3,99 €
München/Gran Canaria 2022 "Daniel ist tot." Am 23. Januar 2022, um kurz nach 22:00 Uhr Ortszeit, begann für mich, für meine ganze Familie, eine neue Zeitrechnung, eine neue Ära. Es begann die Zeit ohne Daniel. ** Nur eine Woche nach seinem 20. Geburtstag starb mein Sohn unter tragischen Umständen. Nach einem nur knapp zwei Jahre dauernden Kampf hatten die Drogen gewonnen. Mein Kind erfror im Drogenrausch in einer eisigen Nacht neben einem Bahndamm. Er kämpfte immer wieder, versuchte, sich aus dem tödlichen Kreislauf zu befreien, doch ein überlastetes marodes Gesundheitssystem und ein wahrhaft "tödliches" Umfeld führten letztendlich zur Katastrophe. Keine Mutter, kein Vater sollte sein Kind beerdigen müssen. Wenn es mir gelingt, mit diesem Buch nur ein Leben zu retten, habe ich mein Ziel schon erreicht. Denn mag unsere Jugend es auch denken, vertraut mir: Sie sind nicht unsterblich! ** Gabriele Ketterls briefartiges Buch ist ein Schrei, ein Hilferuf, eine Anklage und eine liebevolle Abschiednahme von ihrem Sohn – und ein zeitloser Klassiker über Drogen und Teufelskreise.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 250
Gabriele Ketterl
Du hast versprochen
nicht zu sterben
Gedanken an
und Gespräche mit meinem toten Kind
Gabriele Ketterl
Du hast versprochen
nicht zu sterben
Gedanken an
und Gespräche mit meinem toten Kind
ELYSION-BOOKS
Print; 1. Auflage: Januar 2024
eBook; 1. Auflage: Januar 2024
VOLLSTÄNDIGE AUSGABE
ORIGINALAUSGABE
© 2023 BY ELYSION BOOKS GMBH, LEIPZIG
ALL RIGHTS RESERVED
UMSCHLAGGESTALTUNG: Ulrike Kleinert
www.dreamaddiction.de
ISBN (vollständiges Ebook) 978-3-96000-288-8
ISBN (gedrucktes Buch) 978-3-96000-287-1
Mehr himmlisch heißen Lesespaß finden Sie auf
www.Elysion-Books.com
Für
Paul, Claudio, Marc, Danil, Alex
und Daniels andere, echte FreundeDanke für eure Freundschaft
Man sieht die Sonne langsam untergehen und erschrickt doch, wenn es plötzlich dunkel ist.
Franz Kafka
In der Nacht vom 22. auf den 23. Januar 2022 begann für unsere Familie eine neue Zeitrechnung.
Es begann die Zeit ohne Daniel, ohne unseren Jüngsten.
Unser Sohn war tot. Gestorben unter dramatischen Umständen, allein und hilflos, eine Woche nach seinem zwanzigsten Geburtstag. Die Drogen hatten nach nur zwei Jahren endgültig gewonnen.
Wie geht man damit um? Wie lebt man mit der Tatsache, dass sein Kind nie wieder zurückkommen wird? Wie verkraftet man den Verlust eines wertvollen, einzigartigen und über alles geliebten Menschen?
In meinem Fall mit Kraft und sehr viel Liebe.
Ja, ich war unbeschreiblich traurig und auch fassungslos, aber ich bin nicht zusammengebrochen und werde das auch zukünftig nicht tun. Im Jahr 2021 geschahen schreckliche Dinge mit meinem Kind, die mich dazu gezwungen haben, mich schon damals mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, dass mein Sohn sterben könnte. Das Schlimmste daran: Sobald sie volljährig sind, ist man von Gesetzes wegen gezwungen, diesem Sterben hilflos zuzusehen.
Zwischen Daniel und mir bestand, solange die Drogen ihn noch nicht unter Kontrolle hatten, immer ein besonderes Band. Er war mir sehr ähnlich. Emphatisch, ehrlich, mit einem sehr kritischen Blick auf unsere Welt und die Menschheit. Fast achtzehn Jahre lang verstanden wir uns blind. Dann begannen schleichend die Lügen, die Ausflüchte und er zog sich mehr und mehr in eine Welt zurück, die mir, die uns, fremd war. Wir begannen, um ihn zu kämpfen, mit allen Mitteln – vergeblich. Er war volljährig.
Die Geschichte seiner letzten beiden Lebensjahre lässt sich kurz und bündig zusammenfassen.
Zuerst verlor er sein Lächeln.
Danach verlor er den Kampf gegen Depression und Drogen. Letztendlich verlor er sein Leben.
Ist er an dieser Welt verzweifelt? Ein durchaus relevanter Gedanke. Die Welt, die wir derzeit unseren Kindern zurücklassen, ist vor allem eine rauchende Müllhalde. Menschen ohne Gewissen oder menschliche Ambitionen, geleitet von der Gier nach Macht und Geld bestimmen das Geschick von vielen. Ich wusste, dass Daniel davon angewidert und abgestoßen war, aber ich konnte die Politik, die Welt nicht ändern. Ich konnte nur versuchen, ihm eine positive Einstellung zu vermitteln.
Doch das Negative, die falschen Freunde und vor allem die Drogen waren stärker. Zuletzt war er in einem schrecklichen Zustand. In einem Zustand, in dem niemand sein Kind sehen möchte.
Nach seinem Tod habe ich sofort einen Entschluss gefasst. Mein einmal so starker, sportlicher, intelligenter und hübscher Daniel konnte nicht wollen, dass man ihn als bemitleidenswerten Junkie in Erinnerung behält. Kein Süchtiger kann das wollen.
Bei meinem Kind kann ich dafür sorgen, dass sich das ändert. Ich dränge behutsam, aber stetig, den süchtigen Junkie zurück. Damit öffne ich die Pforte für meinen Sohn, für das Kind, das er wirklich war. Für einen fröhlichen, tatkräftigen, lieben, klugen Bengel, der Berge hätte versetzen können, wenn man ihn gelassen hätte. So bekomme ich meinen wahren Sohn zurück und ich denke, dass er es genau so möchte. Ein jeder, der sein Kind an die Drogen verliert, sollte das tun, denn nur so kann man weiterleben. Vor allem aber ermöglichen wir es unseren Kindern, dass sie sich – ihr wahres Ich – wiederfinden können.
Ich möchte auf diese Weise meinem Kleinen (1.95 Meter) sein Lächeln und, so seltsam das klingen mag, sein Leben zurückgeben. Er soll erneut der sein dürfen, der er einst war. So kann er wieder zu dem Kind, zu dem Menschen werden, der er hätte sein sollen. Wir müssen weiterleben, für uns, aber auch für unsere Kinder. Sie sollen sehen, dass wir nicht in Gram versinken, sondern unser Leben in die Hand nehmen. Sie müssen erkennen, müssen wissen, dass sie unser Leben nicht auch zerstört haben. Das ist wichtig! Es ist wichtig für uns und unsere toten Kinder! Sie waren, bedingt durch die Drogen, viel zu lange in Dunkelheit gefangen, indem wir sie weiterhin in unser Leben einbeziehen, holen wir sie zurück ins Licht. Das tut uns gut und hilft unserem Kind.
Ja, ich spreche mit meinem Kind. Ich erzähle ihm schräge Witze und Anekdoten aus seiner Kindheit. Ich werfe ihm allerdings auch die Dinge an den Kopf, die er einwandfrei komplett verbockt hat. Auch das muss er sich anhören, er weiß ja schließlich, von wem es kommt. Wenn ich heute mit ihm spreche, dann nicht mit dem Drogensüchtigen, dem Junkie, dem, der nicht mehr das Kind war, das ich kannte.
Es ist auch wichtig, sich das ganz besonders zu verinnerlichen! Sobald der »Dämon« Droge die Kontrolle über unser Kind übernimmt, ist das – mag uns das auch noch so sehr schmerzen – nicht mehr unser Kind. Ja, es mag noch tief irgendwo da drinstecken, mag, so wie Daniel, mehrmals die Kraft aufbringen, gegen die Drogen kämpfen zu wollen, aber hier reicht dieser Wille leider nicht aus. Wenn dann noch fatale Rahmenumstände dazukommen, gewinnt immer die Sucht. Ein Arzt sagte hierzu: »Mit dem ersten Schuss Heroin verlierst du die Kontrolle über dich und übergibst sie an die Sucht.«
Ich kann die Tatsachen, alles das, was geschehen ist, nicht ändern. Etwas, das ich in meinem Leben schon früh gelernt habe. Was ich sehr wohl tun kann, das ist, das Beste aus jeder Situation zu machen. Da ich will, dass es meinem Kind wenigstens jetzt wieder gut geht, so wie vor 2019, habe ich das Kind von damals wieder in mein Leben geholt. Schöne Erinnerungen, einzigartige, lustige Momente werden mit der Zeit die schrecklichen Augenblicke und Geschehnisse der letzten zwei Jahre zu einem kaum mehr bemerkbaren Schatten verblassen lassen.
Und ich will warnen. Eltern und Jugendliche. Ich möchte aufrütteln und gleichzeitig trösten. Niemand kann sich vorstellen, was einem alles einfällt in dem Augenblick, in dem man sich über eine schreckliche Tatsache bewusst wird:
Ich werde es nie wieder tun können!
Wichtig zu erwähnen ist mir:
In diesem Buch stehen einzig und allein meine Empfindungen, meine Erinnerungen und meine Eindrücke. Ehrlich, traurig, erschreckend und – so hoffe ich doch – abschreckend für Jugendliche, die sich am Rand dieses Abgrundes befinden und darüber nachdenken, ob sie weitergehen sollen.
Bleibt stehen, kehrt um – sofort! Ihr glaubt, ihr seid unsterblich? Ihr glaubt, ihr könnt die Drogen kontrollieren? In diesem Buch beweise ich euch das Gegenteil! Und glaubt mir, die Wahrheit ist grausam!
Gran Canaria, Samstag, 22.01.2022
Dieser Samstag ist seltsam.
Ruhelos, drückend, einfach anders. Wir haben ein wenig Calima auf Gran Canaria. Du kennst das noch, nicht wahr, Daniel? Du hast es mehrmals hier erlebt. Rot-gelber Sand aus den Wüsten Afrikas, der vom Wind selbst durch die kleinsten Ritzen ins Haus geweht wird. Putzen macht erst Sinn, wenn es vorbei ist. Ich bin aus unserem Bergdorf zum Einkaufen nach Puerto de Mogàn hinuntergefahren. Am heutigen Abend ist der Abschied von Beth. Du erinnerst dich an sie? Beth OKain, die großartige starke Frau, die mal eben über den Atlantik gerudert ist. Ich habe dir von ihr erzählt. Du fandest das unglaublich mutig. Sie muss zurück nach Amerika. Auf sie warten ihr Segelboot, eine Durchquerung des Panama-Kanals und andere, spannende neue Abenteuer.
Wenn wir uns alle treffen wollen, dann muss ich noch ein paar Dinge besorgen. Also gehe ich in den SPAR Markt mitten im Ort. Du kennst ihn sehr gut. Und die Angestellten kennen dich. Der Junge, der nicht satt zu bekommen ist. Du wurdest dort zu einer Berühmtheit. Es war herrlich. Bei einem deiner Aufenthalte auf der Insel bist du aus dem Fitness-Studio gekommen und hattest natürlich Hunger wie ein Bär. Wir sind gemeinsam einkaufen gegangen, du hast mir nicht getraut in puncto Menge. Du hast zielstrebig die Fleischtheke angesteuert. »Ich will Pepitos mit allem.« Wohlgemerkt, Mehrzahl! Normalerweise ist ein Pepito, ein großes typisch kanarisches Kartoffelbrötchen mit Lendenschnitte, Tomate, Salat, Gurke und Mayo eine ganze Mahlzeit. Die nette Metzgerin fragte nach der Größe der Fleischscheiben, die eigentlich grob 4 bis 5 Millimeter dick sein sollten. Du hast die Hand gehoben und mit Daumen und Zeigefinger angezeigt, was du dir so vorstellst. Die beiden Finger gingen immer weiter auseinander und die Augen der Metzgerin wurden zunehmend größer. Schließlich lachte sie. »Junge, das sind keine Lendenschnitten mehr für Pepitos, das sind satte Steaks.« Du hast grinsend auf deinen Bauch gedeutet und erklärt, dass da Platz für sehr viele Steaks wäre.
Als ich heute an der Kasse im besagten Supermarkt die »Aloe Vera King«-Flaschen sehe, muss ich natürlich sofort an dich denken. Wie es dir heute wohl geht?
Dein Bruder hat mir von deiner Geburtstagsfeier letztes Wochenende erzählt, bei der ich nicht sein konnte. Zwanzig Jahre. Himmel, wie die Zeit vergeht. Er hatte so sehr gehofft, dass es nach deinem »kalten Entzug« (der wievielte war das gleich wieder?) eine schöne Feier werden würde. Dein sechs Jahre älterer Bruder hat das getan, was früher immer ich übernommen habe. Er hat dir deine Lieblingstorte gebacken.
Neg... oh Verzeihung, Schaumkuss-Torte mit Mascarpone-Sahnecreme und Mandarinen. Also unseren »All-Time-Familienklassiker«. Dein Dad hat sich auch gefreut, zumindest am Vormittag. Du warst so gut wie clean, du hast erzählt, gelacht und mit ihm gemeinsam gefrühstückt. Ich glaube, du hast keine Ahnung, wie glücklich ihn solche kleinen Fortschritte machen. Meine lange WhatsApp zu deinem Geburtstag war wohlüberlegt, vor allem aber kamen die Worte tief aus meinem Herzen. Unser Verhältnis ist, deiner Sucht geschuldet, schlecht geworden. Die einstige, tiefe Vertrautheit ist zerstört. Aber vor zwei Wochen habe ich in einem Geschäft im Einkaufszentrum »El Tablero« endlich die Boxershorts gefunden, die du vor vier Jahren schon gesucht hast. Du weißt, wovon ich spreche?
Rosa, mit Flamingos darauf. Genau die, die auch Bonez MC getragen hat. Du und ich wir kennen die Geschichte dahinter. Natürlich habe ich sie sofort gekauft. Dazu gleich noch einen schicken Kulturbeutel in Schwarz. Als »Verpackung« für die Shorts und auch als sinnvolles Geschenk für deinen anstehenden Klinikaufenthalt zum Langzeitentzug. Meine Freundin Tanja hat das Ganze mit nach München genommen und Dad hat das Päckchen heimlich abgeholt, damit es rechtzeitig zu deinem Geburtstag an Ort und Stelle war. Ich habe dir einen Zettel dazugelegt:
»Kaum wartet man vier Jahre ...«.
Während ich ihn geschrieben habe, hoffte ich, du würdest dich freuen. Du solltest sehen, dass ich nichts vergessen habe, dass du immer in meinen Gedanken bist. Ich vergesse nie!
Meine Nachricht zu deinem zwanzigsten Geburtstag war allerdings wesentlich länger. Darin habe ich wieder einmal geschrieben, dass ich dich liebe.
Vor allem aber stand da ganz groß, dass ich noch immer – nach allem, was geschehen ist – an dich glaube. Gegen Mittag kam am 16. Januar, dem Tag deines Geburtstages, dann dein »Dankeschööööön«. Ich habe mich so darüber gefreut, wie über jedes noch so kleine Lebenszeichen von dir.
Allerdings hast du selbst dich dann zu eben der Zeit nicht nur für die Familie »hübsch« gemacht. Es blieb offensichtlich nicht beim Haarewaschen, Rasieren, Duschen und coolem Männerduft. Keiner von uns weiß, wie viele »Benzos« (Benzodiazepine, das Gift, das die Psyche und den Körper gleichermaßen zerstört) du wieder geschluckt hast. Alle haben sich bemüht, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Das Gefühl, dass die Familie für dich nur noch im Dämmerzustand zu ertragen ist, hat weh getan. Vor allem dein Bruder war tief enttäuscht. Auch er hat immer wieder an dich geglaubt, gehofft, mit aller Kraft um dich, den »Kleinen« gekämpft. Vor allem nach dem letzten kalten Entzug waren alle voller Hoffnung und dann dieser erneute Rückfall. Meine Trauer und Hilflosigkeit, als ich davon erfahren habe, kannst du eventuell jetzt nachvollziehen?
Heute, eine Woche später, am 22. Januar, laufe ich durch besagten Supermarkt im Hafen. Süßkram einkaufen für die Abschiedsfeier. Wir wollen am Sunset-Point feiern, oder wie Ulli ihn nennt, dem »letzten magischen Ort in Puerto de Mogán«. Du kennst ihn gut, diesen Ort. Ich hatte damals das Gefühl, du hättest den Blick zum Horizont, die Weite und das Rauschen der Wellen gemocht. Hatte ich Recht, oder war das wieder einmal eine Täuschung, etwas, das ich mir nur erhofft hatte? Mit einem Pack Gummibärchen und ähnlichen ungesunden Sachen stehe ich an der Kasse. Im Getränkeregal hinter mir stehen diese vielen »Aloe Vera Kokos«-Drinks. Ich muss unweigerlich grinsen. Mindestens sechs Flaschen davon hatten wir immer im Kühlschrank, wenn du mit mir hier warst. »Weil es so gesund ist«. Lecker war er, das war auch schon alles.
Je später es wird, desto mehr macht sich in mir ein Gefühl der Ruhelosigkeit breit. Seltsam, das kenne ich nicht bei mir. Viel zu früh gehe ich zum vereinbarten Treffpunkt in den Klippen, direkt über dem Meer. Fast eine Dreiviertelstunde bin ich dort allein. Es tut gut und ich werde wieder ruhiger. Als Beth und die anderen der Reihe nach ankommen, wird es eine schöne, angenehme Runde.
Mit Beth kann ich derzeit besonders gut reden. Sie weiß genau, wie es mir geht. Sie kennt und versteht meine Angst um dich nur zu gut.
Eine Überraschung gibt es auch noch. Tommy, der Arzt aus Schweden, der 2021 mit uns im Gimnasio, dem hiesigen Fitness-Studio, trainiert hat, ist angekommen. Gerade erst vor wenigen Stunden. Sofort fragt er nach dir. Du warst die ganze Zeit über in seinen Gedanken, er war ebenso besorgt wie wir alle. Er will wissen, wie es dir geht und ob du schon mit dem Studium angefangen hast. Ob die Coronarestriktionen in Deutschland dich sehr behindert haben und vieles mehr. Ich will ihm noch nicht alles erzählen, dazu kennen wir uns nicht gut genug und Beth rettet mich mit einem Gespräch. Die Feier soll bis nach 23.00 Uhr dauern. Sonst ist das für mich eine gute Zeit, heute ist es anders. Schon um kurz nach 20.00 Uhr will ich weg, es geht mir zunehmend schlechter.
Warum? Ich kann es nicht erklären, eigentlich gibt es keinen Grund. Der Abschied von Beth ist herzlich. Wir vereinbaren, wenn es irgendwie geht, uns am nächsten Tag vor ihrem Abflug noch am Strand von Tauro zu treffen. Und ich soll sie auf dem Laufenden halten, wie es dir geht. Ihr letzter Satz an diesem Abend: »Wenn du jemanden zum Reden brauchst, ich bin immer für dich da. Tag und Nacht.«
Eine gute halbe Stunde später bin ich in unserem Haus in Mogán. Es ist inzwischen 21:00 Uhr, also 22:00 Uhr eure Zeit. Mir geht’s zunehmend miserabler, ich habe Herzrasen und Atemnot, seltsam. Ich koche mir einen Tee und sehe fern. Warum ist mir so hundeelend? Sollte ich etwas Falsches gegessen haben, oder kommt ein Wetterumschwung? Ein Blick auf mein Handy zeigt mir, dass es von zu Hause keine neuen Nachrichten gibt. Schade. Es beruhigt mich immer, wenn ich weiß, was los ist. Vor allem was es bei dir Neues gibt, will ich wissen, selbst wenn es meist eher beunruhigend und verstörend ist. Muss man nicht erklären, muss man nur akzeptieren.
Um 22:30 Uhr halte ich es vor dem Fernseher nicht mehr aus. Ich gehe ins Bad, putze mir die Zähne und versuche zu schlafen.
Von wegen schlafen, ein guter Plan, jedoch nicht umsetzbar.
Aus dem Schlaf wird einfach nichts. Mein Magen rebelliert jetzt auch noch und ich bin ratlos. Es ist fast Mitternacht bei uns, als ich noch einmal nach unten gehe und eine meiner Magentabletten nehme. Langsam wird mir das Ganze unheimlich. Wieder in meinem Bett wickle ich mich in meine Decken. Mir ist kalt, verdammt kalt. Es ist eine warme Nacht, wir haben um die 17° C draußen, warum friere ich dann so dermaßen? Nicht nur, dass ich friere, ich schaffe es kaum mehr, einen klaren Gedanken zu fassen. Sollte ich mir allen Ernstes dieses bescheuerte Coronavirus eingefangen haben? Schüttelfrost würde ja hinkommen, aber ich habe definitiv kein Fieber. Das alles passt in meinem Kopf nicht zusammen. Allerdings scheint dieser Kopf sowieso ein seltsames Eigenleben zu entwickeln. Ich schaffe es beim besten Willen nicht mehr vernünftig zu denken. Ich habe das Gefühl, als hätte jemand eine schwarze, schwere Decke über meine Gedanken gelegt. Es ist ein grauenhaftes Gefühl, so leer und gleichzeitig einfach nur dunkel. Ich versuche, wie ich das immer tue, eine Erklärung zu finden, aber das funktioniert in dieser Nacht nicht. Da ist nichts Positives mehr in meinem Kopf, nur Dunkelheit und dazu diese schreckliche Kälte. Ich bin eiskalt, meine Hände, meine Füße, einfach alles. Noch nie habe ich so furchtbar gefroren. Aber ich bin nicht am Nordpol, sondern auf den Kanaren. Bin ich tatsächlich krank?
Sonntag, 23. Januar 2022
Es muss gegen 01.30 Uhr unserer Zeit, also 02.30 Uhr in Deutschland gewesen sein, als ich endlich eingeschlafen bin. Als ich aufwache, ist es kurz nach 08.00 Uhr hier bei uns und vollkommen grau. Mir ist nicht mehr kalt, aber mir ist noch immer übel. Die letzte Nacht klingt heftig in mir nach. Ich kann nicht verstehen, was mit mir los war, geschweige denn, es in irgendeiner Form erklären. Vielleicht doch eine Vergiftung? Aber wovon, bitte schön? Von Gummibärchen und Orangensaft? Wohl kaum. Ich schäle mich mühsam aus dem Bett und stelle fest, dass es draußen eigentlich hell ist. Das Grau scheint nur in meinem Kopf zu sein. In der Küche koche ich mir einen Kaffee und entscheide mich für Haferflocken. Etwas anderes will ich meinem Magen nicht zumuten, ich weiß ja nicht, ob es nicht doch ein Virus oder was auch immer war. Heute schmeckt nicht einmal der Kaffee. Ich schicke einen Morgengruß per WhatsApp an den Familien-Chat und wundere mich nicht, dass keine Antwort kommt. Sonntag ist Trainingstag, gut möglich, dass Dad im Studio ist. Dass du noch schläfst, nehme ich mit Sicherheit an.
Duschen hilft nicht gegen das seltsame schwermütige Gefühl. Ich schiebe es auf die letzte Nacht und die Wolken, die hier am Himmel aufziehen. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Gott sei Dank ist mein aktuelles Manuskript für das neue Buch fertig. Nur nochmal überfliegen und mögliche Flüchtigkeitsfehler ausmerzen. Ich setze mich auf die Dachterrasse und versuche zu lesen. Obwohl es warm ist, fröstle ich schon wieder. Konzentrieren kann ich mich auch nicht. Dieses seltsame »Grau« wabert in meinem Kopf herum, es fühlt sich ekelhaft an, irgendwie klebrig, abstoßend.
Mir fehlt etwas.
Aber was?
Ich schicke erneut eine WhatsApp nach Hause, da ich noch immer keine Antwort habe. Seltsam, so lange lässt dein Dad mich sonst doch nicht warten? Er weiß, dass ich mir Sorgen mache, nach allem, was in den letzten Monaten geschehen ist. Er weiß auch, dass es zunehmend schwieriger wird, das alles in irgendeiner Weise zu verarbeiten.
Beth ruft am Nachmittag an und fragt, ob ich mit in den Nachbarort Tauro an den Strand zum »Pio Pio« komme. Dort tritt der Musiker wieder auf, der so super spielt, nachdem die Corona-Restriktionen endlich aufgehoben wurden. Ich muss nicht lange überlegen, ob ich mitkomme. Ein klares »Nein«, mir ist heute in keiner Weise nach Feiern zumute. Beth meint noch ich klänge sehr traurig, mir war bis dahin nicht bewusst gewesen, dass sie damit Recht hat. Ja, ich bin unendlich traurig, aber warum um Himmels willen? Ich lehne nochmals freundlich ab, wünsche ihr für die letzten Stunden auf der Insel eine gute Zeit und eine sichere und gute Reise zurück in die Staaten.
Danach zwinge ich mich dazu noch einige Kapitel zu lesen. Ich bin sehr froh, heute nicht schreiben zu müssen. Das würde wohl eine Tragödie vom Allerfeinsten. Ich schaffe es ja nicht einmal, meine eigenen Passagen im Manuskript in einer wie auch immer gearteten Form amüsant zu finden.
Wieder schicke ich ein paar Worte in Richtung Deutschland – keine Antwort. Die Zeit verrinnt an diesem Tag genauso unerklärlich zäh und klebrig, wie sich das noch immer um mich und in mir wabernde Grau anfühlt. Ich komme mir vor, als sei ich in einer Parallelwelt gelandet, als habe meine Lebensmauer, meine persönliche Matrix, einen Riss. Habe ich so etwas schon jemals zuvor gefühlt?
Nein, sicher nicht.
Als es zu dämmern beginnt, packe ich auf der Terrasse alles zusammen und gehe nach unten. Wann ist es mir das letzte Mal so schwergefallen, einen klaren Gedanken zu fassen? Da ich den ganzen Tag nichts gegessen habe, zwinge ich mich dazu, ein Sandwich zu essen. Hunger habe ich keinen. Es geht auf 18:00 Uhr zu und es wird mir zu bunt. Ich muss jetzt endlich wissen, was daheim los ist, und daher rufe ich direkt an. Dein Dad hat den Anruf nur kurz angenommen.
»Ich ruf dich gleich unter einer anderen Nummer zurück. Die hier muss ich freihalten.«
Ich starre erschrocken auf das Telefon.
Was zur Hölle ...?
Kurz darauf klingelt es. Die Nummer kenne ich nicht. Es ist dein Vater.
»Gaby, sitzt du? Ich muss dir etwas sagen. Eigentlich wollte ich warten, solange bis ich – hoffentlich – positive Nachrichten bekomme.«
»Warum?«
»Bleib ganz ruhig, bitte. Daniel wird seit sechzehn Stunden vermisst.«
»Scheiße!«
Meine Antwort ist spontan und vor allem ehrlich. Ich habe sofort ein Horrorszenario vor Augen. Du weißt hier sicher, wovon ich rede? Dein folgenschwerer Drogenabsturz am Münchner Hauptbahnhof! Ich hole tief Luft und versuche, ruhig zu bleiben.
Dad erklärt mir kurz die Situation. Ich sage ihm, dass ich sofort einen Suchaufruf in Social Media poste und bitte ihn, mich auf dem Laufenden zu halten. Ich nehme dein Bild – das, welches ich schon bei der letzten Vermisstenanzeige benutzt habe – und starte einen Suchaufruf bei Facebook und auf Twitter. Binnen kürzester Zeit reagieren die Leute. Auf Twitter wird der Tweet innerhalb einer halben Stunde fast fünfhundertmal retweetet, selbst die Polizei München reagiert. Dad und ich telefonieren noch einmal und ich bitte ihn umgehend deinen Bruder zu informieren. Der fährt sofort mit seiner Freundin Franzi los, um dich an den üblichen Hot-Spots zu suchen.
Währenddessen sitze ich bewegungslos auf dem Sofa und habe Angst.
Einfach nur schreckliche Angst. Wenn du schon so lange verschwunden bist, muss etwas passiert sein – das weiß ich. Auf Facebook teilen viele Freunde diese Angst. Jeder will helfen. Sogar Freunde aus dem Ausland helfen dabei, die Nachricht von deinem Verschwinden zu verbreiten.
Die Zeiger der Uhr in meinem Wohnzimmer schleichen regelrecht dahin.
Als kurz vor 22.00 Uhr mein Telefon läutet, will ich eigentlich nicht abnehmen.
Ich will es einfach nicht.
Ich will nicht hören, was ich jetzt unweigerlich hören werde.
Ich will nicht!
Und doch nehme ich das Gespräch an. Ich weiß, was kommt, schlagartig wird mir klar, dass ich es schon lange wusste.
»Gaby, die Polizei ist hier. Bitte setz dich.« Und dann kommen sie, die drei Worte, die ich nie hören wollte, von denen ich immer gehofft habe, sie blieben mir erspart. Die Worte, die keine Mutter, kein Vater, kein Bruder jemals sollte hören müssen.
»Daniel ist tot.«
Dass ich geschrien habe, das habe ich nur daran gemerkt, dass es hell und klirrend im leeren Haus widerhallte. Ich verstand zuerst gar nicht, wo der komische Ton herkam. Es war das Echo meiner eigenen Stimme, meines Schreis, den ich selbst nicht einmal gehört hatte.
»Das ist doch absurd! Er kann nicht tot sein. Letzte Woche war doch erst sein 20ter Geburtstag. Er kann nicht sterben.« Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen, versuche, vernünftig zu denken, aber das ist schwer.
»Ruf jemanden an, du darfst jetzt nicht allein sein, hörst du mich? Ruf Ilse an, oder Ulli. Bitte ruf irgendjemanden an.« Dads Stimme klingt hohl. Ich kann die Tränen darin hören. Automatisch frage ich ihn nach deinem Bruder, nach Florian. Er und Franzi sind bei ihm und bleiben dort auch. Die Polizei ist noch immer da, wollen warten, bis sie sicher sein können, dass »Vater und Bruder des Toten« zurechtkommen. Das bedeutet nichts anderes, als dass sie verhindern wollen, dass einer von ihnen zusammenbricht, und es wäre keine Hilfe da.
Ich verspreche jemanden anzurufen, dann lege ich auf.
Die Wand scheint plötzlich weiter weg zu sein als sonst. Ich starre sie an und sie bewegt sich auf seltsame Weise. Da ich es versprochen habe, schicke ich einem Freund von mir eine Nachricht.
»Daniel ist letzte Nacht gestorben. Bist du in der Nähe?«
Ist er nicht. Er ist selbst im Krankenhaus, mit seiner hochschwangeren Nichte.
Schon als ich die Nachricht absende, fängt mein Kopf an wieder zu arbeiten. »Letzte Nacht« – das kann ich doch gar nicht wissen. Belanglos, vollkommen belanglos. Alles ist mit einem Mal belanglos geworden. Einfach alles!
Mein Kind ist tot.
Mein Kleiner. Na ja, gut 1 Meter 95 ist nicht klein. Trotzdem bist du mein Kleiner, daran ändert die Körpergröße nichts. In mir scheint ein wohlsortiertes, automatisiertes Computerprogramm abzulaufen. Mechanisch schreibe ich diverse Nachrichten.
Telefonieren, mit jemandem sprechen, kann ich nicht, die Worte: »Daniel ist tot« zu schreiben ist wesentlich einfacher, als sie auszusprechen.
Es auszusprechen hat so etwas Endgültiges, dazu bin ich nicht fähig.
Die Reaktionen lassen nicht lange auf sich warten.
Fassungslosigkeit, Entsetzen, das Angebot, mich sofort abzuholen. Ich lehne alles ab, will eigentlich niemanden sehen. Wie ich das oft mache, verbarrikadiere ich mich in mir selbst. Dieses Mal sind die Bretter dick, sehr dick.
Beth, meiner Freundin Ulli und deren Tochter Tara ist das alles einerlei. Sie stehen keine halbe Stunde später vor meiner Tür.
»Mach auf! Lass uns rein, sofort!«
Beth umarmt mich und bricht sofort in Tränen aus. Diese Nacht ist für sie ein grauenvolles Déjà vu. Sie musste ihrer »kleinen« Nichte beim Sterben zusehen. Lange, viel zu lange. Heroin hatte das bezaubernde junge Mädchen in eine Welt katapultiert, in die ihre Tante, die immer versuchte, sie zu schützen, ihr nicht mehr folgen, und in der sie ihr auch, trotz aller Bemühungen, nicht mehr helfen konnte. Es ist nicht auszumachen, wer in den nächsten Minuten mehr weint, Beth oder ich.
Es sind Tara, aber auch Ulli, die organisatorisch und vernünftig denken. »Du musst hinfliegen. Sofort, ehe wieder irgendwelche Scheiß-Coronaregeln dazwischenkommen.«
Das ist korrekt und endlich gelingt es auch mir, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Ich hole meinen Laptop heraus und wir suchen und finden eine Möglichkeit mit Iberia über Madrid, gleich am kommenden Mittwoch. Ich buche und bezahle den Flug und bewundere mich beinahe schon für meine kühle Abgeklärtheit.
Die Mädels haben ungefähr ein Kilo Nüsse mitgebracht. Nervennahrung, laut Tara. Als der Flug in trockenen Tüchern ist, wird der Rest besprochen. Wer kümmert sich um was? Zum Nachdenken komme ich nicht. Erst um kurz vor 03:00 Uhr brechen sie auf. Um 04:00 Uhr müssen sie zum Flughafen, um Beth abzuliefern.
An der Türschwelle dreht sich Tara um, sieht mich an und meint: »Du weißt, dass du wütend sein darfst? Du weißt, dass du ihn beschimpfen darfst? Das ist dein gutes Recht. Sag es! Sag es richtig laut! Sag, du rücksichtsloses Arschloch, du hast mich einfach allein gelassen, bist einfach gegangen, wie kannst du? Sei richtig wütend auf ihn, das hilft, ich weiß das.«
Mein Telefon steht nicht still, aber ich nehme kein einziges Gespräch an. Ich antworte allen per Nachricht, mit der Bitte um Verständnis, dass ich nicht reden könne. Ich ändere die Suchanzeige auf Facebook. Ich bedanke mich für die Hilfe und schreibe, dass es leider vergebens war. Wieder muss ich diese schrecklichen Worte schreiben.
»Daniel wurde gefunden. Alles Hoffen war vergebens.
Unser Sohn ist tot.«
Montag, 24. Januar 2022
Daniel ist tot.
Das ist mein erster Gedanke, als ich aufwache. Ich will nicht aufwachen, ich will mich dieser Realität nicht stellen. Das kann auch gar nicht meine Realität sein. In meiner Realität ist nicht vorgesehen, dass mein Kind stirbt. Das passiert nur anderen, aber doch nicht mir, nicht in dieser Familie. Mein Telefon klingelt im Minutentakt und ebenso lehne ich die Anrufe der Reihe nach ab.
Meine Freundin Ilse lässt nicht locker. Sie will mich abholen. Ich will nicht hinaus, ich will nicht in die Gesichter von glücklichen Menschen blicken müssen. Davon lässt sich Ilse nicht beeindrucken.
»Keine Widerrede. Ich hol dich und wir fahren mit dem Schiff aufs Meer. Das tut dir gut, du musst raus.«
Wahrscheinlich hat sie Recht, so wie fast immer, wenn meine liebe Freundin, die mir inzwischen zu einer Schwester geworden ist, etwas sagt. Und außerdem muss ich wohl oder übel sowieso nach Puerto de Mogán. Ich habe nur mit Handgepäck gebucht und dazu ist der eine Rucksack zu klein, der andere zu kaputt. Darin kann ich keinen Laptop transportieren. Es überrascht mich selbst wohl am meisten, dass ich ein Müsli und Kaffee frühstücken kann. Ilse ist pünktlich da und nimmt mich wortlos in die Arme. Sie weiß, wie sehr der Verlust eines wertvollen, geliebten Menschen schmerzt. Sie hat dich, mein Sohn, nur so kurz gekannt und weint trotzdem bitterlich um dich. »Er war so ein toller Kerl.«
Ich finde in Puerto de Mogán den passenden Rucksack und wir gehen an Bord der Shiva. Ilses Lebensgefährte Kai hat dich nie kennengelernt, traurig ist er dennoch. »Das ist kein Alter, um zu sterben.«
Wie Recht er hat.
Ein deutsches Ehepaar ist mit an Bord, die Frau drückt mir nur die Hand. »Ich sag einfach nichts, ist das in Ordnung?«