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Ein schwerer Weg zum Ultra-Marathon Die Ärzte empfahlen ihr Aquajogging statt Marathon-Training. Doch die Diagnose Lipödem war für Antje Wensel kein Grund, die Laufschuhe in die Ecke zu werfen – ganz im Gegenteil! Marathon laufen stand weiterhin auf dem Plan: Trotz krankheitsbedingter Zunahme von Unterhautfettgewebe an Armen, Beinen, Hüften und Knien trainierte sie weiter für eines der härtesten Ultrarennen: das Sahara Desert Race 2017, 250 Kilometer durch die Wüste Namibias. Ihr fester Wille wurde belohnt: Obwohl sie eigentlich zu schwer war, finisht Antje Wensel dieses ultralange Rennen in einer der heißtesten Wüsten der Welt in den Top 10! Gleich darauf entschloss sie sich, am Gobi March 2018 teilzunehmen. Marathonvorbereitung mit Handicap Machen ist so ähnlich wie wollen – nur effektiver. Nach diesem Leitsatz organisiert Antje Wensel ihr Lauftraining und ihren Kampf gegen die Krankheit Lipödem (und die Krankenkassen). Laufen, essen, schlafen. Am Ende der Vorbereitung für das Sahara Desert Race ist sie 20 Stunden pro Woche laufend und marschierend unterwegs. • Starke Story einer starken Frau, die das Laufen liebt • Für Läufer, die wissen wollen, wie man sich selbst Mut macht und Krisen bewältigt • Co-Autor Rafael Fuchsgruber ist Autor der beiden erfolgreichen Laufbücher Running wild und Passion Laufen Du kannst wenn du willst ist Antje Wensels (Läufer)-Biografie. Es ist die Geschichte einer Frau, die das Laufen liebt und die sich von Rückschlägen und Handicaps nicht unterkriegen lässt. Ganz fokussiert konzentriert sie sich auf das, was sie erreichen will. Mit dieser Leistung und mit ihrer Art ist sie allen Läufern ein Vorbild!
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Seitenzahl: 193
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VORWORT»ÜBER GROSSE STEINE MUSS MAN KLETTERN«VON RAFAEL FUCHSGRUBER
EINLEITUNG
KAPITEL 1AUSLÖSER UND ANTRIEB ZUM LAUFEN
KAPITEL 2DAS ERSTE TREFFEN MIT RAFAEL FUCHSGRUBER
KAPITEL 3KINDHEIT, ELTERN, DDR
KAPITEL 4MEIN KÖRPER – EIN BUCH MIT SIEBEN SIEGELN
KAPITEL 5DIE WILDEN JAHRE
KAPITEL 6MEIN JOB ALS CURVY MODEL
KAPITEL 7DER ERSTE MARATHON
KAPITEL 8DIE ZWEI LÄUFERSEELEN
KAPITEL 9DIAGNOSE LIPÖDEM
KAPITEL 10BOA VISTA ULTRAMARATHON. ODER: WAS MAN ALLES FALSCH MACHEN KANN
KAPITEL 11DAS GROSSE ABENTEUER NAMIBIA – DU KANNST, WENN DU WILLST
SCHLUSSWORT
»Aahhh, du jetzt wieder, Rafael«, sagt Antje, als ich sie frage, ob sie ein Buch mit mir schreiben will. »Mit mir« ist nur ein Vorwand. Ich weiß: Eine wie Antje würde nicht einfach so ein Buch über sich schreiben. Wir sitzen nach einem 250 Kilometer langen Wüstenrennen in Namibia am Atlantik. Sie hat das Rennen gefinisht. Und wie sie es gefinisht hat! Zweieinhalb Jahre zuvor haben wir uns das erste Mal gesehen und sind bis zu dieser Ziellinie in der Namib-Wüste den Weg gemeinsam gegangen. Die Anzahl und vor allem die Größe der Stolpersteine war atemberaubend. Das kam uns beiden aber gerade recht. Über kleine Steine stolpern wir leicht, bei großen passiert das nicht.
Ich fang noch mal an: »Lass uns ein Buch über deine Geschichte schreiben.« Ich bekomme die gleiche Antwort, nur mit anderen Worten. Freundlich, aber deutlich: »Ach hör auf, wen soll das denn interessieren?«
Ich habe es immer gewusst. An manchen Tagen habe ich mich in meiner Euphorie gebremst und einfach nur gehofft, aber im Grunde habe ich es die ganze Zeit geahnt, dass sie es schaffen wird. Ich habe immer wieder versucht, mich zurückzuhalten. Ich stehe unglaublich auf Leistung – Lebensleistung! Schwierige Themen anzugehen, ganz schwierige, die eine hohe Wahrscheinlichkeit des Scheiterns beinhalten – das ist das Ding.
August 2015: Ich hatte ein Konzert mit einem meiner Künstler auf einer wunderschönen Freilichtbühne in der Nähe von Dresden. Mit Antje stand ich bereits in Kontakt, und es war irgendwie genau die richtige Zeit, um sich persönlich zu treffen. Ich hatte für sie und ihren Freund Ralf Backstagepässe organisiert. Ralf kannte ich bereits aus Libyen, wo wir 2008 gemeinsam ein 200-Kilometer-Nonstop-Rennen durch die Sahara gelaufen sind. Ich war relativ neu im Ultralaufen und Ralf sehr stark, er war viele Stunden vor mir auf Platz 5 im Ziel. Da standen wir jetzt. Vor allem stand sie da. Große, klare blaue Augen schauten mich aus dem Dickicht einer blonden, lockigen Mähne an. Mein Blick fiel auf eine sehr attraktive Frau. Als Läufer oder Coach fiel mir aber auch in der gleichen Sekunde auf, dass sie als angehende Läuferin ein Gewichtshandicap hat.
Rafael und ich vor dem Löwenmobil in der Namib-Wüste.
»Erschwerung« ist eines der Synonyme für Handicap. Und so sehe ich das erst einmal. Die gesundheitliche Betrachtung im Detail sollte später folgen. Den passenden Arzt dazu hatte ich damals seltsamerweise schon im Kopf. Die Attraktivität einer Frau ist nicht abhängig von Modelmaßen oder vom Geschmack einer Zeit. Das gilt auch für Männer. Antje beeindruckt durch ihre Art, das macht einen Teil ihrer Attraktivität aus. Vom ersten Moment an war ich begeistert. Sie ist überhaupt nicht der Mensch, der in einen Raum kommt und erst mal verkündet: »Hallo, Leute, schaut mal, da bin ich« – Küsschen hier – Küsschen da. Sie ist viel besser. Leiser. Sie beobachtet, sie blickt dich sehr direkt und klar an. Sie hört zu. Ich meine richtig zuhören – sie weiß noch nach Monaten, was du damals gesagt hast. Sie wirkt im ersten Moment auf eine sehr freundliche und interessante Art eher schüchtern. Am Ende unseres Treffens fällt mir spontan der Titel für ein Buch ein: Ich wär’ viel lieber schüchtern geblieben. Warum hab’ ich nach unserem Treffen einen Buchtitel vor Augen? Echt keine Ahnung – kann nur Zufall sein.
Sie hat konkrete Fragen zum Laufen. Was ist machbar? Wie kann ich meine Ziele erreichen? Werde ich eines Tages einen Marathon finishen können? Die Antwort auf diese Fragen liegt naturgemäß in der Zukunft. Aber entscheidend ist der erste Schritt, und der findet gerade in diesem Moment statt. Sie hat einen wildfremden Typen angeschrieben und gefragt, ob sie ihm Fragen stellen darf. Nicht sensationell – aber die richtige Richtung. Dass wir über die Jahre gute Freunde werden würden, war bei der ersten Mail ja nicht absehbar.
Sie ist sich vollkommen bewusst über die Anstrengungen, die ihr bevorstehen. Sie ist sich vollkommen bewusst, was ihr Handicap betrifft: 95 Kilogramm bei einer Größe von 1,75 Metern. Aber ihr Wunsch ist klar. Ganz klar! Dabei ist sie gleichzeitig vollkommen smart und tough. Es gibt nicht wenige Menschen, die aus Gründen der Eitelkeit, sozialem Statusdenken oder einfach nur aus totaler Selbstüberschätzung über die Teilnahme an Laufveranstaltungen nachdenken. Alles schon erlebt. Alle schon mal bei mir gewesen. Antje ist da anders. Irgendwann ruft die Arbeit, und ich muss mich wieder um meine Künstler und um das Konzert kümmern. Wir verabschieden uns nach der Show, und sinnigerweise haben wir zwei unterschiedliche Erinnerungen an den Ausgang unseres Gespräches. Während Antje über die Intensivierung ihres Laufens und eventuell auch über die ersten kleineren Rennen nachdachte, habe ich für mich gespeichert, dass ich sie eines Tages in der Wüste wiedertreffen werde. Für mich stand dies ganz klar im Raum – so klar war sie mit ihren Gedanken zum Thema Laufen. Ich hab’ mal lieber nichts gesagt, damals in Sachsen. Man kann Leute auch ganz schön damit erschrecken, wenn man ihnen sagt: »Ich sehe dich in zwei oder drei Jahren an der Startlinie in irgendeiner Wüste dieser Welt.«
Auf Menschen wie Antje steh’ ich und war, wie erwähnt, früh begeistert von ihr. Das allein ist noch kein Grund, ein Buch schreiben zu wollen. Es gab aber noch einige weitere: Keiner hat sich so um seinen großen Traum gekümmert wie Antje. Es gab bei fast 100 Startern in diesem Rennen keinen, der so viele Stunden trainiert hatte wie sie. Auch nicht die Führenden in der Gesamtwertung. Sie hatte mehr Trainingsstunden in den Beinen als ich in meinen besten Zeiten. Nun gut – noch ein weiteres Handbuch zum Lauftraining braucht die Welt auch nicht.
Männer oder Frauen, die gut laufen können und Bücher schreiben, gibt es viele. Aber in Namibia war etwas ganz anderes passiert, was mich dazu brachte, ein Buch mit ihr machen zu wollen: »Who is this big blonde lady?« So lautete die Frage, mit der einige Läufer und Crew-Mitglieder zu mir kamen. Sie hatten realisiert, dass sie zu meinem Little Desert Runners Club gehörte. Ein entspannter Klub von frei umherlaufenden Irren, die mich bei diesem Rennen begleiteten. 15 Läufer und Läuferinnen, die fast alle das erste Mal auf einem 250 Kilometer langen Wüstenlauf waren. Die Veranstalter des Rennens, Samantha, Zeana und Riitta, erkundigten sich bei mir nach Antjes Geschichte. Selbst die Local Crew, also die Helfer aus Namibia, die unser Lager aufbauten oder die Wasserversorgung sicherstellten, fragten und fragten. Nach dem Rennen gab ich dem japanischen Fernsehen ein Interview. Das gleiche Spiel. Es gab zwei Themen: das sensationelle Abschneiden des Little Desert Runners Club und die große blonde Lady.
Neben ihrer physischen Erscheinung und der »eher« untypischen Läuferfigur war es aber auch hier wieder ihre Art, die dafür verantwortlich war. Die Leute erzählten mir, was ihnen an Antje aufgefallen war, und fanden es so schön, dass sie trotz des höchsten Gewichtshandicaps im Starterfeld ohne Theater und ohne Jammern immer wieder die Tagesetappe mit einem Lächeln beendete. Ganz still und ganz und gar nicht um Aufmerksamkeit bemüht. Auch wenn ich den Schmerz manchmal durchschimmern sehen konnte. Antje ist an den Start gegangen mit einem Thema, das viele anstreben: Veränderung. Eine Geschichte, ein Thema auf den Weg und schließlich zu Ende zu bringen, ist nicht immer leicht. Und auch nicht immer von Erfolg gekrönt. Zum Thema Erfolg und Zukunft gibt es nur eins, was man mit definitiver Sicherheit sagen kann: Wenn man nicht anfängt, wird gar nichts passieren. Es geht in diesem Buch um Antjes Geschichte. Nicht nur um Gewicht, Gesundheit oder Laufen – wir alle können daraus lernen, wie wir unsere eigenen problematischen Themen angehen können, um neue Ziele zu erreichen. Nicht in der Theorie – vorangegangen, vorgelebt, authentisch!
Unser Gespräch am Strand ging noch lange. Ich kann manchmal aber auch nerven! Antje ist meine Heldin des Jahres. Ich darf das sagen! Es passt. Und ich seh’ sie schon wieder vor mir im Sand sitzen, den Kopf schüttelnd und sagend: »Aaaahh, du jetzt wieder.«
Dieses Buch hätte es fast nicht gegeben. Antje hätte nie ihre Geschichte aufgeschrieben, wären da nicht die Menschen gewesen, die danach gefragt haben.
Frankfurt am Main, 7:55 Uhr: Mit leichten Kopfschmerzen und müden Augen steige ich nach einer schlaflosen Nacht aus dem Flugzeug. Obwohl sich mein erschöpfter Körper nur schwerfällig vorwärts bewegt, fühle ich mich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Tüchtige Geschäftsleute stürzen voller Eile an mir vorbei, während ich völlig geruhsam meinen Koffer vor mir her schiebe. So, als würde ich Zeit herausschinden wollen, um nicht Abschied nehmen zu müssen – Abschied von neu gewonnenen Freunden, Menschen, die ich in meinem normalen Leben nie kennengelernt hätte, die mir eine Woche sehr nah waren, mit mir gelebt, geliebt und gelitten haben, die alle über sich hinausgewachsen sind, um ein großes Ziel zu erreichen. Angefixt von einer wahnwitzigen Idee – 250 Kilometer durch die Namib-Wüste laufen – habe ich trainiert wie eine Verrückte, sämtliche Outdoorläden leer gekauft, Tütennahrung zur Probe gefuttert, Familienmitglieder in den Wahnsinn getrieben, Rafael in den Ohren gelegen – und das war’s jetzt? Zwei Jahre vor dem Namib-Abenteuer kreuzte sich mein Weg mit dem des Wüstenfuchses, danach gingen wir gemeinsam weiter, und jetzt stehen wir hier – ich mit feuchten Augen, einem Rucksack voller Emotionen – und haben gerade mal zwei Minuten, um uns voneinander zu verabschieden. Es war nur eine temporäre Flucht aus der Zivilisation. Ich bin zurück in dieser Welt! Einer Welt, die mir plötzlich so fremd erscheint nach einer hochemotionalen Woche, nach einer Reise zu mir selbst, nach einem unglaublichen Abenteuer.
Nun sitze ich hier im Wartezimmer meines Arztes und lausche den Gesprächen der anderen Patienten. Negative Stimmung füllt den Raum, riesige Probleme wie der seit zwei Tagen vergriffene Lieblingsjoghurt aus dem Regal oder dieses scheußliche Wetter – ein leichter Sommerregen – werden diskutiert. Augenrollend widme ich mich währenddessen meinem OP-Aufklärungsbogen für mögliche Komplikationen bei Lipödemoperationen, setze hier und da ein Kreuzchen in einem Anästhesiefragebogen, beantworte nette Fragen zu bisherigen Erkrankungen und nehme den Hinweis von möglichen Nebenwirkungen nüchtern hin. In der Wüste war das Leben eindeutig einfacher. Ich merke: Zu Hause angekommen bin ich noch nicht. Traurig sehe ich mich in Gedanken auf einer Düne sitzend im weichen Sand, spüre von Kopf bis Fuß jedes Sandkorn und das Salz auf meiner Haut. Der rauchige Lagerfeuerduft umgibt mich, ich sehne mich zurück. »Frau Wensel, bitte!«
»Sie müssen sich damit abfinden, Ihr Leben lang Kompressionsstrümpfe zu tragen und regelmäßig zu Lymphdrainagen zu gehen.«
»Was mache ich in den Sommermonaten, ich kann mich darin kaum bewegen, es fühlt sich an wie ein Taucheranzug. Selbst die Füße sind bestrumpft, wie soll ich da Flipflops tragen, am Strand spazieren gehen?«
»Damit müssen Sie sich abfinden! Das geht nicht mehr.«
»Ich bin Läuferin und möchte in wenigen Wochen 250 Kilometer durch die Namib-Wüste laufen.«
»Ach herrje! Tragen Sie die Kompressionsstrümpfe beim Laufen!«
Kurz denke ich darüber nach, wie das wäre – so mit Sand in meinen Kompressionsstrümpfen. Ein netter Peelingeffekt! Wie wohl meine Zeltmitbewohner während der 20-minütigen Anziehzeremonie blicken würden? Es lohnt sich nicht, dass ich mir weiter Gedanken darüber mache. Keine Kompressionsstrümpfe in der Wüste. Basta!
Ich habe einen Plan, ein Ziel – und ich werde laufen, trotz Handicap! Ja, ich bin zu schwer. Nein, ich habe keine kenianischen Wunderlaufbeinchen. Auch glänze ich nicht mit Bestzeiten oder Erfahrungen im Langstreckenlauf. Mein erster Versuch des 75-Kilometer-Laufes auf der afrikanischen Wüsteninsel Boa Vista ging aufgrund meiner sich auflösenden blutigen Füße und allerlei anderer unvorhersehbarer Dinge ordentlich in die Hose. Es sollte mein Probelauf für das Sahara Racein Namibia werden. Es wurde zu einem selbst auferlegten Psychoterror, ich stand am Rande der totalen Verzweiflung. Ich war gescheitert – für einen Augenblick. Meine fiese und immer weiter fortschreitende Krankheit wird mich nicht zu Boden werfen, höchstens, um von da wieder aufzustehen. Mein Körper bestimmt mich nicht! Es wird ein anstrengender Weg, aber es ist möglich, auch wenn eine Vielzahl von Ärzten das Gegenteil behauptet, mich für verrückt erklärt, teilweise für größenwahnsinnig hält. Wie oft habe ich gehört, ich solle die Laufschuhe an den Nagel hängen? Das geht mir ins linke Ohr hinein und rechts wieder raus. Ich brauche Lösungen für meine Probleme, kein Schlechtreden, keine Demotivation, keine Vorschläge für Alternativsportarten wie das allnachmittägliche Ü-70-Aquajogging-Programm. Auch Walking solle ich lieber sein lassen, kein Mensch wäre mit zwei Walkingstöcken anstatt zweier Arme auf die Welt gekommen. Außerdem seien wir Jäger und Sammler, müssten für unser Futter kämpfen und es verteidigen, daher seien die für mich optimalen Sportarten Kickboxen und Taekwondo. Ich weiß gerade nicht, ob ich darüber lachen oder weinen soll.
Auf die Nase fallen, aufstehen und weitermachen, das kenne ich. Und ja: Ich bin wieder bereit dafür. Selbstbewusst. Hoch motiviert durch Menschen, die an mich glauben, die mich in gewisser Weise an die Hand nehmen, mir aufzeigen, was alles möglich ist, wenn man sich um die Dinge kümmert, einen unbändigen Willen hat und ganz klar im Kopf ist.
Jammern ändert gar nichts. Machen alles!
Es ist ein sonniger Tag Anfang März 2014, der erste mit fast frühlingshaften Temperaturen nach einigen tristen Wintermonaten. Endlich Feierabend! Gut gelaunt steige ich in mein Auto, drehe die Musik auf und düse nach Hause. Während ich gedankenversunken neue Schleichwege auskundschafte, um eventuell noch eine halbe Minute Arbeitsweg zu sparen, überhole ich einen Jogger – dass man Läufer sagt, lerne ich erst später. Dynamisch und sportlich sind seine Bewegungen, braun gebrannt ist seine Haut. Mit Sonnenbrille auf der Nase und den Kopf mit einem Tuch bedeckt, bewegt er sich galant vorwärts. Aus den farbenfrohen kurzen Laufshorts blitzen muskulöse Männerbeine. Ich bin beeindruckt, fahre weiter und schlage nun doch unbeabsichtigterweise aufgrund der kleinen Ablenkung den gleichen Weg wie jeden Tag ein. Rechts vor links, ich muss warten. Es klopft an meiner Fensterscheibe. »Hey, sag mal, hast du Tomaten auf den Augen? Ich fuchtele die ganze Zeit mit den Armen hin und her, aber du siehst mich nicht.« »Äh, hallo, Ralf, ich war wohl etwas geistesabwesend, in diesem Outfit habe ich dich noch nie gesehen. Ich habe dich nicht erkannt.« Ich biete ihm an, einzusteigen, es sind immerhin noch gute zwei Kilometer bis nach Hause. »Nein danke, lieb gemeint, aber das kleine Stück lauf ’ ich noch aus. Bis gleich.« Ich bin verwirrt. Zum einen darüber, wie sich sportliche Kleidung auf das Erscheinungsbild eines Menschen auswirkt – Kleider machen wirklich Leute –, zum anderen beeindruckt mich die Tatsache, dass man eine Strecke von zwei Kilometern als »Auslaufen« bezeichnen kann. Ein 2.000-Meter-Lauf in meiner Schulzeit brachte mich fast zum körperlichen Totalausfall.
Seit ein paar Wochen erst teilen wir uns Bett und Stuhl, sind noch nicht viel länger ein Paar. Da kennt man sich noch nicht bis ins letzte Detail oder übersieht einiges. Ich weiß nun, dass ich einen Läufer an meiner Seite habe. In den vergangenen Jahren soll dieser Läufer eher geschlafen haben, passiv gewesen sein, aber einige Zeit davor soll er ziemlich verrückte Dinge gemacht haben. Laufen ist zumindest bei uns bis heute noch kein Thema gewesen, und wäre es auf den Tisch gekommen, dann hätte ich es vermutlich einfach zur Kenntnis genommen.
Irgendwie beginnen einige bedeutsame Kapitel meines Lebens mit Sand – ob im Sandkasten, im Urlaub, in der Wüste oder einfach nur aufgrund der Tatsache, dass ich für Sandkuchen sterben würde. Demzufolge ist es nur konsequent, dass unser Kennenlernen ebenfalls im Zusammenhang mit diesem feinen goldgelben Pulver seinen Anfang fand. Auch für uns beide sollte Sand eine wichtige Rolle spielen.
Wenige Monate zuvor, im Dezember, wühle ich mich mit hektischen Schritten durch Menschenmassen auf dem Dresdner Strietzelmarkt, um letzte Besorgungen für das anstehende Familienweihnachtsfest zu tätigen. Zwischen dem Duft gebrannter Mandeln und Glühwein fällt mir plötzlich Ralf vor die Füße. Er verbringt ein paar Wochen Urlaub in Deutschland, lebt und arbeitet aber seit einigen Jahren auf der afrikanischen Wüsteninsel Boa Vista. Da lernten wir uns drei Jahre zuvor bei einer seiner Inseltouren kennen. Er verheiratet, ich gerade irgendwo zwischen Trennung und neuem Gefühlschaos durch das Auftauchen meiner alten Jugendliebe. Weder Ralf noch ich hegten zu dieser Zeit irgendwelche gefühlsduseligen Gedanken in Bezug auf den anderen. Meinen Studienabschluss hatte ich endlich in der Tasche, ich war ausgelaugt und einfach nur reif für die Insel. Sonne, Strand, Meer, Ruhe – mehr brauchte ich nicht. Ralf erledigte seinen Job als Inselguide – was er mit Leib und Seele tat – und ich ließ mich als interessierte Urlauberin einen Tag lang mit dem Jeep über die Insel fahren und bekam nebenbei von einem charmanten und netten Mann allerlei Infos zum Land und zu den Leuten. Ich bewunderte seinen Mut: Er hatte alles Gewohnte aufgegeben und am Ende der Welt neu angefangen. Er war der klassische Aussteiger aus dem normalen Leben, er stieg aus dem Hamsterrad aus, welches unser Dasein zu oft bestimmt. Spannend finde ich seine Geschichte, aber ich weiß, dass diese nie die meine sein wird. Die bodenständige Stierfrau wird weder von sich aus den Schritt ins Ungewisse wagen noch sich von einem Mann dazu hinreißen lassen. Ich bleibe in meinen sächsischen Gefilden.
Wieder zurück auf dem Weihnachtsmarkt: Wir stehen uns gegenüber und sind völlig perplex, dass wir uns ausgerechnet hier wiedersehen. Ich beobachte, wie Ralf krampfhaft versucht, seine von Frost erstarrten Hände an einer Tasse Glühwein zu wärmen. Kleine klare Eiskristalle bilden sich um seine Wimpern, während sich seine zitternden Lippen langsam blau färben. Ich empfinde Mitleid mit Ralf, seine Lebensgeister scheinen langsam zu schwinden, also schlage ich vor, unser Gespräch in einem Café fortzusetzen. Nach einem Espresso und dem dezenten Hinweis auf seine Scheidung trennen sich unsere Wege wieder.
Die heimische Kälte steckt mir noch in den Knochen, entweicht aber Stück für Stück, als ich bei sommerlichen Temperaturen über das Rollfeld in Richtung Flughafenausgang in Boa Vista Rabil laufe. Alles richtig gemacht, denke ich mir. Die Wochen zuvor waren schwierig, ich musste mich neu sortieren, habe eine kräftezehrende Beziehung hinter mir gelassen, Hals über Kopf meinen Koffer gepackt und mich entschieden, nach Boa Vista zu fliegen. Hier ist es warm, kilometerlange unberührte Sandstrände reihen sich aneinander, türkisfarbenes Meer erstreckt sich entlang der Atlantikküste, genau das Richtige für meine geschundene Seele. Ich treffe Ralf wieder. Mir geht es gut, ich fühle mich frei, und an mein Leben zuhause verliere ich gerade keinen Gedanken. Ich genieße meinen Urlaub, für Ralf geht der Arbeitsalltag weiter: Tag für Tag zeigt er gut gelaunt erwartungsfreudigen Urlaubsgästen die schönsten Ecken der Insel. Wer würde sich nicht auch solch ein Leben wünschen? Von meinem persönlichen Inselguide lasse ich mich zusammen mit anderen Gästen auf atemberaubenden Inseltouren berieseln. Vieles erkenne ich wieder, drei Jahre zuvor verbrachte ich bereits einen Urlaub auf der Insel. Schon damals faszinierte mich dieses völlig unberührt wirkende Fleckchen Erde, und ich war mir sicher, irgendwann wieder dorthin zurückzukehren – wie oft, das erahn(t)e ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Manchmal muss man einfach Nägel mit Köpfen machen. Mann auch. Nach zehn Tagen des Energietankens stehe ich mit meinem »weißen Afrikaner« am Flughafen in Boa Vista, um zurück nach Deutschland zu fliegen. Nicht allein. Gemeinsam. Für immer. Er lässt sein komplettes Leben auf (s)einer Trauminsel hinter sich, all sein Hab und Gut hat er in zwei Koffer gepackt, im Schlepptau befinden sich zwei verwirrt dreinblickende Vierbeiner – Lupo und Taimo, seine zwei »Hot dogs«. So war das definitiv nicht geplant, aber was bedeuten schon Pläne im Leben? Ralf traf die Entscheidung, nach Deutschland zurückzukehren – völlig unabhängig von mir –, schon einige Monate vor unserem Aufeinandertreffen im Dezember. Wann, wie und wo waren die großen Fragen, die damals noch unbeantwortet waren. Das ist schon ziemlich geschickt eingefädelt von ihm: Er lockt eine von der großen Liebe enttäuschte Mittdreißigerin auf eine einsame Insel, eine, die sich zudem im Urlaubshoch befindet. Eine, der du gerade irgendwie alles erzählen kannst und die dabei artig mit dem Köpfchen nickt und zu allem »Ja« sagt. Bevor ich es mir noch anders überlegen konnte, packt Ralf die Gelegenheit am Schopf, begleitet mich zurück nach Deutschland, zieht direkt bei mir ein – und bleibt.
Tschüss, Boa Vista! Mein Freund Ralf und ich auf dem Weg zurück nach Deutschland
Die Medaille meines ersten offiziellen Zehn-Kilometer-Laufs
Die Dinge ändern sich. Alles ändert sich. Ich muss mich erst mit diesem ungewohnten harmonischen Zusammensein vertraut machen – kein Leben mehr zwischen leeren, versteckten Weinflaschen und ebenso leeren Versprechungen, keine Lügen, keine Märchen, keine Probleme des Partners, die ich zu meinen eigenen gemacht habe. Bei dem Anblick meiner Wäscheleine muss ich schmunzeln. Wo sich vor Kurzem noch schicke Männerhemden aneinanderreihten, leuchten nun farbenfrohe, teils verwaschene und verzogene Lauf- und Finishershirts verschiedenster Marathon- und Ultralaufveranstaltungen. Was ist das nur für ein verrückter Typ? Zwei Koffer – in einem die nötigsten Dinge, der andere vollgestopft mit Laufsachen. Wäre ich ausgewandert, hätte ich einen Containerdienst beauftragen müssen – ganz ohne Sportklamotten.
Langsam gewöhnen wir uns aneinander. Ich lasse ihm die Freiheit und die Möglichkeiten, seine Laufleidenschaft wieder neu zu entdecken. Er akzeptiert meine vermeintliche Unsportlichkeit. Ende März 2014 begleite ich Ralf und seinen Bruder Arvid in die Pfalz zum Marathon Deutsche Weinstraße. Für Ralf ist es der erste Wettkampfmarathon seit einigen Jahren. Mich lockt eher die mediterrane Pfalz, das Flair, der Wochenendkurzurlaub, nicht aber der sportliche Aspekt. Mit Laufen habe ich schließlich nichts am Hut. Die beiden Ellenbergers scheinen sich zu überschlagen, völlig aufgedreht am Abend vor dem Marathon gibt es nur ein Thema – Laufen. In zurückgelehnt entspannter Haltung lausche ich an meinem Rotweinglas nippend den Gesprächen der wild gestikulierenden Brüder. »Ob ich das nach dieser langen Pause wirklich schaffe?« »Wie viele Verpflegungsstellen gibt es?« »Wo müssen wir unsere Startunterlagen holen?« »Du darfst nicht zu schnell loslaufen!« »Hoffentlich erwischt mich der Mann mit dem Hammer nicht! Oder noch schlimmer: der Besenwagen.« Der Mann mit dem Hammer? Der Besenwagen? Was es alles gibt. Mir erschließt sich jedoch auch nach krampfhaften Überlegungen nicht der Sinn all dieser Gerätschaften, die während eines Laufes scheinbar eine Rolle spielen. Ich frage nicht nach.