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James Joyce

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Beschreibung

Nie war er lesbarer: ein Großklassiker der literarischen Moderne – neu übersetzt von Friedhelm Rathjen

Das Augenmerk dieses legendären Klassikers gilt nicht den Lichtgestalten, sondern den Stiefkindern des Glücks – den Sündern und Lügnern, den Bedrückten, Säufern und Schmarotzern. Wie der «Ulysses» lebt auch Joyce‘ Erstling «Dubliner» von der faszinierenden Atmosphäre seiner Vaterstadt. In fünfzehn Storys schildert der Autor darin das Alltagsleben einfacher Leute. Das Bahnbrechende daran: die nackte Realität wird von ihm weder beschönigt noch diffamiert. Um große Literatur zu schaffen, braucht Joyce keine spektakulären Schicksale. In der Welt der kleinen Leute findet er den Reiz ungeschminkter Wahrheiten und den Stoff, aus dem die wahren Dramen des menschlichen Daseins sind.

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«Die Dubliner sind die ideale Hin- und Einführung in den Joyce-Kosmos.» Ijoma Mangold

Um große Literatur zu schaffen, braucht James Joyce keine spektakulären Schicksale. In der Welt der kleinen Leute findet er den Reiz ungeschminkter Wahrheiten und den Stoff, aus dem die wahren Dramen des menschlichen Daseins sind. Das Augenmerk dieses legendären Klassikers gilt nicht den Lichtgestalten, sondern den Stiefkindern des Glücks, den Sündern und Lügnern, den Streunern, Säufern und Schmarotzern, die sich in den Pubs und dunklen Winkeln der Stadt herumtreiben: irische Originale allesamt. Ihre Alltagsfreuden und Nöte, ihre Triumphe, Hirngespinste und Finten komponiert James Joyce in fünfzehn Einzelporträts zu einem stimmungsvollen Panorama Dublins.

«Dies ist vielleicht die Essenz der delikaten Poetologie der Dubliner: Sie betrachten das Leben, sie überhöhen es nicht, sie finden Szenen, die für einen Moment wie Bilder anmuten, die doch irgendetwas symbolisieren müssen, aber es sind Epiphanien, die nicht ein Symbol für irgendetwas anderes sind, sondern das Leben selbst wie ferne Musik, die Erinnerungen weckt, heraufbeschwören.» Ijoma Mangold

James Joyce

DUBLINER

Aus dem irischen Englisch übersetzt von Friedhelm Rathjen

Auf der Grundlage der von Hans Walter Gabler edierten textkritischen Garland-Ausgabe von 1993

Nachwort von Ijoma Mangold

MANESSE VERLAG

Die Schwestern

Es gab keine Hoffnung für ihn diesmal: Es war der dritte Schlag. Nacht für Nacht war ich an dem Haus vorbeigegangen (es war Ferienzeit) und hatte das erleuchtete Fensterviereck studiert: Und Nacht für Nacht hatte ich es auf gleiche Weise erleuchtet gefunden, schwach und gleichmäßig. Wenn er tot wäre, dachte ich, würde ich den Widerschein von Kerzen auf dem verdunkelten Rollo sehen, wusste ich doch, dass zu Häupten eines Leichnams zwei Kerzen aufgestellt werden müssen.1 Er hatte oft zu mir gesagt: Ich bin nicht mehr lange von dieser Welt, und ich hatte seine Worte für nichtsnutziges Gerede gehalten. Nun wusste ich, dass sie wahr waren. Jede Nacht, wenn ich zu dem Fenster hochsah, sagte ich leise das Wort Paralyse2 vor mich hin. Es hatte mir immer befremdlich in den Ohren geklungen, so wie das Wort Gnomon im Euklid3 und das Wort Simonie4 im Katechismus. Nun aber klang es mir wie der Name eines böswilligen und sündigen Wesens. Es erfüllte mich mit Furcht, und doch wünschte ich mir, ihm näher zu sein und einen Blick auf sein tödliches Werk zu werfen.

Der alte Cotter saß rauchend am Feuer, als ich zum Abendessen runterkam. Während meine Tante mir den Haferbrei einschöpfte, sagte er, als käme er auf eine frühere Bemerkung zurück:

– Nein, ich würde nicht sagen, dass er direkt …. aber er hatte was irgendwie Komisches …. hatte was irgendwie Unheimliches an sich. Ich sag Ihnen mal meine Meinung dazu. …

Er begann, seine Pfeife zu paffen, zweifellos um sich dabei im Kopf seine Gedanken zurechtzulegen. Langweiliger alter Blödmann! Als wir ihn gerade kennengelernt hatten, war er noch ganz interessant gewesen, wie er so von Vor- und Nachbrand und Schlangen5 daherredete, aber dann ziemlich schnell wurde mir langweilig von ihm und seinen endlosen Geschichten über die Brennerei.

– Ich hab so meine eigene Theorie dazu, sagt er. Ich denk, das war einer von diesen … absonderlichen Fällen. … Ist aber schwer zu sagen. …

Er begann wieder, seine Pfeife zu paffen, ohne uns seine Theorie auseinanderzusetzen. Mein Onkel bemerkte meinen starren Blick und sagte zu mir:

– Also, das wirst du jetzt nicht gern hören, aber dein alter Freund ist nicht mehr.

– Wer?, sagte ich.

– Pater Flynn.

– Ist er tot?

– Mr. Cotter hier hat’s uns gerade erzählt. Er ist an dem Haus vorbeigekommen.

Ich wusste, dass ich unter Beobachtung stand, drum aß ich einfach weiter, als würde mich die Neuigkeit gar nicht interessieren. Mein Onkel erklärte dem alten Cotter:

– Der Bengel und er waren beste Freunde. Der alte Knabe hat ihm eine Menge beigebracht, müssen Sie wissen; und man sagt, er habe einen ziemlichen Narren an ihm gefressen.

– Gott sei seiner Seele gnädig, sagte meine Tante fromm.

Der alte Cotter betrachtete mich ein Weilchen. Ich spürte, dass mich seine kleinen schwarzen Knopfaugen musterten, aber ich würde ihm nicht den Gefallen tun, von meinem Teller aufzuschauen. Er wandte sich wieder seiner Pfeife zu und spuckte schließlich derb in den Kaminrost.

– Ich würde das nicht wollen, sagte er, dass meine Kinder, wenn ich welche hätte, sich zu viel mit so einem abgeben.

– Wie meinen Sie das, Mr. Cotter?, fragte meine Tante.

– Ich meine einfach, sagte der alte Cotter, das ist schlecht für Kinder. Meine Haltung dazu ist: Soll ein junger Bengel mal lieber losgehen und mit jungen Bengeln in seinem Alter spielen und nicht … Hab ich nicht recht, Jack?

– Das ist auch mein Grundsatz, sagte mein Onkel. Soll er mal lernen, sich allein durchzuschlagen. Genau das sag ich auch immer zu diesem Rosenkreuzer6 da: Beweg deine Glieder. Na, als ich so ein Jungspund war, da hab ich jeden einzelnen Morgen kalt gebadet, Winter wie Sommer. Und genau das kommt mir heute zugute. Bildung mag ja schön und gut sein. … Vielleicht mag Mr. Cotter mal einen Bissen von dem Hammelbein nehmen, fügte er an meine Tante gewandt hinzu.

– Nein, nein, bloß keine Umstände meinetwegen, sagte der alte Cotter.

Meine Tante holte die Platte aus dem Speiseschrank und stellte sie auf den Tisch.

– Aber warum meinen Sie, dass das nicht gut für Kinder ist, Mr. Cotter?, fragte sie.

– Das ist schlecht für Kinder, sagte der alte Cotter, weil ihr Verstand sich so leicht beeindrucken lässt. Wenn Kinder solche Sachen zu sehen kriegen, wissen Sie, dann tut das seine Wirkung. ….

Ich stopfte mir den Mund mit Haferbrei voll vor lauter Angst, meinen Ärger sonst nicht für mich behalten zu können. Langweiliger alter rotnasiger Volltrottel!

Es war schon spät, als ich einschlief. Obwohl ich wütend auf den alten Cotter war, weil er mich als kleines Kind hingestellt hatte, zerbrach ich mir doch den Kopf im Bemühen, seinen unvollendeten Sätzen ihren Sinn zu entreißen. Im Dunkel meines Zimmers stellte ich mir vor, ich sähe wieder das schwere graue Gesicht des Paralytikers. Ich zog mir die Decken über den Kopf und versuchte, an Weihnachten zu denken. Das graue Gesicht aber verfolgte mich immer noch. Es murmelte, und ich begriff, dass es etwas zu beichten wünschte. Ich spürte, wie meine Seele sich in eine schöne und üble Region zurückzog, und dort fand ich es wiederum auf mich warten. Es fing an, mir mit Murmelstimme zu beichten, und ich fragte mich, warum es unablässig lächelte und warum die Lippen so feucht von Speichel waren. Dann aber erinnerte ich mich, dass es an Paralyse gestorben war, und ich spürte, dass auch ich selbst schwach lächelte, als wolle ich diesen Simonisten von seiner Sünde lossprechen.7

Am nächsten Morgen ging ich nach dem Frühstück los, um mir das kleine Haus in der Great Britain Street8 anzuschauen. Es war ein bescheidener Laden, der unter der vagen Bezeichnung Tuchwaren lief. Die Tuchwaren bestanden größtenteils aus Kinderstrickstiefeln und Regenschirmen, und an normalen Tagen hing immer ein Schild im Fenster, auf dem stand: Neubespannung von Schirmen. Jetzt war kein Schild zu sehen, weil die Fensterläden vor waren. Ein Trauergesteck war mit einer Kranzschleife am Türklopfer angebracht worden. Zwei arme Frauen und ein Telegrammjunge lasen die Karte, die an dem Gesteck befestigt war. Ich trat ebenfalls davor und las:

1. Juli 1895

Hochw. James Flynn (früher S. Catherine’s Church, Meath Street) im Alter von fünfundsechzig Jahren.

R. I. P.

Die Lektüre der Karte überzeugte mich davon, dass er tot war, und zu meiner Bestürzung wusste ich nicht weiter. Wäre er nicht tot gewesen, so wäre ich in das kleine dunkle Zimmer hinter dem Laden gegangen und hätte ihn in seinem Sessel am Feuer sitzend vorgefunden, beinahe erstickt von seinem Wintermantel. Womöglich hätte meine Tante mir ein Päckchen High Toast9 für ihn mitgegeben, und dieses Geschenk hätte ihn aus seinem dumpfen Dämmern erweckt. Immer war ich derjenige, der das Päckchen in seine schwarze Schnupftabaksdose entleerte, denn seine Hände zitterten zu sehr, als dass ihm dies möglich gewesen wäre, ohne den halben Tabak auf dem Fußboden zu verschütten. Schon wenn er sich seine große zittrige Hand an die Nase hob, rieselten ihm kleine Wolken durch die Finger vorne auf den Mantel. Vielleicht waren es diese ständigen Tabakschauer, die seinen altehrwürdigen Priestergewändern ihr grünes verschossenes Aussehen verliehen, dann das rote, stets von den Schnupfflecken einer Woche geschwärzte Taschentuch, mit dem er die herabgefallenen Krümel wegzuwischen versuchte, war ziemlich wirkungslos.

Ich wäre gern reingegangen und hätte ihn mir angesehen, aber mir fehlte der Mut, zu klopfen. Ich ging langsam auf der besonnten Straßenseite davon und las im Gehen all die Theateranzeigen in den Schaufenstern. Ich fand es befremdlich, dass weder ich noch der Tag in Trauerstimmung schien, und ich verspürte sogar Verärgerung, als ich in mir ein Gefühl von Freiheit bemerkte, als wäre ich durch seinen Tod von etwas befreit worden. Das verwunderte mich, denn wie durch meinen Onkel letzte Nacht erwähnt worden war, hatte er mir eine ganze Menge beigebracht. Er hatte am Irischen Kolleg in Rom10 studiert und mir beigebracht, wie man das Lateinische richtig ausspricht. Er hatte mir Geschichten über die Katakomben11 und über Napoleon Bonaparte12 erzählt, und er hatte mir die Bedeutung der unterschiedlichen Zeremonien der Messe und der unterschiedlichen vom Priester getragenen Gewänder erklärt. Gelegentlich hatte er sich den Spaß gemacht, mir knifflige Fragen zu stellen; hatte etwa von mir wissen wollen, was man unter bestimmten Umständen zu tun habe oder ob diese oder jene Sünden Todsünden oder lässliche Sünden oder bloß Unvollkommenheiten wären. Seine Fragen zeigten mir, wie kompliziert und geheimnisvoll bestimmte Regularien der Kirche waren, die ich immer für einfachste Abläufe gehalten hatte. Die Pflichten des Priesters gegenüber der Eucharistie13 und gegenüber dem Beichtgeheimnis kamen mir so schwerwiegend vor, dass ich mich fragte, wie wohl irgendwer jemals den Mut hatte aufbringen können, sie auf sich zu nehmen: und ich war nicht überrascht, als er mir erzählte, die Kirchenväter hätten Bücher geschrieben, so dick wie das Postadressbuch und so kleingedruckt wie die Gerichtsbekanntmachungen in der Zeitung, um diese ganzen verwickelten Fragen aufzuklären. Häufig vermochte ich, wenn ich das bedachte, keine Antwort zu geben oder nur eine ganz dumme und zögerliche, woraufhin er dann lächelte und zwei-, dreimal mit dem Kopf nickte. Manchmal ging er die Responsorien der Messe mit mir durch, die er mich hatte auswendig lernen lassen: Und während ich sie aufsagte, lächelte er dann versonnen und nickte mit dem Kopf, wobei er von Zeit zu Zeit abwechselnd in jedes Nasenloch gewaltige Prisen Schnupftabak schob. Wenn er lächelte, entblößte er immer seine großen verfärbten Zähne und ließ die Zunge auf der Unterlippe liegen – eine Angewohnheit, die mir zu Beginn unserer Bekanntschaft, bevor ich richtig mit ihm vertraut war, Unbehagen bereitet hatte.

Während ich in der Sonne vor mich hin ging, fielen mir die Worte des alten Cotter ein, und ich versuchte, mich drauf zu besinnen, was hinterher im Traum passiert war. Ich erinnerte mich, dass mir lange Samtvorhänge und eine schaukelnde Hängelampe altertümlicher Machart aufgefallen waren. Ich hatte das Gefühl, ganz weit weg gewesen zu sein, in einem Land mit fremdartigen Gebräuchen, in Persien, wie mir schien. …. Aber auf das Ende des Traums konnte ich mich nicht besinnen.

Am Abend nahm meine Tante mich mit auf Besuch ins Trauerhaus. Es war schon nach Sonnenuntergang, aber die Fensterscheiben der Häuser mit Blick nach Westen spiegelten das rötliche Gold einer großen Wolkenbank. Nannie empfing uns im Flur, und da es ungehörig gewesen wäre, auf sie einzuschreien, gab meine Tante ihr einfach in aller Namen die Hand. Die Alte zeigte fragend nach oben und stieg auf das Nicken meiner Tante hin mühsam vor uns die schmale Treppe rauf, wobei ihr gebeugter Kopf kaum das Treppengeländer überragte. Auf dem ersten Absatz blieb sie stehen und wies uns ermutigend zur offenen Tür des Totenzimmers. Meine Tante trat ein, und die Alte, die mich vor dem Eintreten zögern sah, fing wiederum an, mir ermutigende Zeichen mit der Hand zu machen.

Ich ging auf Zehenspitzen hinein. Der Raum war durch den Spitzensaum des Rollos in ein dämmeriges goldenes Licht getaucht, in dem die Kerzen wie fahle dünne Flammen aussahen. Er war eingesargt worden. Nannie machte den Anfang, und wir drei knieten am Fußende des Bettes nieder. Ich tat so, als würde ich beten, aber ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, da das Gemurmel der Alten mich ablenkte. Mir fiel auf, wie ungeschickt ihr Rock hinten zugehakt war und dass die Absätze ihrer Stoffschuhe beide nach einer Seite abgetreten waren. Mir kam es unwillkürlich so vor, als lächelte der alte Priester, wie er da in seinem Sarg lag.

Aber nein. Als wir uns erhoben und zum Kopfende des Bettes traten, sah ich, dass er nicht lächelte. Da lag er, ernst und füllig, angekleidet wie für den Altar, in den großen Händen locker einen Kelch haltend. Sein Gesicht war ganz grimmig, grau und massig, mit schwarzen höhlenhaften Nasenlöchern und eingefasst in einen spärlichen weißen Pelz. Es hing ein schwerer Geruch im Zimmer, die Blumen.

Wir bekreuzigten uns und gingen. In dem kleinen Zimmer unten fanden wir Eliza in seinem Sessel thronen. Ich ertastete mir den Weg zu meinem gewohnten Stuhl in der Ecke, während Nannie zur Anrichte ging und eine Karaffe Sherry und einige Weingläser rausholte. Diese stellte sie auf den Tisch und lud uns zu einem Gläschen Wein ein. Auf Geheiß ihrer Schwester schenkte sie dann den Sherry in die Gläser und reichte sie uns. Sie nötigte mich, mir auch ein paar Butterkekse zu nehmen, aber ich lehnte ab, weil ich dachte, beim Essen würde ich zu laute Geräusche machen. Sie schien über meine Ablehnung ein wenig enttäuscht und ging still zum Sofa rüber, wo sie sich hinter ihre Schwester setzte. Niemand sagte etwas: Wir alle starrten in die leere Feuerstelle.

Meine Tante wartete, bis Eliza seufzte, und sagte dann:

– Na, jetzt ist er also in eine bessere Welt eingegangen.

Eliza seufzte wiederum und neigte zustimmend den Kopf. Meine Tante befingerte den Stiel ihres Weinglases, bevor sie ein klein wenig nippte.

– Ist er friedlich …?, fragte sie.

– O, ganz friedlich, Ma’am, sagte Eliza. Man merkte gar nicht, als er den letzten Atemzug tat. Er hatte einen schönen Tod, Gott sei gelobt.

– Und alles …?

– Pater O’Rourke war am Dienstag bei ihm und hat ihn gesalbt und ihn vorbereitet und so weiter.

– Er wusste also Bescheid?

– Er war ganz gefasst.

– Er sieht auch ganz gefasst aus, sagte meine Tante.

– Das hat die Frau auch gesagt, die hier war, um ihn zu waschen. Sie sagte, er sähe ganz aus, als schlafe er, so friedlich und gefasst sähe er aus. Das hätte keiner gedacht, dass der so einen schönen Leichnam abgibt.

– Wohl wahr, sagte meine Tante.

Sie nippte wieder ein wenig an ihrem Glas und sagte:

– Also, Miss Flynn, jedenfalls muss es sehr tröstlich für Sie sein, zu wissen, dass Sie für ihn getan haben, was Sie nur konnten. Sie waren beide sehr gut zu ihm, muss ich schon sagen.

Eliza strich sich ihr Kleid über den Knien glatt.

– Ach, der arme James!, sagte sie. Weiß Gott, wir haben alles getan, was wir nur konnten, so arm wir auch sind. Wir wollten’s ihm an nichts fehlen lassen, solange er da war.

Nanny hatte ihren Kopf ans Sofakissen gelehnt und schien drauf und dran, einzuschlafen.

– Arme Nannie aber auch, sagte Eliza mit einem Blick auf sie, die ist ganz fertig. Diese ganze Arbeit, die wir damit hatten, sie und ich, die Frau herzukriegen, die ihn gewaschen hat, und dann ihn aufzubahren und dann der Sarg und dann alles zu regeln von wegen der Messe in der Kapelle! Wär Pater O’Rourke nicht gewesen, ich weiß gar nicht, was wir dann bloß gemacht hätten. Der hat uns die ganzen Blumen da rangeschafft und die beiden Kerzenständer aus der Kapelle und hat die Anzeige für den Freeman’s General14 geschrieben und sich um die ganzen Papiere für den Friedhof gekümmert und die Versicherung von dem armen James.

– War das nicht nett von ihm?, sagte meine Tante.

Eliza schloss die Augen und schüttelte langsam den Kopf.

– Ach, mit alten Freunden kann doch keiner mithalten, sagte sie, so alles in allem, sonst keiner, auf den wirklich Verlass ist.

– Wohl wahr, so ist es, sagte meine Tante. Und ich bin mir sicher, wo er jetzt dahingegangen ist, um seinen ewigen Lohn zu empfangen, da wird er Sie und all Ihre Güte nicht vergessen.

– Ach, der arme James!, sagte Eliza. Der hat uns gar keine großen Umstände gemacht. Von dem hörte man im ganzen Haus nicht mehr als jetzt. Trotzdem weiß ich, dass er dahingegangen ist und all das …

– Richtig vermissen werden Sie ihn wohl erst, wenn das alles vorbei ist, sagte meine Tante.

– Das weiß ich, sagte Eliza. Ich werd ihm nie mehr seine Tasse Fleischbrühe bringen und Sie, Ma’am, werden ihm nie mehr seinen Schnupftabak schicken. Ach, der arme James!

Sie hielt inne, als kommuniziere sie mit der Vergangenheit, und sagte dann vorwitzig:

– Wohlgemerkt, ich hab wohl mitgekriegt, dass er in letzter Zeit manchmal so was Komisches an sich hatte. Wenn ich ihm da seine Suppe reinbrachte, fand ich ihn immer mit offenem Mund in seinem Sessel zurückgesunken, und das Brevier war ihm zu Boden gefallen.

Sie legte sich einen Finger an die Nase und runzelte die Stirn: Dann fuhr sie fort:

– Aber trotz alledem hat er doch immer gesagt, bevor der Sommer um wär, würd er eines schönen Tages eine Ausfahrt machen, bloß um das alte Haus wiederzusehen, wo wir alle geboren sind, unten in Irishtown15, und Nanny und mich mitnehmen. Wenn wir bloß mal eine von diesen neumodischen Kutschen kriegen könnten, die wo keinen Lärm machen, wo Pater O’Rourke ihm von erzählt hat – mit den rheumatischen Rädern16 –, für billigen Tagessatz, hat er gesagt, bei Johnny Rush von gegenüber, und damit rausfahren könnten, wir alle drei zusammen, an einem Sonntagabend mal. Das hatte er sich so in den Kopf gesetzt. … Der arme James!

– Der Herr sei seiner Seele gnädig!, sagte meine Tante.

Eliza holte ihr Taschentuch hervor und wischte sich damit die Augen. Dann steckte sie es sich wieder in die Tasche und gaffte eine Zeitlang in den leeren Kaminrost, ohne etwas zu sagen.

– Er war immer viel zu sehr voller Bedenken, sagte sie. Die Pflichten des Priesteramtes waren einfach zu viel für ihn. Und dann war ja sein Leben, wie man sagen könnte, durchkreuzt.

– Ja, sagte meine Tante, er war ein enttäuschter Mensch. Das konnte man sehen.

Schweigen bemächtigte sich des kleinen Zimmers, und unter seiner Deckung trat ich zum Tisch vor und nippte an meinem Sherry und kehrte dann still zu meinem Stuhl in der Ecke zurück. Eliza schien tief in einen Tagtraum versunken. Wir warteten respektvoll, dass sie das Schweigen brach: Und nach einer langen Pause sagte sie bedächtig:

– Das war dieser Kelch, den er zerbrochen hat. … Damit fing das alles an. Stimmt schon, es heißt, dass alles in Ordnung sei, dass nichts drin gewesen wär, mein ich. Aber trotzdem …… Es heißt, das sei die Schuld von dem Jungen gewesen. Aber der arme James war so nervös, Gott sei ihm gnädig!

– Und das war es also?, sagte die Tante. Gehört hab ich so was. ……

– Das hat seinen Kopf in Mitleidenschaft gezogen, sagte sie. Danach fing er dann an, ganz für sich Trübsal zu blasen, mit keinem mehr zu sprechen und bloß noch allein rumzulaufen. Dann einmal nachts wurde er gebraucht, um einen Besuch zu machen, und sie konnten ihn nirgendwo finden. Die haben an allen Ecken und Enden gesucht und konnten ihn doch nicht finden, nirgendwo eine Spur von ihm. Da hat dann der Küster vorgeschlagen, es mal in der Kapelle zu versuchen. Besorgten sie sich also die Schlüssel und machten die Kapelle auf, und der Küster und Pater O’Rourke und noch ein anderer Priester, der mit dabei war, sind mit einer Lampe rein, um nach ihm zu suchen. … Und stellen Sie sich vor, da war er tatsächlich, hockte ganz allein im Dunkeln in seinem Beichtstuhl, hellwach, und als würd er sich leise eins ins Fäustchen lachen.

Sie hielt plötzlich inne, als horche sie. Auch ich horchte, aber da gab es im ganzen Haus kein Geräusch, und ich wusste, dass der alte Priester still in seinem Sarg lag, wie wir ihn gesehen hatten, ernst und grimmig im Tod, einen nichtsnutzigen Kelch auf der Brust.

Eliza fuhr fort:

– Hellwach, und als würd er sich eins ins Fäustchen lachen. … Und da, klar, als sie das sahen, da mussten sie natürlich denken, dass da etwas nicht mehr stimmt mit ihm. …

Eine Begegnung

Es war Joe Dillon, der uns mit dem Wilden Westen bekannt machte. Er hatte eine kleine Bibliothek, bestehend aus alten Nummern von TheUnionJack, Pluck und TheHalfpennyMarvel.17 Allabendlich nach der Schule trafen wir uns bei ihm im Garten hinter dem Haus und trugen Indianerkämpfe aus. Er und sein dicker jüngerer Bruder Leo, der Nichtsnutz, verteidigten den Heuboden des Stalls, während wir versuchten, ihn im Sturm zu nehmen; oder wir fochten auf der Wiese eine offene Feldschlacht aus. Aber so famos wir auch kämpften, gingen wir doch nie als Sieger aus der Belagerung oder Schlacht hervor, und alle unsere Gefechte endeten mit dem Kriegstanz des siegreichen Joe Dillon. Seine Eltern gingen jeden Morgen zur Acht-Uhr-Messe in der Gardiner Street18, und die friedvollen Düfte von Mrs. Dillon beherrschten den Flur des Hauses. Joe aber spielte zu wild für uns, die wir jünger und furchtsamer waren. Er sah tatsächlich aus wie so ein Indianer, wenn er im Garten herumsprang, einen alten Teewärmer auf dem Kopf, mit der Faust auf eine Blechdose eindrosch und kreischte:

– Ya! Yaka, yaka, yaka!

Keiner mochte es glauben, als es hieß, er fühle sich zum Priester berufen. Trotzdem stimmte es.

Ein Geist der Widerspenstigkeit machte sich unter uns breit, unter dessen Einfluss Unterschiede in Bildung und Temperament gegenstandslos wurden. Wir rotteten uns zusammen, manche kühn, manche aus Spaß und manche beinahe ängstlich: Und zu dieser letzteren Gruppe, den widerstrebenden Indianern, die nur Angst hatten, wie Streber oder Schwächlinge zu wirken, gehörte ich. Die in den Schriften vom Wilden Westen geschilderten Abenteuer waren mir wesensfremd, aber wenigstens stießen sie mir Türen zur Flucht auf. Besser gefielen mir bestimmte amerikanische Detektivgeschichten, in denen von Zeit zu Zeit zerzauste wilde und schöne Mädchen auftauchten. Obwohl diese Geschichten gar nicht weiter schlimm waren und obwohl sie manchmal literarische Ambitionen verfolgten, kursierten sie in der Schule nur unter der Hand. Eines Tages, als Pater Butler die vier Seiten römische Geschichte abhörte, wurde der tollpatschige Leo Dillon mit einer Ausgabe von The Halfpenny Marvel erwischt.

– Diese Seite oder diese Seite? Diese Seite? Los, Dillon, hoch mit dir! Kaum war der Tag … Weiter! Welcher Tag? Kaum war der Tag angebrochen …. Hast du das gelernt? Was hast du da in der Tasche?

Alle bekamen Herzrasen, als Leo Dillon das Heft rausrückte, und alle setzten ein unschuldiges Gesicht auf. Pater Butler blätterte stirnrunzelnd darin.

– Was ist das für ein Schund?, sagte er. DerApatschenhäuptling! Und dergleichen liest du, statt deine römische Geschichte zu studieren? Derlei erbärmliches Zeugs will ich in diesem College nicht noch einmal finden. Der, der das geschrieben hat, möchte ich annehmen, war irgendein erbärmlicher Schmierer, der solche Sachen für einen Drink schreibt. Ich bin überrascht, dass Jungs wie ihr, gebildete Jungs, solches Zeug lest. Verstehen würde ich es, wäret ihr …. Jungs an einer staatlichen Schule.19 Also, Dillon, ich rate dir nachdrücklich, mach dich an deine Arbeit, ansonsten ….

Diese Zurechtweisung im Verlauf der nüchternen Schulstunden ließ für mich viel von den Herrlichkeiten des Wilden Westens verblassen, und das bestürzte aufgedunsene Gesicht von Leo Dillon weckte eines meiner Gewissen. Als aber der zähmende Einfluss der Schule entrückt war, erwachte wieder mein Hunger nach wilden Sinneseindrücken, nach den Ausflüchten, die mir allein diese Chroniken des gesetzlosen Chaos zu bieten schienen. Die unechten Kriegsspiele am Abend wurden mir schließlich ebenso langweilig wie die Schulroutine am Morgen, weil ich wollte, dass mir echte Abenteuer widerfuhren. Echte Abenteuer aber, überlegte ich, widerfahren nicht Leuten, die zu Hause bleiben: Sie wollen draußen in der Fremde gesucht werden.

Die Sommerferien waren schon zum Greifen nahe, als ich den Entschluss fasste, wenigstens für einen Tag aus der Langeweile des Schulalltags auszubrechen. Mit Leo Dillon und einem Jungen namens Mahony plante ich, einen Tag zu schwänzen. Jeder von uns sparte sich einen Sixpence. Wir wollten uns morgens um zehn auf der Kanalbrücke treffen. Mahonys große Schwester sollte ihm eine Entschuldigung schreiben, und Leo Dillon sollte seinem Bruder auftragen, zu sagen, er sei krank. Wir kamen überein, die Wharf Road entlangzugehen, bis wir zu den Schiffen kamen, dann mit der Fähre überzusetzen und ganz rauszuwandern, um uns das Pigeon House20 anzusehen. Leo Dillon hatte Angst, wir könnten Pater Butler oder jemandem aus dem College begegnen, aber Mahony stellte die sehr vernünftige Frage, was Pater Butler wohl draußen am Pigeon House treiben solle. So waren wir wieder beruhigt: Und ich brachte die erste Stufe des Plans zum Abschluss, indem ich von den beiden anderen ihre Sixpence einsammelte und ihnen gleichzeitig meinen eigenen Sixpence zeigte. Als wir am Vorabend unsere letzten Vorkehrungen trafen, waren wir alle vage erregt. Lachend gaben wir uns die Hand, und Mahony sagte:

– Bis morgen, Kumpels!

In jener Nacht schlief ich schlecht. Am Morgen war ich als erster an der Brücke, weil ich am nächsten dran wohnte. Ich versteckte meine Bücher im hohen Gras unweit der Aschengrube ganz hinten im Garten, wo nie jemand hinkam, und flitzte das Kanalufer entlang. Es war ein milder sonniger Morgen in der ersten Juniwoche. Ich hockte mich oben auf die Brüstung der Brücke, bewunderte meine anfälligen Leinenschuhe, die ich über Nacht eifrig mit Pfeifenton geweißt hatte, und sah zu, wie die fügsamen Pferde eine Straßenbahnladung Geschäftsleute den Hügel raufzogen. Alle Zweige der hohen Bäume, die die Promenade säumten, protzten heiter mit kleinen hellgrünen Blättern, und das Sonnenlicht fiel schräg hindurch aufs Wasser. Der Granitstein der Brücke wurde langsam warm, und ich fing an, im Takt einer Melodie in meinem Kopf mit den Händen drauf zu klatschen. Ich war sehr glücklich.

Als ich fünf oder zehn Minuten lang so dagesessen hatte, sah ich Mahonys grauen Anzug daherkommen. Er lief den Hügel rauf, immer lächelnd, und kraxelte neben mir auf die Brücke. Während wir warteten, holte er die Schleuder raus, die seine Innentasche ausbeulte, und erklärte mir einige Verbesserungen, die er daran vorgenommen hatte. Ich fragte ihn, warum er sie mitgebracht habe, und er erzählte, er habe sie mitgebracht, um bei den Vögeln Mordsrabatz zu machen. Mahony gebrauchte ohne Hemmungen Jargonausdrücke und nannte Pater Butler immer den Bunsenbrenner. Wir warteten noch eine Viertelstunde, aber von Leo Dillon war immer noch nichts zu sehen. Schließlich sprang Mahony runter und sagte:

– Komm, los. Wusste doch, dass der Pummel Schiss kriegen würd.

– Und sein Sixpence …?, sagte ich.

– Hat er klar verwirkt, sagte Mahony. Umso besser für uns – Shilling und halber statt bloß einem allein.

Wir gingen die North Strand Road entlang, bis wir zur Vitriolfabrik kamen, und bogen dann rechts ab, die Wharf Road entlang. Mahony fing an, Indianer zu spielen, sobald wir außer Sichtweite der Leute waren. Er jagte eine Schar Lumpenmädel21, wobei er mit seiner ungeladenen Schleuder rumfuchtelte, und als zwei Lumpenjungs aus Ritterlichkeit anfingen, Steine nach uns zu schmeißen, schlug er vor, wir sollten sie angreifen. Ich protestierte, die Jungs seien zu klein, also gingen wir einfach weiter, und die Lumpentruppe rief uns Blauköppe! Blauköppe!22 nach, sie hielten uns nämlich für Protestanten, weil Mahony, der eine dunkle Hautfarbe hatte, das silberne Abzeichen eines Kricketclubs an seiner Mütze trug. Als wir beim Plätteisenfels23 ankamen, inszenierten wir eine Belagerung, aber das ging schief, weil man dafür wenigstens zu dritt sein muss. Wir rächten uns an Leo Dillon, indem wir sagten, was für ein Schisser er doch wär, und zu raten versuchten, wie viel er um drei Uhr von Mr. Ryan übergezogen kriegen würde.

Dann näherten wir uns dem Fluss. Wir brachten viel Zeit damit zu, in den von hohen Steinmauern flankierten lärmigen Straßen herumzulaufen, schauten dem Betrieb von Kränen und Maschinen zu und wurden dauernd von den Kutschern ächzender Wagen angebrüllt, denen wir im Weg waren. Es war Mittag, als wir zu den Kais kamen, und da alle Arbeiter ihre Mahlzeiten einzunehmen schienen, kauften wir uns zwei große Rosinenbrötchen und setzten uns zum Essen auf ein paar Metallrohre am Flussufer. Wir ergötzten uns am Schauspiel des Dubliner Handels – den Lastkähnen, die schon von Weitem an ihren Kringeln wolligen Rauchs zu erkennen waren, der braunen Fischereiflotte hinter Ringsend24, dem großen weißen Segelschiff, das am gegenüberliegenden Kai gelöscht wurde. Mahony sagte, es wär sicher ’ne Wucht, auf einem dieser großen Schiffe zur See durchzubrennen, und selbst ich sah oder malte mir beim Betrachten der hohen Masten aus, wie die Geografie, die mir in der Schule nur oberflächlich vermittelt worden war, unter meinen Augen nach und nach konkrete Formen annahm. Schule und Zuhause schienen uns zu entrücken, ihr Einfluss auf uns schien zu schwinden.

Wir überquerten die Liffey mit der Fähre, zahlten unser Fahrgeld, um uns in Gesellschaft zweier Arbeiter und eines kleinen Juden mit einer Tasche übersetzen zu lassen. Wir waren ernst bis zur Feierlichkeit, aber einmal während der kurzen Überfahrt begegneten sich unsere Blicke, und wir lachten. Als wir drüben ankamen, schauten wir beim Löschen des eleganten Dreimasters zu, den wir vom gegenüberliegenden Kai aus gesehen hatten. Einer der Schaulustigen sagte, es sei ein norwegisches Schiff. Ich ging ans Heck und versuchte, die Aufschrift zu entziffern, aber da mir dies nicht gelang, kehrte ich zurück und musterte die fremdländischen Matrosen, um mal zu sehen, ob welche von denen grüne Augen hatten, ich hatte nämlich recht konfuse Vorstellungen ……. Die Augen der Matrosen waren blau und grau und sogar schwarz. Der einzige Matrose, dessen Augen man grün hätte nennen können, war ein hoch aufgeschossener Mann, der die Menschenmenge auf dem Kai damit belustigte, dass er jedes Mal, wenn die Planken fielen, fröhlich ausrief:

– Alles klar! Alles klar!

Als wir dieses Anblicks müde waren, schlenderten wir langsam nach Ringsend rein. Der Tag war schwül geworden, und in den Fenstern der Lebensmittelläden lagen verbleichende muffige Kekse. Wir kauften uns ein paar Kekse und Schokolade, die wir gierig verzehrten, während wir durch die schmuddeligen Straßen schlenderten, wo die Familien der Fischer wohnen. Wir konnten kein Milchgeschäft finden, drum gingen wir in einen Hökerladen und kauften uns jeder eine Flasche Himbeerbrause. Davon erfrischt, jagte Mahony eine Katze eine Gasse entlang, doch die Katze entkam auf ein offenes Feld. Wir fühlten uns beide ziemlich müde, und als wir das Feld erreichten, steuerten wir gleich eine schräge Böschung an, über deren Rand wir den Dodder25 sehen konnten.

Es war schon zu spät, und wir waren schon zu müde, um unser Vorhaben zu verwirklichen, das Pigeon House zu besuchen. Wir mussten bis vier Uhr zu Hause sein, damit unser Abenteuer nicht aufflog. Mahony musterte voller Bedauern seine Schleuder, und erst auf meinen Vorschlag hin, den Zug zurück nach Haus zu nehmen, wurde er wenigstens wieder ein bisschen fröhlicher. Die Sonne verschwand hinter einigen Wolken und überließ uns unseren ermatteten Gedanken und den Krümeln unseres Proviants.

Es war außer uns niemand auf dem Feld. Als wir ein Weilchen schweigend auf der Böschung gelegen hatten, sah ich vom anderen Ende des Felds einen Mann auf uns zukommen. Ich schaute ihm träge zu, während ich auf einem dieser grünen Stängel herumkaute, anhand derer Mädchen die Zukunft vorhersagen. Er kam langsam die Böschung entlang. Beim Gehen hatte er die eine Hand an der Hüfte, und in der anderen hielt er einen Stock, mit dem er leicht aufs Gras schlug. Er war schäbig gekleidet, in einen grünlich schwarzen Anzug, und hatte das auf, was bei uns immer Bibihut hieß, oben ganz hoch. Er schien ziemlich alt zu sein, denn sein Schnurrbart war aschgrau. Als er unter unseren Füßen vorbeikam, warf er rasch einen kurzen Blick zu uns rauf und setzte seinen Weg dann fort. Wir folgten ihm mit den Augen und sahen, dass er, als er vielleicht fünfzig Schritte weiter war, kehrtmachte und langsam auf gleichem Weg zurückstapfte. Er kam sehr langsam auf uns zugelaufen, wobei er die ganze Zeit mit seinem Stock auf den Boden schlug, so langsam, dass ich dachte, er suche etwas im Gras.

Er blieb stehen, als er mit uns auf gleicher Höhe war, und wünschte uns einen guten Tag. Wir antworteten ihm, und er ließ sich langsam und mit großer Sorgfalt neben uns auf der Böschung nieder. Er fing an, vom Wetter zu reden, meinte, es werde ein sehr heißer Sommer, und fügte hinzu, die Jahreszeiten hätten sich gewaltig verändert, seitdem er ein Junge gewesen sei – vor sehr langer Zeit. Er sagte, die glücklichste Zeit im Leben sei zweifellos die als Schuljunge, und er gäbe alles in der Welt, um noch einmal jung zu sein. Während er diese Ansichten zum Besten gab, die uns ein bisschen langweilten, sagten wir nichts. Dann fing er an, von der Schule und von Büchern zu reden. Er fragte uns, ob wir die Gedichte von Thomas Moore gelesen hätten und die Werke von Sir Walter Scott und Lord Lytton.26 Ich tat so, als hätte ich jedes einzelne Buch gelesen, das er erwähnte, sodass er am Ende schließlich sagte:

– Ah, ich seh schon, du bist so ein Bücherwurm wie ich. Aber der da, fügte er hinzu und zeigte auf Mahony, der uns mit aufgerissenen Augen ansah, der ist anders. Der geht lieber spielen.

Er sagte, er habe alle Werke von Sir Walter Scott und alle Werke von Lord Lytton zu Hause und werde es nie leid, sie zu lesen. Natürlich, sagte er, wären unter den Werken von Lord Lytton einige, die Jungs nicht lesen könnten. Mahony fragte, warum denn Jungs die nicht lesen könnten – eine Frage, die mich aufregte und peinlich berührte, weil ich Angst hatte, der Mann würde denken, ich wär so dumm wie Mahony. Der Mann aber lächelte bloß. Ich sah, dass er zwischen seinen gelben Zähnen große Lücken im Mund hatte. Dann fragte er, wer von uns die meisten Schätzchen habe. Mahony antwortete leichthin, er habe drei Puppen. Der Mann fragte mich, wie viele ich hätte, und ich antwortete, ich hätte keine. Er glaubte mir nicht und sagte, er sei sich sicher, ich hätte bestimmt eine. Ich sagte nichts.

– Dann erzählen Sie doch mal, sagte Mahony vorlaut zu dem Mann, wie viele Sie selber haben.

Der Mann lächelte wie zuvor und sagte, in unserem Alter habe er jede Menge Schätzchen gehabt. Jeder Junge, sagte er, hat ein kleines Schätzchen.

Seine Einstellung in diesem Punkt kam mir für einen Mann seines Alters seltsam freimütig vor. Im Innersten fand ich das, was er über Jungs und Schätzchen gesagt hatte, ganz vernünftig. Aber ich schätzte die Worte nicht in seinem Munde und fragte mich, warum er ein- oder zweimal erschauderte, als fürchte er sich vor etwas oder verspüre ein plötzliches Frösteln. Als er weiterredete, fiel mir auf, dass seine Aussprache tadellos war. Er fing an, uns etwas über Mädchen zu erzählen, und betonte, was für feines weiches Haar die doch hätten und wie weich ihre Hände seien und dass, wenn man erst einmal dahintergekommen sei, die Mädchen allesamt gar nicht so brav seien, wie sie schienen. Nichts gefalle ihm so sehr, sagte er, wie der Anblick eines feinen jungen Mädels, ihrer feinen weißen Hände und ihres schönen weichen Haars. Er machte auf mich den Eindruck, als sage er etwas, was er auswendig gelernt hatte, wieder und wieder auf oder als bewegten sich seine Gedanken, magnetisiert von seinem eigenen Vortrag, auf immer derselben Umlaufbahn langsam im Kreis. Zeitweilig redete er, als spiele er einfach nur auf irgendeinen Sachverhalt an, über den jeder Bescheid wusste, und zeitweilig senkte er die Stimme und redete in Rätseln, als plauderte er uns irgendein Geheimnis aus, von dem er nicht wollte, dass es jemand mithörte. Er wiederholte seine Formulierungen ein ums andere Mal, variierte sie dabei und umkreiste sie mit seiner monotonen Stimme. Ich starrte unverwandt auf den Fuß der Böschung, während ich ihm zuhörte.

Nach einer ganzen Weile brach sein Monolog ab. Er erhob sich langsam und sagte, er müsse uns für ein Minütchen oder so allein lassen, ein paar wenige Minütchen, und ohne meine Blickrichtung zu verändern, sah ich ihn langsam von uns weg aufs nächstgelegene Ende des Feldes zu gehen. Wir sagten weiter kein Wort, als er weg war. Nach einigen wenigen Minuten des Schweigens hörte ich Mahony ausrufen:

– Also wirklich! Sieh dir bloß mal an, was der da treibt!

Da ich weder antwortete noch den Blick hob, rief Mahony noch einmal aus:

– Also wirklich …. Was für ein lächerlicher alter Trottel!

– Falls er uns nach unseren Namen fragt, sagte ich, bist du Murphy und ich Smith.

Weiter wechselten wir keine Worte. Während ich noch überlegte, ob ich weggehen solle oder nicht, kam der Mann zurück und ließ sich neben uns nieder. Er saß kaum, da sprang Mahony, der die Katze erblickte, die ihm entkommen war, auch schon auf und jagte ihr quer über das Feld nach. Der Mann und ich beobachteten die Verfolgungsjagd. Die Katze entwischte ihm wieder, und Mahony fing an, Steine nach der Mauer zu werfen, auf die sie geklettert war. Als er schließlich damit aufhörte, begann er, ziellos am anderen Ende des Felds umherzuwandern.

Nach einer Pause sprach mich der Mann an. Er sagte, mein Freund sei ein sehr grober Junge, und fragte, ob er in der Schule oft versohlt würde. Ich war schon drauf und dran, ihm zu sagen, dass wir nicht Jungs von der staatlichen Schule waren, die versohlt wurden, wie er das nannte; aber ich schwieg dann doch. Er fing an, über das Thema der Züchtigung von Jungs zu sprechen. Seine Gedanken schienen sich, wiederum wie magnetisiert von seinem eigenen Vortrag, langsam um ihren neuen Mittelpunkt im Kreis zu drehen. Er sagte, wenn es sich um solcherlei Jungs handelte, gehörten sie versohlt, und zwar kräftig versohlt. Wenn ein Junge grob und widerborstig sei, dann könne man ihm gar nicht anders beikommen als mit einer ordentlichen Tracht Prügel. Ein Klaps auf die Hand oder ein Knuff auf die Ohren tauge da gar nichts: Was er brauche, sei eine schöne beherzte Tracht Prügel. Ich war überrascht über diese Ansicht und musste ihm unwillkürlich ins Gesicht sehen. Als ich das tat, begegnete ich dem Blick zweier flaschengrüner Augen, die mich unter einer zuckenden Stirn heraus anstarrten. Ich wandte meinen Blick wieder ab.

Der Mann setzte seinen Monolog fort. Er schien seine freimütige Haltung von eben vergessen zu haben. Er sagte, wenn er jemals einen Jungen dabei erwische, mit Mädchen zu sprechen oder ein Mädchen als Schätzchen zu haben, würde er ihn versohlen und nochmals versohlen: Und das würde ihm eine Lehre sein, nicht mit Mädchen zu sprechen. Und wenn ein Junge ein Mädchen als Schätzchen habe und darüber nicht die Wahrheit sagte, dann würde er den so versohlen, wie noch kein Junge auf der ganzen weiten Welt versohlt worden war. Er sagte, nichts auf der Welt würde er lieber tun als das. Er beschrieb, wie er einen solchen Jungen versohlen würde, als eröffne er mir irgendein ausgeklügeltes Geheimnis. Liebend gern täte er das, sagte er, lieber als alles andere auf dieser Welt: Und seine Stimme wurde, als er mich monoton durch das Geheimnis führte, beinahe zärtlich und schien mich anzuflehen, ich möge ihn verstehen.

Ich wartete, bis sein Monolog wieder abbrach. Dann stand ich unvermittelt auf. Um mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen, zögerte ich meinen Aufbruch einige Augenblicke hinaus, indem ich so tat, als zöge ich mir die Schuhe richtig an, und dann sagte ich, nun müsse ich aber gehen, und wünschte ihm noch einen guten Tag. Ich erklomm die Böschung ganz ruhig, aber das Herz schlug mir schneller in der Brust vor lauter Angst, er könne mich bei den Knöcheln packen. Als ich oben auf der Böschung angekommen war, drehte ich mich um und rief, ohne ihn anzusehen, laut über das Feld:

– Murphy!

In meiner Stimme lag der Ton forcierten Heldenmuts, und ich schämte mich meiner armseligen List. Ich musste den Namen noch einmal rufen, bevor Mahony mich wahrnahm und ein Hallo als Antwort rief. Wie schlug mir das Herz, als er über das Feld zu mir herübergerannt kam! Er rannte, als käme er mir zu Hilfe. Und ich war reumütig, denn im Herzen hatte ich ihn immer ein kleines bisschen verachtet.

Arabia

North Richmond Street war, als Sackgasse, eine stille Straße, außer zu jener Stunde, da die Schule der Christian Brothers27 die Jungs in die Freiheit entließ. Ein unbewohntes zweistöckiges Haus stand am Ende der Sackgasse, abgetrennt von seinen Nachbarn, auf einem quadratischen Grundstück. Die anderen Häuser der Straße, sich der Lebensumstände von Anstand und Sitte in ihrem Inneren bewusst, starrten einander mit braunen unbeirrbaren Gesichtern an.

Der Vormieter unseres Hauses, ein Priester, war im rückwärtigen Wohnzimmer gestorben. Luft, vom langen Eingeschlossensein muffig, hing in allen Zimmern, und die Rumpelkammer hinter der Küche war mit alten nutzlosen Papieren übersät. Unter diesen fand ich ein paar broschierte Bücher, deren Seiten wellig und feucht waren: Der Abt von Walter Scott, Der gottesfürchtige Kommunikant und Die Denkwürdigkeiten Vidocqs.28 Letzteres gefiel mir am besten, weil seine Seiten vergilbt waren. Der wilde Garten hinter dem Haus hatte einen Apfelbaum in der Mitte und ein paar wuchernde Büsche, unter einem von denen ich die rostige Fahrradpumpe des verstorbenen Vormieters fand. Er war ein sehr wohltätiger Priester gewesen; in seinem Testament hatte er sein ganzes Geld kirchlichen Einrichtungen vermacht und das Mobiliar des Hauses seiner Schwester.

Als die kurzen Wintertage kamen, brach die Dämmerung herein, ehe wir richtig mit dem Abendessen fertig waren. Wenn wir uns auf der Straße trafen, waren die Häuser düster geworden. Das Stück Himmel über uns färbte sich in ein veränderliches Violett, und ihm reckten die Straßenlampen ihre matten Laternen entgegen. Die kalte Luft war beißend, und wir spielten, bis unsere Leiber glühten. Unsere Rufe hallten durch die stille Straße. Der Fortgang unseres Spiels führte uns durch die dunklen schlammigen Gassen hinter den Häusern, wo uns die ruppigen Horden aus den Hütten Spießruten laufen ließen, an die Hintertüren der dunklen tropfnassen Gärten, wo Gerüche aus den Aschengruben aufstiegen, zu den dunklen riechenden Ställen, wo ein Kutscher das Pferd striegelte und bürstete oder aus dem Zaumgeschirr Musik schüttelte. Wenn wir zur Straße zurückkehrten, waren die Souterrainlichtschächte in den Schein der Küchenfenster getaucht. Sahen wir meinen Onkel um die Ecke kommen, versteckten wir uns im Schatten, bis wir ihn sicher im Haus wussten. Oder trat Mangans Schwester auf die Schwelle heraus, um ihren Bruder zum Tee reinzurufen, so beobachteten wir sie aus unserem Schatten, wie sie die Straße rauf und runter spähte. Wir warteten, um zu sehen, ob sie noch blieb oder wieder reinging, und wenn sie noch blieb, dann kamen wir aus unserem Schatten hervor und gingen schicksalsergeben zu Mangans Treppe. Ihre Gestalt fest umrissen vor dem Licht der halboffenen Tür, wartete sie auf uns. Ihr Bruder neckte sie immer, bevor er gehorchte, und ich stand am Gitter und sah sie an. Ihr Kleid schwang, wenn sie ihren Leib bewegte, und der weiche Strang ihres Haars flog von einer Seite zur andern.

Jeden Morgen lag ich auf dem Fußboden im vorderen Wohnzimmer und beobachtete ihre Tür. Das Rollo war bis auf weniger als einen Zoll auf den Fensterrahmen runtergezogen, sodass ich nicht gesehen werden konnte. Wenn sie auf die Schwelle rauskam, hüpfte mir das Herz. Ich rannte in den Flur, schnappte mir meine Bücher und folgte ihr. Ich behielt ihre braune Gestalt immer im Blick, und wenn wir uns der Stelle näherten, wo unsere Wege sich trennten, beschleunigte ich meinen Schritt und überholte sie. Dies geschah Morgen für Morgen. Ich hatte noch niemals mit ihr gesprochen, von ein paar beiläufigen Worten einmal abgesehen, und doch war ihr Name wie ein Aufruf an mein törichtes Blut.

Ihr Bild begleitete mich an Orte, die Romanzen höchst abträglich sind. An Samstagabenden, wenn meine Tante auf den Markt ging, musste ich mit, um einen Teil der Pakete zu tragen. Wir gingen durch die flimmernden Straßen, angerempelt von betrunkenen Männern und feilschenden Frauen, umgeben von den Flüchen von Arbeitern, den schrillen Litaneien von Ladenjungen, die bei Fässern mit Schweinebacken Wache hielten, dem nasalen Singsang von Straßensängern, die ein Kommt-all-herbei-Liedchen über O’Donovan Rossa29 oder eine Ballade über die Kümmernisse unseres Heimatlandes anstimmten. Diese Geräusche verschmolzen für mich zu einem einzigen Lebensgefühl: Ich stellte mir vor, ich trüge meinen Kelch heil und sicher durch ein Meer von Feinden. Ihr Name kam mir von Zeit zu Zeit unwillkürlich auf die Lippen in seltsamen Gebeten und Lobpreisungen, die ich selbst nicht verstand. Meine Augen waren oftmals voller Tränen (ich begriff nicht, warum), und bisweilen schien sich eine Flut aus meinem Herzen in meine Brust zu ergießen. Ich dachte kaum je an die Zukunft. Ich wusste nicht, ob ich jemals mit ihr sprechen würde oder nicht, und wenn doch, wie ich ihr da von meiner wirren Anbetung erzählen könne. Aber mein Körper war wie eine Harfe, und ihre Worte und Gesten waren wie Finger, die über die Saiten sausten.

Eines Abends ging ich in das rückwärtige Wohnzimmer, in dem der Priester gestorben war. Es war ein dunkler verregneter Abend, und es gab keinen Laut im ganzen Haus. Durch eine der zerbrochenen Scheiben hörte ich den Regen auf die Erde prasseln, die feinen unaufhörlichen Wassernadeln in den durchnässten Beeten spielen. Irgendeine ferne Lampe oder ein erleuchtetes Fenster schimmerte unter mir. Ich war dankbar, dass ich so wenig sehen konnte. Alle meine Sinne schien es nach Vagheit zu verlangen, und fühlend, ich sei im Begriff, ihnen zu entgleiten, presste ich die Handflächen zusammen, bis sie zitterten, und murmelte: O mein Lieb! O mein Lieb!, ganz viele Male.

Schließlich sprach sie mich an. Als sie die ersten Worte an mich richtete, war ich so durcheinander, dass ich nicht wusste, was antworten. Sie frage mich, ob ich zum Arabia ginge. Ich hab vergessen, ob ich ja oder nein antwortete. Das würde ein prächtiger Basar sein, sagte sie; liebend gern würde sie da hingehen.

– Und warum kannst du nicht?, fragte ich.

Während sie sprach, drehte sie einen silbernen Armreif unablässig um ihr Handgelenk. Sie konnte nicht hin, sagte sie, weil diese Woche in ihrem Kloster Exerzitien30 seien. Ihr Bruder und zwei andere Jungs kämpften um ihre Mützen, und ich stand allein am Gitter. Sie hielt eine der Eisenspitzen umfasst, neigte mir ihren Kopf zu. Das Licht der Lampe gegenüber unserer Tür fing sich im weißen Schwung ihres Halses, erleuchtete das Haar, das sich da anschmiegte, sank dann nach unten und erleuchtete die Hand am Gitter. Es fiel über die eine Seite ihres Kleids und fing sich im weißen Saum eines Unterrocks, der, während sie da so ungezwungen stand, gerade noch zu erkennen war.

– Für dich kein Problem, sagte sie.

– Wenn ich hingeh, sagte ich, bring ich dir etwas mit.

Welch unzählbare Verrücktheiten verheerten nach diesem Abend meine Gedanken im Wachen wie im Schlafen! Ich wünschte die öden zwischenzeitlichen Tage ausgelöscht. Ich sträubte mich gegen das Arbeiten in der Schule. Bei Nacht in meinem Schlafzimmer und bei Tage im Klassenraum trat ihr Bild zwischen mich und die Seite, die zu lesen ich mich abmühte. Die Silben des Wortes Arabia