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An einem Frühlingstag im Jahr 2018 zieht die schottische Schriftstellerin Caroline Montrose in ihrem Cottage in Stonehaven einen alten, verstaubten Karton aus dem Regal. Als sie ihn nach reiflicher Überlegung öffnet, beginnt eine ebenso bunte wie emotionale Zeitreise in die Achtzigerjahre. Mit jedem Foto, jedem Gesicht kehren Erinnerungen an die turbulenteste Zeit ihrer Jugend zurück. Erinnerungen an wundervolle Menschen, die sie erst zu der Frau werden ließen, die sie heute ist. An die magisch-romantische Hippieinsel Ibiza, an ein Leben, von dem viele träumen. Vor allem jedoch an einen ganz besonderen Mann: Carlos, den schönen, selbstverliebten Macho sowie begnadeten Flamencotänzer ¬und an eine einzigartige Freundschaft, für die es keine Worte gibt. Von Gabriele Ketterl bei Amrun erschienen: Gefangene der Wildnis 1 Gefangene der Wildnis 2 Highlands mit Hindernissen* Wenn die Träume laufen lernen 1: IBIZA Wenn die Träume laufen lernen 2: LANZAROTE
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Seitenzahl: 421
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Wenn Träume laufen lernen
Band 1 – Ibiza
© 2019 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein
Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign | Traumstoff.at
Lektorat: Stefanie Lasthaus
Alle Rechte vorbehalten
ISBN TB – 978-3-95869-404-0
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
v2 19
Dedicado con amor a
mis amigos de 1985 á 1989 en las
Islas Canarias y Baleares
Sin vosotros este libro no puede existir
Zum authentischen Buchgenuss
»Leche con 43 á la Cara«
200 ml eiskalte Milch
20 ml Licor 43
Gut mischen
»Lumumba Costa Azul«
200 ml kalter Kakao
20 ml kubanischer Rum
leicht geschlagene Sahne
Schokoladenraspel
Kakao und Rum mischen, mit Sahne toppen und Schokoraspel
darüber streuen
Und dazu Musik:
Poison: Ride the wind, Talk dirty to me
Twisted Sister: We’re not gonna take it
Creedence Clearwater Revival: Proud Mary, Who’ll stop the
rain
Kris Kristofferson: Me and Bobby McGee
White Lion: When the children cry
Kenny Loggins: Footloose
Bon Jovi: Runaway, You give love a bad name
Paul Simon: Graceland
»Trenne dich nicht von deinen Träumen.
Wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren,
aber aufgehört haben zu leben.«
1
Stonehaven, Schottland, März 2018
Der Tag, an dem meine Vergangenheit mich einholen sollte, präsentierte sich grau und stürmisch.
Ein einziger Blick hinaus ins Freie genügte mir.
Waagrechter Regen!
Ich schüttelte mich. Das war so gar nicht mein Wetter. Aber was tat man nicht alles für die Familie? Wobei, unser Ferienhaus hier an der schottischen Küste war uns allen lieb und teuer. Mein Mann Anthony genoss die Monate, die wir hier verbrachten, immer sehr. Seit unsere beiden Jungs den Kinderschuhen entwachsen waren – und das waren sie, wenn ich die Schuhsammlung Größe 45 im Flur betrachtete, schon seit einer Weile –, wollten auch sie meist lieber hierher als nach Italien oder sonst wo auf der Welt. Heute waren meine drei Männer schon am frühen Morgen aufgebrochen, um eine Rinderschau in Edinburgh zu besuchen.
Rinder! Meine Freizeitfarmer, die schon mit unserem Familienhund Gringo zu kämpfen hatten. Mir verschaffte dieser Umstand einige Stunden Ruhe. Normalerweise würde ich sie nutzen, um mich in meinem aktuellen Manuskript zu vergraben und meine Agentin glücklich zu machen. Heute drängte mich allerdings nichts an den Laptop, nachdem ich in der vergangenen Nacht bis knapp vier Uhr am Morgen ohne Unterlass geschrieben hatte. Wenn die Protagonisten erzählen, sollte man ihnen zuhören und die Gunst der Stunde nutzen.
Dazu entschloss ich mich auch jetzt. Seit langer Zeit hatte ich mir in regelmäßigen Abständen vorgenommen, endlich unsere Kammer aufzuräumen. Wenn nicht jetzt, wann dann? Ich kochte mir eine Kanne schwarzen Tee, kippte Sahne dazu und stellte Unmengen Kandiszucker bereit. Diäten wurden überbewertet!
Ein komplettes Regal, oder vielmehr viel von dessen Inhalt, war meiner Aufräumwut bereits gewichen, als ich mir die zweite Tasse Tee holte und meinen Blick über Regal Nummer zwei schweifen ließ. Er blieb an einem großen, roten, rechteckigen Pappkarton im obersten Fach hängen. Ich stellte die Tasse beiseite und angelte den schweren Karton herunter, was mir einen Schwung Staubfusseln im Gesicht und einen Niesanfall einbrachte.
»Hm, vielleicht hätte ich das alles ja doch schon eher entrümpeln sollen.« Leise vor mich hin schimpfend trug ich den Karton ins Wohnzimmer und stellte ihn auf den Lesetisch unter dem Fenster, das zum Meer hinaus ging.
Da draußen war es noch immer grau und regnerisch. Ich holte meine Tasse samt Kanne und scheuchte unseren Hund aus meinem wuchtigen, altertümlichen, aber dafür umso bequemeren Lesesessel. Gut, ich revidiere: Ich versuchte Gringo aus dem Sessel zu scheuchen. Bei einem Kangal-Bernhardiner-Mischling ist so etwas leichter gesagt als getan. Erst als ich ansetzte, ihn hinunterzuschieben, warf er mir einen deutlich mitleidigen Blick zu und machte mir gemächlich Platz. Punktsieg!
Mein freundlicher Riese legte sich mir zu Füßen. Ich hob besagten Karton auf meine Knie, öffnete ihn langsam und mit Bedacht. Wusste ich doch, was mich erwartete. Eine Reise in eine andere Zeit, ja, in eine andere Welt. Ich legte den Deckel beiseite und wappnete mich. Mir hätte bewusst sein sollen, dass es schwer werden würde. Wie schwer, das bemerkte ich in dem Augenblick, in dem mein Blick auf das erste Bild fiel.
Sie waren alle wieder da. Gesichter aus der Vergangenheit, lieb gewonnene Menschen, Freunde, Geliebte. Über dreißig Jahre lagen zwischen damals und heute. Lange Jahre, in denen vieles geschehen war … und doch, kaum sah ich die Fotos, verschwanden Stonehaven und die Welt um mich herum. Alles wurde plötzlich zunehmend bunter. Das Wetter allerdings veränderte sich kaum.
Schwabing, München, Mai 1985
Die Wasserfront kam mit einer Wucht auf mich zu, die verdächtig an einen Tsunami erinnerte. Nun waren Monsterwellen auf der Münchner Leopoldstraße Gott sei Dank relativ selten, doch das hier genügte mir vollauf. Der Sprung nach hinten, mit dem ich mich in Sicherheit bringen wollte, endete im Rinnstein und damit, dass ich bis zu den Knöcheln in dreckiger Brühe stand. So viel zu weißen Turnschuhen!
»Du bescheuerter Volldepp!«
Mein Rettungsversuch war eine akrobatische Meisterleistung gewesen, doch trotz allem waren die Ausläufer der Welle bis zu meinen Waden geschwappt und hatten ein Fiasko an Hose und Schuhen veranstaltet.
Der BMW-Fahrer, der an alldem die Schuld trug, fuhr unbeeindruckt seines Weges.
Nun ja, der Ausdruck »Schuld« mochte hier relativ sein, denn ich hätte auch die trockene Unterführung an der Münchner Uni nutzen können, aber das dauerte geschlagene zwei Minuten länger. Typischer Fall von Sowas-von-selbst-schuld.
Wutschnaubend sprintete ich über den breiten Prachtboulevard, den ein heftiger Regenguss binnen knapp einer halben Stunde in einen Seitenarm der Isar verwandelt hatte. Da die Passanten mir respektvoll den Weg freimachten, konnte ich mir vorstellen, wie mein Gesichtsausdruck aussehen mochte. Oder sie wollten sich vor den Dreckspritzern in Sicherheit bringen, die bei jedem Schritt von meinen matschigen Converse in alle Richtungen stoben. Mir war es egal, ich wollte nur noch ins Trockene.
Noch immer ziemlich angesäuert stieß ich die Tür zum CADU, dem Café an der Uni, auf.
»Tu mir nichts, dann tu ich dir auch nichts. Cara, im Ernst, entspann dich.« Stefanie, meine Freundin und Kommilitonin, musterte mich besorgt.
Ich ließ mich auf den Korbstuhl, der neben dem Tisch stand, fallen und atmete ein paar Mal tief durch. »So, besser. Sehe ich echt so schlimm aus?«
Stefanie nickte mit sorgenvoll gerunzelter Stirn. »Ja, dir steht die Mordlust ins Gesicht geschrieben.«
»Also mal ehrlich, schau doch aus dem Fenster. Die vierte Woche in Reihe mit dem absoluten Dreckswetter. Wonnemonat Mai, dass ich nicht lache.« Knurrend versuchte ich meine langen Beine unter den Bistrotisch zu schieben, was angesichts des Platzmangels hier drin und den eng stehenden Sitzgruppen gar nicht leicht war. Seufzend schob ich die Ärmel meines pinkfarbenen T-Shirts hoch – meines tropfnassen, pinkfarbenen T-Shirts.
»Das ist unerträglich. Ich brauche Sonne, um zu leben, so existiere ich nur.«
»Was darf’s denn sein?« Meine Lieblingskellnerin Nina war neben uns aufgetaucht, wie immer so leise, dass ich sie zuerst nicht bemerkt hatte.
Ich zauberte ein Lächeln auf meine Lippen, denn sie konnte ja nun wahrlich nichts dafür. »Hi Nina, einen Milchkaffee bitte, eine Butterbreze und ein halbes Pfund Sonne.«
»Tut mir leid, Süße, Sonne ist leider gerade aus, der Rest kommt sofort.« Nina tätschelte mir mitleidig die Schulter und war so flott wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht war.
Ich sah ihr bewundernd hinterher. »Ab und an ist sie mir unheimlich. So schnell kann sich doch kein normaler Mensch bewegen.«
Stefanie zog eine Grimasse. »Nina ist auch kein normaler Mensch. Nach acht Jahren Ballett kannst du dich gar nicht mehr anders bewegen. Glaube ich zumindest.« Sie drehte sich zu mir, stützte ihre Ellbogen auf der Tischplatte auf und legte ihr Kinn auf die ineinander verschränkten Finger. »Aber ich wollte eigentlich nicht über Nina reden. Du bist es, die mir Sorgen macht.«
»Ich?« Sofort war ich in Habachtstellung. »Mit mir ist alles in Ordnung, oder sehe ich so mies aus?«
»Alles in Ordnung? Cara, das kannst du deiner Oma erzählen. Ich bin deine beste Freundin, glaubst du im Ernst, ich würde es nicht bemerken, wenn dich etwas belastet? Seit einer Woche läufst du mit einer Leichenbittermiene durch die Welt, die erschreckend ist. Würde ich dich nicht besser kennen, dann hätte selbst ich ab und zu Angst vor dir.«
»Angst? Übertreibst du jetzt nicht ein kleines bisschen?«
Statt einer Antwort griff Stefanie mit einer fließenden Bewegung in ihre Basttasche und zog einen kleinen, runden Gegenstand heraus, den sie mir vor die Nase hielt. Erst als ich mich in ihrem Spiegel erblickte, verstand ich, wovon sie redete. Das war nicht ich, oder vielmehr war ich das schon, aber nicht so, wie ich sein sollte. Das war zwar mein Gesicht, aber nicht das einer Zweiundzwanzigjährigen. Nein, das waren die verbitterten Züge einer Frau, die im Leben keinen Spaß mehr erwartete. Meine blaugrünen Augen lächelten nicht mehr, so wie sie es sonst getan hatten. Sie sahen mich müde und traurig an, und ich rutschte schuldbewusst ein wenig tiefer in meinen Korbstuhl.
»O Mann, das sieht echt böse aus.«
Selbst meine langen, dunkelblonden Haare, die sonst dank Dichte und Glanz dafür sorgten, dass man nicht so genau auf mein Gesicht achtete, klebten feucht und stumpf an meinem Kopf.
»Ich sehe ja richtig scheiße aus.«
»So drastisch würde ich das jetzt zwar nicht sagen, aber du hast schon mal besser ausgesehen, das stimmt wohl.« Nina stellte den Pott mit dampfendem Milchkaffee vor mir ab und schob den Teller mit der Breze daneben. »Wann bist du denn mal wieder in Spanien? Das täte dir sicher gut. Sonne, Strand und spanische Lebensfreude.«
Na toll, nun machte sich schon unsere Bedienung Sorgen um meinen Allgemeinzustand.
»Mach dir keine Gedanken, Nina, das wird schon wieder. Und Spanien steht sicher bald wieder auf dem Plan.«
»Ja? Okay, dann bin ich beruhigt. Wenn ihr noch was braucht, einfach in meine Richtung winken, ihr wisst ja.« Nina entschwebte lächelnd und ich kippte fünf Stück Süßstoff in meine Tasse.
»Pfui Deibel, wie kannst du diese süße Brühe denn trinken?«
Ich rammte den langstieligen Löffel in den Milchkaffee und rührte um, als hinge mein Leben davon ab.
»Erstens mag ich es süß und zweitens ist das Leben bitter genug. Muss ich nicht auch noch beim Kaffee haben. Danke.«
Stefanie trank einen großen Schluck ihres schwarzen Tees, ehe sie sich mir gänzlich zuwandte. »So, und jetzt ist Schluss mit lustig. Cara, meine Liebe, du erzählst sofort, was los ist. Und keine Ausflüchte, haben wir uns verstanden?«
Ich nickte ziemlich kleinlaut. Wenn Steffi diesen Ton anschlug, dann war mit ihr nicht mehr gut Kirschen essen. Also holte ich tief Luft, trank von meinem Kaffee und suchte nach dem richtigen Anfang. »Also, nach dem Abitur habe ich nur auf ausdrücklichen Wunsch meines Vaters eine Ausbildung zur Reisekauffrau angefangen. Das war ja auch vollkommen in Ordnung, denn erstens wollte ich nicht studieren und zweitens kam das meinen Wünschen, später im Ausland zu arbeiten, sehr entgegen. Ich glaube, ich habe dir erzählt, dass mein Dad stinkwütend darüber war, dass ich mein Praktikum in Madrid und nicht in London gemacht habe. Für ihn scheint London das Auge der Welt zu sein, wenn’s um Ausbildung geht. »
Stefanie nickte mit grimmiger Miene. »Dein Vater hat ein Rad ab, aber das habe ich ja schon ein paar Mal angemerkt. Erzähl weiter.«
»Fakt ist, dass ich nach erfolgreicher Beendigung der Ausbildung für mein Leben gerne in Spanien arbeiten wollte.« Unglücklich nuckelte ich an meinem Getränk. »Aber er bestand darauf, dass ich unbedingt Anglistik studieren müsse, um meine internationalen Chancen zu verbessern. Du warst schließlich eine der Besten in deinem Jahrgang, willst du dein Können in einer spanischen Hotelklitsche vergeuden? Bloß weil er vor ewiger Zeit in London und Dublin studiert hat und seine Karriere dann auch in London losging.«
»Davon hab ich ja noch gar nichts gewusst. Da bin ich aber froh, dass er dir gestattet hat, in München zu studieren, sonst hätte ich dich überhaupt nicht mehr gesehen.«
Ich nickte. »Ja, aber das war trotzdem für mich eine verdammt schwere Entscheidung. Ich habe mich in die Ausbildung nur so reingehängt, weil ich hoffte, dann endlich unabhängig zu sein. Weg von ihm, von seinen überkandidelten Plänen in Sachen ›Das Leben meiner Tochter‹. Und nun sitze ich wieder für vier Jahre in einem Hörsaal fest.«
Meine Freundin legte mir tröstend ihre Hand auf den Arm. »Warum in aller Welt hast du denn dann wieder zugestimmt? Himmel noch eins, du bist schließlich volljährig.«
Ich wand mich ein bisschen. Ja, volljährig war ich wohl, aber andauernd standen mir meine Erziehung und mein wohlgenährtes Pflichtgefühl im Weg. »Ich hatte Angst, meine Eltern zu enttäuschen nach allem, was sie in mich investiert haben.« Ich biss frustriert in die knusprige Breze.
»Cara, hey, spinnst du? Erde an Cara, bitte melden! Du hast immer getan, was sie erwartet haben, hast ihre Wünsche erfüllt. Sag mal, gibt es dich da drinnen eigentlich noch irgendwo oder bist du nur noch eine wandelnde Hülle, in die deine Altvorderen ihre eigenen Wünsche projizieren?«
Autsch! Damit war es ihr gelungen, einen der wohl wundesten Punkte meines Daseins zu treffen. Andauernd lebte ich in der Angst, irgendwen zu enttäuschen oder gar zu verletzen. Dass stattdessen immer ich es war, die Enttäuschungen wegstecken musste, akzeptierte ich klaglos. Daher zuckte ich die Schultern. »Was soll ich denn tun? Glaub mir, ich habe so oft versucht, über meinen Schatten zu springen. Aber jedes Mal lande ich in dem übermächtigen meines Erzeugers. Der Herr Stararchitekt erwartet eben von seiner einzigen Tochter, dass sie ebenso erfolgreich wird wie er.«
»Aber das willst du doch gar nicht. Menschenskinder, wenn du tätest, was du möchtest, dann würdest du jetzt längst in einem Hotel irgendwo in Spanien sitzen oder für einen spanischen Ferienclub arbeiten, habe ich Recht?«
Ich nickte kleinlaut. »Ich habe noch während der Ausbildung Kontakt mit Melia Hotels aufgenommen. Die hatten mich schon eingeladen.«
»Und darum studierst du jetzt auch Anglistik, nicht wahr?«
Ich mochte Stefanies sarkastische Ader. »Schon gut. Ist ja nicht so, als wüsste ich das nicht. Aber das ist leider nicht alles.«
Die Hand meiner Freundin klatschte lautstark auf die Tischplatte. »Ha, ich wusste es, dass etwas passiert ist. Jetzt aber sofort raus damit.«
Ich krauste nachdenklich die Nase. »Mein Dad hat schon wieder neue Pläne mit mir.«
»Wie jetzt? Plant er den diplomatischen Dienst für sein Töchterlein?«
Ich grinste. »Beinahe. Er kam vor vier Tagen strahlend anstolziert und legte mir ein mehrseitiges Pamphlet auf den Tisch. ›Mein Kind, dank meiner guten Beziehungen ist deine Zukunft in trockenen Tüchern. Seit etwa einem Jahr ist einer meiner besten Freunde im obersten Management einer exquisiten amerikanisch-britischen Hotelkette. Du kannst sofort nach dem Studium einsteigen. Was sagst du? Zwei Telefonate und alles war in trockenen Tüchern‹. Steffi, er erwartet allen Ernstes, dass ich heute, am Ende des ersten Studienjahres, bereits meine Seele an eine Hotelkette verkaufe, die ich nebenbei nicht einmal mag.«
Stefanie musterte mich mit ernster Miene. »Cara, du hast doch hoffentlich nicht unterschrieben?«
Seufzend verneinte ich. »Das hab ich nicht übers Herz gebracht. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich auf ein Leben in den gesellschaftlichen Riegen programmiert werden soll, die meine Eltern so erstrebenswert finden. Aber ich hasse es. Ich sehe überall nur noch Wände und Gitter.«
Stefanie lehnte sich mit gerunzelter Stirn zurück. »Wenn du diesen Vertrag unterzeichnest, dann frage ich mich wirklich, ob du noch selbständig denken kannst. Es ist offensichtlich, dass du eine Entscheidungshilfe brauchst. Also beantworte mir jetzt einfach aufrichtig die folgenden Fragen, okay?«
Ich nickte zaghaft und war neugierig, was nun kommen würde.
»Magst du dein jetziges Leben? Ich meine, magst du es wirklich?«
»Nein.«
»Magst du das dir aufgebrummte Studium?«
»Nein.«
»Nerven dich das Wetter und die miese Laune der Deutschen?«
»Ja.«
»Bist du glücklich?«
Ich zögerte ein wenig, das war eine sehr ernste Frage. Aber ich musste ehrlich sein. »Nein.«
»Also ich finde, das genügt haushoch, um endlich einmal eigene Entscheidungen zu treffen. Cara, du warst immer ein sehr lebensfroher, humorvoller Mensch. Du bist nur noch ein Schatten deiner selbst. So kann das nicht weitergehen.«
Ich fühlte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. »Eigentlich weiß ich das ja, aber was soll ich denn tun?«
»Leben, Cara! Verdammt noch mal, du sollst leben, und zwar dein Leben und nicht das, was andere für dich vorbestimmen, um ihre eigenen Wünsche und Erwartungen zu erfüllen. Damit ist jetzt sofort Schluss. Du hast mir so oft von diesem Jaime erzählt. Den kontaktierst du noch heute. Hast du mich verstanden?«
Ich riss überrascht die Augen auf. »Den Chef vom Club Costa Azul? Der hat mir zwar mal angeboten, dass ich dort arbeiten könnte, aber ich habe keine Ahnung, ob das ernst gemeint war.«
Stefanie rollte genervt die Augen. »Warum sollte er es anbieten, wenn er es nicht so meint? Wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist er glücklich verheiratet und damit fällt die Möglichkeit, dass er dich nur ins Bett bekommen wollte, schon mal flach, oder?«
Wenn ich an Jaime dachte, dann erschien automatisch auch das Bild seiner ausgesprochen schönen Frau Mercedes vor meinen Augen.
»Ja, das fällt sicher flach. Mercedes ist eine Schönheit und er betet sie an.«
Stefanie schnippte mir so fest und so schnell gegen den Arm, dass es brannte. »Das bist du auch, du Knallkopp. Also meistens wenigstens.«
Einen Sekundenbruchteil war ich verblüfft, dann lachte ich schallend los. »Weißt du, was ich besonders an dir liebe?«
Meine Freundin legte kokett den Kopf auf die Seite, sodass ihr ihre langen, fast schwarzen Haare ins Gesicht fielen. »Na, was könnte das denn sein? Meine unglaublich charmante Art?«
»Die, und dass ich immer weiß, woran ich bei dir bin. Glaubst du wirklich, dass ich das durchziehen könnte?«
Stefanie knurrte genervt. »Willst du es denn?«
»Das würde mir tierisch Spaß machen.«
»Du stellst es dir nicht zu leicht vor? Du hast keine rosarote Brille auf, in Bezug auf den Job?«
»Auf keinen Fall. Als ich im Costa Azul gewohnt habe, war mir sofort klar, dass das ein Knochenjob ist, und die langen Gespräche mit Jaime und Mercedes waren alles andere als ermutigend. Andererseits haben mir beide auch die Seiten gezeigt, die einfach super schön sind. Und allein die Locations. Das Costa Azul in Teneriffa, also die Hauptniederlassung der Clubkette im Norden der Insel, ist ein Traum. Das Meer, der Strand, die Palmen, die Sonne, die Lebensfreude der Canarios ...« Mein Blick fiel auf Stefanie und ich stockte verwirrt. »Was ist los, warum schaust du so komisch?«
Lächelnd beugte sich Steffi zu mir herüber und sah mir tief in die Augen. »Ich freue mich für dich.«
»Hä? Ich kapier gerade nicht, ich habe doch noch gar nichts entschieden.«
»O doch, das hast du sehr wohl.« Sie klang verdammt überzeugt.
»Und was macht dich da so sicher?«
»Weil du von innen strahlst, wenn du nur darüber sprichst. Du wärst so was von dämlich, wenn du hierbleibst.« Stefanie nahm meine Hand und drückte sie. »Auch, wenn ich bei dem Gedanken, dass du hier weggehst, jetzt schon heulen muss.«
Ich erwiderte ihren festen Händedruck und musterte sie nachdenklich. »Du glaubst, ich sollte das tatsächlich tun? Ich sollte es wagen und Jaime einfach fragen?«
Sie nickte nachdrücklich und sehr ernst. »Ja, Cara, das solltest du. Du musst hier weg, oder du gehst emotional und seelisch vor die Hunde.«
Noch am selben Abend, nach einem unerfreulichen Gespräch mit meinem Vater, der zum wiederholten Male nach dem unterzeichneten Vertrag fragte, saß ich im Schneidersitz auf dem Bett in meiner winzigen aber gemütlichen Wohnung. Ich starrte wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf das Telefon, das vor mir auf meiner pink und weiß gestreiften Bettdecke stand, und biss mir vor lauter Aufregung und Selbstzweifel die Lippen wund. Aber es nutzte nichts. Wenn ich es nicht fertigbrächte, einen einfachen Anruf zu tätigen, wie sollte ich dann ein komplett neues Leben meistern?
Es war schon nach neun Uhr abends, als ich endlich den Mut aufbrachte, nach dem Hörer zu greifen und eine ziemlich lange Nummer zu wählen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, ehe es am anderen Ende klingelte. Als der Empfangschef das Gespräch annahm, hätte ich um ein Haar wieder aufgelegt. Ich musste zwei Mal kräftig räuspern, bevor ich es schaffte, mich zu melden und zu fragen, ob ich bitte … ich kam gar nicht so weit, als dass ich nach Jaime hätte fragen können.
»Cara? Cara, bist du das? Hey, ich bin’s, Silvio. Alles gut bei dir?«
Schon die erfreute und fröhliche Stimme zu hören tat gut. »Ja, alles prima.« Ich war sehr dankbar dafür, dass Silvio zu jenen Spaniern zählte, die Mitleid mit Nicht-Muttersprachlern bewiesen und nicht mit der Schnelligkeit eines abgefeuerten Maschinengewehrs redeten.
»Kommst du uns wieder besuchen? Das wäre klasse.«
»Ja, vielleicht, aber dazu müsste ich bitte kurz mit Jaime sprechen. Ist er da?«
Jetzt war es raus. Es gab kein Zurück.
»Jaime ist da, buchen kannst du aber auch gleich bei mir.« Er klang noch erfreuter.
Ich schmunzelte. »Nein, Silvio, das ist echt lieb, aber ich muss wirklich mit Jaime reden, verbindest du mich bitte mit ihm?«
Prompt mischte sich Enttäuschung in die Stimme. »Na gut, dann stelle ich dich zu ihm durch. Mach es gut. Hoffentlich bis bald mal wieder. Hasta lluego.« Weg war er.
Als Jaimes dunkle und ernste Stimme erklang, rutschte mir kurzfristig mein Herz in die Hose. Es kostete mich schon viel Überwindung, überhaupt zu sprechen, aber es gelang mir. »Jaime, guten Abend. Hier ist Caroline Montrose, ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnern kannst. Aber ich habe eine Frage an dich, eine sehr wichtige Frage.«
Jaime konnte sich erinnern.
2
Vier Wochen später
München, Juni 1985
Stefanie drückte mich so fest, dass mir kurzzeitig die Luft wegblieb.
»Hey, Süße, atmen sollte ich schon ein bisschen. Auch wenn’s jetzt gerade nicht so wichtig erscheint.« Mein Blick huschte ein letztes Mal hinauf zu den Fenstern meiner Wohnung. »Und es ist wirklich alles okay so für dich?«
Stefanie seufzte theatralisch. »Hörst du jetzt endlich auf? Nicht nur, dass ich deine echt schöne Wohnung möbliert übernehmen kann, du lässt mir auch noch so viel tolles Zeug hier, vor allem deine Platten und Kassetten. Ideal, dass wir denselben Musikgeschmack haben. Ich verspreche dir, ich passe gut darauf auf. Und wenn du was davon haben willst, dann meldest du dich und ich schicke es dir. Hast du alles eingepackt, was du brauchst?«
Ich sah auf meinen riesigen Koffer und meine große Reisetasche. Die zehn Kilo Übergepäck hatte ich vorab bezahlt. »Ja, das sollte genügen. Alles andere gibt’s auch auf Teneriffa. Und dir gefällt die Wohnung wirklich?«
»Jetzt schalt mal einen Gang runter. Natürlich gefällt sie mir.« Sie warf einen raschen Blick auf die Vorhänge. »Bisschen viel Pink vielleicht, aber auch daran werde ich mich gewöhnen.« Sie wandte sich mit unsicherer Miene wieder mir zu. »Und du bist sicher, dass ich nicht zum Flughafen mitkommen soll?«
»Ganz sicher. Ich fühl mich ja jetzt schon total mies. Ich hasse Abschiede.«
Sie zog eine traurige Grimasse. »Ich auch. Deine Familie wird dich wohl kaum verabschieden?«
Ich schulterte meine Umhängetasche. »Ganz gewiss nicht. »
Ich erinnerte mich mit Grausen. Als ich meinem Vater meine Pläne eröffnete, das Studium abzubrechen und auf unbestimmte Zeit für den Club Costa Azul zu arbeiten, reagierte er so, wie man es von ihm erwarten konnte.
»Ja glaubst du denn, dass ich das tolerieren werde? Denkst du, ich finanziere dein Leben und deine teure Ausbildung, um meine Tochter dann als Animationsdame in einem billigen Feriendorf zu erleben? Bildest du dir ein, ich ließe es zu, dass du unseren guten Namen in den Dreck ziehst? Was denkst du, was unsere Freunde sagen, wenn jemand dich dort sieht?«
Ich konnte nicht anders, ab und an wollte meine Zunge meinen Tod. »Aber liebster Papa, das wird doch wohl kaum passieren, denn wer von deinen stinkreichen und überkandidelten Freunden würde denn schon in einem billigen Feriendorf Urlaub machen?«
»Hüte deine unverschämte Zunge, junge Dame. Fangen wir doch damit an, dass ich deinen Luxus nicht länger finanzieren werde. Ab heute bist du auf dich gestellt. Wollen wir doch einmal sehen, wann meine Tochter bettelnd wieder vor meiner Tür steht.«
Wie so oft vergaß mein edles Familienoberhaupt, dass ich mich schon seit Jahren zu einem guten Teil selbst finanzierte. Dass man in München mit vierhundert Mark im Monat nicht wirklich weit kam, schien er nicht zu begreifen. Er war aber noch lange nicht fertig.
»Und ich warne dich, solltest du mich in dieser Klitsche irgendwie blamieren, sollte mir etwas zu Ohren kommen, was meinem Ruf Schaden zufügt, dann sorge ich persönlich dafür, dass du in deinem ach so geliebten Spanien kein Bein mehr auf den Boden bekommst. Ich habe die Mittel und Wege, dafür zu sorgen, dass du bettelnd zurückgekrochen kommst.«
Es war mir sehr schwergefallen, nicht zu weinen. So wenig Vertrauen und so wenig Glaube an die Fähigkeiten seines Kindes waren wahrlich deprimierend.
Doch einem Charles Montrose widersprach man nun einmal nicht. Man führte ohne Widerworte seine Anweisungen aus, denn schließlich wusste er stets die beste Lösung.
Und nun lehnte sich ausgerechnet die eigene Tochter gegen ihn auf. Welch ein Eklat!
Ich war aufgestanden, hatte meine Tasche genommen und ihm mitgeteilt, dass er sich ab sofort aus meinem Leben heraushalten sollte, denn ich wäre ein paar Tage über Achtzehn und somit absolut alleine lebensfähig. Vaters Unterkiefer klappte dermaßen weit nach unten, dass ich befürchtete, er würde seinen Mund nie wieder zu bekommen.
Als ich die Villa meiner Eltern verließ und durch den Garten zum Tor lief, begannen die Tränen dann doch zu fließen. Es tat unendlich weh, dass die Menschen, die mich am besten kennen sollten, mich geringer einschätzten als alle anderen in meinem Leben.
Schon am nächsten Tag fand ich die Nachricht in meinem Briefkasten, dass meine finanzielle Unterstützung mit dem heutigen Tag eingestellt sei und er sich für meinen Wankelmut und meine kindische Verhaltensweise zutiefst schäme.
Ich reagierte nicht mehr darauf.
Jetzt, zwei Wochen später, stand ich vor dem hübschen, kleinen Mietshaus im Stadtteil Ramersdorf und wollte Stefanie nicht mehr loslassen. Sie würde mir fehlen, das wusste ich schon jetzt. Steffi hingegen sah das ganz pragmatisch.
»Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du mich lange los bist? Ich komm dich natürlich besuchen.« Sie drückte mir einen Kuss auf beide Wangen und wedelte mich in Richtung des Taxis. »Und jetzt verschwinde, sonst heule ich doch noch los wie ein Schlosshund.«
Ich kletterte in den Fond des Wagens, Steffi drückte die Tür zu und wir fuhren los. Ich blickte durch das Rückfenster und winkte, bis meine Freundin hinter einer Hecke verschwand und wir auf die Hauptstraße einbogen. Dass ich weinte, merkte ich erst, als der Fahrer mir wortlos ein Taschentuch nach hinten reichte.
Drei Jahre später
Club Costa Azul, Santa Eulalia, Ibiza, August 1988
Das Grauen hatte ein Gesicht!
Und zwar meines, wenn ich gezwungen wurde, um vier Uhr dreißig aufzustehen – und zwar am Morgen. Aber alles Jammern half nichts, heute war ich an der Reihe, die britischen Gäste zu verabschieden, die uns nach einer oder wahlweise zwei Wochen wieder verließen. Die Brit-Bomber, wie wir die Maschinen der englischen Billig-Airline zu nennen pflegten, flogen zu unmöglichen Zeiten. Nur so war es ihnen möglich, die Tiefpreise zu garantieren, zu denen sie ihre Passagiere durch die Welt karrten. Unter anderem auch hierher nach Ibiza. Sie kamen vorrangig aus den weniger wohlhabenden Gegenden von Liverpool und Manchester. Viele konnten sich nur wegen der günstigen Preise einmal im Jahr den Urlaub leisten. Für sie war das Costa Azul eine Luxusdestination und unsere Chefs wussten das. Während andere wie die Deutschen, Italiener und Schweden, die den Großteil unserer Gäste ausmachten und genug Geld mitbrachten, den Luxus einer anständigen Reiseleitung genossen, waren die Brit-Bomber nach Ankunft und Verfrachtung in den Bus sich selbst überlassen. Unser Clubchef Leon fand das traurig, deshalb fiel uns die Ehre zu, die Verabschiedung der Gäste zu übernehmen – morgens um halb fünf!
Ich fuhr mir mit der Bürste durch die Haare, putzte mir die Zähne, schlüpfte in mein Poloshirt in den Clubfarben Blau und Gelb und traf nach dem dritten Versuch auch das zweite Hosenbein meiner Shorts. Make-up war um diese Tageszeit sowieso zwecklos, also beließ ich es bei einem Hauch Rosé auf den Lippen, einer guten Dosis Deo sowie einem Tröpfchen Moschusöl, das zumindest annähernd meine Lebensgeister weckte. Den Lichtschalter fand ich erst nach dem dritten Anlauf – okay, das mit den Lebensgeistern sollte ich noch mal üben. Leise, um Silvie, meine deutsche Mitbewohnerin, nicht zu wecken, schlich ich mich aus unserem Apartment, das wir uns mit Carlos und Andy teilten. Ein durchaus erwähnenswerter Umstand, da wir nicht – wie eigentlich üblich - mit zwei weiteren Frauen zusammenwohnten. Doch sowohl Carlos als auch Andy weigerten sich beharrlich, ein Apartment mit Fernando und José, den beiden Rettungsschwimmern, Surflehrern und – im Notfall – Barkeepern zu teilen. Sie schätzten die Ruhe und Ordnung bei Silvie und mir, und nachdem wir nur zu gut wussten, wie es meist bei Fernando und José aussah, hatten wir vollstes Verständnis dafür. Abgesehen davon waren wir eine eingeschworene Gemeinschaft, die vier Musketiere, die so leicht niemand voneinander trennen konnte.
Drei Zimmer, Küche, Bad, Gästetoilette und eine uneinsehbare, leicht verwilderte, kleine Terrasse, die zum Meer hinausging. Dass man es nur hören, aber nicht sehen konnte, lag daran, dass wir am Rand der Anlage direkt an der blickdichten, hohen Hecke wohnten. Alles hat seine Vor- und Nachteile. Worauf ich noch immer mit großer Neugier harrte, war der Tag, an dem unser englischer Technikprofi Andy endlich zugeben würde, dass er die räumliche Nähe zu Silvie noch aus einem ganz anderen Grund sehr schätzte. Es war kompliziert. Männer!
Die Nächte waren nicht sehr viel kühler als die Tage. Dieser Sommer war besonders heiß und 38°C waren keine Seltenheit. Jetzt, zu dieser frühen Morgenstunde, zeigte das Thermometer an unserer Hauswand bereits respektable 22°C. Ich steckte die Hände in die Taschen meiner Shorts und trabte, noch ein wenig geistesabwesend, in Richtung Empfangsbereich.
Der salzige Geruch nach Meer lag in der Luft, vermischt mit dem Duft zahlloser Blüten. Wenn man sah, wie üppig hier Pflanzen blühten, die in Deutschland oder England gerade mal respektable Blumentopfgröße erreichten, dann verstand man den Frust zahlloser Hobbygärtner. Immer wieder kauften sie Samen und Setzlinge und wunderten sich sehr, warum diese Pflanzen dann im heimischen Garten nie so aussahen wie hier. Nur mit Kakteen klappte es halbwegs. Ich mochte sie als Hauspflanzen, ja, Kakteen waren pflegeleicht und die konnte daher selbst ich durchaus in die engere Wahl nehmen.
Ich lief über die bereits von dienstbaren Geistern sauber gefegten Pfade des Clubs, vorbei an der großen, nierenförmigen Poolanlage, dem Schwimmerbecken und dem inzwischen, wie jeden Morgen, wieder ganz vernünftig riechendem Kinderbecken. Ich liebe Chlor!
Als ich gerade auf den Hauptweg abbiegen wollte, der direkt an der Rezeption endete, vernahm ich eine altvertraute Stimme.
»Corazon, du bist die Liebe meines Lebens. Ich werde dich mehr vermissen, als du ahnst.«
Eigentlich wäre es nicht nötig gewesen hinzusehen, doch ich konnte es mir, wie immer, nicht verkneifen. Dort, im schwachen Schein einer Laterne, unter einem der weißen Torbögen, die das Gelände überzogen und stets von Unmengen an bunten Bougainvillea überwuchert waren, stand er und hielt ein hellblondes, leise schluchzendes Mädchen in den Armen.
Carlos! Der größte und erfolgreichste Ladykiller seit Giacomo Casanova.
Der berühmte Italiener hätte sich verflucht warm anziehen müssen, um mit dem geborenen Madrider mithalten zu können. Kaum kam eine neue Reisegruppe an, schon war es um mindestens die Hälfte aller weiblichen Gäste geschehen, und ich konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Mit gut einem Meter neunzig, einem gestählten Körper, der wohl noch nie ein Gramm Fett angesetzt hatte und somit an der Grenze zur Perfektion stand, bot Carlos einen beeindruckenden Anblick. Dazu kamen seine dichten, dunkelbraunen Haare, die ihm in ungebändigten, seidig glänzenden Wellen bis über die breiten Schultern fielen, die fast schwarzen Mandelaugen, die von Wimpern beschattet wurden, für die jede Frau – und zwar wirklich jede – auf der Stelle töten würde, ganz abgesehen von diesem sinnlichen Mund, der unsere weiblichen Gäste in Ekstase versetzen konnte. Um dem Gesamterscheinungsbild die Krone aufzusetzen, bewegte sich der ausgebildete Tänzer und gelegentliche Werbeträger für Herrendüfte mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze. Und dieser Ausbund an Jungmädchenfantasien stand nun etwa fünf Meter von mir entfernt und versuchte sein Möglichstes, um Susi, June, Robin oder wie auch immer sein aktuelles Opfer heißen mochte zu beruhigen und die letzten Minuten ihres Aufenthaltes unvergesslich zu gestalten. Er stand an den Torbogen gelehnt und hielt sie in den Armen, während sie sich an ihn klammerte und haltlos schluchzte. Natürlich erspähte er mich sofort und ich grinste ihn breit an. Er formte mit seinen Lippen einen Luftkuss und klimperte mit den Wimpern. Wenn ich jetzt laut lachte, hätte er ein Problem. Aber er kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich das nie tun würde. Daher verdrehte ich lediglich die Augen, schüttelte betont entrüstet den Kopf und trollte mich zur Rezeption. Als ich die Tür zum Büro öffnete, begrüßte mich grelles Neonlicht, das jeden Menschen umgehend in einen Zombie verwandelte, ganz besonders zu dieser Tageszeit. Ich kniff die Augen zu Schlitzen zusammen.
»Leute, kann mir einer sagen, warum in jedem, aber wirklich jedem Büro dieses abgrundtief hässliche Neonlicht sein muss?«
Lupe, die kleine, rundliche und selbst zu dieser Zeit gut gelaunte Rezeptionistin, lächelte mir nachsichtig entgegen. »Damit du, meine liebe Cara, etwas hast, das dich aufweckt. Aber warte mal, ich hab da eine Idee, wie ich deine Laune verbessern könnte.«
Lupe, blass wie immer, rückte ihren gigantischen, schwarzen Dutt zurecht und wuselte in die Miniküche, die sie sich hier vorne eingerichtet hatten, um nicht wegen jedem Kaffee in eines der Restaurants laufen zu müssen. Nur ein paar Augenblicke später kam sie zurück und balancierte eine bauchige Tasse, aus der es himmlisch duftete. Strahlend hielt sie mir das Getränk entgegen.
»Café con leche, aber mit Vanillesirup, nicht das heftige Zeug aus der Maschine. Na, ist das was? Wirkt sich das positiv auf deine Stimmung aus?«
Ich war gerührt. Jedes Mal, wenn ich am frühen Morgen hier anschlurfen musste, hatte sie etwas für mich auf Lager.
Vorsichtig griff ich nach dem Kaffee und drückte Lupe gleichzeitig einen dicken Kuss auf die runde Wange. »Danke, Lupe! Und schon wieder rettest du mir das Leben.«
Sie seufzte leise. »Na, dafür bin ich doch da.« Ihr wacher Blick, für den ich sie wahrlich bewunderte, wanderte durch den Raum. »Wo stecken denn die anderen eigentlich?«
»Na, hier zum Beispiel.« Aus dem Ledersofa im Durchgang zum weitläufigen Empfangsraum erhob sich eine schmale Silhouette, die sich erst einmal herzhaft reckte und streckte.
Lupe schob ihre Brille auf die Nase und musterte die verschlafene Gestalt über die Ränder hinweg. »Ah, Roberta, na los, nun heißt es aber wach werden und zwar schnell. Magst du auch einen Kaffee?«
»Nein Leute, keine Zeit mehr.« Ich deutete durch die offene Hintertür hinaus auf die Wege.
Langsam und sichtlich müde kamen die Gäste auf das Gebäude zu. Ihre Koffer wurden derweil von dienstbaren Geistern auf knatternden Transportwägen vor dem Club abgestellt, um in die Busse verladen zu werden, sobald diese eintrafen. Ich trank ein paar Schlucke von meinem leckeren Gebräu und hielt Roberta die halb volle Tasse unter die Nase. Die niedliche Italienerin war bei uns für die Kinderbespaßung zuständig und an den Abenden Teil der Club-Show. Ihr schwarzer Wuschelkopf war heute noch ungebändigter als sonst und die runden Haselnussaugen verrieten eklatanten Schlafmangel.
»Na komm, trink, du siehst aus, als ob du es nötig hättest.«
Sie verzog nur das Gesicht. »Frag nicht. Ich hab miserabel geschlafen, und dann nach drei Stunden wieder raus, das grenzt an Folter.« Dankbar schlürfte sie den heißen Kaffee. Ich blickte noch einmal durch den Türspalt und sah, dass nun auch unser beliebtester Rettungsschwimmer Fernando am Horizont auftauchte. Der Kopf mit den langen hellbraunen Haaren, in die sich von der Sonne gebleichte blonde Strähnen mischten, war gesenkt, der Blick auf den Boden gerichtet. Wie so oft am frühen Morgen, kam Fernando noch im Halbschlaf und in Flip-Flops angeschlappt, die Hände tief in den ausgebeulten Taschen seiner Jeans versenkt. Immerhin konnte er sich dazu aufraffen, das Club-Poloshirt zu tragen, das er stets eine Nummer zu klein orderte, um seine Muskeln besser zur Geltung zu bringen. Wir argwöhnten seit geraumer Zeit, dass Fernando entweder ein Vampir war oder aber die Gene einer Fledermaus in sich trug. Mit schlafwandlerischer Sicherheit wich der Kerl jedem Hindernis aus, ohne auch nur den Blick zu heben. Er musste Schallwellen aussenden, eine andere Erklärung gab es nicht. So auch heute. Zielstrebig trabte er auf die Rezeption zu und wich in allerletzter Sekunde dem Mauervorsprung aus, auf dem diverse Blumentröge standen. Jeder andere hätte in diesem Augenblick an der Rückwand des Gebäudes geklebt, nicht so Fernando. Er fand problemlos den Eingang, und genauso problemlos fand sein Kopf Lupes Schulter.
»Gmpf!«
Lupes ausgeprägter Mutterinstinkt verhinderte, dass sie den frechen Bengel einfach abschüttelte wie ein lästiges Insekt. »Nando, ich habe dich ja auch lieb, aber wir sind alle müde, außerdem müsst ihr jetzt sofort raus, ich höre die Busse.«
Tatsächlich ertönte in der morgendlichen Stille das Geräusch der beiden großen Reisebusse.
»Na dann«, ich stupste Roberta sachte in die Rippen, »wollen wir wieder einmal ›Bye Bye‹ sagen.«
Wie von Zauberhand erschien auf unseren Gesichtern ein strahlendes Lächeln, was vor allem bei Fernando ausgesprochen amüsant wirkte, und wir traten in die Einfahrt des Clubs, wo die beiden Busse soeben fauchend ihre Türen öffneten.
»Wie viele?« Ich warf Lupe einen Blick zu. Die nahm ein Klemmbrett von ihrem Schreibtisch und blätterte durch die Liste. »Zweiundvierzig.«
Roberta und Fernando stellten sich an den Einstieg des ersten Busses, ich winkte den soeben atemlos herbeieilenden Carlos zu mir. »Konnten wir uns mal wieder nicht losreißen, was?«
Er verzog keine Miene. »Ich schon, aber sie nicht. Keine Panik, jetzt bin ich ja da.«
Aus dem Augenwinkel nahm ich ein verweintes, rotes Gesicht wahr. Eine schwere Reisetasche schleppend, war das Mädel schon wieder in Carlos‹ Richtung unterwegs.
»Achtung!«
»Danke, ich sehe sie schon.«
Carlos nahm von Lupe die Liste für Bus 2 in Empfang und wir stellten uns neben den Eingang.
Ich holte tief Luft. »Guten Morgen, liebe Gäste. Wir wissen, ihr seid müde und wollt nur eure Ruhe. Aber ihr kennt uns ja inzwischen, ein bisschen nerven müssen wir einfach, sonst sind wir nicht glücklich.« Verhaltenes Gelächter war die Antwort und ich fuhr erleichtert fort.
»Wir hoffen, ihr habt noch ein vernünftiges Frühstück bekommen, sofern man um diese Zeit überhaupt etwas hinunterbringt. Abgesehen davon müssen wir uns nun von euch verabschieden. Es hat uns allen großen Spaß mit euch gemacht, wir wünschen eine gute Heimreise und hoffen, dass ihr uns in guter Erinnerung behalten werdet, trotz allem, was wir mit euch angestellt haben.«
Da alle applaudierten – Müdigkeit hin, früher Morgen her –, schien ihr Aufenthalt den Erwartungen gerecht geworden zu sein.
»Carlos und ich werden nun die Namen all derer aufrufen, die in Bus 2 einsteigen müssen, um uns dann um euer Gepäck zu kümmern, Roberta und Fernando tun das Gleiche bei den Gästen, die für Bus 1 vorgesehen sind.«
Abwechselnd und zügig hintereinander riefen wir die Namen der Passagiere auf, hakten ab, drückten Hände, umarmten lieb gewonnene Gäste, wobei ein Paar Arme länger als nötig Carlos Hals umklammerte, ehe er sie vorsichtig löste und beruhigend auf das todtraurige Mädchen einredete. Endlich war auch es im Bus, die beiden Fahrer grüßen, wir nickten, die Türen schlossen sich, was immer nach Raumschiff klang, und schon fuhren sie langsam aus der Einfahrt.
Wieder einmal entschwanden zweiundvierzig Menschen, die eine kleine Weile unser Leben begleitet hatten, auf wahrscheinlich Nimmerwiedersehen.
3
Lupe steckte ihren Kopf durch die Eingangstür. »Ihr Lieben, ich bereite schon mal alles für diejenigen vor, die heute im Laufe des Tages kommen. Sind immerhin schon wieder zweiunddreißig. Seht zu, dass ihr noch ein wenig Schlaf bekommt. Bis später.« Die Tür klackte ins Schloss und auf dem Vorplatz herrschte, bis auf das Gezwitscher zahlreicher Vögel, wieder absolute Ruhe.
Carlos wandte sich uns mit zufriedenem Lächeln zu. »Na, amigos, was ist? Kaffee, Kippe, Sonnenaufgang, oder?«
Wir sahen uns nur kurz an und antworteten mit einhelligem Nicken. Roberta hakte sich bei mir unter, Carlos und Fernando gingen voraus, und so verließen wir eiligen Schrittes das Clubgelände und strebten dem kleinen Fischerhafen von Santa Eulalia entgegen. Um diese Zeit befanden sich die Fischer entweder bereits auf dem Meer oder waren soeben dabei abzulegen.
Und dann war da noch die kleine, urige Bar unseres Freundes Tikko, die täglich von vier Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags geöffnet war. Wie immer wurden wir freundlich begrüßt. Die derben Witze, die unweigerlich folgten, waren liebevoll auszulegen und Roberta und ich waren nicht um eine Antwort verlegen.
»Cara, Mädel, wenn du nicht endlich den Schönling da ranlässt, dann muss ich denken, dass du doch lieber mich wählen würdest, einen ganzen Mann.«
Ich drehte mich langsam um und musterte Pablo, der grinsend mit den Fingern durch seinen Vollbart pflügte, mit sorgenvoller Miene.
»Pablo, im Ernst jetzt? Deine Frau, vier Kinder und dann auch noch ich? Glaub mir, das schaffst du nie im Leben.« Ich klopfte ihm auf den imposanten Bauch, über dem sich die Fischerhose spannte. »Aber für den Fall, dass ich mich eines Tages umentscheiden sollte, lass ich es dich sofort wissen, in Ordnung?«
Pablo lachte und tätschelte mir mit seiner riesigen Pranke gutmütig die Schulter. »Pass auf dich auf, Mädel, du bist doch unser Sonnenschein.«
Ich fühlte, wie ich am Arm ergriffen und sachte mit fortgezogen wurde.
»Keine Angst, Pablo. Das mit dem Aufpassen übernehm dann mal ich.« Carlos schob mich zu der weißgetünchten Mauer, auf der wir oft saßen, und half mir hinauf. Er musterte mich besorgt. »Alles klar bei dir?«
»Aber sicher, ich bin nur müde. Was soll denn nicht in Ordnung sein? Du weißt doch, wenn ich vor Sonnenaufgang aufstehen muss, bin ich zu nichts zu gebrauchen.«
Er zuckte die Schultern. »Dann sorgen wir dafür, dass du wach wirst, ich hol mal Kaffee.« Mit Fernando im Schlepptau verschwand er in der Bodega.
Ich ließ meinen Blick über die Bucht gleiten, sah die Boote mit ihren am Bug befestigten Laternen draußen auf dem Meer. Wie große Glühwürmchen schaukelten sie auf den sanften Wellen, während sich über ihnen der Mond anschickte, sich zur Ruhe zu begeben. Vereinzelt hörte man die Fischer singen und einige klangen ausnehmend schön.
Die Mauer war in zwei Etagen gebaut, sodass man wie auf einer Bank gemütlich sitzen konnte. Tagsüber war es hier trotz einiger Sonnenschirme fast zu heiß, um diese Zeit aber war es sehr angenehm und die Stimmung der ausklingenden Nacht unvergleichlich. Auch wenn ich das frühe Aufstehen hasste, das hier versöhnte mich immer wieder mit den Umständen. Carlos und Fernando kamen auf uns zu, jeder zwei volle Gläser Café con leche in Händen.
Während Fernando Roberta versorgte, setzte Carlos sich vorsichtig hinter mich und streckte seine langen Beine links und rechts von mir aus.
»Mit zwei Päckchen Süßstoff. Und umgerührt ist auch schon.« Er drückte mir das Glas in die Hand, das er wie immer mit einer Papierserviette umwickelt hatte, damit ich mich nicht verbrannte.
Ich nippte an dem heißen, süßen Kaffee. »Perfekt, vielen Dank.«
Behutsam stellte ich das Glas neben uns ab, schmiegte mich an Carlos‹ warmen Oberkörper, verrenkte mich ein wenig und zog ein Päckchen Marlboro Lights aus meiner Hosentasche. Ich konnte gar nicht so schnell nach meinem Feuerzeug greifen, wie auch schon eine Flamme neben meinem Gesicht aufloderte. Ich hielt meine Zigarette an die Flamme und beobachtete wie so oft das Kunststück, bei dem Carlos seine Corona zuerst aus der Packung und dann so in die Höhe schnippte, dass sie einen Doppelsalto in der Luft beschrieb und exakt zwischen seinen leicht geöffneten Lippen landete.
Ich hasste ihn dafür!
Viel zu oft habe ich, zur allgemeinen Erheiterung, dieses Kunststück nachzumachen versucht – mit zweifelhaftem Erfolg. Die Kippe landete überall, in meinen Haaren, in meinem Ausschnitt, im Ausschnitt meines Gegenübers, in Silvies Crema Catalán und einmal um ein Haar in meinem rechten Nasenloch. Danach hatte ich es nie wieder versucht. Ich griff nach meinem Glas und kuschelte mich fester an ihn, spürte, wie sein Arm mich umfasste und an sich drückte.
Seine tiefe, leise Stimme unterbrach kurz darauf die Stille. »Hey, Nando, ein gut gemeinter Rat, da ich dich letzte Nacht mit der schwarzgefärbten Schönheit gesehen habe: Sei da ein wenig vorsichtig.«
Fernando seufzte herzerweichend. »Was soll ich denn tun? Das ist mein unglaubliches Charisma, sie steht eben auf mich. Gib doch zu, dass sie dir auch aufgefallen ist.«
Carlos lachte lautlos in sich hinein. »Ja, schon, aber um ehrlich zu sein, war der Blick auf sie meist durch ihren stiernackigen Begleiter verdeckt, der die nicht zu verachtenden Ausmaße eines Profiwrestlers besitzt.«
»Ja, Himmel, wie soll ich mich denn wehren, wenn sie mich halb anspringt? Zur Seite gehen?«
Carlos nickte. »Das wäre wirklich die beste Lösung. Du kannst nicht behaupten, dass das Angebot in Sachen Frauen in irgendeiner Form zu klein wäre, oder? Noch mal, pass auf. Der Kerl macht dich alle, wenn er etwas mitbekommt. Schon klar, dass er nicht der Hellste ist, aber selbst der Typ hat sowas wie Instinkt, wenn’s um seine Frau geht. Lass die Finger von ihr, wenn dir dein Gesicht im Urzustand lieb ist.«
Fernando drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus, der zwischen uns stand. »Du hast leicht reden. Kann ich was dafür, dass ich andauernd Problemfälle anziehe?«
Ich musste mich nun leider doch einmischen. »Tja, Großer, Gleich und Gleich gesellt sich eben gerne.«
Fernando beugte sich blitzschnell zu uns und zwickte mich in den Arm.
»Hier gibt’s kein tja, junge Frau. Was hältst du denn von der Idee, mich endlich zu erhören und mir somit all diese Probleme vom Hals zu schaffen, na?«
Ich wandte Fernando mein Gesicht zu und lächelte ihn vielsagend an. »Ich dachte, damit sind wir durch? Also noch mal: Träum weiter!«
Der schöne Canario ließ seinen Blick aus unverschämt blauen Augen über mich gleiten und grinste frech zurück. »Dich krieg ich noch.«
»Das werde ich zu verhindern wissen.« Carlos‹ Stimme hatte nun einen drohenden Unterton.
»Okay, schon gut. Ich gebe mich geschlagen … für den Augenblick.« Mit einem Lächeln auf den Lippen lehnte Fernando sich zurück und begann gedankenverloren, sich eine von Robertas dunklen Locken um den Finger zu wickeln.
Carlos trank den letzten Schluck Kaffee, stellte sein Glas weg, zündete sich eine neue Corona an und legte die Arme wieder um mich. Schweigend sahen wir hinaus aufs Meer.
Zusammen schweigen, das war nicht einfach, das musste man können. Schweigen, ohne das seltsame Gefühl, unbedingt etwas sagen zu müssen. Carlos und ich hatten es von der ersten Minute an beherrscht.
4
Drei Jahre zuvor
Teneriffa, Flughafen Reina Sofia, Juni 1985
Es war früher Nachmittag, als ich vor etwas über drei Jahren nach meiner Abreise aus Deutschland auf Teneriffa gelandet war. Jaimes letzte Nachricht am Telefon hatte gelautet, dass er seinen Chefchoreografen Carlos schicken würde, um mich abzuholen. Er beschrieb ihn mir kurz, und schon da war ich mir sehr sicher, dass ich ihn erkennen würde.
So war es dann auch. Kaum verließ ich den Zollbereich und hatte meinen Gepäckwagen, der natürlich in eine komplett andere Richtung wollte als ich, mit Müh und Not hinaus ins Getümmel bugsiert, hielt ich nach Carlos Ausschau. Er war nicht schwer zu erkennen. In einem ärmellosen Jeanshemd und einer kunstvoll zerrissenen, ausgebleichten Jeans sowie dunkelbraunen Cowboystiefeln stand er, die Hände tief in den Hosentaschen versenkt, mit mürrischer Miene an eine Säule gelehnt. Er ließ den Blick aus dunklen Augen gelangweilt über die ankommenden Fluggäste schweifen. Sonderlich begeistert von seinem Auftrag, mich hier aufzusammeln, schien er nicht zu sein. Was mich spontan für ihn einnahm, war die Tatsache, dass an seinem rechten Arm annähernd so viele Armbänder und -reifen baumelten wie an meinem. Ich musste ihn wohl angestarrt haben, denn plötzlich blieb sein Blick an mir hängen. Er musterte mich kurz mit ernster Miene, dann erschien ein Lächeln auf seinen Lippen. Er stieß sich von der Säule ab, nahm die Hände aus den Taschen und kam langsam auf mich zu.
»Caroline? Caroline Montrose?«
O Mann, was für eine Samtstimme.
Ich war mir der Funktionstüchtigkeit meiner Sprachwerkzeuge nicht ganz sicher und beließ es bei einem freundlichen Nicken.
Er sah auf den Gepäckwagen, dessen Griff ich haltsuchend umklammerte. »Ist das dein ganzes Gepäck?«
Ich räusperte mich umständlich, um mit viel zu hoher Stimme zu antworten. »Ja, das reicht doch eigentlich auch, oder?«
Er lächelte vielsagend. »Bei euch Frauen weiß man das nie. Hattest du einen guten Flug? War alles in Ordnung?«
Wieder nickte ich. »Alles super, danke. Der Kaffee hat beschissen geschmeckt, aber sonst war alles gut.«
Das Lächeln vertiefte sich einige Nuancen. Eigentlich sah das sehr schön aus, doch leider hatte es auf mich den Effekt, dass sich meine Gesichtsfarbe von Schottisch-dezent-Kalkweiß zu Venezianisch-Rot wandelte - ich spürte es genau. Carlos schien es nicht zu bemerken. Er zeigte auf den Gepäckwagen und schmunzelte. »Na komm, ich fahr ihn raus. Lass uns hier verschwinden.«
Ich fand das eine prima Idee, ehe ich mich noch komplett zum Affen machte. Also ließ ich ihm den Vortritt, umklammerte statt des Griffs die Träger meiner Umhängetasche und trottete hinter ihm her, während er zielsicher und problemlos den Wagen durch die Menschenmenge manövrierte. Nur langsam begann ich meine Umgebung wieder wahrzunehmen, und dazu gehörten auch die zahllosen neidvollen Blicke, die mich verfolgten, als ich hinter Carlos hertrabte. Ich konnte die Gedanken diverser Exemplare holder Weiblichkeit regelrecht auf deren Mienen ablesen: Was will denn der spanische Halbgott mit diesem unscheinbaren, nichtssagenden Wesen?
Schließlich siegte mein – wenn auch kleines – Ego, ich straffte meine Schultern und setzte meine »Dumm-gelaufen-für-dich«-Miene auf.
Carlos steuerte auf eine Tür zu und wir verließen das Flughafengebäude. Sofort umfing mich ein Gemisch aus Wärme und salziger Luft, dazu der typische Geruch der Coronas und die Geräuschkulisse, die ich so liebte. Gleich fühlte ich mich besser. Carlos hielt auf einen offenen Jeep Wrangler zu, an dessen Türen das Logo des Costa Azul prangte.
»Wow, ihr habt neue Autos?«
Carlos nickte mit strahlendem Lächeln. »Ja, cool, nicht wahr?«