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Heiner Himmel, immer noch arbeitslos und mittlerweile ohne festes Dach über dem Kopf, verdingt sich als Tagelöhner auf einer Burg im Siegerland. Dort soll er bei den Vorbereitungen zum jährlichen Mittelalterspektakel mithelfen und gleichzeitig ein wenig auf die ›Blaue Luca‹ aufpassen, die eine Bewährungsstrafe zu verbüßen hat. Doch schon bald kommen Heiner Zweifel: In welche kriminellen Machenschaften ist das Mädchen verstrickt? Und was hat es an sich, dass ein Sozialarbeiter seine professionelle Distanz verliert? Auf der Suche nach Antworten gerät er urplötzlich in Teufels Küche und in der riecht es manchmal extrem, jedoch nicht nach Schwefel …
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Seitenzahl: 281
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Sinje Beck
Duftspur
Heiner Himmels zweite Verwicklung
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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1. Auflage 2006
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von aboutpixel.de
Gesetzt aus der 9,6/13 Punkt GV Garamond
ISBN: 978-3-8392-3266-8
Bibliografische Information
der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Feierabend. Der Himmel hat den ganzen Tag seinen Vorhang nicht zur Seite gezogen. Im Moment behält die über uns hängende Wolke ihre Nässe oben. Feierabend ist gleich. Schön, wenn man so etwas sagen kann. Für mich wird ab morgen schon in der Früh Feierabend sein. Sanft werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Zwei Arme schlingen sich von der Seite her um mich, so dass ich das trübe Grübeln und feine Schmirgeln einer Holzfigur einstellen muss. Annegret drückt mich, spitzt die rosa ausgemalten Lippen und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Süß und klebrig bleiben dabei einige Honigbrötchenkrümel in meinem Dreitagebart haften. Annegret strahlt mich an:
»Mein Heiner, nich abwaschen, versprochen?«
Ich nicke und bin mächtig gerührt. So viel offene Herzlichkeit und Wärme habe ich früher lange nicht erfahren. Annegrets Finger verflechten sich in die meiner linken Hand. In der Rechten halte ich ihr Geschenk, das sie mir überreicht hat. Staunend drehe ich es hin und her. Sie hat mir einen Bilderrahmen gebastelt. Er ist aus pinkfarbenen Holzleisten zusammengeklebt. Pink ist ihre Lieblingsfarbe. Das Bild hinter der Glasscheibe zeigt uns, in der Mitte thront Alfons, ›der Chef von’s Ganze‹, wie sie gerne sagt, um ihn herum sind Bille, ihre Freundin, und Torsten, Billes Freund, ja und ich, Heiner. Alle sitzen wir einträchtig ausgelassen um ein Lagerfeuer an der Nordsee mit Stockbrot und Indianerkartoffeln. Bevor ich bei der weiteren Betrachtung sentimental werden kann, klopft es von hinten derb auf meine Schulter. Das Bild stelle ich sicherheitshalber ab, denn ich weiß, was jetzt kommt. Torsten, der Brecher, wird mich gleich durch die Luft wirbeln. Es haut mich quasi aus den Sandalen. Annegret muss mich jetzt loslassen, um sich beide Hände vors Gesicht zu pressen und ängstlich sowie amüsiert zugleich zwischen den Fingern hindurchzuspähen. Torsten hebt mich in die Höhe und singt schräg dazu, wobei er ›s‹ wie ›sch‹ spricht:
»Hoch scholl er leben, an der Decke scholl er kleben, dreimal hoch« – und er wird mich dreimal werfen, sodass ich beinahe die alten Spinnweben an der Werkstattdecke herunterreißen kann. Meine Knochen werden dabei ganz schön durchgeschüttelt.
»Engelchen flieg«, ruft Bille, die einen Kuchen auf dem Kopf balanciert und so graziös wie möglich trotz ihres geringen Höhenwachstums durch die breite Tür schreitet.
»Er sieht aus wie ein Engel«, bekräftigt sie erneut, wobei die Schwarzwälder Kirsch ohne Likör bedrohlich hin- und herschwankt. Bille hat mich selten bei meinem Vornamen genannt, meist sagt sie nur ›mein Engel‹ oder ruft mich beim Nachnamen, Himmel. Aus dem Himmel fliege ich gerade das letzte Mal und lande sicher in Torstens Armen, der mich anschließend behutsam neben meine Sandalen stellt, nicht ohne mich dabei betont unauffällig abzuklopfen. Torsten liebt Radiergummis, unablässig knetet er sie, biegt und knautscht an ihnen herum und heute habe ich gleich zwei Stück in meiner Kleidung versteckt, sogar eines mit Apfelduft. Natürlich findet er sie, zieht sie wie ein geübter Taschendieb aus meinem Hemd, grinst und wie zwei alte Verschwörer nicken wir uns zu. Bille stellt die Torte auf die Drechselbank und zieht eine kleine Schnute. Doch als ich sie fröhlich anlache, lächelt sie sofort wieder, reflexartig. Bille ist eine Frohnatur und wenn sie mal enttäuscht ist, kann sie es auch nicht verbergen. Dann nämlich wird sie besonders charmant, wie jetzt. Sie wirft ihre langen Haare zurück und gurrt:
»Hast du nicht was vergessen?«
Bille ist eine Wucht, so wie ich mir in meiner Jugend einige Songs eingeprägt habe, merkte sie sich sämtliche Gesten und Texte der weiblichen Hauptdarsteller alter Kinoklassiker, Casablanca, China Town, Denn sie wissen nicht was sie tun und viele mehr. Der Film, aus dem sie gerade schöpft, ist mir nicht präsent sodass ich nicht in ihrer Manier kontern kann und ›Schau mir in die Augen Kleines‹ ist mir jetzt zu billig. Daher bleibe ich Heiner, vollführe eine ausladende Drehung, hier kann man sich gar nicht genug blamieren, öffne die Schublade des alten Schreibtisches, der als Werkbank für kleinere Montagearbeiten dient und ziehe ein Monchichi hervor. Diesmal eines im Michael-Schumacher-Dress. Bille nimmt es feierlich entgegen, knickst wie Sissi die Kaiserin, rafft den imaginären Reifrock und steckt das kleine Äffchen in die vorn an ihrer Latzhose aufgenähte Tasche, nicht ohne vorab dem Tierchen den Daumen in den Mund zu klemmen.
»Süß«, sagt Annegret und wischt sich Reste eines Sahnehäubchens aus dem Gesicht.
»Genau«, sage ich in die aufkommende Stille, »lasst uns den Kuchen vernichten!«
»Nicht ohne Kakao«, kommt Alfons herein, eine Palette Vorzugskakao vom nahe gelegenen Bauernhof vor sich her tragend. Gemeinsam räumen wir die Werkbank frei, Annegret pustet den Staub vom Faschingspappgeschirr und Torsten will zu fegen anfangen, wie er es immer tut, wenn sein Arbeitstag zu Ende ist.
»Jetzt nicht, Torsten«, sagt Alfons, »jetzt wird gefeiert, danach kannst du fegen.« Torsten scheint etwas aus dem Konzept gebracht. Bille drückt ihm eine Tüte Kakao in die Hand, was die passende Reaktion auslöst:
»Hoch scholl er leben ... Proscht!«
»Prost!«
»Wie alt wirst du denn?«, fragt Bille kuchenkauend.
»Scho wasch fragt man doch nicht«, entrüstet sich Torsten kakaosaugend.
Ich bin ein wenig verdutzt, denn ich dachte, Alfons hätte erklärt, dass es sich um eine Abschiedsfeier und nicht um meinen Geburtstag handelt.
»Also«, stammle ich.
»Heiner möchte sich bei euch allen bedanken, stimmt’s?«, versucht Alfons mir eine Brücke zu bauen.
»Ja, ihr wart alle so nett zu mir. Es hat mir hier so gut gefallen.«
Annegret, die sensibelste von allen, lässt die Gabel sinken: »Du gehst? – Das ist gemein!«
»Er kommt wieder«, versucht Alfons aufzuhalten, was er vor sich hergeschoben hat. Annegret verkneift sich tapfer eine Träne, die befürchtete Flut bleibt aus, weil ich mich beeile zu bestätigen, was für mich selbst eine verblüffende Neuigkeit ist.
»Mach doch mal einer die Kaschette an«, fordert Torsten, der ein großer Fan von den Brings ist und jeden Titel der Kölschrocker mitsingen kann. Zum Glück lässt Annegret sich schnell ablenken. In Gedanken muss ich Alfons rügen, dass er die Mannschaft der Schreinerei nicht auf meinen Abgang vorbereitet hat. Nun ja, ich bin kein Sozialarbeiter, er wird wissen was er tut oder eben unterlässt, sage ich mir. Bille reißt mich vom Hocker und schon wirbeln wir durch die Sägespäne zu ›Nix för lau‹. Während die Brings resümieren ›Wohin du och jeis, un wat du och deis, du muss berappe‹, dreht sich Bille im Kreis und spielt Primaballerina, na ja, wohl eher Brummkreisel, wobei sie mir den Zeigefinger über ihrem Kopf verdreht. Jetzt muss aber Schluss sein, sonst wird ihr schlecht. Torsten johlt völlig entrückt mit Leuchten in den Augen: »He jitt et jar nix, nix für lau. Sche maache her ne jrosche Schau«, und aus.
Annegret erdreistet sich wie immer, den Kölschen den Saft abzudrehen und Reinhard Mey aufzulegen. Die anderen sind daran schon gewöhnt und protestieren nicht.
»Jetzt bin ich dran! Bille tanzt mit Torsten«, bestimmt sie und wir schwofen zu ›Über den Wolken‹. Hätte mir jemand früher einen Blick in die Zukunft gewährt und ich hätte diese Szenen gesehen, ich hätte es nicht glauben wollen. Das dollste daran ist: Ich genieße jeden Augenblick während meiner letzten Stunden in dieser Einrichtung.
»Ich habe es gemerkt«, flüstert Annegret in mein Ohr. »Du hast nämlich erst im Sommer Geburtstag, im September, du bist Jungfrau«, sie kichert.
Jungfrau, ein selten dämliches Sternzeichen für einen Mann. In einer Zeit vor dieser Zeit, quasi zur Steinzeit, so kommt es mir vor, als man unter den Kumpels dann was galt, wenn man wenigstens einer Discobekanntschaft pro Wochenende die Vorzüge seines in Liegeposition verstellbaren Fahrersitzes plausibel gemacht hatte, am besten mit Spurenhinterlassung für bessere Beweiskraft. Dann habe ich besonders unter dem Sternzeichen gelitten. Wenn eine in Betracht kommende weibliche Person unbekannter Herkunft noch nicht aufs Klo verschwunden ist, just nachdem sie meinen Vornamen erfahren hat, dann ist sie spätestens bei der für Mädchen damals so wichtigen obligatorischen Frage nach dem Sternzeichen flüchtig geworden, ähnlich einer Sternschnuppe. Als heller Schein, kurzes Aufflammen zu sehen und zack, war sie weg, erloschen und für mich schnuppe. Wie gerne hätte ich Stier, Schütze oder wenigstens Wassermann gesagt, doch meine ehrliche Art hat mich in dieser Hinsicht einige Abenteuer gekostet, na ja, oder erspart. Weiß man’s? Geburtstag. Im Grunde ist er für mich bedeutungslos geworden. Als ich 44 Jahre alt wurde, habe ich beschlossen nicht weiterzuzählen. Wozu auch. Das Altwerden wird ja nicht einfacher und transparenter, indem man es dokumentiert. Ich berufe mich also auf mein gefühltes Alter und 44 ist eine Zahl, die ich mir gut merken kann. Sein Alter in Jahren zu zählen halte ich ehedem für sinnlos. Die letzten Monate meiner Ehe wiegen wie Jahrzehnte und haben sich in Form von Falten und grauem Haar ein Zeichen gesetzt. Die Jahre der sogenannten süßen Kindheit, die Art Süße, die anschließend Fäulnis hinterlässt, süß vergoren und klebrig, geklebt bekam ich sie oft, kommen mir wie eine Ära nicht gelebten Lebens vor. Dagegen verringern die Glücksmomente die Zahl auf dem Zeitbarometer und bemühen sich um eine ausgeglichene Bilanz auf dem persönlichen Lebenszeitkonto. Mein kleines momentanes Glücksgefühl versucht sich nicht unterkriegen zu lassen.
Wo ist bloß ein Großteil meiner Zeit geblieben, während ich für Maries Anschaffungen schuftete? In der Stechuhr, ganz klar, abgestochen. Mord ohne Leiche. Als mich dann der Arbeitsmarkt rauskickte aus meinem Blechschlosserdasein, wollten die Tage zunächst so gar nicht rum gehen, bis zu dem Tag, als mir mein Arbeitsamtsverwalter die Umschulung zum Werbekaufmann aufdrückte. Da hatte ich dann wieder zu tun. Lernen und wundern zu gleichen Teilen. Schon damals fragte ich mich, was das Siegerland mit dem riesigen Haufen Werbekaufleuten will, den es per Institution jährlich produzierte. Das ergibt bis heute ein geschätztes Prokopf-Werbekaufmannsaufkommen von zwei Promille auf jeden Siegerländer bis heute.
Wir tanzen weiter durch die Werkstatt, vorbei an den Resten des letzten großen Auftrags für einen Gartengerätehersteller, 500 Sägeböcke und 700 Schneidbäume, vorbei an den Holzpferdchen für den kleinen Laden der Behindertenwerkstatt, vorbei auch an den Vogelhäuschen für den Park eines Altenzentrums, vorbei, vorbei, Reinhard Mey ist auch vorbei, vorbei meine 1-Euro-Beschäftigungsgelegenheit. Auch so eine Verknappung, das mit der 1-Euro-Jobbezeichnung, wo ich doch 1,30 bekomme. Bei dem knappen Zuverdienst hat man gleich passend dazu die Begrifflichkeit verkürzt. Vorbei. Ich bin ehrlich traurig! Midlifecrisis, unkte Rudi neulich und gab mir den Tipp, mir ne junge Freundin zuzulegen, noch mal so was richtig zum, na ja, Sie wissen schon – nein, das ist nichts für mich, würde meine Probleme nicht verringern. Denn seit wann werden Probleme weniger, wenn eine weibliche Komponente zusätzlich ins Spiel kommt, das geht schon rein rechnerisch nicht auf, legt man die Erfahrung und das Prinzip des direkten Dreisatzes zugrunde. Man gewöhnt sich vielleicht an dieses oder jenes, so von wegen geteiltes Leid ist halbes Leid – mir ist mehr nach gar keinem Leid, dann brauch ich auch nichts teilen.
Rudi hat gut reden, er ist seit hundert Jahren meist glücklich mit seiner Susanne verheiratet. Der wird bei dem Rat mehr an sich gedacht haben, was Junges zum ... Stattdessen schwebe ich mit Annegret Richtung Rekorder, denn Alfons hat das Feierabendzeichen, eine Kindersirene schrillt mit blinkendem Blaulicht, gegeben. Musik aus, aufräumen, fegen, Abendbrot, noch ein wenig spielen, lesen, reden und ab ins Bett, Zähneputzen und Medikamente nicht vergessen, Licht aus und ›Hände auf die Bettdecke‹, wie Torsten immer sagt, nachdem er sein Nachtgebet gesprochen hat. Torsten, der mit 23 Jahren einem Kunstfehler bei einem sogenannten Routineeingriff betreffend eines kleinen Blutgerinnsels im Kopf zum Opfer gefallen ist, ist jetzt wieder auf seiner abendlichen Spur, er schwingt den Besen. Bille, die seit ihrer Geburt vor 45 Jahren mit drei mal 21 Chromosomen zurecht kommt, zählt die Werkzeuge, jedes an seinen Platz, und Annegret, die so unendlich traurig gucken kann, die mit 33 Jahren nach einem Verkehrsunfall für zwei Jahre ins Koma fiel und heute mit 39 das Schreiben neu erlernt, zieht mich zur Seite und zeigt mir das Wort, das sie mit dem Finger in den Staub gezeichnet hat: Schnuurbad. Schnurbart, das Stichwort, fast hätte ich es vergessen. Annegret und ich haben ein Geheimnis. Hinten in der Werkstatt in einem Restholzstapel, der so gut wie nie bewegt wird, hat eine streunende Katze drei Junge zur Welt gebracht und wir haben sie versorgt. Ich muss unbedingt noch Futter kaufen und im Versteck deponieren. Wir zwinkern uns zu, was soviel bedeutet wie Treffpunkt am Tatort, gleich nach dem Abendessen. Das werde ich zugunsten des Futterkaufs ausfallen lassen. Als ich meinen Kaffeepott mit dem Schriftzug: HH – Held der Hobel, einpacken will, halte ich inne und beschließe, ihn in der improvisierten kleinen Kaffeeküche stehen zu lassen. Die ›Held der Hobel‹-Tasse habe ich Bille zu verdanken. Als ich ihren Lieblingshobel von ihrem Opa geschärft hatte, bemalte sie mir zum Dank an einem Kreativwochenende letzten Sommer auf Amrum diese Tasse. Sie zeigt ein Strichmännchen mit langen Haaren und zwei übergroßen Flügeln auf der einen Seite und den Schriftzug in großen Lettern auf der anderen Seite. Das Strichmännchen erinnert mich an meine gescheiterte Art von Ich-AG, an die Zeit in der ich mich in der Siegener City-Galerie mit meinem ›Nimm mich mit‹-Schild für sieben Euro die Stunde verkauft habe. Nun ja, jetzt stehen da schon drei weitere Typen, die sich für drei bis fünf Euro die Stunde verkaufen. Da kann ich nicht mithalten. Da will ich nicht mithalten. Ich weiß nicht, wie die das machen und wovon die leben. Einmal sah ich einen Kerl bei ihnen, er schien sie abzukassieren. Meine Gründeridee hatte also schon Nachahmer im großen Stil gefunden, Franchise, oder Subunternehmertum, ha, moderner Sklavenhandel. Nicht Fastfoodkette, nicht Menschenkette, Menschenhandelskette, setzt mein Hirn ein neues Wort zusammen. Ui, ich muss aufpassen, wenn ich so weiter sinniere, versaue ich mir den Rest des Tages und die Nacht dazu. Im Grunde kann ich zufrieden sein. Meiner Scheidung und Trennung vom ersten Arbeitsmarkt habe ich einige Begegnungen und Erfahrungen zu verdanken, die ich nicht mehr missen möchte, auch der Blick in den eigenen Abgrund.
Von draußen höre ich Bille singen: Wer hat an der Uhr gedreht, ist es wirklich schon so spät, soll das heißen ja ihr Leut’ mit dem Paul ist Schluss für heut ...
Ich ertappe mich beim Mitsummen des Paulchen-Panther-Liedchens.
»Tschüß, Bille«, rufe ich ihr nach. Doch sie wird es nicht hören. Wenn sie singt oder aus einem Film zitiert, verschwindet sie im jeweiligen Text.
Torsten kommt herangefegt und wuselt mir mit dem Besen um die Füße, wobei sich einige Sägespäne zwischen meine Zehen und dem Latschen heften. Er könnte mich ja auch bitten beiseite zu treten, doch das ist nicht seine Art. Wenn Torsten fegt, dann fegt er und nur das. Er fegt mit einer Hingabe, die der tiefritueller buddhistischer Mönche gleichen muss. Um zur absoluten inneren Ruhe zu finden und zu begreifen, dass der Weg das Ziel ist, sollen die ja auch schon mal den Wald fegen und natürlich keine Tiere platt treten, es könnte ja ein Freund gewesen sein. Marie, meine Ex, war ja mal auf so einem Trip. Verstehen Sie mich jetzt nicht falsch. Ich habe nichts gegen Esoteriker, nichts gegen Veganer und auch nichts gegen andere Gruppen, die weiter niemandem schaden, mein zweiter Vorname könnte Toleranz lauten, doch ab dem Moment, wo Marie begann, meine Matchbox-Sammlung vor einer McDonalds-Niederlassung an Kinder zu verschenken, wenn sie auf Burger verzichteten, war Schluss mit dem Verständnis. Die Idee an sich war ja nicht schlecht, als Gegengewicht zur Juniortüte eine Alternative zu bieten, doch nicht mit unlauter beschafften Mitteln. Die kleinen Konsumenten nahmen die Autos, m e i n e Autos, und kauften sich im Anschluss trotzdem eine Portion Speck auf die Rippen. Marie hätte es beim reinen Predigen der Mittellosigkeit belassen sollen, stattdessen überwies sie unsere letzten Ersparnisse an so einen windigen Guru, der sich mit unserem Geld und dem einiger anderer Irrgläubiger einen Flug nach Gomera gönnte. Was ja schon aus dem Grund widersinnig war, als dass ›Guru O two‹ aus eigener Kraft hätte fliegen müssen, per geistiger Loslösung von irdischer Schwere, oder wohl eher per Gras, das er in rauen Mengen rauchte. Nachdem die bittere Erkenntnis der Scharlatanerie durch Maries verkorksten Schläfenlappen gedrungen war, trieb es sie kurzfristig in meine Arme zurück, doch eben nur kurz. Aber lang genug um zu merken, dass da nicht mehr viel war außer dahingelebter Pflichtschuldigkeit. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn wir uns vermehrt hätten. Vorbei. Der Zug war abgefahren und wenn ich ehrlich bin, ist es ganz gut so. Marie lebt mit einem Schnösel zusammen, so mein letzter Kenntnisstand, und ich bewohne eine kleine Dachstube im sogenannten Dreiländereck, Nähe Kalteiche. Immerhin bin ich wieder mobil. Nachdem ich schon geglaubt habe, ich werde mir nie wieder ein Auto leisten können, bin ich jetzt stolzer Besitzer eines alten Peugeots. Bei guter Pflege macht der noch 150000 km, meint Rudi, Besitzer einer Tankstelle und eines Abschleppdienstes, der mir das Wägelchen hat angedeihen lassen. Meine Bedürftigkeit hat den Wagen vor der Schrottpresse bewahrt. Torsten fegt abermals über meine Füße und ich registriere, dass ich immer noch mit der Tasse in der Hand regungslos dastehe. Ich stelle den Kaffeepott ins Regal zurück und mache mich aus dem Staub, wie jeden Tag um die Uhrzeit. Die Schreinerei-Crew ist bereits auf dem Weg in den Speisesaal, sobald Torsten das Fegen beendet hat, wird er sich mit seinen 1,90 Metern beinahe überschlagen, um nicht als allerletzter dort anzukommen und nur noch Käserinde zu erwischen. Bevor ich das Licht lösche und die Werkstatt abschließe schweift mein Blick über die lieb gewonnene Umgebung. Ich rieche intensiv den Geruch frisch gesägten Holzes, Harz, Rückstände von Leim, Farbe und Bienenwachs. Einmal noch inhalieren, Bild einpacken, Schalter drücken und Tür zu.
Das Geklapper und Geplapper aus dem Speisesaal dringt von unten zu mir herauf. Ich muss unbedingt noch mit Alfons reden, wie er das gemeint hat mit ›er kommt wieder‹. Gib dich bloß keinen falschen Hoffnungen hin, warne ich mich, deine Zeit hier ist um und ein weiterer Einsatz deiner Person derzeit nicht bewilligt. Hartz IV. Jetzt war ich so froh, den jungen Dingern in der Agentur für Arbeit für ein halbes Jahr entkommen zu sein, und gleich montagfrüh soll ich wieder dort auflaufen. Auflaufen, genau die richtige Vokabel für das Vorhaben. Die lassen einen da regelrecht auflaufen, stranden, wie einen fehlnavigierten Buckelwal am Nordseestrand in brütender Augusthitze. Von allein kommt der da nicht mehr weg. So geht es auch einem Mann mittleren Alters auf dem Arbeitsamt. Hier der altgediente Wal, dort die jungen Sprotten. Da müssten schon viele Sprotten kommen, um den Wal ins Wasser zu schubsen. Meine Sprotte ist Anfang 20, hat gerade die Verwaltungsausbildung abgeschlossen, lustige rote Locken und einen Flatscreen vor dem Näschen und schlug mir doch neulich eine Umschulung vor. Als wären zwei Berufe nicht genug. Was denn noch?! Altenpfleger oder Reiseverkehrskaufmann hatte sie im Angebot. Als würde jemand über mich eine teure Reise buchen. Die Leute hätten doch eher Angst, ich würde mit ihrem Geld Fusel kaufen oder meine eigene Urlaubskasse aufstocken, vielleicht für eine Weltumseglung mit einem selbstgebauten Floß. In mich, vielmehr in mein Äußeres, kann man eben eine Menge hineininterpretieren. Für den einen ein Engel, für den anderen ein Penner. Die Blicke der Leute können mich nicht zum Frisör zwingen. Nie mehr. Das ist beschlossene Sache. Dafür pflege ich meine langen grauen Haare auch intensiv, ich will ja nicht heruntergekommen aussehen. Gleich bietet sie mir noch Blechschlosser an, ging mir damals zudem durch den gewaschenen Kopf. So ein Blödsinn, sagte ich ihr dann vorwegnehmend, so eine Umschulerei hätte ich schon hinter mir. Selbst bei IKEA auf dem Heidenberg hätte ich mich schon beworben, obwohl die mehr Bewerbungspapier täglich erhielten, als sie Bäume für ihre Regale abholzen können, fügte ich frustriert an. Daraufhin sah sie mir zum ersten Mal ins Gesicht, kritisch, einen Penny für ihre Gedanken, und tippte mit ihren kunstvoll bemalten Fingernägeln auf der Tastatur umher. Anschließend spuckte der Drucker als letzte Antwort auf all meine nicht gestellten Fragen eine Adresse aus, und das war die eines gemeinnützigen Trägers. Von da aus gelangte ich dann in die Schreinerei der Behindertenwerkstatt. Wenn mein zweiter Vorname nicht schon Toleranz hieße, lautete er Flexibilität.
Die Tür von Alfons Büro ist nur angelehnt. Er scheint zu telefonieren. Das typische ›Hmhm. Ja. Hm. Okay, aber ...‹, jetzt wird er ein wenig hektisch, ›das ... nein ... Sie können doch nicht ...‹, der andere scheint die besseren Argumente oder die bessere Stellung zu haben, Alfons Stimme senkt sich, ›Ja, ist gut ... ich werde, ... wie Sie meinen, ... ja, Sie können sich darauf verlassen ...‹, er scheint um den Schreibtisch herumgegangen zu sein und Richtung Fenster zu sprechen, denn jetzt verstehe ich keine Bruchstücke mehr. Wahrscheinlich hat er wieder einen Disput mit dem Träger der Einrichtung über den Einsatz von Mitteln. Alfons hat zwar nicht den ganzen Laden zu verwalten, sondern nur die Schreinerwerkstatt, doch auch das befreit ihn nicht von der betriebswirtschaftlichen Seite. Obwohl er sich eigentlich viel mehr um seine Mitarbeiter kümmern sollte, hat er sehr oft mit der Administration zu tun. Ich warte, bis er aufgelegt hat und klopfe.
»Ja«, kommt es gestresst aus dem Inneren des kleinen Büros. Bevor ich irgendetwas sagen kann, geht Alfons mir mit ausgestreckter Hand entgegen:
»Du wolltest dich verabschieden ... ja, Mensch, schade, ich habe bis zuletzt gehofft, dass du verlängern kannst ... doch der Auftrag, du weißt, der von der einen Firma, die die Fahrradständer bestellt haben, ja, die Firma hat Konkurs angemeldet und eben das, das war die Chefetage, die haben noch mal deutlich gemacht, dass auch wir sparen müssen ... und der Gesetzgeber weiß ja auch noch nicht, was er nach dem halben Jahr Beschäftigungsverhältnis mit den Leuten machen soll ... was hast du denn jetzt vor? Also, wenn was ist ...«, sprudelt es nervös aus ihm heraus, wobei er die ganze Zeit meine Hand fest umklammert und nicht loslässt, als wäre Leim dazwischen. 10,40 Euro für eine volle Arbeitskraft täglich und sie müssen sparen. Außerdem bekommen sie noch Geld dafür, wenn sie Langzeitarbeitslose ›weiter qualifizieren‹. Wahrscheinlich muss man nicht alles verstehen. Vielleicht muss ich meinen Anspruch an das Leben im Allgemeinen und mich im Besonderen reduzieren, denk ich mir. Alfons wirkt sehr angeschlagen. Abrupt lässt er meine Hand los, die halb taub neben mir herbaumelt.
»Stress?«, wage ich die Frage. Mein Gegenüber strubbelt sich durch die glänzend schwarzen Haare, wobei große feuchte Flatschen unter seinen Achseln sichtbar werden. Obwohl er nur ein Jahr jünger ist als ich, hat er noch kein einziges graues Haar. Wahrscheinlich liegt es daran, dass er nie verheiratet war.
»Ja«, kommt es abwesend aus dem schmalen Mund. Alfons könnte einen richtigen Schlag bei den Frauen haben, würde er ein bisschen mehr auf sich achten. Er neigt seit kurzem zum Bauchansatz und ich habe ihn schon beim Trinken ertappt. Schade, das wäre wirklich schade, wenn so ein vom Helfen beseelter Mensch vor die Hunde ginge. Ich will ihn seiner selbst überlassen und wende mich zum Gehen.
»Ach, Heiner, lass mal deine Handynummer da, vielleicht komme ich noch mal auf dich zu, vielleicht ergibt sich ja was«, seine Gemütslage scheint sich ein wenig erholt zu haben, dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen. Ich habe gar kein Handy.
»Du erreichst mich unter dem Festnetzanschluss, manchmal auch unter dieser Nummer.«
›Heute ist nicht alle Tage, ich komm wieder, keine Frage‹, endet Billes rosarote Panther-Strophe in meinem Kopf. Ich kritzle ihm die Nummer von Rudis Tankstelle auf die Schreibtischunterlage.
»Ich muss noch ein paar Anrufe machen und dann kann ich dir mehr sagen. Vielleicht könntest du mir aus der Klemme helfen«, redet Alfons, den Blick nach innen gerichtet. »Ja, ja, keine schlechte Idee ...«, murmelt er, greift zum Hörer und gebietet mir durch sein Innehalten beim Tippen der Nummer, dass ich gehen soll.
Wir heben beide eine Hand zum Gruß und ich verlasse sein Büro. Ob er mich tatsächlich anrufen wird um mir einen Job anzubieten. Ich habe erfahrungsgemäße Zweifel. Immerhin kann ich noch in der Tankstelle arbeiten. Bei Rudi werde ich jetzt wohl öfter jobben, hoffe ich. Man gönnt ja niemandem was Schlechtes, aber wenn Aaron, Siegener Student der Wirtschaftsinformatik und Anwärter auf die B-Mannschaft der Siegener Sportfreunde, seinen Kreuzbandabriss immer noch nicht auskuriert hat, dann könnte ich seine Schichten übernehmen. Die eigene Not zehrt mal wieder an meinem sozialen Gewissen. Als dies das letzte Mal der Fall war, hatte ich anschließend eine Menge Aufregung und schlussendlich einen Anflug von Liebeskummer. Kennen Sie das? Sie begegnen einem Menschen, von dem Sie geglaubt haben, dass es ihn in Ihrem Leben niemals mehr geben wird. Sie sind begeistert, fasziniert, ja, verliebt. Verliebt in eine Vorstellung, wie sich dann herausstellt. Immerhin eine wahnsinnig schöne Vorstellung. Immerhin. Besser als nix, ist dann die Frage, die sich stellt, wenn Sie die Vorstellung im persönlichen Kontakt erleben und sich die Prinzessin oder der Prinz als ganz normaler Mensch entpuppt, der wohlmöglich, sicher wahrscheinlich, ganz andere Vorstellungen von Ihnen hat, als Sie von ihm oder ihr. Und ganz sicher eine komplett andere Vorstellung von dem, was Sie sich als nähere Zukunft gewagt haben auszumalen. Peng. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass es nie aufhört, selbst dann nicht, wenn man vielfach eines Besseren belehrt wurde, es hört nicht auf, bleibt am Menschsein haften wie die Fliege am verlockenden, klebrigen Deckenhänger, die Anfälligkeit sich zu verlieben. Schlimmstenfalls ergeht es einem bis zum Ende so. Nein Mann, das will ich mir nicht vorstellen. Außen verdorrt und verschrumpelt und innen begierig, hitzig wie ein Gigolo, durstig nach prallem Leben, festem Fleisch. Welch Ungleichgewicht. Und alle würden es sehen, nur du selbst hieltest dich weiterhin für den unwiderstehlichen Frauenbeglücker. Wird Mann denn nie klüger?
Irgendwie hat mich die Begegnung mit dem leicht wuschigen Alfons zerstreut. So stehe ich da auf dem Flur, die junge polnische Putzfrau mit ihren eingewachsenen MP3-Player-Stöpseln in den Ohren rempelt mir rückwärtig den Schrubberstiel ins Kreuz, ich habe sie gar nicht kommen hören, erschrocken blicken wir uns an. Dem Schreck folgt ein zaghaftes Lächeln auf beiden Seiten. Ihr Blick aus smaragd-grünen Augen bringt mich zu dem zurück, was ich tun wollte: Katzenfutter kaufen. Der Himmel hat eine Entscheidung getroffen. Es regnet schnurgerade auf die Erde herab. Die dicken Tropfen platschen auf den Teer, um als kleinere Spritzer wieder hoch zu springen. Ich muss zum Auto rennen, um nicht klatschnass zu werden.
In der Einrichtung sind Haustiere verboten, daher Annegrets und meine Geheimhaltung bezüglich der alleinerziehenden Katzenmutter. Jetzt muss ich mich sputen, denn der Laden macht gleich zu. Irgendwie blicke ich eh nicht durch mit den gemischten Öffnungszeiten in den Randbezirken. Mitten in Siegen ist das einfacher. Ich lebe auf dem Land, daher ist mir auch mein Auto von elementarer Bedeutung. Frau oder Auto, die Frage könnte ich aus dem Stehgreif beantworten. Oft fahre ich Fahrrad, nicht nur weil ich es gerne tue, ich muss, denn das Tanken ist mitt-lerweile für mich zu einer Art Event geworden, eines von sportlicher Natur. Ich tanke immer auf den Cent genau für 18,88. Der Preis ist überschaubar und mehr kann ich meist nicht abknapsen. Manchmal, wenn Rudi seinen sozialen Tag hat und eine Fuhre für den Schrottplatz, dann darf ich mir das Benzin aus den Wracks absaugen. Aber ›Psst‹ sagt er dann immer. Als wenn ich das rumerzählen würde. Beim ersten Mal habe ich eine volle Ladung Super in den Hals bekommen. Für meine Lebenshaltungskosten war der Tag auch super. Bleifrei wirkt appetitzügelnd. Abgelaufene Fishermanns gab es stattdessen zu essen.
An der Aldi-Kasse wundere ich mich erneut, wie es manchen Menschen gelingt, ihren Job nicht zu verlieren. Die Kassiererin ist dermaßen unfreundlich. Sie staucht vor mir eine junge Mutter mit ihrem Kind zusammen, weil sich das schätzungsweise vierjährige Mädchen erdreistet hat, beim Einräumen des Wagens behilflich sein zu wollen mit dem Ergebnis, dass ein Päckchen Buchstabennudeln neben dem Wagen landete und aufplatzte, da das Einkaufsvehikel nicht in der vorgezeichneten Position stand. Platzen könnte ich auch vor Wut darüber, wie die Person an der Kasse das Kind anherrscht und anschließend eine Auszubildende anblökt, sie solle nicht so dumm rumstehen und eine Kehrschaufel holen. Solange es in Deutschland noch keine Mordanschläge auf Supermarktkassiererinnen gibt, solange kann man für die Welt noch hoffen. Das Gros der Spezies Mensch kann also nicht so schlecht sein. Ich überlege mir eine Freundlichkeits-attacke für den Drachen, da ich gar keinen Wagen genommen habe, mir fehlte die entsprechende Münze und außerdem wollte ich ja nur das Katzenfutter.
»Einen wunderschönen guten Abend«, lenke ich ihren mürrischen Blick von der Lücke am vorgeschriebenen Wagenplatz auf meine Person, was ihre Gesichtszüge noch um eine weitere Spur talwärts entgleisen lässt.
»Das nächste Mal werde ich Sie nicht mehr abkassieren ohne Wagen. Haben Sie doch eben gesehen, was da alles ... 9,90«, pampt sie mich an.
»Das nächste Mal werde ich auf Ihrem Platz sitzen«, grinse ich sie an. Ha, jetzt ist sie aus dem Konzept, erhebt ihren bis Ladenschluss programmiert festgewachsenen ausladenden Hintern unplanmäßig aus der Kassenbox, der Stuhl atmet auf, um den Marktleiter ins Visier zu bekommen. Der knochendürre Mann erscheint wie gerufen neben den roten Grablichtern zu 2,99 im Fünferpack, ich winke ihm zu und sage: »Auf Wiedersehen und bis Montag dann!«
Hehe, das hat gut getan. Heiner, so kenne ich dich gar nicht, wundre ich mich. Mit dem verbliebenen Rest Nudelbuchstaben auf dem Kehrblech der Auszubildenden ließe sich das Wort Hoffnung bilden. Lediglich das G fehlt.
Auf dem Parkplatz reißt die Wolkendecke über mir auf, die Feuchtigkeit des regennassen Asphalts beginnt zu verdunsten, ich mag diesen Geruch. Die Sonnenstrahlen des Frühlings haben schon wärmende Kraft. ›Wochenend und Sonnenschein‹ stimmen die Comedian Harmonists an. Das fröhliche Lied erklingt von irgendwoher erinnernd aus den Speicherarealen meines Gehirns. Ach ja, das Leben! Das Leben, doziert mein Vater, ist kein Selbstbedienungsladen ohne Kassierer. Es ist hart und geprägt von Entbehrungen und man bekommt nichts geschenkt. Er predigte nur unter Einfluss von zwei Flaschen Apfelwein, dem billigen. Ansonsten hat er sich immer aus der Erziehung rausgehalten. Manchmal ist mir, als wäre er schon längst verstorben. Ist er aber nicht, nicht physisch. Wahrscheinlich ist er neben meiner Mutter durchsichtig geworden. Tonlos war er sowieso. Die Maulfaulheit gehört hierher wie das Einregnen. Plaudertäschchen ziehen höchsten zu und zwar alle in meine nähere Umgebung. Anders ist es nicht zu erklären, dass ich die Redseeligen dann an der Backe habe. Ich bin ein aufmerksamer Zuhörer, was auch meine Ex zu schätzen wusste. Doch jetzt muss ich was gestehen, im Laufe unserer langzeitlichen Ehe stellte sich bei mir so eine Marietaubheit ein. Die zeigte sich dadurch, dass ich, sobald der Klang ihrer Stimme abebbte, nur noch genickt oder gebrummt habe. Kennen Sie das?
Derzeit textet mich mein neuer Nachbar zu und ersetzt mir das Fernsehen. Mein Apparat hat seine Funktionen stückchenweise aufgegeben. Erst verschwanden die Farben blau, grün und gelb, anschließend schaltete das Gerät auf Stummfilm wann es wollte. Ich werde mir keinen neuen Flimmerkasten zulegen, Reparatur hat auch keinen Zweck, so scheint es, denn der neue Nachbar, Radio- und Fernsehtechniker sei er, hat er gesagt, bemüht sich schon seit Tagen allabendlich, während des reichlichen Konsums von mitgebrachtem Dosenbier. Ich gehe mal davon aus, dass er überhaupt keine Ahnung von dem Gerät hat. Trotzdem glimmt ein kleiner Funken Hoffnung in mir, dass der Nachbar den Fehler vielleicht doch findet. Ein ebenso kleiner Funke glüht auch in mir in Bezug zu Alfons Gerede, dass ich ihm vielleicht aus der Klemme helfen könne.
Beim Zuschlagen der Fahrertür rappelt die Scheibe vorwarnend. Nein, du wirst nicht in der Tür verschwinden, ich verbiete es dir! Wenn es jetzt bald wärmer wird, könnte ich mal testen, ob das Verdeck noch funktioniert. Das wäre der Hammer, Heiner Himmel mit grauem Haar im ebenso grauen Cabrio. Beide etwas zerkratzt und verbeult, aber immer noch schnittig, ich sag nur 2-Liter-CTI. Bei der Figur, die ich dann abgebe, muss ich grinsen. Ich brauche unbedingt ein neues Zopfgummi, eines das zum Wagen passt. Das rosa Puschelteil von Annegret scheint den Stil nicht ganz zu treffen.