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** Fantasy-Krimi in einer spätmittelalterlichen Stadt mit einer Prise Magie, Geheimnissen, offiziellen Ermittlern und Hobby-Detektiven, die trotz gegenseitiger Abneigung zusammen arbeiten müssen. ** Liv ist davon überzeugt, ihre Situation könnte sich nicht noch mehr verschlimmern: Sie hat einen Berg an Schulden, ernsthafte Schwierigkeiten, sich ihren Problemen zu stellen, und ist einem Sklavenhändler in die Hände gefallen. Als ihr neuer Besitzer Evan sie um Hilfe bei der Aufklärung am Tod seiner Frau bittet, sieht sie sich unvermittelt mit seinen Verschwörungstheorien konfrontiert. Seinen Verdacht, dass die Wächter seine Frau ermordet haben, hält sie für unmöglich - schließlich sind sie die Beschützer der Stadt. Doch als erneut Tote auftauchen, beginnt sie zu zweifeln.
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Seitenzahl: 666
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Für alle Introvertierten,
weil man nicht laut sein muss,
um etwas Bedeutsames zu sagen.
PROLOG
1. LIV
2. SKADI
3. LIV
4. SKADI
5. LIV
6. SKADI
7. LIV
8. SKADI
9. LIV
10. SKADI
11. LIV
12. SKADI
13. LIV
14. SKADI
15. LIV
16. SKADI
17. LIV
18. SKADI
19. LIV
20. SKADI
21. LIV
22. SKADI
23. LIV
EPILOG
Schmerz.
Ein Dolch in seinem Rücken, flüssiges Feuer, das sich durch seine Adern und Muskeln fraß. Er stolperte gegen die Wand und kämpfte darum, stehen zu bleiben. Der Angreifer war hinter ihm, irgendwo, doch er schaffte es nicht, sich umzudrehen. Sein Sichtfeld verschwamm, während er unverständliche Worte hervorbrachte. Dann knickten seine Beine ein. Er war zu schwach, um sich selbst zu retten. Der Schmerz verschwand, mehr konnte er nicht tun.
Schritte entfernten sich. Er drehte den Kopf und sah, wie der Schatten mit der Nacht verschmolz.
Mit dem nächsten Atemzug stand er auf einem Turm, die dunklen Dächer der Stadt unter ihm. Der glühende Stahl in seinem Rücken war verschwunden, zusammen mit dem Schwächegefühl. Er streckte einen Arm aus, bewegte die Finger und beobachtete das Spiel der Sehnen und Muskeln unter der Haut. Der Wind stellte die feinen Härchen in seinem Nacken auf.
Er war tot, zweifellos.
Aber er hatte sich noch nie so lebendig gefühlt.
Abgesehen von einem Detail … er fühlte nichts. Keine Wut über den Verrat, kein Vergeltungsbedürfnis gegenüber seinen Auftraggebern, keine Furcht vor dem Tod, keine Euphorie darüber, dass er nicht in einem endlosen Nichts gelandet war. Nicht einmal Nervosität vor dem, was ihn nun erwarten würde.
»Dann ist es also wahr«, sagte er laut. »Das war nicht das Ende.«
Schweigen. Als nichts geschah, drehte er sich zögernd um. Der Turm war kaum mehr als ein befestigter Aussichtspunkt: Fünf mal fünf Schritt groß, eine Luke in der Mitte, und eine kniehohe Begrenzungsmauer. Sonst nichts. Und niemand.
Er war davon überzeugt gewesen, dass ihn jemand erwarten würde. Welchen Sinn hatte es, einen weiteren Weg zu beschreiten, wenn ihm niemand eine Landkarte gab? Verdammt, er wusste ja nicht einmal, ob er ein zweites Mal sterben würde, wenn er von diesem Turm sprang. »Hallo?«, rief er. »Ich will wirklich nicht undankbar klingen, aber das hier hilft mir überhaupt nicht.«
»Du klingst nicht undankbar, du bist es.«
Er fuhr herum. Dort, wo er eben selbst aufgetaucht war, standen zwei Schemen aus purem Licht. Sie besaßen keine Konturen, keine Gesichtszüge oder körperliche Merkmale, an denen er irgendetwas hätte ablesen können. Geister, dachte er und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Noch dazu welche, die mir offensichtlich nicht wohlgesonnen sind.
»Tut mir leid«, erwiderte er. »Das war nicht meine Absicht.«
Der linke Schemen glitt ein Stück in seine Richtung. »Du hast den Tod über uns gebracht. Für eine Entschuldigung ist es zu spät.«
»Was?«, fragte er entgeistert. »Ich habe niemanden getötet!«
»Noch nicht. Zeit spielt hier keine Rolle. Wir werden sterben, sind gestorben, tun es jetzt gerade.«
Er schüttelte den Kopf. »Das muss ein Missverständnis sein. Ich bin doch selbst tot! Wie soll ich da etwas …«
Ein neuer Gedanke ließ ihn verstummen. Warum waren diese beiden Toten durchsichtige Gestalten aus Licht, während er selbst noch seinen Körper aus Fleisch und Blut besaß? Das ergab keinen Sinn. Außer er stand erst am Rand des Todes.
»Du bist tot«, unterbrach ihn der zweite Schemen. Seine Stimme war heller als die des anderen, ganz so, als wäre er früher eine Frau oder ein Kind gewesen. »Dein Herz schlägt nicht mehr. Deine Taten werden uns den Tod bringen.«
Er starrte die beiden an. Sein Leben rauschte vor seinem inneren Auge vorbei, die letzten Wochen und Monate klarer als der Rest. Er hatte nie die Hand gegen jemanden erhoben, hatte nie das Gesetz gebrochen, bis … »Die Steine. Seid ihr deswegen hier? Ich habe nur meine Arbeit gemacht. Wenn ich es nicht getan hätte, hätten sie einen anderen gefunden.«
»Du bereust es nicht«, stellte der erste Schemen fest.
»Ich fühle hier oben nichts«, antwortete er. »Wie soll ich da Reue empfinden?«
»Du hast es auch vorher nicht bereut.«
Doch, das hatte er. In dem Moment, in dem er den Dolch in seinem Rücken gespürt hatte, hatte er sich nichts mehr gewünscht als die Zeit zurückdrehen zu können. Er hatte nie darüber nachgedacht, wofür seine Arbeit verwendet werden würde, hatte die Zweifel beiseitegeschoben, wenn sie an die Oberfläche drangen. Als er jetzt die beiden ansah, die genauso schändlich aus dem Leben gerissen worden waren wie er, konnte er sich nicht mehr ablenken. Er konnte die Fragen nicht mehr verdrängen und so tun, als würde ihn das alles nichts angehen.
»Nur ihr zwei?«, fragte er tonlos. »Oder noch mehr?«
»Das hängt davon ab, wie du dich entscheidest.«
Er runzelte die Stirn. »Was?«
»Uns kannst du nicht mehr retten«, sagte der weibliche Schemen. »Aber für die anderen ist es noch nicht zu spät. Du kannst versuchen, das Richtige zu tun.«
»Wie? Es wäre mir neu, dass Tote in der Welt der Lebenden etwas zu sagen haben.«
»Wir können dich zurückschicken, für diese eine Aufgabe. Du hast die Chance, das Ausmaß deiner Tat zu mildern.«
Er dachte nicht nach. Die Entscheidung fiel unbewusst, getrieben von dem Überlebensinstinkt, der noch immer in ihm war. Er bemerkte sein eigenes Nicken erst, als die beiden Schemen auf ihn zukamen. »Moment, wartet! Wie soll ich das anstellen?«
Gleißendes Licht umfing ihn. Eine Antwort erhielt er nicht.
Es wird schwierig«, sagte ich. »Die Zukunft ist ein schwer einzuschätzendes Gebiet. Manchmal tritt meine Vorhersage ein, manchmal nicht.«
Der Mann vor mir runzelte die Stirn. Als er mein Zelt betreten hatte, hatte mich ein mulmiges Gefühl beschlichen, doch ich hatte es auf meine letzte Mahlzeit geschoben. Bei Lindas Pasteten wusste man nie, ob sie irgendwelche Zaubertränke hineingekippt hatte, um ein neues Rezept auszuprobieren.
Dass es nicht daran liegen konnte, wurde mir erst klar, als mein Besucher sich mir mit unergründlicher Miene gegenübergesetzt hatte. Normalerweise waren meine Kunden nervös, mit zittrigen Gesten und umherhuschenden Blicken. Leicht zu durchschauen und noch leichter über den Tisch zu ziehen. Aber der hier war anders.
»Aber Ihr seid doch Liviana, die Wahrsagerin?« Er wartete, bis ich leicht nickte, ohne mich aus den Augen zu lassen. Oder auch nur zu blinzeln. »Mir wurde gesagt, Ihr wärt in der Lage, einen Einblick in die Zukunft zu geben. Wenn Ihr jene Liviana seid – was Ihr gerade bestätigt habt –, müsst Ihr mir auch eine Vorhersage geben können.«
»Ganz so einfach ist es nicht«, widersprach ich. In Momenten wie diesen verfluchte ich mein jüngeres Ich, sich für diesen Einkommensweg entschieden zu haben. Warum war ich nicht eine Bedienstete im Schwarzen Stein geworden? Irgendwelchen Betrunkenen Getränke auszuschenken, wäre zumindest weniger riskant als das hier. So, wie der Kerl aussah, wäre es nicht verwunderlich, wenn er von den Wächtern geschickt worden wäre: unauffällig, mittleres Alter, keine besonderen Merkmale. Niemand, an den man sich im Zweifel erinnern würde. »Ich kann nur konkrete Fragen beantworten – und auch das nur mit ja oder nein. Aber selbst dann ist nicht sicher, ob es am Ende eintreffen wird. Es gibt zu viele Dinge, die die Zukunft beeinflussen, wenn Ihr versteht.«
Mein Gegenüber starrte mich weiterhin an. Derart intensiv, dass ich mich zu fragen begann, ob er womöglich mit offenen Augen eingeschlafen war oder es auf anderem Weg geschafft hatte, seinen Geist an einen weit entfernten Ort zu verfrachten. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her, während ich aus dem Augenwinkel die Entfernung zum Ausgang abschätzte. Prinzipiell könnte ich in wenigen Schritten dort sein, mit etwas Glück so schnell, dass er nicht rechtzeitig reagieren konnte. Wenn er von den Wächtern geschickt worden war, musste ich die anderen warnen. Oder noch besser: mich aus dem Staub machen, solange es ging. Im schlimmsten Fall waren die Wächter längst auf dem Weg hierher. In dieser Situation war die einzig richtige Entscheidung, mich selbst in Sicherheit zu bringen, während die anderen sie gezwungenermaßen ablenkten. Um Linda würde es mir leidtun, aber sie würde sicher jemanden finden, der ihr half.
Kurz bevor ich aufspringen konnte, blinzelte der Mann endlich. »Eine konkrete Frage also.«
Ich lockerte meine angespannten Muskeln ein wenig und bemühte mich um ein Lächeln. »Ja. Aber nur eine auf einmal, sonst funktioniert es nicht.«
Er nickte knapp, lehnte sich ein wenig nach vorn und wischte über einen Fleck auf dem Tisch. Es war das erste Mal, seit er das Zelt betreten hatte, dass er den Blick von mir nahm, und ich atmete innerlich auf. Meine Anspannung verflog nicht vollständig, doch sie lockerte sich zumindest so weit, dass ich meine verschränkten Finger voneinander lösen konnte. Dann sah er mich wieder an. »Werden sie mich erwischen?«
Wobei?, hätte ich fast gefragt. Und wer waren sie? Mein mulmiges Gefühl kehrte zurück, doppelt so stark wie zuvor. Normalerweise stellten meine Kunden andere Fragen. Werde ich ihn heiraten? Wird sie ihren Ehemann für mich verlassen? Werden sich meine Befürchtungen bestätigen? Werde ich mit dieser Entscheidung glücklich werden?
Fragen, die sich leicht beantworten ließen. Man musste nicht in die Zukunft sehen können, um die Antworten zu finden. Bei den meisten Kunden genügte ein Blick in ihr erwartungsvolles oder ängstliches Gesicht, ein genaues Hinhören auf ihren Tonfall. Sie wussten schon, wie meine Antwort lauten würde, tief in ihrem Inneren und verrieten es mir im selben Atemzug, in dem sie ihre Frage stellten. Wenn ich mich genug konzentrierte, spürte ich, ob Wahrheit oder Lüge hinter ihren Worten steckte. Ich hatte mich auch auf die Frage dieses Mannes konzentriert – und die Antwort, die mir mein Gefühl übermittelte, behagte mir nicht.
Es war eine Lüge. Er war davon überzeugt, dass sie – wer auch immer das war – ihn nicht erwischen würden.
»Nein«, erwiderte ich zögernd. Eigentlich hätte ich begrüßt, was hier gerade vorging. Ich gehörte schließlich ebenfalls zu jenen, die nicht erwischt werden wollten, zumindest wenn es um die Wächter ging. Ich konnte nicht sagen, auf wen er sich bezog. Noch weniger sogar, um was es dabei ging. Vielleicht gehörte er doch zu meinen üblichen Kunden und hatte eine Affäre mit einer verheirateten Frau, bei der er nicht ertappt werden wollte. Oder es ging um etwas vollkommen Banales. Den Diebstahl eines wertlosen Schmuckstücks etwa. Es bestand kein Grund zur Beunruhigung, und doch konnte ich einen Anflug von Furcht nicht unterdrücken, als ein Grinsen über seine Lippen huschte. Es war zu schnell, um seinen Hintergrund erkennen zu können, doch die Art, wie er dabei die Augenlider senkte, hatte etwas Unangenehmes an sich.
Noch unheimlicher war nur das charmante Lächeln, das er mir einen Moment später zuwarf. »Danke«, sagte er, erhob sich und verließ ohne ein weiteres Wort mein Zelt.
Ich blieb wie gelähmt sitzen. Er schuldete mir meinen Lohn, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden, aufzustehen und ihm zu folgen. Dafür war ich zu froh, ihn so schnell losgeworden zu sein. Ich wollte nicht noch mehr Zeit mit ihm verbringen. Aus welchem Grund auch immer mein Gefühl der Ansicht war, mich lieber von ihm fernzuhalten.
»Was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
Um ein Haar wäre ich mitsamt meinem Stuhl umgekippt.
»Raphael«, murmelte ich und atmete tief ein, in der Hoffnung, mich beruhigen zu können. Jetzt hatte der Fremde es geschafft, mich so schreckhaft zu machen, dass ich selbst bei Raphael zusammenfuhr. Dabei hatte ich mich längst an sein unvermitteltes Auftauchen gewöhnt. Wenn er wollte, konnte er sich lautlos bis auf eine Handbreit entfernt an jemanden heranschleichen. Wie er das anstellte, blieb sein Geheimnis. Obwohl die meisten Elben sich anmutig bewegten, kannte ich außer Raphael keinen, der so leise war.
»Womöglich habe ich das tatsächlich«, antwortete ich.
Raphaels schmale Augenbraue zuckte nach oben, während er auf mich zukam. Er warf einen vielsagenden Blick zurück zum Zelteingang und ließ sich auf den freien Stuhl fallen. »Der Kerl, der hier eben rausspaziert ist? Der sah harmlos aus, wenn du mich fragst.«
Dann hatte er ihn zumindest auch gesehen. Gut – das sprach dafür, dass es sich nicht doch um einen Geist gehandelt hatte, der mich heimsuchte. »Ich weiß, dass er harmlos aussah.«
»Aber?«
Ich schwieg. Raphael etwas von einem komischen Gefühl zu erzählen, erschien mir wenig sinnvoll. Er gehörte nicht zu den Männern, für die Emotionen eine nennenswerte Rolle spielten. Abgesehen von Angst. Das war das einzige Gefühl, in dem er einen echten Nutzen sah.
»Stell dich nicht so an, Livi«, sagte Raphael und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Wenn du etwas über den Kerl weißt, spucks aus.«
Ich sah zu, wie er die Beine ausstreckte und kurzerhand auf dem Tisch zwischen uns platzierte. Er wusste, dass ich es hasste, wenn er mich so nannte. Was vermutlich auch der Hauptgrund war, warum er es überhaupt tat. »Ich weiß gar nichts über ihn. Er kam mir einfach merkwürdig vor.«
»Merkwürdig«, wiederholte Raphael gedehnt und beugte sich interessiert vor. »Soll das heißen, er ist ein Schnüffler? Falls ja, schicke ich meine Leute sofort hinter ihm her. Der letzte hat uns schon genug Ärger bereitet.«
»Nein. Ich glaube nicht, dass er zu den Wächtern gehört«, antwortete ich. Einen Moment lang hatte ich darüber nachgedacht, das Gegenteil zu behaupten. Wenn Raphaels Untergebene sich um den Fremden kümmern würden, würde er mir definitiv keine Probleme mehr machen. Aber ich hatte auch keine Lust, dass Raphael das als Anlass nahm, mich in seiner Schuld stehen zu sehen.
»Na, dann nicht.« Raphaels Blick blieb an der Kristallkugel neben seinen Füßen hängen. Bevor ich es verhindern konnte, griff er danach und begann, sie in die Luft zu werfen und wieder aufzufangen. Ich bereute es, sie nicht rechtzeitig aus seiner Reichweite gebracht zu haben. Man konnte damit nicht wirklich in die Zukunft sehen – so etwas gab es selbst hier auf dem Schwarzmarkt nicht –, doch sie war mit einer Reihe von Zaubern versehen, die ich selbst noch nicht völlig entschlüsselt hatte. Mir genügte es, sie für einige kunstvolle Effekte bei meinen Kunden zu benutzen. Außerdem diente sie mir als Lampe in der Nacht – und war verdammt schwer zu beschaffen gewesen.
»Weißt du, warum ich hier bin, Livi?«
»Um dir die Zukunft vorhersagen zu lassen?«, riet ich. Die Kugel flog in einem hohen Bogen über Raphaels Kopf und wäre auf dem Boden zersprungen, wenn er nicht rechtzeitig die Hand ausgestreckt hätte.
»Mach dich nicht lächerlich«, knurrte er. »Ich bin nicht so dämlich zu glauben, dass du wirklich die Zukunft kennst. Deine Kunden kannst du meinetwegen betrügen, aber nicht mich.«
Ich zuckte zusammen, widerstand dem Drang, mir die Kugel zurückzuholen, und hielt den Blick sorgsam auf den Tisch gerichtet. Im Profil seines rechten Stiefels glitzerte etwas. Vermutlich Glasscherben vom letzten Stand, den er dem Erdboden gleich gemacht hatte. »Hältst du mich für leichtsinnig genug, ausgerechnet dich zu betrügen?«
Die Stiefel bewegten sich, verließen den Tisch und wurden von zwei Händen ersetzt. Meine Glaskugel rollte auf den Boden. Raphael war aufgestanden, stützte sich auf dem Tisch ab und beugte sich dicht zu mir herunter. »Nein, ich hatte dich als klüger eingeschätzt. Aber dir ist offenbar entgangen, dass du mit den Zahlungen längst im Verzug bist. Stichtag war vor zwei Wochen, Livi.«
Verdammt. Ich hatte gehofft, dass er es nicht merken würde, obwohl ich wusste, wie verrückt das war. Auf dem Schwarzmarkt erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand einiges über Raphael. Nicht selten ging das Gerücht um, dass erneut jemand verschwunden war, der seinen Tribut an ihn nicht zahlen konnte.
Mein Mund wurde trocken und ich rutschte ein Stück tiefer. Ich hätte es wissen müssen. Niemand schaffte es, Raphael hereinzulegen. »Ich … ich kann das nachholen«, stammelte ich. »Beim nächsten Mal zahle ich dreimal so viel, ehrlich! Ich brauche nur etwas Zeit, um …«
»Um mehr zu besorgen?«, fuhr er an meiner Stelle fort. »Glaub mir, du bist nicht die Erste, die das behauptet. Aber du wärst die Erste, die es schaffen würde.« Er richtete sich wieder auf und musterte mich langsam. »Es wäre schade um dich, Livi. Mir würden ein paar Wege einfallen, wie du deine Schulden dennoch begleichen kannst.«
Ich sprang auf, als er einen Schritt um den Tisch herum machte. »Das ist nicht nötig, wirklich nicht! Ich habe sonst immer pünktlich gezahlt, Raphael. Gib mir nur noch diese eine Chance, bitte!«
Raphael zögerte. Ich sah ihm an, dass er etwas anderes im Sinn hatte. Es gab mit Sicherheit Wege, auf denen er deutlich mehr Gewinn mit mir machen konnte als die Abgaben, die ich wie jeder auf dem Schwarzmarkt an ihn zahlte. Er hatte jede Möglichkeit, diese Wege einzuschlagen, ohne von irgendjemandem zur Rechenschaft gezogen zu werden. Aber das war nicht Raphaels Stil. Er würde sich holen, was ihm seiner Meinung nach zustand, ja – doch zuvor würde er den gnädigen Richter spielen.
»Du hast drei Tage«, verkündete er schließlich. »Keine Stunde länger.«
Er bedachte mich mit einem Blick, der deutlich machte, wie sehr er davon überzeugt war, dass ich es in drei Tagen unmöglich schaffen würde, und wandte sich von mir ab. Am Eingang des Zeltes hielt er inne, drehte den Kopf leicht in meine Richtung. »Ach ja, eines noch: Komm nicht auf den Gedanken, abzuhauen. Das würde dir nicht gut bekommen.«
»Würde ich nie tun«, murmelte ich, während die Plane hinter ihm zufiel. Die Kristallkugel hatte er achtlos liegengelassen. Ich ging nach vorne, um sie aufzuheben, sank jedoch stattdessen neben sie, weil meine Beine nachgaben. Das ist das Ende, dachte ich betäubt. Es war extrem schwierig, genügend Geld für den monatlichen Tribut aufzutreiben. Innerhalb von drei Tagen die dreifache Menge zu finden, war Wahnsinn. Unmöglich, selbst wenn ich mein Glück als Diebin versuchen würde. Ich würde scheitern. Raphael würde zurückkommen und mich holen, um … was auch immer mit mir zu tun. Man hörte nie mehr etwas von jenen, die er mitgenommen hatte.
An eine Flucht war nicht zu denken. Raphaels Leute würden mich Tag und Nacht im Auge behalten, davon war ich überzeugt. Selbst wenn ich es schaffen würde, ihnen zu entkommen – wohin sollte ich mich wenden? Ich hatte mir in dieser Stadt ein Leben aufgebaut, wenn auch kein besonders gutes. Zurück in meine alte Heimat konnte ich nicht, und die umliegenden Dörfer erschienen mir nicht sicher genug.
Jetzt wünschte ich mir mit aller Kraft, der unheimliche Fremde wäre in Wirklichkeit ein Schnüffler und würde jeden Augenblick mit einem Aufgebot der Wächter zurückkehren. Wenn sie dabei Raphael dingfest machten, würde ich sogar mit meiner eigenen Festnahme leben können. Ich könnte Glück haben. Wenn sie so sehr auf Raphael und den Rest seiner Leute konzentriert waren, würden sie nicht sonderlich auf mich achten und mich nach einer Verwarnung wieder gehen lassen. Es wäre die perfekte Lösung. Dumm nur, dass sie vollkommen unrealistisch war.
Ich musste einen anderen Weg finden. Irgendetwas, das mich aus diesem Schlamassel befreite. Mich selbst an die Wächter wenden und um ihren Schutz bitten? Ausgeschlossen. Sie würden alles wissen wollen. Mein jahrelanges Versteckspiel wäre für nichts und wieder nichts geschehen. Ich könnte mich verstecken. Doch auch das würde nicht lange gut gehen. Dafür müsste ich einen Ort kennen, an dem sie mich nie vermuten würden, und obendrein ungesehen dorthin gelangen. Beides Dinge, die ich nicht erfüllen konnte. Jetzt bereute ich es, meine Haare blau gefärbt zu haben.
Ebenso wenig konnte ich jemanden um Hilfe bitten. Jeder, den ich kannte, arbeitete selbst auf dem Schwarzmarkt und würde sich nicht gegen Raphael stellen. Und so viel Geld konnte mir erst recht niemand leihen.
Ich umklammerte die Kristallkugel fester, um das Zittern meiner Hände zu unterdrücken. Sollte es darauf hinauslaufen, dass ich die nächsten drei Tage damit verbrachte, mich auf die folgende Zukunft vorzubereiten? Untätig herumzusitzen, weil ich nicht sofort eine Lösung sah? Das konnte es nicht sein. Es gab immer einen Ausweg, eine schmale Nische, durch die ich entkommen konnte. Ich musste sie nur finden.
Das musst du dir ansehen!«, murmelte Skadi ehrfürchtig. Sie hatte es sich in den vergangenen Wochen zum Morgenritual gemacht, auf dem schmalen Fensterbrett ihres Zimmers zu balancieren und nach draußen zu sehen. Ein Bein aufgestützt, das andere locker in den Raum hängend. Tag für Tag hatte sie hier gesessen, egal wie müde sie war. Manchmal war sie zu spät aufgewacht, an anderen Tagen hingen dicke Wolken über der Stadt und nahmen ihr die Sicht. Doch heute schien sie Glück zu haben. Als die Sonne sich gemächlich über den Horizont erhob, war es, als würde die Zeit stillstehen. Ihr Licht verwandelte den Fluss in glitzerndes Gold, ergriff nach und nach die Häuser im östlichen Viertel, bahnte sich seinen Weg durch die schmalen Gassen, wurde von den farbenfrohen Glasscheiben im Nordviertel zurückgeworfen, und vertrieb die Düsternis aus dem Anblick der Wächterburg.
Ja, für dieses Ereignis hatte sich Skadis Geduld bezahlt gemacht. Es würde lange dauern, bis die wärmenden Strahlen sie erreichen würden, doch das störte sie nicht. Es hatte seine Vorteile, ganz im Westen von Brient zu leben, im obersten Stockwerk eines alten Wachturms. Von hier aus hatte sie einen Blick über die gesamte Stadt – das glich selbst die beschränkte Größe ihres Zimmers aus.
»Ich meine es ernst, Magnus«, sagte sie. »Du verpasst das Beste. Wie oft hat man hier schon die Gelegenheit, den Sonnenaufgang ohne Wolken am Himmel zu beobachten? Wenn du noch länger wartest, wirst du nichts mehr davon sehen.«
Sie erhielt keine Antwort. An einem anderen Tag hätte sie sich umgedreht, um zu überprüfen, ob Magnus überhaupt noch da war. Aber heute wollte sie den Blick keinen Wimpernschlag lang von der Stadt unter sich nehmen. Der Sonnenaufgang war wunderschön, doch insgeheim wartete Skadi auf etwas anderes. Heute war der perfekte Tag für diesen Moment. Den würde sie mit Sicherheit nicht verpassen, weil Magnus zu faul war, zu ihr zu kommen.
Ein Rascheln ertönte. Einen Augenblick später sprang etwas auf ihren Schuh, krallte sich in ihre Hose, kletterte an ihrem Bein nach oben und ließ sich auf ihrem Schoß nieder. Skadi grinste, als die schwarze Ratte ihr einen vorwurfsvollen Blick zuwarf. »Ich falle schon nicht herunter. Und du musst zugeben, dass die Aussicht von hier aus fantastisch ist.«
Magnus schüttelte den Kopf und presste sich fester an sie. Skadi vermutete, dass er Höhenangst hatte und es ihr übelnahm, sich für dieses Zimmer entschieden zu haben. Noch mehr verübelte er es ihr, dass sie sorglos auf diesem Fensterbrett saß, gut 100 Fuß über dem Boden. Sie müsste sich nur erschrecken, den Halt verlieren und geradewegs in den Tod stürzen. Seiner Meinung nach zumindest. Skadi konnte die Gelegenheiten, an denen Magnus direkt mit ihr kommuniziert hatte, an drei Fingern abzählen. Das erste Mal, als sie sich kennengelernt hatten. Zweitens, als er beschlossen hatte, bei ihr zu bleiben. Das letzte Mal, um ihr mitzuteilen, für wie leichtsinnig und gefährlich er ihr Verhalten hielt. Abgesehen von diesen drei Malen musste sie sich darauf beschränken, seine Körpersprache zu interpretieren. Mittlerweile war ihr klar, dass er keine gewöhnliche Ratte war – denn die konnten sicher nicht gedanklich mit jemandem sprechen –, aber sie hatte ihm auch nicht entlocken können, was er dann war.
Magnus verdrehte die Augen und überlegte offensichtlich, ob er nicht lieber zurück auf sicheren Boden kehren sollte – für den Fall, dass Skadi gleich aus dem Fenster stürzte, während er auf ihr saß. Skadi streichelte ihn beruhigend, bevor sie den Blick wieder auf die Stadt richtete. Es konnte nicht mehr lange dauern. Jeden Moment mussten sie … Da! Von dem mittleren Turm der Wächterburg erhob sich eine einzelne Gestalt in die Luft. Sie flog in einer geraden Linie nach oben und wechselte dann zu einem ausladenden Kreis über der Burg. Kurz danach folgten weitere Wächter, in perfekter Formation. Sie folgten anmutig ihrem Anführer und verteilten sich übereinander in der Luft, bis die Kreise, die sie flogen, eine abwärts gerichtete Spirale bildeten. Skadi hielt den Atem an, als immer mehr Wächter sich in die Spirale einreihten, die Formation schließlich langsam aufbrachen und sich zu einer großen Gruppe zusammenfanden. Sie verharrten in dieser Position. Ein schwarzer Fleck, der inmitten des blauen Himmels über der Wächterburg schwebte. Dann traf ein Sonnenstrahl auf einen gewölbten Spiegel am Fuß der Burg und wurde in Richtung der Gruppe geworfen. Als er sie traf, zersplitterte die Formation in alle Himmelsrichtungen. Die Wächter verließen die Burg, auf dem Weg in die Stadt, um dort ihrer Bestimmung zu folgen.
Skadis Blick folgte den letzten von ihnen, bis sie im morgendlichen Chaos untergegangen waren. Es war das erste Mal, dass sie eine solche Vorführung beobachten konnte – bis dahin war sie entweder nicht zur richtigen Zeit da gewesen oder die Wächter hatten sich dafür entschieden, normal den Tag zu beginnen. Sie war nicht sicher, welchem Zweck das Kunststück überhaupt diente. Vielleicht war es eine Art Training, eine Tradition, schlichtweg etwas Spaß, oder es sollte eine Erinnerung an die Bevölkerung sein, dass die Wächter da waren. In jedem Fall war es atemberaubend, ihnen dabei zuzusehen.
Skadi war noch nie einem Wächter näher als ein halbes Dutzend Schritte gekommen – und hatte es auch nicht in Zukunft vor –, doch manchmal fragte sie sich, wie es wohl wäre. Ob sich die schwarzen Federn genauso seidig weich anfühlen würden, wie sie es sich vorstellte. Und wie es wäre, zu fliegen. Wenn sie nur selbst mit schwarzen Flügeln auf dem Rücken statt als normaler Mensch geboren worden wäre …
Ein scharfer Schmerz fuhr durch ihren Daumen. Sie zuckte zusammen, verlagerte unwillkürlich ihr Gewicht und verlor den Halt. Der Fall kam überraschend – beinahe so sehr, wie der Aufprall danach. Skadi landete hart auf der Schulter, nur eine Armeslänge von ihrem Bett entfernt, und stieß einen leisen Schmerzenslaut aus. Magnus tippelte aus sicherer Entfernung auf sie zu.
»Verflixt, Magnus! Was sollte das denn?«, fluchte Skadi. Als sie sich vorsichtig aufrichtete, pochte ihre Schulter schmerzhaft, dicht gefolgt von ihrer Hüfte, die als zweite auf dem Boden aufgetroffen war. Nicht zu vergessen ihr Daumen. Dort, wo Magnus sie gebissen hatte, bildete sich ein dunkler Blutstropfen. »Willst du doch, dass ich den nächsten Tag nicht mehr erlebe?«
Magnus legte den Kopf schief und rümpfte die Nase.
»Mir ist sehr wohl etwas passiert«, sagte Skadi. »Den Sturz werde ich noch tagelang spüren.«
Gut so, schien Magnus' zufriedener Blick zu sagen. Er begann in grotesker Weise auf und ab zu hüpfen, als würde er über heiße Kohlen laufen, und sich dabei im Kreis zu drehen. Dann blieb er mitten in einem Schritt stehen, blinzelte Skadi mit großen Augen an – und kippte in einer ausladenden Bewegung um.
Skadi versuchte vergeblich, ernst zu bleiben. Sie nahm es Magnus wirklich übel, sie gebissen zu haben. Aber es war unmöglich, für längere Zeit auf ihn wütend zu sein. Vor allem dann, wenn er alles daran setzte, sie zum Lachen zu bringen. »So verhalte ich mich ganz sicher nicht«, murmelte sie kichernd. »Du stellst das völlig übertrieben dar.«
Magnus war wieder auf die Füße gekommen und fuhr in seiner hüpfenden Darstellung der Wächter fort. Diesmal nicht mehr in Kreisen, sondern in einer Schlängellinie, die sich auf Skadi zubewegte. Kurz vor ihr stoppte er, richtete sich auf den Hinterbeinen auf und hob huldvoll die Nase.
»Du solltest dich nicht über sie lustig machen. Immerhin haben wir es ihnen zu verdanken, in Frieden und Sicherheit leben zu können.« Obwohl Skadi ihre Worte ernst meinte, schaffte sie es nicht, die beabsichtigte Strenge in ihre Stimme zu legen. Stattdessen klang es eher nach dem Tonfall, den Magnus jetzt sicher an den Tag legen würde, wenn er sprechen könnte: Die überspitzte Darstellung eines Wächters, der versuchte für Ordnung zu sorgen.
Dabei teilte Skadi Magnus' schlechte Einstellung gegenüber den Wächtern nicht einmal. Sie war froh, die Wächter Tag für Tag in der Nähe zu wissen und darauf zählen zu können, dass sie begangenes Unrecht strafen und Unruhen in der Stadt verhindern würden, und fragte sich oft, warum Magnus ein solches Misstrauen gegen sie hegte. Er antwortete nie darauf, und inzwischen hatte sie das Fragen aufgegeben. Wenn er es ihr irgendwann mitteilen wollte, würde er es von sich aus tun – doch bis dahin musste er damit leben, dass sie sich nicht konsequent von den Wächtern fernhalten würde. Sie beim Fliegen zu beobachten, barg Skadis Ansicht nach keinerlei Gefahr.
Auch wenn Magnus das offenbar anders sah.
Als Skadi ihr Zimmer verließ, waren die meisten anderen Bewohner des Turms längst verschwunden. Sie hatte in den vergangenen Monaten nur wenige Male einen von ihnen zu Gesicht bekommen, doch im Laufe der Zeit lernte sie dennoch ihre Gewohnheiten kennen. Die Wände waren dünn, und auch wenn man nichts sah, hörte man doch so einiges. Die Türen ließen sich nur mit Geduld leise schließen und die Bodendielen knarrten an so vielen Stellen, dass Skadi es inzwischen aufgegeben hatte, sie vermeiden zu wollen. Um wirklich einschätzen zu können, wer gerade das Haus verlassen oder betreten hatte, musste sie jedoch auf die Schritte auf der Treppe lauschen. Im Gegensatz zu den einzelnen Zimmern hatte sich nie jemand die Mühe gemacht, die alte Treppe zu reparieren. Es glich einem Balanceakt, von einer Etage in die nächste zu gelangen. Etwa alle fünf Stufen war eine in der Mitte zerbrochen, auf dem mittleren Stück fehlten drei hintereinander und acht Stufen darüber waren nur noch zwei Schritt breit der Stufen am rechten Rand übriggeblieben. In der Anfangszeit hatte Skadi es nicht gewagt, die Treppe bei Nacht zu benutzen, voller Angst, im Dunkeln danebenzutreten und in den Abgrund zu stürzen.
Mittlerweile könnte sie die Treppe wohl mit geschlossenen Augen hinter sich bringen. Doch ihre Vorsicht überwog. Einmal war eine morsche Stufe direkt unter ihr eingebrochen, und sie hatte wenig Lust, dieses Erlebnis zu wiederholen.
Für eine Unterkunft im Westviertel war dieser Zustand grenzwertig. Skadis Eltern wären verrückt vor Sorge, wenn sie wüssten, wie sie lebte. Wäre es nicht die einzige bezahlbare Schlafmöglichkeit in diesem Viertel, hätte Skadi sie selbst in Anbetracht der Aussicht lieber gegen eine andere ausgetauscht. Es war jeden Tag ungewiss, ob sie nicht auf der Treppe stürzen und sich alle Knochen brechen würde. Aber dafür konnte sie ihren Eltern ruhigen Gewissens schreiben, dass sie nicht im ärmsten Stadtteil lebte und dass das wenige Geld, das sie ihr regelmäßig schickten, nicht umsonst war. Und das war jedes Balancieren auf einem schmalen Grat wert.
Magnus kletterte auf ihre Schulter, kurz bevor sie den letzten Abschnitt heruntersprang, und gab ein missbilligendes Geräusch von sich.
»Du musst dich schon etwas genauer ausdrücken«, murmelte Skadi. Sie eilte durch den düsteren Gang, wich dem tief liegenden Balken aus und machte einen Bogen um das Loch im Boden, bis sie die Tür erreichte und aufdrückte.
Magnus' Antwort beschränkte sich darauf, den Kragen ihrer Jacke ein Stück beiseitezuschieben und sich darunter zu verkriechen.
Er verharrte dort, während Skadi bei dem Bäcker auf der anderen Straßenseite einen Laib Brot kaufte, und sich von dort auf den Weg nach Osten machte. Sein Gewicht auf ihrer Schulter hatte wie immer eine beruhigende Wirkung auf Skadi. Es gab ihr Sicherheit, deutlich mehr sogar als sie es bei ihrem Kennenlernen für möglich gehalten hatte. Jeder brauchte eine Bezugsperson. Jemanden, dem man sich anvertrauen konnte, egal wie schmutzig die eigenen Geheimnisse waren. Und in Skadis Fall war dieser jemand Magnus.
Es versprach ein sonniger Tag zu werden, und entsprechend viele Wesen waren auf den Straßen unterwegs. Skadi hielt die Augen nach ungewöhnlichem Verhalten offen, nur für den Fall, dass sie schnell verschwinden musste. Normalerweise mied sie die Hauptstraße nach Osten. Zu viele Leute, eine zu große Gefahr, von jemandem versehentlich als Diebin bezichtigt zu werden, und ein zu hohes Risiko, in eine Kontrolle der Wächter zu geraten. Auch heute standen drei von ihnen im Schatten der Häuser, die schwarzen Schwingen eng auf dem Rücken zusammengefaltet. Sie hatten die Blicke aufmerksam auf die vorbeiziehende Menge gerichtet, jederzeit bereit, im Notfall einzugreifen. Skadi zwang sich dazu, ihren Blick kurz über die drei schweifen zu lassen, und nickte grüßend, als einer von ihnen sie freundlich anlächelte. Sie ging keine fünf Fuß entfernt an ihnen vorbei, obwohl sie am liebsten bis an den anderen Straßenrand ausgewichen wäre. Ihr war klar, dass sie sich damit verdächtig verhalten würde, aber der Drang bestand dennoch. Im Augenblick hatte sie nichts zu verbergen. Aber das würde nicht lange so bleiben.
Skadi war schon an den Wächtern vorbei, als hinter ihr Tuscheln einsetzte. Sie warf im Gehen einen Blick zurück, entdeckte, dass sich einer der Wächter aus dem Schatten gelöst hatte, und unterdrückte mühsam ihre auflodernde Panik. Er wollte mit Sicherheit nicht zu ihr. Jemand anderes hatte sich auffällig verhalten oder war ihm bereits bekannt. Sie sah erneut zurück – und stolperte vor Schreck über einen losen Stein vor sich. Der Wächter folgte ihr.
Nun, nicht zwingend ihr. Vielleicht auch dem Mann links vor ihr, der den Kopf zwischen den Schultern eingezogen hatte und ständig von einer Straßenseite zur anderen wechselte. Oder der Vampirin rechts von Skadi, die einen Bogen auf dem Rücken trug.
Skadi hatte Mühe, ihre Schritte nicht zu beschleunigen. Ihre Gedanken rasten. In der Menge könnte sie ihn abhängen, wenn sie sich beeilte. Dafür müsste sie jedoch wissen, ob er es überhaupt auf sie abgesehen hatte. Wenn es nicht so war, würde sie durch die Flucht erst recht in sein Visier geraten. Sie könnte einfach weitergehen, aber dann würde er sie entweder einholen oder ihr bis zu ihrem Ziel folgen. Stehenbleiben war die letzte Möglichkeit. Es würde ihr die Chance zur Flucht nehmen, aber nur so konnte sie sicher wissen, ob er zu ihr wollte oder ob sie es sich einbildete.
Bei einem Obststand bot sich die nächste Gelegenheit, aus dem Strom auszubrechen. Skadi schwenkte zur Seite, blieb vor dem Stand stehen und musterte vorgeblich voller Interesse die matschigen Früchte vor sich. Ihr Herz schlug laut und kraftvoll in ihren Ohren, während sie wartete. Der Wächter war nur wenige Schritte hinter ihr gewesen. Er müsste sie jeden Moment erreichen oder vorbeigehen.
Etwas berührte sie an der Schulter. Skadi fuhr zusammen, wirbelte herum – und fand sich Auge in Auge mit einem zierlichen Falken wieder. Der Vogel hatte sich auf einer der Zeltstangen des Standes niedergelassen und musterte sie mit schräg gelegtem Kopf. Magnus presste sich fester an sie und stieß ein warnendes Fauchen aus, als der Falke den Kopf zu seinen Klauen senkte und etwas von dem roten Band darum löste. Skadis Herzschlag beschleunigte sich weiter. Sie wusste, was nun kommen würde, und ein Teil von ihr wäre am liebsten auf dem Absatz umgedreht und hätte sich in der Menge aus dem Staub gemacht. Das winzige Stück Papier, das der Falke von dem Band löste, verwandelte sich binnen eines Wimpernschlags in einen handtellergroßen Brief, den er ihr entgegenstreckte. Beim letzten Mal hatte Skadi den Brief nicht in Empfang genommen. Sie hatte den Falken mit seiner Botschaft ignoriert, ganz so als würde sie nicht ihr gelten, und war den halben Tag lang im Zickzack durch die Stadt gelaufen. Vergeblich. Er hatte sie damals gefunden, wieder und wieder, bis sie den Brief angenommen hatte, und er würde es auch heute tun.
Skadi nahm den Brief zaudernd entgegen. Drei Wochen war es her, seit sie den letzten erhalten hatte. Beinahe hatte sie ihn schon aus ihren Gedanken verdrängt, davon überzeugt, dass man sie in Frieden lassen würde, wenn sie nichts tat. Doch dieser zweite Brief sprach eine andere Sprache: Sie hatten sie nicht vergessen.
Der Falke breitete die Flügel aus und flog so knapp über sie hinweg, dass Skadi den Kopf einziehen musste. Die anderen Wesen beachteten sie nicht, wunderten sich nicht einmal über den Falken. Skadi sah ihm unwillkürlich nach. Einen Moment lang überlegte sie, was wohl passieren würde, wenn sie den Brief ungeöffnet zerriss und in der Pfütze vor sich ertränkte. Dann löste sich ihr Blick von dem Falken, glitt zurück in die Menge und traf auf einen anderen. Ein Schauer rann über ihren Körper und ohne sich bewusst dazu entschieden zu haben, ging sie zurück. Einen Schritt, zwei, drei, bis genug Leute zwischen ihnen waren, um sich gefahrlos umdrehen und in einer Gasse verschwinden zu können, so schnell ihre Füße sie trugen.
Der Wächter war nicht an ihr vorbeigegangen.
Skadi wagte es nicht, ihre Schritte zu verlangsamen. Sie hatte keine Ahnung, ob der Wächter ihr folgte, doch falls er es tat, wollte sie kein Risiko eingehen. Den direkten Weg zum Versteck vermied sie, lief stattdessen in großen Umwegen durch die Stadt, durch schmale Gassen und belebte Straßen, bis sie sich sicher war, allein zu sein. An einen Zufall konnte sie nicht glauben. Dieser Wächter hatte sie beobachtet – wahrscheinlich, um sicherzustellen, dass sie den Brief von dem Falken annahm. Skadi zweifelte nicht daran, dass er entsprechende Maßnahmen ergriffen hätte, wenn sie den Brief zurückgewiesen hätte.
Zumindest bedeutete das, dass er im Moment kein weiteres Interesse an ihr haben sollte. Sie hatte den Brief erhalten, mehr dürfte für ihn nicht von Bedeutung sein. Es war nur ein Brief. Keiner, den sie gerne erhalten hatte, aber letztlich blieb er ein Stück Papier, das ihr nichts anhaben konnte. Vielleicht wäre es sogar das Beste, ihn gar nicht erst zu öffnen. Solange sie ihn nicht gelesen hatte, konnte nichts, das darin stand, sie beunruhigen oder ihr Angst einjagen.
Als sie den äußeren Rand des Ostviertels erreichte, hatte Skadi ihre aufwallende Sorge erfolgreich verdrängt. Der Brief lag zusammengefaltet tief in ihrer Tasche und hatte seinen Schrecken für den Moment verloren. Damit würde sie sich später befassen, wenn sie ihr eigentliches Vorhaben erledigt hatte. Gewohnheitsmäßig sah sie sich gründlich um, ehe sie in die Gasse neben der Ruine einbog. Geisterhaus, nannten die Kinder der Gegend dieses Gebäude gern, und manchmal war Skadi geneigt, ihnen zu glauben. Es gab Dutzende verfallene Häuser in diesem Viertel, doch kaum eines besaß eine ähnlich düstere Atmosphäre. Ein Teil davon stand noch, genug um zu erkennen, dass es sich hierbei nicht um die zugigen Hütten handelte, in denen die Armen inzwischen lebten. Vielmehr hätte es in das Nordviertel gepasst. Skadi war nicht oft dort, doch die gigantischen Villen der Reichen wiesen verblüffende Ähnlichkeit zu dem Geisterhaus auf. Der gleiche großzügige Grundriss, präzise geschliffene Steine und imposante Eingangstüren. Unter den eingebrochenen Mauern des Geisterhauses ließen sich sogar Ornamente und steinerne Girlanden erkennen, die einst die Fassade geschmückt haben mussten.
Heutzutage lebten nur noch die Ärmsten hier. Skadi hatte selbst nicht viel Geld zur Verfügung und sie war jeden Tag dankbar, dass es immerhin für das Zimmer in dem alten Wachturm reichte. Im Ostviertel leben zu müssen, wollte sie sich nicht einmal vorstellen. In der Luft lag immer etwas, das sie bei ihrem ersten Besuch hier nicht einordnen konnte. Hoffnungslosigkeit, gepaart mit Furcht, Krankheit und Verzweiflung. Die Bewohner schienen es nicht zu bemerken, und je länger Skadi hier verweilte, desto mehr gewöhnte sie sich ebenfalls daran.
Wenn es nach ihr ginge, würde sie das Ostviertel nur im äußersten Notfall betreten. Zu ihrem Leidwesen war ausgerechnet hier der Treffpunkt, das Versteck, der Ort der Übergabe – wie auch immer man es nennen wollte. Und solange keiner der Wächter dahinterkam, würde er es auch bleiben. Letztlich konnte sie sich glücklich schätzen, dass er nicht auch noch das Geisterhaus, sondern nur in dessen Nähe war.
Skadi blieb vor der niedrigen Tür unter dem zertrümmerten Giebel stehen, sah sich erneut um und klopfte. Einmal, einen Atemzug später zweimal rasch hintereinander, gefolgt von einer weiteren Pause und dem letzten Klopfen. Sie wippte vor und zurück und widerstand dem Drang, in den Keller zu stürmen. Die Begegnung mit dem Wächter zeigte stärkere Nachwirkungen als sie dachte.
Das Klopfzeichen wurde erwidert, kurz bevor Skadi von dreißig heruntergezählt hatte und ohnehin hineingegangen wäre. Einen Wimpernschlag später stolperte sie in den Raum und knallte die Tür hinter sich zu, mit einem Mal der festen Überzeugung, hier drin am sichersten zu sein.
»Hallo, Skadi«, sagte Luke.
Ärger durchschoss Skadi, vollkommen unerwartet. Normalerweise kam sie gut mit Luke aus, und unter anderen Umständen wäre sie froh gewesen, dass ausgerechnet er und niemand sonst hier war. Aber in diesem Moment verfluchte sie ihn dafür, da zu sein. Sie wollte sich nicht mit ihm unterhalten müssen. Genau genommen wollte sie nicht einmal in seiner Nähe sein. Es wäre ihr hundertmal lieber, allein zu sein – von Magnus abgesehen – und in aller Ruhe über den Brief, den Wächter und deren Bedeutung nachdenken zu können. Luke konnte nichts dafür, und doch wünschte sie ihn an das andere Ende der Stadt.
»Ich habe Frühstück mitgebracht«, murmelte sie und bemühte sich um ein Lächeln. Es war selten, hier wirklich auf jemanden zu treffen. Um jeden Einzelnen zu schützen, der das Versteck nutzte, hatten sie sich darauf geeinigt, wer an welchen Tagen, zu welchen Zeiten kommen durfte. Manchmal überschnitten sich die Besuche dennoch, so wie heute. Luke war zu spät.
»Darauf hatte ich gehofft.« Luke fing das Brot geschickt mit einer Hand auf und war schon bei dem dreibeinigen Tisch, ehe Skadi einen weiteren Schritt in den Raum machen konnte. Ihr Blick wanderte durch das kleine Zimmer, auf der Suche nach etwas, das sich seit ihrem letzten Besuch verändert hatte. Der Schrank mit der schief hängenden Tür stand noch an derselben Stelle und verdeckte zuverlässig den Zugang zu dem Versteck dahinter, im Kamin lag die Asche vom letzten Winter, selbst der dunkle Fleck auf dem Boden war unverändert. Nur die Lampe auf dem Tisch war ausgetauscht worden.
Skadi ging zur linken Wand, drei Schritte von der Tür entfernt. Etwa auf Höhe ihrer Knie befand sich ein Astloch im Holz, das von einem Unwissenden übersehen worden wäre. Sie tastete es ab, fand den Halt, den sie suchte und zog. Ein Stück der Wand, nicht größer als ihr Handballen, löste sich und offenbarte einen schmalen Hohlraum. Leer, wie Skadi enttäuscht feststellte. Ein Auftrag hätte jetzt mit Sicherheit dabei geholfen, sie abzulenken.
Luke war damit beschäftigt, das Brot zu zerschneiden, und hatte ihr den Rücken zugekehrt. Als Skadi sich auf den Schemel neben ihm fallen ließ, hob er nur kurz den Blick. »Du bist früh dran.«
»Ich weiß«, antwortete sie. »Und du bist zu spät.«
Luke grinste. »Absichtlich. Wir haben uns schon seit Wochen nicht gesehen. Obwohl wir in derselben Stadt wohnen. Findest du das nicht komisch?«
»Du weißt, dass wir uns eigentlich nicht einmal hier drin über den Weg laufen sollten – geschweige denn außerhalb davon. Keiner war jemals hier, keiner weiß etwas von den anderen–«
»–und keiner wird den Wächtern was erzählen«, fuhr Luke fort. »Ehrlich, Skadi, wir sind Schmuggler. Diese Geheimniskrämerei ist völlig übertrieben. Ich weiß nicht mal, wie alt du bist. Oder zu welcher Art du gehörst.«
Er streckte ihr eine Scheibe des Brotes entgegen, ehe er den anderen Schemel besetzte. Magnus sprang von Skadis Schulter, riss ein Stück von der Brotscheibe ab, und verschwand mit seiner Beute auf ihrem Schoß.
Skadi nahm zögernd einen Bissen Brot, um über ihre Antwort nachdenken zu können. Luke hatte in gewisser Weise recht. Ihr erschienen die Regeln ebenfalls ein wenig übertrieben, aber das hieß nicht, dass sie sie außer Acht lassen würde. Das Schmuggeln war derzeit ihre einzige verfügbare Einkommensquelle. Sie konnte es sich nicht leisten, darauf verzichten zu müssen. Zumal die Regeln durchaus Sinn ergaben. Wenn einer von ihnen von den Wächtern gefasst wurde, konnte er die anderen nicht verraten. Es klang von Anfang an sicherer für sie und bisher hatte sie kein Interesse daran gehabt, etwas daran zu ändern. Auch nicht bei Luke. Ihre Anwesenheit hatte sich in der Vergangenheit zwar gelegentlich überschnitten, sodass sie sich unweigerlich miteinander unterhalten hatten, doch sie hatte nie den Eindruck gehabt, er würde diese Bekanntschaft vertiefen wollen.
»Ich bin ein Mensch«, erwiderte sie schließlich und ignorierte Magnus' protestierenden Blick. Sie würde Luke mit Sicherheit nicht ihre gesamte Lebensgeschichte erzählen oder ihm verraten, wo sie lebte. Aber es interessierte sie, worauf er hinauswollte, ob er etwas Bestimmtes damit bezweckte. »Warum?«
Luke zuckte mit den Schultern. »Nur so, ich war neugierig. Ich bin auch einer.«
Sie nickte. Viel mehr andere Möglichkeiten hätte es sowieso nicht gegeben. Luke besaß weder die verschiedenfarbigen Augen der Vampire noch die feinen Gesichtszüge der Elben oder das sternförmige Mal auf der linken Hand der Magier. Und die schwarzen Flügel der Wächter hatte er schon gar nicht. Ein Mischwesen wäre die letzte Variante gewesen.
Womöglich ging es ihm nur darum, mehr über sie zu erfahren, um sie kennenzulernen. Diese Erklärung rief Anspannung in Skadi hervor. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand eine Beziehung zu ihr aufbauen wollte, die über das geschäftliche Miteinander hinausging. Zumal Luke gut zehn Jahre älter als sie sein musste. Abgesehen von den gelegentlichen Treffen im Schmugglerversteck gab es nichts, das als Basis für eine Freundschaft herhalten könnte.
Luke sah sie erwartungsvoll an und Skadi wurde bewusst, dass sie ihm keine Antwort gegeben hatte. Aber was sollte man darauf auch erwidern? Wie schön, dann haben wir ja eine Gemeinsamkeit? Das wäre in etwa so komisch, wie einem Wächter zu sagen, dass man unschuldig war, obwohl er einen auf frischer Tat ertappt hatte.
Der Gedanke rief unerwünscht die Begegnung auf dem Markt in Skadis Gedächtnis. Dieser Wächter hatte sie derart intensiv angesehen, dass sie davon überzeugt war, dass er unmöglich aus Zufall dort gestanden haben konnte. Was auch immer in diesem Brief stand – Skadi täte gut daran, ihn zu lesen. So schnell wie möglich, obwohl sie ihn am liebsten ungeöffnet verbrennen würde. Ein drängendes Gefühl kämpfte sich an ihren inneren Mauern vorbei. Wenn dieser Brief eine Drohung oder etwas Ähnliches enthielt, kam es auf jeden einzelnen Moment an. Wer wusste schon, wie viel Zeit ihr blieb. Im schlimmsten Fall waren sie längst auf dem Weg zu ihr.
Ist das möglich?, dachte sie panisch. Konnten sie sie aufspüren? Selbst der Falke hatte es geschafft.
»Stimmt was nicht?«, fragte Luke. »Du bist kreideweiß geworden.«
»Mir gehts gut«, erwiderte Skadi und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich … ich frage mich nur gerade … Glaubst du, man kann den Wächtern entkommen? Wenn sie schon einen Verdacht gegen einen haben?«
Luke lehnte sich stirnrunzelnd zurück. Einen Moment später stieß Magnus warnend Skadis Hand an. Ihr war klar, worauf er anspielte, doch es war zu spät, um es rückgängig zu machen. Wenn Luke ahnte, warum sie diese Frage stellte, konnte sie nichts daran ändern. Probleme würde sie in jedem Fall bekommen, so viel stand fest. Und mit etwas Glück konnte Luke ihr sogar helfen. Vielleicht hatte er in dieser Hinsicht ja mehr Erfahrung als sie.
»Ich weiß nicht. Wenn sie genug über dich wissen, um einen konkreten Verdacht zu haben, wird es sehr knapp. Solange sie keine Ahnung haben, was du getan hast, bist du sicher. In allen anderen Fällen – nein. Warum interessiert dich das? Hat dich jemand beim Schmuggeln erwischt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich … habe einfach nur darüber nachgedacht. Also meinst du, es ist nicht möglich? Selbst dann nicht, wenn man sich gut versteckt?«
»Dann müsstest du dich dein ganzes Leben verstecken.« Luke zuckte mit den Schultern und stand auf. »Man kann den Wächtern nicht entkommen, Skadi. Versuch lieber, ihnen nicht aufzufallen.«
»Zu spät«, flüsterte sie, als Luke die Tür hinter sich geschlossen hatte. Das waren ernüchternde Aussichten. Sie wusste, dass die Wächter jeden fanden, den sie suchten, und doch hatte sie auf das Gegenteil gehofft. Es bedeutete, dass sie keine Chance hatte, aus dieser Situation zu entkommen. Zumal sie kein Leben führen wollte, in dem sie immerzu fliehen oder sich verstecken musste.
Magnus kletterte mit dem Rest seines Brotstückes zurück auf den Tisch und warf ihr einen verärgerten Blick zu.
»Was?«, fragte Skadi. »Es hätte doch sein können, dass er etwas weiß.«
Sie selbst verspürte keinen Hunger mehr. Die Aussicht auf ihre Zukunft hatte jedes andere Bedürfnis in den Hintergrund gedrängt. Womöglich verurteilte man sie zu mehreren Jahren Sklaverei – allein der Gedanke daran genügte, um Übelkeit in ihr zu wecken. »Ich reagiere überhaupt nicht über«, fügte sie hinzu, als Magnus theatralisch den Kopf auf den Tisch fallen ließ. »Du willst doch immer, dass ich mich von den Wächtern fernhalte. Tu bloß nicht so, als würdest ausgerechnet du glauben, dass dieser Brief vollkommen harmlos ist.«
Er erwiderte ihren Blick regungslos.
Skadi starrte zurück. Das war ihre Art, über etwas zu diskutieren. Magnus sah sie so lange an, bis sie irgendwann nachgab oder er die Lust daran verlor. Zu Skadis Leidwesen war er enorm gut darin. Sie konnte sich an kaum eine Gelegenheit erinnern, in der er aufgegeben hatte. In den meisten Fällen schaffte er es, sie zu überzeugen. Selbst dann, wenn sie sich wie heute fest vorgenommen hatte, bei ihrem Standpunkt zu bleiben.
»Ich bleibe trotzdem dabei, dass das nichts Gutes bedeutet«, beharrte Skadi schließlich. Ihre Hände zitterten, als sie den Brief aus ihrer Tasche kramte und auseinanderfaltete. Ihn zu öffnen, dauerte dreimal so lang wie normalerweise, und Magnus machte bereits den Eindruck, es in Erwägung zu ziehen, das Ganze selbst zu erledigen. Als sie den Brief endlich aus dem Umschlag befreit hatte, zauderte sie. Es waren nur wenige Zeilen und sie hatte sich fest vorgenommen, alles der Reihe nach zu lesen. Doch ihr Blick flog wie von selbst über die Wörter, ohne ihre Bedeutung zu erfassen, nur auf der Suche nach einem einzigen. Anhörung, las Skadi und ließ den Brief sinken. Sie hatte es gewusst. Die Wächter verschickten keine harmlosen Nachrichten.
Magnus lief über den Brief, um ihn zu lesen. Im Gegensatz zu Skadi hatte er genug Interesse an dem Rest der Nachricht – oder er hoffte nur, irgendetwas Bestimmtes darin zu finden. Für sie selbst spielte es keine Rolle. Was auch immer dort stand, würde die Aufforderung nicht besser machen. Eine Anhörung. Schlimmer konnte das Ganze nicht mehr werden.
Als hätte er ihre Gedanken gehört, gab Magnus ein aufgeregtes Quietschen von sich, und tippte derart bestimmt auf eine der Zeilen, dass Skadi sich gezwungen sah, es doch zu lesen. Er hatte recht – es ging noch schlimmer.
Die Anhörung war in drei Stunden.
Als ich das Zelt verließ, wirkte alles wie immer. Unverändert, als hätte Raphael mir nicht gerade ein Ultimatum gestellt, das ich unmöglich erfüllen konnte. Die beiden Jungen an dem Stand gegenüber lungerten herum, als würden sie darauf warten, dass endlich etwas Interessantes geschah; der Magier neben mir kämpfte wie jede Woche mit den Folgen eines schiefgelaufenen Zaubers – diesmal hatte sich eine Gewitterwolke über seinem Tisch gebildet –, und in der Luft hing der Geruch nach Lindas Pasteten, süßen Tränken und etwas Metallischem. Keiner in meiner Umgebung achtete auf mich, als ich begann, über den Platz zu schlendern. Kein Vergleich zu meinen ersten Wochen hier. Um Zutritt zum Schwarzmarkt zu erhalten, musste man die richtigen Leute kennen. Leute, die einem den geheimen Zugang verrieten und dafür sorgten, dass man nicht augenblicklich wieder herausgeworfen wurde.
Das Glück einer solchen Bekanntschaft hatte ich nicht – und ich bereute es immer noch, niemanden gesucht zu haben. Den Eingang zu finden war kein großes Kunststück, doch es wäre mir erspart geblieben, die misstrauischen Blicke der anderen Händler zu erleben. Neulinge sah hier niemand gern – von Kunden einmal abgesehen. Zu riskant. Man konnte nie wissen, ob jemand von den Wächtern geschickt wurde und sich nur in die Gemeinschaft einschlich, um sie im nächsten Augenblick zu verraten. Der Markt selbst war durch seine Lage als großzügiger Innenhof und eine Reihe verschiedener Schutzzauber perfekt getarnt, doch die Wächter mussten zumindest wissen, dass es ihn gab.
Es war eine merkwürdige Gemeinschaft, die sich hier jeden Tag aufs Neue versammelte. Menschen, die Waffen verkauften, die vonseiten der Wächter entweder verboten oder nur verdammt schwer auf dem freien Markt zu bekommen waren – in Gift getränkte Klingen, messerscharfe Bumerangs, die zuverlässig zu ihrem Besitzer zurückkehrten, verzauberte Stäbe, die es Nicht-Magiern erlaubten, in gewissem Maße Magie zu wirken. Elben, die seltene Pflanzen und Tiere im Angebot hatten, von bunt leuchtenden Schmetterlingen bis zu Rosen, die unvermittelt ihre Dornenranken um etwas schwangen und es nicht mehr losließen. Magier, die Amulette und anderen Kram verkauften, deren Zweck sie selbst oftmals nicht kannten – meine Kristallkugel beispielsweise. Oder die drei Vampire in der nördlichsten Ecke, die alte Bücher und Schriftstücke anboten. Nicht zu vergessen die immateriellen Angebote: Diese Frau mit dem fehlenden rechten Auge, die auf Wunsch Dinge in die Wächterburg oder gar in die Verliese dort brachte. Der Halb-Elbe, der immer verborgen im Schatten stand und an jedem Körperteil eine andere Waffe zu tragen schien. Was genau er anbot, hatte ich noch nicht herausgefunden – wahrscheinlich kümmerte er sich um gewisse Probleme. An ihm vorbeizulaufen, ließ mein Herz immer schneller schlagen. Es war fast so unangenehm wie bei der Gruppe ein paar Schritte neben ihm. An der Stelle hinter dem Waffenstand trafen sich Vampire und alle anderen Wesen. Menschen zumeist, die keine andere Lösung mehr sahen. Geld wechselte den Besitzer, sie verschwanden in den Schatten, und kehrten kurz darauf wieder. Die Vampire meist mit einem zufriedenen Lächeln, ihre Begleiter blass und schwach auf den Beinen. Es war nicht verboten, sein Blut zu verkaufen. Auf dem freien Markt gab es einen ähnlichen Stand, doch dort wurde streng überwacht, wie viel man verkaufte. Auf dem Schwarzmarkt gab es keine solche Regulierung; man konnte deutlich mehr verdienen, doch es war schon vorgekommen, dass jemand das Ganze nicht überlebt hatte.
Es hätte eine gute Gemeinschaft sein können, die zwar nicht jedem vertraute, aber doch auf ihre Art zusammenhielt – wären da nicht Raphael und seine Untergebenen. Irgendwie hatten sie es geschafft, die Kontrolle über den Schwarzmarkt an sich zu bringen. Wer hier etwas verkaufen wollte, musste es zu ihren Bedingungen tun, allem voran der monatliche Tribut. Im Gegenzug kümmerten sie sich darum, dass es keine Streitigkeiten gab, und sorgten angeblich dafür, dass die Wächter sich von uns fernhielten.
Womit ich wieder an dem Punkt war, von dem ich mich eigentlich ablenken wollte.
»Liv?«
Ich wirbelte herum, fest davon überzeugt, dass Raphael es sich anders überlegt und mir seine Leute hinterhergeschickt hatte. Einen Wimpernschlag später ging mir auf, dass die mich kaum mit Liv angesprochen hätten.
Linda senkte langsam den Blick auf das Messer an ihrer Kehle und trat einen Schritt zur Seite. »Wenn ich gewusst hätte, dass du heute so schreckhaft bist, hätte ich dich nicht angesprochen.«
»Entschuldige«, sagte ich. »Ich dachte, du wärst jemand anders.«
»Den hättest du damit aber sicher nicht eingeschüchtert.« Sie nahm mir kopfschüttelnd das Messer aus der Hand und fuhr kritisch mit dem Finger über die Klinge. »Scharf ist was anderes. Wann besorgst du dir endlich mal was Neues?«
Wenn ich genug Geld zusammengekratzt habe, um Raphael zu bezahlen, dachte ich resigniert. Vorher würde es eh keinen Sinn machen. Ich war bisher mit dem alten Messer ausgekommen, und das würde ich auch in Zukunft. Vorausgesetzt, ich hatte dann noch die Möglichkeit, eine eigene Waffe zu tragen. »Sobald ich das hier verliere, schätze ich.«
»Dafür kann ich sorgen«, sagte Linda. Sie hob den Arm, holte aus und hätte das Messer wohl weggeworfen, wenn ich ihr nicht in den Arm gefallen wäre. »Ganz ehrlich, Liv, wie willst du mal einen Kampf gewinnen? Du kannst nicht immer weglaufen.«
Ich wich ihrem Blick aus, während ich das Messer zurück an seinen Platz an meinem Gürtel schob. Weglaufen, darin war ich gut. Weitaus besser als im Kämpfen und es hatte noch keine Situation gegeben, in der ich mir das Gegenteil gewünscht hätte. Linda tickte da anders als ich. Wenn es zu einer gefährlichen Situation kam, ging sie eher darauf zu, als zu verschwinden, ganz nach ihrem Grundsatz: Wer zuerst angreift, siegt. Einmal waren wir gemeinsam nach Hause gegangen und von einer Gruppe Männer überrascht worden. Linda hatte mir etwas zugerufen, doch da war ich schon losgerannt, hatte sie allein zurückgelassen, um mich selbst zu retten. Als ich mich kurz umgedreht hatte, war sie gerade dabei, den Letzten der vier niederzuschlagen. Ich hätte zurückgehen können, doch in diesem Moment hatte ich mich zu sehr geschämt, um ihr wieder in die Augen zu sehen.
Manchmal fragte ich mich, ob sie mir meine Flucht übelgenommen hatte, es womöglich noch immer tat. Aber in ihrem Tonfall lag kein Vorwurf. Es war eine schlichte Feststellung.
»Weglaufen funktioniert überraschend gut«, erwiderte ich und setzte mich wieder in Bewegung.
»Ja, aber was ist, wenn du es nicht kannst? Wenn du in einer Sackgasse bist?« Linda schloss zu mir auf und warf mir einen fragenden Blick zu. »Willst du deinen Gegner dann freundlich bitten, dich vorbeizulassen?«
»Natürlich nicht! Etwas viel Besseres.«
»Ah ja?«
Ich setzte das beste ernste Gesicht auf, zu dem ich in der Lage war. »Ich würde die Wächter rufen.«
Linda zog die Augenbrauen so dicht zusammen, dass sie sich fast berührten. Ihr Blick glitt prüfend über mich, und fast erwartete ich, dass sie stehen bleiben, mich an den Schultern packen und kurzerhand schütteln würde. In Momenten wie diesen wurde besonders deutlich, dass in der Reihe ihrer Vorfahren ein Elb sein musste. Niemand sonst war in der Lage, derart verwirrt, verärgert und genervt zugleich auszusehen. »Das sollte hoffentlich ein Scherz sein.«
»Kein besonders guter«, räumte ich ein. »Mir ist nichts Besseres eingefallen.«
»Gut. Sie würden eh nicht rechtzeitig auftauchen.«
Zumal ich mir damit nur noch mehr Probleme bereiten würde. Abgesehen davon mochten die Wächter zwar dafür zuständig sein, für Recht und Ordnung zu sorgen, scheiterten dabei aber im Ostviertel grandios. Im Süd- und Nordviertel schafften sie es, im Westen meistens auch, aber in den ärmeren Gegenden hatten sie keine Chance. Wenn man nachts durch das Ostviertel ging, zweifelte man früher oder später daran, dass sie sich dort jemals blicken ließen. Wenn sie es täten, müsste man nicht mehr damit rechnen, alle paar Schritte überfallen zu werden.
Auf dem Schwarzmarkt mochte keiner die Wächter. Wie auch, wenn wir hier alle verbotenen Geschäften nachgingen? Würden wir alle ehrlich unser Geld verdienen, würden wir sie vermutlich anders wahrnehmen.
»Vielleicht auch doch«, antwortete ich halbherzig. »Sie würden es zumindest versuchen.«
»So, wie du versuchst, Raphael auszuweichen«, fügte Linda hinzu. Ich fuhr zusammen. Als ich ihren Blick erwiderte, war Lindas sonst leicht amüsierter Gesichtsausdruck einem ernsten gewichen. »Ich habe ihn aus deinem Zelt kommen sehen. Was wollte er von dir?«
»Raphael hat nicht besonders viele Gründe, jemandem einen Besuch abzustatten«, erwiderte ich leise.
»Und keiner davon ist angenehm, das musst du mir nicht erzählen. Ich bin länger hier als du, Liv, schon vergessen?« Sie nahm meinen Arm und zog mich mit erstaunlicher Kraft in den Zwischenraum hinter dem Stand, der Zaubertränke anbot. Der Platz reichte gerade so, um nicht mit den Schultern gegen die Wand zu stoßen. »Konntest du den Tribut nicht zahlen?«
Ich löste vorsichtig ihre Hand von meinem Arm und lehnte mich gegen die Wand des angrenzenden Hauses. Um diese Uhrzeit müssten die Steine angenehm kühl sein, doch als ich mit der Hand darüberfuhr, fühlten sie sich warm und glatt an. Der Schutzzauber ließ sich also auch hier nicht durchdringen. »Ich hatte gehofft, es würde nicht auffallen. Wenn man ein einziges Mal nicht zahlt … wie groß ist schon die Chance, dass er es bemerkt?«
»Eindeutig zu groß«, sagte Linda heftig. »Du weißt genau, dass er alles entdeckt, wenn es um sein Geld geht. Warum hast du mich nicht um Hilfe gebeten? Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dir etwas leihen können!«
Die Enttäuschung in ihrer Stimme traf mich härter als erwartet. Ich hatte damals darüber nachgedacht, ihr von meinen Problemen zu erzählen, doch ich wollte sie nicht ebenfalls in diesen Teufelskreis hereinziehen. Wenn Raphael erfahren hätte, dass sie mir geholfen hatte – und das hätte er mit Sicherheit –, hätte er das zum Anlass genommen, ihre Tributzahlungen zu erhöhen. Wer jemand anderem Geld leihen konnte, hatte offensichtlich genug, um ihm noch mehr zu zahlen. Linda war meine Freundin. Ich konnte es nicht über mich bringen, ihr weitere Probleme zu bereiten. »Ich wollte nicht, dass Raphael auch auf dich aufmerksam wird«, antwortete ich kleinlaut. »Diese Gelegenheit hätte er sich nicht entgehen lassen.«
»Dann hätten wir einen anderen Weg gefunden, Liv. Irgendeine Lösung hätte es gegeben. Aber jetzt …« Sie hielt inne, schloss die Augen und lehnte sich neben mich. »Wie viel will er?«
»Das dreifache«, antwortete ich zögernd. Dass dieser Vorschlag ursprünglich von mir gekommen war, verschwieg ich vorsichtshalber. Einen Besseren hätte ich von Raphael sowieso nicht bekommen. »Und ich habe drei Tage Zeit dafür.«
Linda stieß scharf die Luft aus und sah mich ungläubig an. »Das ist unmöglich.«
»Ansonsten hätte er dem Ganzen nicht zugestimmt«, murmelte ich. »Es muss machbar sein, irgendwie.«