst, dass sie die junge Frau anstarrte. »Ich vermag es nicht zu sagen«, entgegnete sie ehrlich. »Ich habe mich noch nie zuvor mit derartigen Sachverhalten auseinandergesetzt.«

Marica schmunzelte. »Dann finden wir es heute Nacht doch gemeinsam heraus.« Sie nahm neben ihr Platz. »Auch in diesem Fall bist du hier richtig. Du musst aber doch zumindest eine Ahnung haben, was dich reizen könnte?«

Sabella bemühte sich, etwas von der Kurtisane fortzurücken. Sie musste aus dieser misslichen Lage wieder herausfinden. »Ich denke, ich …«, sie stockte, »ich war wohl mit anderen Dingen beschäftigt.«

Die Sklavin lachte leise auf. »Du gefällst mir! Ich bin mir sicher, dass wir sehr viel Spaß miteinander haben werden. Besuchst du denn das erste Mal ein Haus der Freuden?«

Sabella schüttelte den Kopf. »Ich musste bisweilen meinen Meister aus einem Lupanar abholen.«

»Deinen Meister?«, hakte Marica sofort nach.

»Meinen Lehrmeister. Ich bin eine Magierin.«

Das Gesicht der Sklavin hellte sich auf. »Wie aufregend. Zeig mir einen Zauber!«

Sabella nahm den Weinbecher auf. »Verzeih mir bitte. Du bist sehr bemüht und machst deine Arbeit sicher gut. Ich werde nun aber wieder …« Ihr Blick fiel auf den Ausschank.

Zwei Männer traten durch die Tür hinter der Theke: ein einarmiger, muskelbepackter Riese von einem Mann – und der junge Mann aus ihrem Traum.

Sabella ließ den Becher wieder sinken.

»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Marica. »Du siehst blass aus. Habe ich dich verstimmt?«

Sabella wies hastig zur Theke. »Ist das dein Dominus?«

Marica nickte. »Das ist er. Kennst du ihn?«

»Wie lautet sein Name?«

»Hedonius«, antwortete Marica nach kaum merklichem Zögern.

Sabella musterte den Lupanarbesitzer eingehend. Er war tatsächlich in ihrem Alter. Er war sehnig, besaß warme braune Augen und ein offenes Lächeln. Obwohl er sich Mühe gegeben hatte, seine braunen Haare zu ordnen, ragte hier und da eine vorwitzige Strähne hervor. Er trat von hinten an Suava heran und raunte ihr einige Worte ins Ohr. Die Gastgeberin des Lupanars verdrehte lachend die Augen und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

Die einzige Erinnerung, die sie an ihren Bruder hatte, stammte aus ihrer frühesten Kindheit. Andronicus hatte ihr alle Erinnerungen an diese Zeit genommen und nur eine war wiedererwacht. Diese jedoch umso deutlicher, auch wenn sie beide damals nicht einmal drei Jahre alt gewesen waren: Sabella legte sich mit einem älteren Jungen an, der ihren Bruder verspottete und verprügelte. Valerius war besorgt, dass sie sich für ihn in Gefahr brachte. Für sie gab es aber keinen Zweifel: Niemand bedroht meinen Bruder, hatte sie ihm versichert.

Ihre logische Schlussfolgerung war demnach, dass ihr Zwillingsbruder ihr einmal etwas bedeutet hatte.

Sabella rang mit sich. Sie könnte ›Hedonius‹ ansprechen. Oder aber sie wartete ab, ob er sie erkannte, ob er sich nach all der Zeit überhaupt an sie erinnerte. Die Vorstellung, ihm ihre Lebensgeschichte auszubreiten und zu hoffen, dass er ihr Glauben schenkte, behagte ihr nicht.

Ob nun Hedonius oder Valerius, eines war klar: Sie sah sich Nazirs Mördern gegenüber. Noch aus dem Totenreich heraus hatte der Tulamide es ihr gezeigt: Der einarmige Hüne hatte Nazir erwürgt und Valerius hatte dabei zugesehen.

»Warum fragst du?«, erkundigte sich Marica behutsam.

»Es ist schon gut«, wiegelte Sabella ab. »Es gibt da eine Problematik, die mich beschäftigt, und ich bin mir nicht sicher, wie ich sie angehen soll.« Sie zögerte, dann wandte sie sich an die Sklavin. »Gibt es hier irgendwo einen Ort, an dem wir beide allein wären? Vielleicht für eine Stunde?« Sie brauchte Zeit für ihren Zauber, sollte es notwendig werden, ihn anzuwenden.

Maricas Lächeln verbreiterte sich. »Du hast wirklich noch nicht viel Zeit in einem Lupanar verbracht. Folge mir!« Sie nahm Sabellas Hand und führte sie zu einem Durchgang neben dem Ausschank. Sie passierten dabei die Theke. Hedonius schaute kurz auf, wandte sich dann aber wieder Suava zu.

Marica geleitete Sabella zu einem Separee, das lediglich durch einen Vorhang vom Gang getrennt wurde. Es gab hier ein bequemes Bett mit seidenen Kissen. Raiagefällige Darstellungen und kleine Statuen zierten den Raum, der von Kerzenlicht in ein schummriges Licht getaucht wurde. Sabellas Blick fiel auf die Malerei über dem Bett – ein Mann, der den Kopf im Schoß einer nackten Frau versenkt hatte. Neben dem Bett stand ein niedriger Tisch mit einer Obstschale und einigen phallusförmigen Objekten aus poliertem Edelholz und Leder. Sabellas Wangen wurden noch heißer.

»Wunderbar«, urteilte Marica zufrieden. »Das hier ist mein liebster Raum.« Die Sklavin zog den Vorhang zu, trat dann an Sabella heran und schlang die Arme um ihren Hals. »Gestatte mir, dir Raias Freuden zu zeigen!« Sie presste ihre Lippen auf Sabellas Mund.

Sabella erstarrte. Was geschah hier? Was erwartete die Sklavin nun von ihr? Welche Reaktion war auf diesen Akt angemessen?

Nach einigen Momenten lehnte sich Marica wieder zurück und musterte sie skeptisch. »Bist du dir sicher, dass ich nicht besser einen Mann für dich herbeiholen soll? Ich empfehle dir Erato. Er ist sehr einfühlsam, er wird dich sicher erfreuen und dir eine unvergessliche Zeit bereiten.«

»Nicht nötig«, wehrte Sabella hastig ab. »Du wolltest einen Zauber sehen, richtig? Schau mich bitte an.«

Marica lächelte. »Ich schaue dich gerne an. Du hast so ungewöhnliche Augen. Es tut mir auch leid, dass ich das jetzt sagen muss, aber ich muss darauf bestehen, dass du vorab zahlst.«

»Confideo!«, murmelte Sabella hastig, ehe sich noch weitere Peinlichkeiten anhäufen konnten. Sie tastete mit ihrem Willen nach dem Verstand der Sklavin und stieß dabei kaum auf Widerstand. Der Beherrschungszauber fand sein Ziel.

Maricas Ausdruck wandelte sich binnen weniger Momente. Ihre Miene entspannte sich, ihr Lächeln wurde ehrlicher. »Weißt du, du musst gar nicht zahlen, wenn du nicht möchtest«, versicherte sie ihr. »Es tut mir leid, dass ich das überhaupt vorgebracht habe.« Sie beugte sich wieder vor, ihre Lippen liebkosten Sabellas Hals. »Nimm meine Entschuldigung an.« Ihre Hand wanderte Sabellas Leib hinab.

Sabella zuckte zurück. Rasch packe sie Maricas Hand und schob die Sklavin auf Armeslänge von sich. »Bitte, lass uns Platz nehmen und reden.«

»Gerne«, zirpte Marica. »Worüber möchtest du sprechen?«

Sabella bugsierte die Kurtisane zu dem Bett und sie nahmen Platz. »Wem gehört dieses Haus?«

»Meinem Dominus.«

»Sein Name lautet nicht Hedonius, habe ich recht? Sondern Valerius?«

»Das stimmt!«, bestätigte Marica erleichtert. »Er hat Hortensia das Lupanar abgekauft. Wir müssen ihn Hedonius nennen, aber das ist nicht sein richtiger Name. Sicherlich, weil es einen besseren Eindruck macht. Also, für die Gäste. Glaub mir, ich bin wirklich glücklich, dass die Alte fort ist. Hortensia hat mich einmal geohrfeigt, als ich Wein verschüttet habe. Dominus behandelt mich sehr viel besser. Neulich durfte ich sogar …«

»Wie lautet der Familienname deines Dominus?«, unterbrach Sabella den Redeschwall der Sklavin.

Marica zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, er hat keinen. Er wuchs wohl auf der Straße auf. In Puninum, meinte Rufus einmal.«

»Bist du dir sicher?«

»Er spricht schon sehr gehoben für ein Straßenkind«, gab sie zu. Ehrliche Bewunderung lag in ihren Augen. »Er ist sehr klug und weltgewandt.«

Sabella kamen Valerius’ Worte aus ihrem Traum in den Sinn. »Wofür genau ist dieses Lupanar eine Fassade?«

Maricas Augen weiteten sich. »Du weißt davon?«

Sabella nickte. »Wie viel ist dir bekannt? Verrate es mir!«

»Nur, dass Dominus und Rufus bisweilen andere Namen benutzen. Sie gehen Buchmachergeschäften nach.« Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. »Ich glaube, sie wollen sich mit der Micatio anlegen.«

»Die Micatio?«

Marica nickte eifrig. »Eine der Fünf Banden. Ich weiß, es ist viel zu gefährlich. Ich hoffe, Dominus stößt nichts zu.«

»Weißt du, ob Dominus jemals einen Mord begangen hat?«, hakte Sabella nach. »Oder ob er den Tod eines Menschen angeordnet hat?«

»Das würde Dominus nicht tun!« Marica schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe allerdings schon so einiges über Rufus gehört. Er macht mir bisweilen Angst, obwohl er immer sehr freundlich zu mir ist.«

Sabella seufzte. Ihr Bruder war also nicht nur am Leben, er war ein Verbrecher, machte Geschäfte mit Wetten und führte ein Lupanar, in welchem er Sklaven an zahlende Gäste vermietete. »Das ist alles zu viel für eine Nacht«, stieß sie hervor. Sie musste diese Erkenntnisse zunächst einmal lange und gründlich reflektieren.

»Darf ich dir die Schultern massieren?«, erkundigte sich Marica mit ehrlicher Besorgnis. »Du siehst verkrampft aus. Es wird dich entspannen. Bestimmt kannst du dich dann richtig fallenlassen.«

Sabella schüttelte den Kopf. »Wir haben keine Zeit dafür.« Sie wandte sich ihr zu. »Es ist wichtig, dass du jetzt ganz ruhig sitzen bleibst, hörst du?«

Die Sklavin nickte eifrig. Sabella hob die Hand und berührte Maricas Stirn. Sie besann sich auf die Thesis des tulamidischen Zaubers und stieß die Formel aus. Nach einigen Momenten schwand Maricas Lächeln, ihre Miene wurde ausdruckslos. Sabella fuhr mit der Invocation fort, bis sich der Geist der jungen Sklavin offen und aufnahmebereit vor ihr ausbreitete.

»So ist es gut«, lobte Sabella. »Hör mir zu: Wir sind nach hinten gegangen, um uns …« Wie nannte man das? »… raiagefällig miteinander zu vergnügen. Wir haben nicht viel geredet und ich war zufrieden mit deinen Künsten. Dennoch wirst du dich morgen schon nicht mehr im Detail daran erinnern. Auch mein Gesicht wirst du wieder vergessen. Ich war nur ein Gast unter vielen.« Sie zögerte. »Du möchtest deinen Dominus zufriedenstellen und glücklich machen. Du hast sein Geheimnis bewahrt und keinen Grund, besorgt zu sein. Hast du das alles verstanden?«

Marica nickte langsam und lächelte. »Ich möchte Dominus glücklich machen.«

Sabella senkte die Hand. Erfreulicherweise erwies sich die Sklavin als äußerst empfänglich für arcane Suggestionen.

Marica schaute sich einen Augenblick lang verwirrt um, dann lächelte sie und rekelte sich. »Das war angenehm«, gurrte sie. »Ich hoffe, du kommst bald wieder und fragst erneut nach mir? Die Raianalia steht bevor, die Festtage werden in unserem Hause immer groß begangen.«

»Mag sein«, erwiderte Sabella. Rasch zählte sie einige Münzen aus ihrem Geldbeutel ab. »Ist das ausreichend? Oder bekommst du mehr?«

Marica nickte erfreut. »Das ist ausreichend, du hast meinen Dank. Ich bringe dich zurück nach vorne.« Im Schankraum verabschiedete sich die Sklavin mit einem letzten Kuss von ihr.

Sabella schaute sich noch einmal um. Valerius stand bei dem einarmigen Hünen und wechselte einige Worte mit ihm. Dann verschwand er durch die Tür hinter der Theke.

Auf dem Weg zum Ausgang überholte der Tulamide Sabella und verließ noch vor ihr das Lupanar. Der Türsteher hielt ihnen die Tür auf und verabschiedete sie freundlich.

Sabella trat in die Nacht hinaus und sog die kühle Luft in ihre Lungen. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt und sie genoss den Schauer auf ihrem Gesicht. War dieser Valerius – oder Hedonius – wirklichihr Valerius? Vieles deutete darauf hin. Doch nahm er sicher ebenfalls an, dass sein Zwilling tot war. Sie suchte nach einem Grund, warum sie dies ändern sollte.

Wenn er für den Tod anderer verantwortlich ist, schlich sich ein Gedanke in ihren Kopf, dann haben wir mehr gemeinsam als gedacht.

Sie vertrieb den Gedanken wieder und wandte sich zum Gehen. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung in der Gasse neben dem Lupanar.

Eine schlanke Gestalt hockte dort in der Gasse und zog ein Bündel aus einem Versteck zwischen zwei Kisten hervor. Der Mann erhob sich und Mondlicht fiel auf sein Gesicht: Der Tulamide, der vor ihr das Lupanar verlassen hatte. Er streifte sich einen dunklen Kapuzenmantel über und zog dann etwas aus dem Bündel. Eine Klinge blitzte für einen Moment im Mondlicht auf.

Sabella zögerte. Es könnte mit Valerius’ dubiosen Geschäften zu tun haben. Ihre Neugierde gewann rasch die Überhand. Sie trat näher und räusperte sich. »Verzeih mir bitte!«, rief sie ihm zu. »Kannst du mir den Weg zurück zum Yulag-Horas-Forum weisen?«

Die Klinge verschwand sofort wieder unter seinem Mantel. »Ich bedaure, leider nicht«, entgegnete er in nicht gerade akzentfreiem Bosparano.

Sie schaute sich um. »Dort geht es zur Arena, das sehe ich. Aber muss ich zum Forum. Führt der kürzeste Weg ebenfalls dort entlang?«

Er zögerte, dann trat er langsam auf sie zu. »Ich glaube, du musst die andere Richtung nehmen.« Seine Hand wanderte unter den Mantel.

Sie wartete ruhig ab, bis er auf drei Schritte heran war und sie sein Gesicht besser ausmachen konnte: »Confideo!«

Sein Geist setzte ihr erheblich mehr Widerstand entgegen als der von Marica. Dennoch ließ sie nicht nach. Mein Wille ist stärker! Er schwankte noch für einen kurzen Moment, dann entspannte er sich. Der Tulamide stieß etwas in seiner Muttersprache hervor, verneigte sich und lächelte breit.

Sie winkte ab. »Sprich Bosparano mit mir.«

»Verzeih mir, das werde ich«, entgegnete er eifrig. »Ich spreche deine Sprache gut.«

Sie bedeutete ihm, leise zu sein. »Gibt es hier in der Nähe einen Ort, an dem wir uns ungestört unterhalten können?«

Er nickte. »Ich habe mir die Umgebung genau angesehen. Dort, im Hinterhof gegenüber dem Lupanar gibt es einen verlassenen Stall. Folge mir.«

Sie schloss sich ihm an. »Aus welchem Grunde hast du das Viertel so genau inspiziert?«

»Für den Fall, dass ich ein Versteck benötige.«

»Wofür das?« Sie bogen in einen dunklen Hinterhof ein.

»Falls ich nicht direkt an mein Ziel herankomme. Er umgibt sich mit vielen Menschen.«

Sabella runzelte die Stirn, schwieg aber. Es war besser, wenn niemand ihre Konversation mitbekam.

Der Tulamide hielt ihr die Tür zu dem kleinen Stall auf. Ein muffiger Geruch schlug ihr entgegen. Es hätte sie nicht gewundert, wenn auch der ein oder andere betrunkene Bettler oder Trunkenbold bisweilen hier nächtigte. »Wie lautet dein Name? Wo kommst du her, wer bist du?«

»Mein Name lautet Omar. Ich wurde in Yol-Fassar geboren und ich bin ein Askari der Mussadin.«

»Ein was?« Sie bedeutete ihm, auf einer leeren Kiste Platz zu nehmen, und ließ sich ihm gegenüber nieder.

»Ein einfacher, bescheidener Fußsoldat der Mussadin, den wahren Herrschern von Yol-Fassar, der uralten Stadt an den Quellen des Gadang«, verkündete er stolz.

Sie musste sich beeilen. Der Freundschaftszauber wirkte nicht ewig und dieser Mann war bewaffnet. Sicherlich konnte er mit seinen Waffen auch umgehen. »Du sprachst von einem Ziel.«

Er zögerte. Der Cantus übte keine so umfassende Wirkung auf ihn aus wie zuvor mit Marica. Er bewahrte sich einen Rest seines Misstrauens. »Ich kenne mich hier aus«, versicherte sie ihm. »Ich kenne viele Leute. Ich vermag dir zu helfen.«

»Sein Name lautet Valerius«, verriet Omar ihr.

Also doch. »Was hast du mit Valerius zu schaffen?«

»Er hat Abu’Keshal ermordet, das Haupt der Schlange, unseren weisen Vater und feqzgesegneten Anführer«, verriet ihr der Askari grimmig.

»Er hat jemanden ermordet?«

»Kaltblütig und grundlos. Die neun Wezire entsandten uns, um den Mörder zu finden, und nach Yol-Fassar zu schaffen, damit Abu’Keshal gerächt werden kann und seine Seele Frieden findet.«

»Du bist nicht allein?«

»Wir sind in das Reich der Güldenländer gezogen, um ihn zu finden. Zwei Askarim, die eine Spur bis nach Bosparan, der Hunderttürmigen, verfolgten, verschwanden spurlos.«

»Nazir«, murmelte sie.

Er nickte. »Nazir und Merisa, ganz recht. Du kennst sie? Ihr Verschwinden erweckte mein Misstrauen, deshalb habe ich auch nicht nachgelassen, bis ich den feigen Mörder gefunden habe.«

Sabella lehnte sich zurück. Nun war sie froh, dass sie Valerius nicht direkt angesprochen hatte. Er hatte eigenhändig gemordet und weitere Morde in Auftrag gegeben. Es klebte Blut an seinen Händen. Das haben wir zwei gemein.

Sie wischte den Gedanken beiseite. »Du trägst Waffen bei dir?«

»Selbstverständlich«, brüstete er sich. »Ich bin ein Askari!«

»Gib sie mir«, bat sie. Er zögerte sichtlich. Besser, sie übertrieb es nicht. »Trägst du einen Dolch bei dir? Gib ihn mir bitte.«

Omar zog einen kurzen, krummen Dolch unter dem Gewand hervor. Er überreichte ihn Sabella. Sie zog die Klinge aus der Scheide und musterte sie. »Du bist hier, um Valerius einzufangen?«

»Wenn Feqz es so will, dann werde ich ihn lebend ergreifen und nach Yol-Fassar schaffen, wo die Wezire über ihn richten werden.«

Sie starrte die Klinge an. »Welches Schicksal erwartet ihn dort?«

»Ein grausamer und langsamer Tod, um das Blut zu vergelten, das er vergossen hat – als Warnung an alle feigen Güldenländer.«

Die Klinge fing das Mondlicht ein, das durch die Ritzen in den Stallwänden hereinfiel. Sabella starrte in ihre eigenen grauen Augen, die sie aus dem blanken Metall heraus musterten. Etwas regte sich tief in Sabella – etwas, das sie viel lange Zeit unterdrückt hatte. »Siebzig Tage«, raunte sie. Siebzig Tage – seit den Katakomben. Seit Marcabus.

»Was sagst du?«, erkundigte sich Omar stirnrunzelnd.

Es war immerzu hungrig und nun witterte es Nahrung. Das Dunkle Verlangen wusste, dass sich ihm eine Gelegenheit bot. Dass sie nicht viel Widerstand leisten würde, denn sie hatte Interesse daran, dass Omar starb. Sabella starrte die Klinge an. »Vielleicht hat er es nicht verdient?«, murmelte sie.

Omar schüttelte heftig den Kopf. »Er ist ein kaltblütiger Mörder.«

Das bin ich auch. Sie stand langsam auf und wog den Dolch in der Hand. Es wäre so leicht. Es wäre eine vertane Gelegenheit. Niemand wird wissen, dass ich es war.

Er musterte sie skeptisch und spannte sich an.

»Wenn du