Du sollst nicht töten - Skandinavien-Krimi - Kirsten Holst - E-Book

Du sollst nicht töten - Skandinavien-Krimi E-Book

Kirsten Holst

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Beschreibung

Vier Morde und viele Rätsel – der dritte Fall für den beliebten Kriminalkommissar Høyer. Nachdem bereits zwei Morde an jungen Mädchen die kleine jütländische Gemeinde erschüttert haben, wird auch noch die 16-jährige Birte tot aufgefunden. Kurz darauf wird der alte Pastor auf dem Friedhof erschlagen. Hängen die Morde vielleicht mit dem Lottogewinn der Tippgemeinschaft oder dem geheimen Haschischlager im Kirchturm zusammen? Es gibt zumindest Verdächtige...-

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Kirsten Holst

Du sollst nicht töten!

Kriminalroman

Aus dem Dänischen vonPaul Berf

 

SAGA Egmont

Ebook-Kolophon

Kirsten Holst: Du sollst nicht töten. Aus dem Dänischen übertragen von Paul Berf. Titel der dänischen Originalausgabe: Når det regner på præsten © 1983. Deutsche Erstausgabe: © 2000 by GRAFIT Verlag GmbH, Dortmund. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2020 SAGA Egmont All rights reserved.

ISBN: 978-87-26-56951-3

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com.

1.

Er drehte den Körper halb zur Seite und ließ sich rücklings auf den feuchten Waldboden fallen. Sein Atem ging in kurzen, keuchenden Zügen und der säuerlich beißende Geruch, der vom Erdboden aufstieg und sich mit dem durchdringenden, an Heringslake erinnernden Duft von Weißdorn vermischte, schnürte ihm die Kehle zu. Er blieb noch einen Moment liegen, spürte, wie der Puls langsam wieder zu seinem gewohnten Rhythmus zurückfand, und schaute in den blassgrauen, stumpfen Himmel hinauf, der an den lichten Stellen zwischen den Bäumen über ihm schwebte. Er fühlte sich erschöpft und vollkommen leer. Leer, aber triumphierend. Vollendet.

Er sah das Mädchen nicht an, das regungslos an seiner Seite lag, begann stattdessen, sich die Hose wieder hochzuziehen, weiterhin auf dem Rücken liegend. Man sollte ihn nicht mit heruntergelassener Hose erwischen. Er hob den Körper zu einer Brücke, während er sich das Hemd in die Hose stopfte und den Reißverschluss zuzog, stand dann langsam auf und ging ein paar Schritte zu einem Stapel aus Holzscheiten, auf dem er seine Jacke abgelegt hatte. Es wurde jetzt langsam hell. Er konnte alles um sich herum deutlich erkennen, graue und schwarze Konturen, denn die Farben waren noch nicht hinzugekommen, nur die Dolden des Weißdorns ließen sich als weiße Flecken vor dem dunklen Hintergrund erahnen. Im Übrigen hatte er die ganze Zeit schon sehen können, denn er konnte gut im Dunkeln sehen. Wie eine Katze, pflegte er zu sagen.

Sein Puls war jetzt wieder fast normal. Er zog seine Jacke an und tastete sie unwillkürlich ab, ob er auch alles hatte. Die Brieftasche in der Innentasche, Zigaretten und Feuerzeug in der rechten Jackentasche, die Autoschlüssel in der linken.

Leer, aber triumphierend. Er hatte es wieder getan. Es, das schlimmer war als der Tod!

Unsinn. Die hatten doch keine Ahnung, wovon sie redeten. Der Tod war das Schlimmste. Er wusste es und die Mädchen wussten es auch. Sie weinten und flehten ihn an und waren zu allem bereit, versprachen alles, machten alles. Er beherrschte sie, demütigte sie, verängstigte sie. Er hatte die Macht.

Sie waren so erleichtert, wenn sie es überstanden hatten. Es, das schlimmer war als der Tod. Er ließ ihnen Zeit, sich erleichtert zu fühlen und zu glauben, dass es damit getan war.

Und erst dann kam, wovor sie wirklich Angst hatten!

Er ging zu der Kleinen zurück, die noch genauso dalag wie zuvor. Er würdigte sie keines Blickes, bückte sich nur, packte sie bei den Fußgelenken und begann, sie zum Holzstapel hinüberzuzerren. Die welken Blätter raschelten und ein paar Zweige knackten unter ihr. Und dann war da plötzlich ein anderer Laut. Ein Stöhnen? Oder ein Wimmern?

Er ließ ihre Füße fallen und sie fielen schwer und leblos auf den Waldboden; aber da war etwas gewesen. Ein Laut. Sie war nicht tot. Sie war nicht tot. Sie hatte ihn hereingelegt, dieses kleine Luder. Ihn hereingelegt. Sie war nicht tot.

Er stand da, immer noch ein wenig vorgebeugt, und starrte sie an, und während er so dastand und starrte, zog sie langsam ihre Beine ein wenig an, streckte sie und zog sie von neuem wieder an.

Er spürte, wie ihm am ganzen Körper der Schweiß ausbrach und eine erstickende Angst Besitz von ihm ergriff. Er wollte schreien, sich erbrechen, fliehen, zum Auto stürzen und wegfahren. Eine ganze Reihe verschiedener Impulse kämpfte in ihm um die Vorherrschaft und lähmte ihn völlig. In wenigen Sekunden würde sie die Augen aufschlagen und dann würde etwas Schreckliches geschehen. Er wusste nicht was, wusste nur, dass es unvorstellbar grauenhaft sein würde.

Er kannte dieses Gefühl. Es war das gleiche Gefühl wie damals bei der Sache mit der Wespe.

Er hatte im Badezimmer eine Wespe erschlagen. Wie man das so macht. Nur eine ganz gewöhnliche Wespe, die dort herumsummte. Er hatte sie mit der Zeitung erschlagen, die er dabeihatte, sie ins Waschbecken geworfen und hinuntergespült. Aber plötzlich, während er noch dastand und sich die Hände am Handtuch abtrocknete, sah er, wie sie mühselig durch die Löcher des Abflusses wieder hochkroch. Er hatte sie totgeschlagen und nun krabbelte sie wieder zu ihm hoch, größer als je zuvor. Groß und bedrohlich. Damals hatte ihn die gleiche erstickende Angst gepackt. Er hatte den Wasserhahn aufgedreht und das Wasser noch lange, lange laufen lassen, nachdem die Wespe verschwunden war. Dann hatte er den Wasserhahn wieder zugedreht und war stehen geblieben, ohne zu atmen, hatte gewartet, und einen Augenblick später kam die Wespe wieder angekrabbelt, langsam und mühevoll, aber unüberwindlich wie ein Panzer, der sich schlingernd und mit Mühe durch feindliches Territorium bewegt.

Er drehte den Warmwasserhahn auf. Kochend heißes Wasser schoss in das Waschbecken hinab, der Dampf ließ den Spiegel beschlagen und verhüllte so sein leichenblasses Gesicht. Er ließ das Wasser minutenlang laufen, drehte es dann wieder ab und stand unbeweglich da und starrte in das Waschbecken hinab. Jetzt musste sie einfach tot sein.

Diesmal dauerte es länger, aber sie kam. Ihre Beine hatten sich unter ihr eigenartig verkrümmt, sie sah aus, als wäre sie gekocht worden, aber trotz allem kroch sie wieder durch den Abfluss in das Waschbecken hinauf. Ihre tausend Augen sahen nichts, aber sie wusste, dass er da war, und sie kam unerbittlich zu ihm hoch – hoch, hoch, hoch! Und er wusste, wenn sie wirklich hochkam, würde etwas Fürchterliches geschehen.

Er hatte dort gestanden, schwitzend und zitternd, und wäre am liebsten in Panik aus dem Badezimmer geflohen, um anschließend die Tür zuzumauern. Um nie wieder dorthin zurückzukehren.

Aber dann war es ihm endlich gelungen, sich zusammenzureißen. Zum Teufel, es war doch nur eine Wespe, eine ganz gewöhnliche Wespe. Er hatte eine Flasche Shampoo genommen und sie damit zerquetscht, hatte sie zerquetscht, bis man nicht mehr erkennen konnte, dass sie einmal eine Wespe gewesen war. Dann hatte er die Überreste mit etwas zusammengefaltetem Toilettenpapier aufgewischt, das Ganze in die Toilette geworfen und abgezogen. Jetzt war sie auf jeden Fall tot.

Wieder ließ die Kleine einen wimmernden Laut vernehmen. Ihre Beine bewegten sich und ihre Hände krochen raschelnd durch das trockene Laub.

»Nein!«, schrie es in ihm. »Nein! Nein! Nein!«

Er ging langsam rückwärts, die Augen unablässig auf sie gerichtet, bis er an den Holzstapel stieß. Ohne den Blick von ihr abzuwenden tastete er hinter sich und seine Hände fanden einen Holzscheit und ergriffen ihn. Dann ging er mit steifen Schritten zu ihr, ließ sich an ihrer Seite halb auf die Knie fallen und holte weit aus mit dem Arm.

Hinterher zitterte er am ganzen Körper. Ein Schweißtropfen lief ihm ins Auge, so dass es brannte und ihm entfuhr ein trockenes Schluchzen, das fast wie ein Husten klang. Es war so schön gewesen, aber sie hatte alles kaputtgemacht. Dieses Luder. Dieses dreckige, kleine Miststück!

Tot!, dachte Høyer und atmete tief ein. Der Geruch ließ keinen Zweifel zu. Er konnte ihn schon beim ersten Spatenstich riechen. Den Gestank von Tod und Verwesung. Er machte noch ein paar Spatenstiche, wippte dann den kleinen Fliederstrauch vorsichtig mit dem Spaten nach oben, packte ihn bei den Zweigen und hob ihn so hoch, dass der Wurzelballen genau in Höhe seiner Nase war. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse! Igitt, verdammt! Es roch wie moderndes Blumenwasser. Dem würde er kein Leben mehr einflößen können.

Der Garten bot einen traurigen Anblick. Høyer konnte sich nicht erinnern, dass er je zuvor so erbärmlich ausgesehen hatte. Die tiefstgelegene Ecke hatte mehrere Wochen lang unter Wasser gestanden, was den Fliederstrauch offensichtlich das Leben gekostet hatte. Der Strauch daneben sah auch nicht gerade aus, als ginge es ihm sonderlich gut, aber er war schon älter und hatte ein größeres Wurzelwerk, so dass er vielleicht durchkam. Wenn nur der Regen endlich aufhören wollte.

Er stellte den Spaten an seinen Platz im Geräteschuppen und ging mit dem Fliederstrauch in der Hand zur Hintertür. Seine hoch gewachsene, kräftige Gestalt sah in dem regennassen, olivgrünen Regenmantel noch größer aus als sonst. Er hielt den Fliederstrauch an den Zweigen, so dass die Wurzeln bei jedem seiner Schritte vor und zurück schwenkten. Es sah beinahe so aus, als würde er den abgeschlagenen Kopf eines Trolls tragen.

Er ging in die Einmachküche und legte den Strauch ab, nachdem er sich die Gummistiefel ausgezogen, seine Hausschuhe übergestreift und den Regenmantel an die Garderobe gehängt hatte, nahm er den Strauch wieder auf und ging in die Küche, wo er ihn auf dem Tisch ablegte.

»Sieh dir das an!«, sagte er anklagend.

Seine Frau war gerade dabei, das Kaffeetablett zu decken. Sie drehte sich um und sah fragend von dem Strauch zu ihm und wieder zurück.

»Was in aller Welt macht dieses dreckige Ding auf dem sauberen Küchentisch?«, fragte sie.

»Er ist tot!«, sagte Høyer dramatisch. »Mausetot. Außerdem ist das kein Ding, sondern der Zwergflieder, den ich letzten Herbst gepflanzt habe und der so schön ausgeschlagen war. Vor ein paar Wochen noch hatte er große, feine Knospen und jetzt sieh ihn dir an!« Er hob den Strauch hoch, ließ die Finger über einen Zweig gleiten und sah zu, wie die trockenen, verschrumpelten Knospen auf den Fußboden plumpsten.

Seine Frau betrachtete die braunen Schuppen, die nun über den ganzen Küchenboden verstreut lagen. »Was ist denn mit ihm passiert?«, fragte sie.

»Ertrunken«, antwortete er. »Riech doch nur mal. Er riecht verfault. Die Erde ist faul, total verfault. Sie hat ja auch ewig lange unter Wasser gestanden. Dieses elende Mistwetter! Es ist zum Verrücktwerden. Regen, Regen, Regen!«

»Es muss aber auch bald mal aufhören«, sagte seine Frau. »Das kann doch nicht immer so weitergehen.«

»Ha!«, platzte Høyer heraus. »Das haben wir vor einer Woche auch schon gesagt und vor zwei Wochen und vor drei Wochen. Aber das kann es offenkundig doch. Jetzt verspricht uns dieser Wetterprophet auch noch, dass der Sommer genauso schlecht wird. Es kommt noch so weit, dass uns Kiemen und Schwimmhäute wachsen.«

»Die haben sich schon oft genug geirrt«, meinte seine Frau tröstend. »Warum schmeißt du den da nicht in den Mülleimer, dann können wir Kaffee trinken.«

»Ich kann es nicht ertragen, wenn etwas stirbt«, sagte er. »Etwas, für das ich die Verantwortung trage. Ich fühle mich irgendwie schuldig. Oder wie ein Versager.«

»Es ist doch wohl nicht deine Schuld, dass es regnet«, rief seine Frau zu ihm hinaus.

Høyer kam mit Handfeger und Kehrschaufel wieder zurück.

»Nein, beim besten Willen nicht«, sagte er. »Aber wenn wir nun eine Dränage gelegt hätten. Andererseits hat der Garten auch noch nie so ausgesehen und wir wohnen hier immerhin schon einige Jahre ... Aber ich hätte ihn ausgraben und umpflanzen können. Ihn vielleicht im Treibhaus einpflanzen können. Verstehst du, ich habe doch gesehen, dass er anfing, die Blätter ein wenig hängen zu lassen, ich hatte nur keine rechte Lust, was dagegen zu unternehmen, und du weißt, wie das mit Unterlassungssünden ist.« Er seufzte. »Das liegt auch an diesem verdammten Regenwetter«, ergänzte er ein wenig ungerecht.

»Hast du ihn weggeschmissen?«, fragte seine Frau.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe es nicht übers Herz gebracht. Ich denke, ich werde doch erst noch versuchen, ihn umzupflanzen. Vielleicht kommt er ja noch einmal, wenn er neue Erde bekommt, dann ...«

»Du hättest ihn genauso gut gleich wegschmeißen können«, sagte seine Frau. »Er wird dir nur Kummer bereiten. Ich glaube nicht, dass er noch einmal kommt.«

»Ich gebe ihm noch eine Chance«, erwiderte Høyer. »Es ist einen Versuch wert.«

Sie nahm das Kaffeetablett. »Das Leben ist das schlechteste nicht«, summte sie. »Denn jetzt steht der Kaffee auf dem Tisch.«

»Ha!«, sagte Høyer.

In Wirklichkeit ärgerte es ihn ein wenig, dass ihr das Wetter anscheinend nicht das Geringste ausmachte, auch wenn er wusste, dass es viel schlimmer gewesen wäre, wenn auch sie begonnen hätte, sich von ihm beeinflussen zu lassen.

Gewöhnlich machte ihm etwas Regenwetter nichts aus, aber an einem solchen langen Sonntag, an dem er außerdem noch Bereitschaft hatte und an das Haus gebunden war, fühlte er sich eingesperrt durch den Regen. Eingesperrt und isoliert. Es war, als säße man auf einer verlassenen Insel.

Aber der eigentliche Grund für seine schlechte Laune war weder das Wetter noch der Sonntag noch seine Bereitschaft. Høyer sollte Großvater werden und seine Tochter war bereits vier Tage über den errechneten Termin. Alle reagierten darauf, als sei das vollkommen normal, aber mit jedem Tag, der verging, war Høyer mehr davon überzeugt, dass da irgendetwas nicht stimmte.

»Sie hat doch nicht angerufen?«, fragte er seine Frau, während er sich einen Kaffee eingoss. Er versuchte, es wie eine beiläufige Frage klingen zu lassen, aber ihrem Lächeln konnte er entnehmen, dass sie ihn durchschaut hatte.

»Nein«, sagte sie. »Du warst aber auch nicht länger als eine Viertelstunde im Garten. Und wenn sie angerufen hätte, hätte ich dir das schon gesagt. Hier, nimm ein Stück von dem Kranz.«

»Und zu dick wird man auch noch bei diesem Wetter«, meckerte Høyer, während er ein Stück von dem Hefekranz abbiss. »Man kann im Grunde nichts anderes tun als zu essen und zu schlafen – und das Fernsehprogramm ist auch eine Katastrophe.«

Seine Frau lachte auf.

»Ja, du hast es schwer, nicht wahr? Jetzt fehlt nur noch die Regierung. Übrigens kann ich beim besten Willen nicht begreifen, was das Fernsehen mit dem Wetter zu tun hat.«

»Überhaupt nichts, aber man sitzt dann eben da und glotzt. Wenn ich in Rente gehe, ziehen wir in den Süden. Raus aus diesem Mistklima.«

»Bis dahin sind es aber noch viele Jahre«, meinte sie.

»Ich könnte mich vorzeitig pensionieren lassen. In den Vorvorruhestand gehen, und dann ziehen wir um. Was meinst du?«

»Warum nicht«, antwortete sie, so als hätte er vorgeschlagen, dass sie ins Kino gehen sollten.

Er sah sie verblüfft an. »Könntest du dir das wirklich vorstellen?«, fragte er ungläubig. »In den Süden zu ziehen?«

»Ehrlich gesagt habe ich noch nie einen Gedanken daran verschwendet«, sagte sie mit einem etwas schiefen Lächeln. »Das brauche ich auch gar nicht, denn ich weiß, dass du es dir jedenfalls nicht vorstellen können wirst, wenn es einmal so weit ist.«

»Na, na«, wandte er ein.

»Niemals«, sagte seine Frau entschieden. »Dir geht es mit diesem lächerlichen, kleinen Land ungefähr so, wie es mir mit dir geht. Ich kann mich über dich ärgern und ab und zu kann ich mir auch schon einmal wünschen, du wärst anders, aber ich könnte mir keinen anderen vorstellen als dich.«

Høyer lachte. »Das freut mich aber. Ich werde dich bei Gelegenheit daran erinnern. Und du hast sicher Recht, ich würde es bestimmt als eine Strafe empfinden, woanders zu leben als hier – Klima hin, Klima her.«

Sie stand auf. »Was hältst du davon, wenn wir uns mit einem Kognak trösten?«

»Aber nur ein Schlückchen«, sagte er. »Ich kann mich ja noch nicht einmal dem Suff hingeben, ich hab doch Dienst.«

Høyer sah ihr nach, als sie die Kognakflasche holen ging. Er konnte sich auch keine andere vorstellen, nicht wirklich, und hatte sie sich wohl auch noch nie anders gewünscht, stellte er plötzlich mit einem gewissen Erstaunen fest. Warum eigentlich nicht?, fragte er sich selbst. Ja, erstens, weil sie seine Frau war, und zweitens, weil ... Er dachte ein wenig nach. Genau, weil sie ihm gefiel. Er lauschte ein wenig dem Wort nach. Wie war er bloß darauf gekommen? Gefiel. Das klang ein wenig albern, aber besser konnte er es nicht ausdrücken.

Sie kehrte mit der Kognakflasche und zwei Gläsern zum Tisch zurück. Ihre Gestalt gefiel ihm auch. Eine große, üppige Frauengestalt. Eine von denen, die ohne einen Faden am Leib am schönsten waren. Selbst ihre Beine, die ihr heimlicher Kummer waren, gefielen ihm. Sie selbst fand, dass sie zu dicke Knöchel hatte, aber Høyer machte sich nichts aus Porzellanbeinen, er zog ihre soliden, standfesten Beine vor. Sie passten zu ihr.

»Was guckst du mich so an?«, fragte sie, als sie sich hinsetzte.

»Ich war nur in Gedanken«, antwortete Høyer und hatte selbst fast vergessen, woran er gedacht hatte. Die Gedanken trieben an einem solchen Regentag nur dumpf durch seinen Kopf.

»Jedenfalls ist es ein ruhiger Dienst gewesen«, sagte sie, als sie ihnen einschenkte.

»Wir wollen die Daumen drücken«, meinte Høyer. »Sonst klingelt das Telefon, noch ehe wir dazu gekommen sind, diesen kostbaren Tropfen zu kosten.«

Sie lachte und sie prosteten sich schnell zu. Aber die Daumen drückten sie dann doch nicht.

Sie hatte Recht. Es war ein friedliches Wochenende gewesen. Fast schon zu friedlich. In der letzten Zeit war es überhaupt ziemlich ruhig gewesen, so als habe der Regen allem einen Dämpfer verpasst. Høyer hatte im Gefühl, dass das sehnsüchtig erwartete Sommerwetter, wenn es denn endlich kam, alles zum Explodieren bringen würde in einer Flut von Delikten. Insbesondere Gewaltdelikten. Überfällen und Vergewaltigungen. Wenn nicht noch Schlimmeres passierte.

Er schüttelte sich kurz und nahm noch einen Schluck Kognak.

»Was ist mit dem Mädchen?«, fragte seine Frau. »Diesem Fall Tina. Habt ihr den ganz ad acta gelegt?«

Høyer war inzwischen so sehr daran gewöhnt, dass seine Frau seine Gedanken lesen konnte, dass er es kaum noch registrierte.

Er zuckte mit den Schultern. »Ad acta gelegt ist wohl ein wenig zu viel gesagt«, meinte er. »Aber wir werden nicht weiterkommen, wenn nicht etwas Neues auftaucht. Diese Art von Fällen, bei denen der Täter und sein Opfer vorher offensichtlich nichts miteinander zu tun hatten, ist praktisch hoffnungslos, es sei denn, man bekommt den einen oder anderen Tipp von jemandem.«

»Es ist einfach so furchtbar«, sagte sie.

Er nickte. Ja, sicher war es furchtbar. Es war sogar noch furchtbarer, als seine Frau ahnte.

Der Fall Tina lag nun schon fast vier Monate zurück. Ein junges, siebzehn Jahre altes Mädchen war auf dem Heimweg von einem Schulfest überfallen worden. Vom Fahrrad gezerrt, vergewaltigt und erwürgt worden. Das Einzige, was man mit Sicherheit wusste, war, dass der Täter in einem Auto gekommen war und dass er das Mädchen auf keinen Fall vorher gekannt hatte. Man hatte im Rahmen der Ermittlungen nach einem blauen Opel Ascona gefahndet. Niemand hatte sich gemeldet, und ob es wirklich das Auto war, das der Mann gefahren hatte, war nach wie vor unklar. Alles war nach wie vor unklar.

Aber am fürchterlichsten war die Tatsache, die sie bislang vor der Öffentlichkeit verbergen konnten, dass ein genaues Studium einer Reihe von Berichten aus verschiedenen Polizeidistrikten darauf hindeutete, dass derselbe Mann bereits zwei Mal zuvor ähnliche Verbrechen begangen hatte. Letztes Jahr war eine junge Frau nach einem Jahrmarktsbesuch verschwunden und erst vierzehn Tage später hatte man ihre Leiche in einer stillgelegten Kiesgrube gefunden und vorigen Sommer war ein fünfzehnjähriges Schulmädchen auf dem Heimweg vom Jugendzentrum überfallen und ermordet worden. Die äußeren Tatumstände waren fast identisch gewesen, die Vorgehensweise gleich, und was den Polizisten ganz besonders alptraumhafte Tagträume bescherte, war der Umstand, dass die Analysen des rechtsmedizinischen Instituts mit neunzigprozentiger Sicherheit darauf hindeuteten, dass die verschiedenen Proben ein und derselben Person zuzuschreiben waren. Zumindest in diesen beiden Fällen.

Ein wahnsinniger Mann. Ein Geisteskranker. Einer, der von Zeit zu Zeit den inneren Druck entweichen lassen musste, und zwar in immer kürzer werdenden Zeitabständen. Wer konnte schon wissen, wann er das nächste Mal zuschlagen würde. Vielleicht würden Jahre vergehen, vielleicht auch nur Monate. Und dann konnte es ebenso gut hier wie überall sonst im Land sein.

Dies gehörte zu den Dingen, die sie sehr verwirrt hatten. Dass die Morde an weit voneinander entfernten Orten im Land geschehen waren, es aber gleichzeitig den Anschein hatte, als wäre der Täter ortskundig. Aber davon sollte man sich vielleicht nicht in die Irre führen lassen. Es konnte purer Zufall sein, dass es so lange gedauert hatte, bis man die beiden ersten Opfer fand. Allem Anschein nach hatte er sich letztlich doch keine größere Mühe gegeben, sie zu verstecken, und hatte sie nur ein wenig von der Straße entfernt abgelegt. Wer bewegt sich schon abseits der normalen Wege durch den Wald und wer kommt schon in eine stillgelegte Kiesgrube?

Aber da war noch etwas, das ebenso eigenartig erschien. Zwei der Mädchen sollten ausgesprochen wenig befahrene Straßen genommen haben. Hieß das etwa, dass er Abend für Abend geduldig gewartet hatte, oder war er ihnen in seinem Auto gefolgt, bis sie zu einer ausreichend abgelegenen Stelle gekommen waren, oder besaß er ein gewisses Vorwissen über seine Opfer?

Auch in dem einen der beiden anderen Fälle hatte man nach einem Auto gefahndet. Nach einem beige- oder bordeauxfarbenen Kombi unbekannter Marke. Die junge Frau, die auf dem Jahrmarkt gewesen war, hatte sich mit ihrem Verlobten gestritten und war bereits vor Mitternacht von dort aus zu Fuß nach Hause gegangen. Zeugen gaben an, sie etwa einen Kilometer entfernt mit dem Fahrer eines beige- oder bordeauxfarbenen Kombis sprechen gesehen zu haben, aber niemand hatte sie in das Auto einsteigen sehen und der Fahrer des Wagens hatte sich nicht gemeldet.

Zwei Autos. Ein hellblauer Opel Ascona und ein beigeoder bordeauxfarbener Kombi. Das waren im Großen und Ganzen die Spuren, denen sie folgen konnten. Und das war zu wenig.

Wie so oft hatte Høyer das Gefühl, dass irgendjemand Bescheid wusste oder einen Verdacht hatte. Eine Frau, eine Mutter, ein Vater, ein Freund. Was würde man selbst in einer solchen Situation tun? Den Verdacht als absurd vom Tisch fegen oder ihn wie einen Stachel im Fleisch mit sich herumtragen?

»Noch etwas Kaffee?«, fragte seine Frau und unterbrach seinen Gedankengang.

»Gern«, sagte er.

Sie goss ihnen beiden noch etwas Kaffee ein, hob dann ihr Kognakglas.

»Prost«, sagte sie. »Lass uns darauf trinken, dass der Regen bald aufhört.«

»Damit der Rest des Gartens überlebt«, sagte Høyer. »Ja, das ist wirklich ein frommer Wunsch, prost!«

Er leerte sein Glas und setzte es mit einem zufriedenen Seufzer ab. Ja, ja, wenn man keine anderen Sorgen hätte als ein bisschen Regen, dann ...

Das Telefon klingelte und Høyer stand mit einem Ruck auf. Vielleicht war es seine Tocher Lisbeth oder ihr Mann Erik, der ihnen mitteilen wollte, dass die Sache nun endlich in Gang gekommen war. Er griff schnell nach dem Hörer.

Es war der Dienst habende Polizist.

Høyers Gesichtsausdruck veränderte sich, während er lauschte.

Ab und an konnte er von dem fast schon abergläubischen Gefühl erfasst werden, dass man unangenehme Dinge heraufbeschwören konnte, indem man bloß an sie dachte. Das war natürlich ein absurder Gedanke, denn in dem Augenblick, als Høyer an die ermordeten Mädchen gedacht hatte, war das letzte Opfer bereits mehr als zwölf Stunden tot, aber als er die Stimme des wachhabenden Polizisten hörte, wusste er augenblicklich, was er jetzt sagen würde. Vielleicht war es eine Form von Gedankenübertragung, Intuition oder etwas in der Art.

Er lauschte eine Zeit lang schweigend, warf ab und zu eine kurze Frage ein, während er sich auf dem Block vor sich Notizen machte, und legte dann den Hörer wieder auf.

Einen Augenblick lang blieb er vollkommen regungslos am Schreibtisch sitzen.

Dann begegnete er dem Blick seiner Frau.

»Wieder eine?«, sagte sie fragend.

Høyer nickte.

»Ja, wieder eine«, sagte er langsam und seufzte schwer. »Wieder eine.«

Die beiden Meldungen waren ungefähr gleichzeitig eingegangen. Ein besorgtes Elternpaar vermisste seine sechzehnjährige Tochter, die nicht nach Hause gekommen war, nachdem sie am Abend zuvor auf einem Fest bei einer Freundin gewesen war. Als sie um die Mittagszeit noch nicht wieder aufgetaucht war und sich auch nicht in der Bäckerei gezeigt hatte, in der sie ein Praktikum absolvierte, hatten ihre Eltern angefangen, sich ernsthaft Sorgen zu machen und Nachforschungen angestellt. Ihrer Freundin zufolge war sie als eine der Ersten kurz vor zwei aufgebrochen, weil sie am nächsten Morgen früh aufstehen musste, und niemand hatte sie seither gesehen.

Die zweite Meldung kam ein paar Minuten später. Drei kleine Indianer, ein Mädchen und zwei Jungen, hatten eine teilweise entkleidete Frauenleiche in einem kleinen Waldstück gefunden, das nur wenige Kilometer vom Zuhause des vermissten Mädchens entfernt lag.

Høyer fuhr vor Therkelsens Haus rechts ran und hupte kurz. Die Einfahrt war durch Fahrräder, Mopeds und sogar ein Motorrad blockiert. Høyer schüttelte ungläubig den Kopf. Waren sie denn wirklich schon so alt? Er hatte anhand dieser Einfahrt die Entwicklung in der Therkelsen’schen Menagerie von Kinder- und Sportwagen über Dreiräder und Roller bis zu ihren ersten richtigen Fahrrädern und jetzt also Mopeds und Motorrädern verfolgt. Als Nächstes kämen dann wohl Autos, aber bis es so weit war, würde die Einfahrt sicher leer sein, der Garten ein wenig gepflegter aussehen und alles ein wenig langweiliger sein. Aber das begriff man erst, wenn es zu spät war. Die Zeit verging so schnell, ohne dass man im Grunde etwas davon merkte, das war nun einmal so.

Therkelsens lange, hagere Gestalt tauchte im Türrahmen auf. Er bahnte sich einen Weg zwischen den Fahrzeugen hindurch und lief gebückt, um sich vor dem Regen zu schützen, zum Auto.

»Was für ein Scheißwetter!«, knurrte er, als er sich neben Høyer ins Auto setzte.

Høyer nickte. Er hatte keine Lust, noch einmal über das Wetter zu sprechen. Das hatte er hinter sich gebracht – für heute zumindest.

»Und dabei habe ich noch nicht einmal Dienst«, fuhr Therkelsen fort, der angesichts des mangelnden Mitgefühls ein wenig brüskiert war.

Høyer lachte. »Das hast du mir schon einmal gesagt. In aller Deutlichkeit.«

»Aber es hat dich offensichtlich nicht davon abgehalten, mich vom Frieden des heimischen Herds fortzureißen«, bemerkte Therkelsen.

»Na ja, Frieden«, erwiderte Høyer mit einem Blick in den Rückspiegel auf die überfüllte Einfahrt. »Wie bekommst du eigentlich deinen Wagen raus?«

»Zurzeit ist das kein Problem. Er ist in der Werkstatt. Eigentlich müsste ich ihn gegen einen neuen tauschen. Wie zum Teufel konnten wir es uns früher eigentlich leisten, ein Auto zu kaufen? Ich finde, daran braucht man heute gar keinen Gedanken mehr zu verschwenden. Aber wenn ich mit ihm fahre, lasse ich es vor dem Haus stehen, die Garage ist sowieso voller Gerümpel und außerdem klemmt das Garagentor. Es lässt sich weder öffnen noch schließen. Es müsste repariert werden. Irgendwas ist immer. Im Moment sind die Kinder dabei, einen der Kellerräume in eine Videothek zu verwandeln und da hätte ich zu gerne ein Auge drauf gehabt. Ich traue ihnen nicht ganz an einem solchen langen Sonntagnachmittag.«

»Ist deine Frau nicht zu Hause?«, fragte Høyer.

Therkelsen zuckte mit den Schultern. »Sie ist zu Hause, aber nicht anwesend. Sie hat das Kunststück gelernt, die Augen und Ohren vor allem zu verschließen, was die Kinder anstellen. Sie liest oder sieht fern oder was weiß ich und sie könnten vor ihren Füßen das ganze Hause auf den Kopf stellen, ohne dass es zu ihr vordringen würde.«

»Eine großartige Eigenschaft«, meinte Høyer.

»Ja, für sie«, sagte Therkelsen düster. »Sie war übrigens für diesen Videoraum. Sie behauptet, dass es so ruhiger wird. Mag sein. Aber ich finde den Gedanken nun mal beunruhigend, dass sie in Zukunft täglich mehrere Stunden in einem Kellerraum sitzen und Horrorfilme glotzen.«

»Sie sehen sich doch bestimmt auch anderes an«, sagte Høyer.

»Na klar, sicher, sie haben sich schon die ersten beiden Filme ausgeliehen«, schnaubte Therkelsen. »Weißt du, wie sie heißen? Der Abgrund des Todes und Terminator. Gott bewahre! Und die sollen dann später einmal für unsere Rente sorgen, Høyer.«

»Du sagst doch immer, dass sie uns erschießen, wenn wir siebzig werden«, erinnerte ihn Høyer.

»Das werden sie auch tun«, meinte Therkelsen. »Was sollen sie denn sonst mit uns anfangen. Sie können unmöglich alle alten Knacker versorgen, die es dann geben wird.«

»Sie könnten sich vielleicht damit begnügen, uns die Möglichkeiten zu geben, die wir ihnen heute bieten«, sagte Høyer mit einem säuerlichen Lächeln. »Dann sterben wir hungers und sie können ihre Hände in Unschuld waschen.«

»Ja, da ist schon was dran«, erwiderte Therkelsen. »Nun gut, wir können jedenfalls nicht immer weiter um den heißen Brei herumreden, nicht wahr? Was denkst du? Ist wieder der Gleiche am Werk gewesen?«

Eigentlich war das keine Frage. Er wusste sehr wohl, dass Høyer dazu noch nicht das Geringste sagen konnte.

»Das ist durchaus möglich«, antwortete Høyer. »Deshalb war ich auch der Meinung, dass du von Anfang an dabei sein solltest.«

»Wie du das sagst, klingt es fast, als würdest du mir damit einen Gefallen tun«, meinte Therkelsen. »Aber danke sagen möchte ich trotzdem nicht gerade.«

»Ich hoffe nicht, dass es wieder derselbe war«, sagte Høyer. »Drei waren schon zu viel.«

»Tja«, sagte Therkelsen. »Ich weiß nicht recht. Fändest du es denn besser, wenn hier zwei Verrückte frei herumliefen?«

Høyer blieb eine Zeit lang stumm. Sie näherten sich jetzt dem Waldstück. Die asphaltierte Straße endete etwa zehn Meter vor dem Waldrand und wurde von einem aufgeweichten Feldweg abgelöst. Am Straßenrand, noch ein gutes Stück vom Wald entfernt, standen bereits mehrere Autos. Ganz vorne konnte er einen ihrer Streifenwagen erkennen. Eine Polizistin trat mit erhobenem Arm auf die Straße und signalisierte ihnen, dass sie anhalten sollten. Høyer erkannte sie sofort, es war Winther. Eine der jungen weiblichen Polizeibeamten.

»Es muss aber auch nicht unbedingt ein Verrückter gewesen sein«, sagte Høyer, während er den Wagen hinter das letzte Auto setzte und den Motor ausschaltete. »Wir wissen doch noch gar nichts. Es könnte auch ein eifersüchtiger Freund gewesen sein oder irgendein Kerl, dem sie einen Korb gegeben hat. Jemand, den sie schon gekannt hat. Alles ist möglich.«

»Nur Verrückte machen so etwas«, behauptete Therkelsen.

Und als Høyer das Mädchen sah, war er geneigt, ihm Recht zu geben.

Das hier konnte nur ein Verrückter getan haben.

2.

Winther und ihr Kollege aus dem Streifenwagen, die als Erste vor Ort angekommen waren, hatten schon einen Teil der Arbeit erledigt. Das Gebiet war weiträumig abgesperrt worden, niemand hatte auf den Feldweg fahren dürfen und der eigentliche Fundort der Leiche war nochmals abgesperrt und markiert worden. Das Ganze sieht aus wie im Lehrbuch, dachte Høyer, typisch Winther. Er war etwas skeptisch gewesen, als die ersten Frauen bei ihnen anfingen, aber er musste zugeben, dass Winther tüchtig war. Tüchtig und effektiv. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Doch es blieb abzuwarten, ob sie genauso effektiv sein konnte, wenn sie sich einmal nicht an das Lehrbuch halten konnte. Manchmal kam sie ihm wie die brave Streberin der Klasse vor.

Er war sich durchaus bewusst, dass er ungerecht war, und sprach das auch nicht laut aus. Er war überzeugt, dass ihm sonst vorgeworfen werden würde, er sei ein alter Chauvinist. Und das wahrscheinlich nicht ganz zu Unrecht, wie er einräumen musste. Es hatte weiß Gott eine ganze Reihe junger männlicher Polizeibeamter gegeben, bei denen er dankbar gewesen wäre, wenn sie einfach nur dem Lehrbuch gefolgt wären. Von Geistesgegenwart wollte er erst gar nicht anfangen.

Sie kam zu ihnen, als sie aus dem Auto gestiegen waren, und zeigte ihnen, wohin sie gehen sollten.

»Was ist das da?«, fragte Høyer und zeigte auf eine Markierung am Straßenrand, ungefähr an der Stelle, wo die asphaltierte Straße endete.

Winther errötete ein wenig, so als hätte sie das Gefühl, etwas übereifrig gehandelt zu haben. »Es gab da ein paar Reifenspuren«, sagte sie. »Als hätte hier ein Auto auf der Straße gewendet und wäre dabei mit den Hinterrädern auf den Acker geraten. Sie können es sich anschauen.« Sie blieb stehen und zeigte. »Sie sahen ziemlich frisch aus, deshalb dachte ich, dass ...«

»Ja, sicher«, sagte Høyer. »Ausgezeichnet.«

Er war drauf und dran, ›mein Mädchen‹ hinzuzufügen, konnte sich aber noch bremsen. Das hätte Polizeibeamtin Winther sicher nicht gefallen.

Er blieb einen Moment stehen und versuchte, sich ein Bild von der Umgebung zu machen. Offensichtlich war der Feldweg eine Sackgasse, die an einem kleinen Bauernhof zwei-, dreihundert Meter vom Wald entfernt endete, und diesseits des Waldstücks lagen nur ein einzelner Hof und ein kleineres Haus. Ein abgelegener Ort, dachte er. Kein Ort, an dem man zufällig vorbeikam. Eine gottverlassene Landstraße, die nirgendwohin führte.

Therkelsen und er folgten dem Feldweg etwa fünfzig Meter weit, bis sie eine Lichtung am Waldrand erreichten, von der ein aufgeweichter Weg, eher ein Paar Reifenspuren, in den Wald führte.

Die Leute vom Erkennungsdienst waren bereits vollauf damit beschäftigt, das Areal zu durchkämmen. Hinter einem Holzstapel konnte Høyer eine kleine Gruppe von Männern erkennen und nur wenig entfernt von ihnen fiel sein Blick auf einige Kleidungsstücke, die auf dem Waldboden verstreut lagen.

Sie gingen zu dem Holzstapel und gesellten sich zu den anderen.

»Großer Gott!«, entfuhr es Høyer unwillkürlich, als er das Mädchen erblickte. Der Anblick traf ihn vollkommen unvorbereitet. Er war ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie erdrosselt worden war wie die anderen, aber das hier ...!

Er holte schnell ein paar Mal Luft, um seiner Übelkeit Herr zu werden. Therkelsen war einige Schritte zurückgetreten und studierte den grauen Himmel, während er sich mit knirschenden Zähnen sammelte.

Høyer entschuldigte sich in Gedanken bei Winther. Ein Anblick wie dieser hätte selbst ältere und abgebrühtere Polizeibeamte aus dem Konzept bringen können. Es steckte offensichtlich mehr Mumm in dem Mädchen, als er gedacht hatte.

Ein seltsamer Laut brachte Høyer dazu, sich umzudrehen und einen forschenden Blick um sich zu werfen.

»Wer ist das?«, fragte er erstaunt Larsen, der gerade zu ihm kam, und nickte in die Richtung von zwei Männern, die etwas weiter weg auf einem umgestürzten Baumstamm hockten. Der eine Mann hielt den Kopf in den Händen verborgen. Es war sein trockenes, stoßweises Weinen, das Høyer gehört hatte, und für einen kurzen, erleichterten Augenblick glaubte er, den Täter vor Augen zu haben.

»Ihr Vater«, sagte Larsen und blickte hinüber.

»Ihr Vater?«, rief Høyer und spürte, wie er wütend wurde. »Welcher Idiot hatte denn die geniale Idee, den ...?«

»Niemand«, beeilte sich Larsen einzuwerfen. »Es war schlicht und ergreifend Pech. Er war gerade auf dem Hof auf der anderen Seite des Waldstücks, als die Kinder nach Hause kamen und erzählten, dass sie draußen im Wald ein Mädchen gefunden hätten, das ›ganz krank‹ sei. Er war unterwegs, um nach seiner Tochter zu suchen, und dann fuhr er mit seinem Nachbarn natürlich hierher.«

»Großer Gott!«, sagte Høyer erneut. Ja, es war in der Tat Pech, dass sich ihr Vater ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt dort aufhielt, dann hierher kam und sie sah. »Aber warum hat man ihn denn nicht längst nach Hause gebracht?«, fragte er.

»Er will nicht«, antwortete Larsen missvergnügt. »Er ... er sagt, dass er sie nicht allein lassen will.«

Allein! Gott im Himmel! Sie war nicht allein. Sie war nie weniger allein gewesen. Es wimmelte von Menschen um sie herum, die ihren toten Körper zeichneten, fotografierten, studierten und untersuchten und nichts davon konnte noch zu ihr vordringen. Aber früher, noch vor einem halben Tag, hatte sie sich sicher wie der einsamste Mensch auf Erden gefühlt. Und doch konnte Høyer den Gedankengang des Vaters gut nachvollziehen.

»Und wer ist der andere?«, fragte Høyer. »Ist das der Nachbar?«