Einzelkämpfer - Sinje Beck - E-Book

Einzelkämpfer E-Book

Sinje Beck

4,3

Beschreibung

„NIMM MICH MIT! Für 7,- € die Stunde oder Tagespauschale“. Der arbeits-, aber nicht hoffnungslose Heiner aus Siegen hat sich selbstständig gemacht. Er steht mit seinem Schild in einer Einkaufspassage und wartet auf Kunden. Damit beginnt für ihn eine Kette aberwitziger Verwicklungen. Ohne es zu ahnen gerät Heiner in die Fänge eines international tätigen Kunstfälscherrings. Als man ihn auf eine dubiose Reise nach Rotterdam schickt, wird dem agilen Jungunternehmer allmählich klar: Aus dieser „Nummer“ muss er sich ganz allein herauskämpfen …

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Sinje BEck

Einzelkämpfer

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2005 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

1

Tach auch,

gestatten, ich bin der Heiner. Heiner Himmel. Initialen HH, gesprochen haha, aber zum Lachen ist das nur für andere, nicht für mich. Selbst der alte Lehrer in der Berufsschule ließ es sich nicht nehmen, mich mit Himmelarschundzwirn zu rufen, wenn ich mal einen Moment unaufmerksam war. Die Braunen aus der Metzgerklasse, quer übern Flur, riefen gerne Himmler statt Himmel und die Mädels, ja die Mädels aus der Frisörklasse hatten genug damit zu tun, sich über meinen Vornamen lustig zu machen. Alle Mädchen lieben Jungs, nur Heiner, den bumst keiner. Keiner, wohlgemerkt – zum Glück, dacht ich dann immer. Doch über die Frotzeleien bin ich nun hinweg, ehrlich. Es macht mir nichts mehr aus. Eines Tages sagte ich mir, Heiner, du kannst dich nicht ein Leben lang für die Einfallslosigkeit deiner Eltern ärgern. Think positiv, es hätte ja auch viel schlimmer kommen können, Heinrich statt Heiner oder so. Nur die Koseform verbitte ich mir noch heute. Ich will nicht Heini gerufen werden. Geben Sie es zu, Sie denken dann auch gleich an den schlaksigen, bisweilen verträumten Postboten aus der Kinderserie ›Neues aus Uhlenbusch‹. Mit dem habe ich nun wirklich keine äußerliche Ähnlichkeit.

Bei aller Bescheidenheit, mein Körperbau ist eines der wenigen Dinge, auf die ich stolz bin. Alles hart erarbeitet. So oft es geht, fahre ich Fahrrad. Seit ich meinen alten Renault verkauft habe muss ich es sogar immer dann, wenn ich die Tristesse dieses kleinen Dorfes, hier sieht es heute noch so aus wie vor 25 Jahren in Uhlenbusch, hinter mir lassen will. Auch auf mein volles Haupthaar kann ich mir in meinem Alter was einbilden. Viele mit 44 Jahren laufen ja schon mit weit weniger Haaren rum, vergleicht man die Menge mit jener, mit der sie einst auf dieser Erde gestartet sind. Klar, ich bin auch nicht mehr kastanienbraun, eher graumeliert. Aber auch das ist hart erarbeitet. Jedes silbrig glänzende Haar zeugt für die Art von Kummer, der einem ausschließlich von Frauen zugefügt werden kann. Sie wissen nicht wovon ich rede? Dann gehören Sie zu den seltenen Exemplaren, die noch nie geschieden worden sind, keine herrische Mutter hatten oder Sie haben das Glück und sind schwul. Wobei es da auch nicht immer Friede-Freude-Eierkuchen zugehen soll – hab ich mir sagen lassen. Na, lassen wir das. Mann kann sich ja von allen Annäherungen fern halten. Dazu lege ich mir ein gewöhnungsbedürftiges Äußeres zu. Seit meiner Scheidung war ich nicht mehr beim Frisör (die parfümierten Tussis mochte ich eh noch nie – alte Abneigung) und jetzt trage ich mein Haar schulterlang.

Was den Bart angeht, bin ich noch nicht ganz sicher, ob ich ihn behalten soll. Manche Frauen schreckt der ab, was durchaus in meinem Sinne ist, kleben am Abend doch sämtliche Gerüche des Tages darin. Das ist nicht das Problem. Doch im Sommer ist so ein Pelz im Gesicht manchmal unangenehm, vor allem, wenn man es nicht gewohnt ist. Aber jetzt ist erst mal Winter angesagt und ich bin jeden Tag froh, dass mir die Backen nicht abfrieren, wenn ich von meinem Aushilfsjob an der Raststätte ›Kalteiche‹ die nicht nur so genannt wird, sondern wo tatsächlich oft ein eklig kalter Wind pfeift, mit meinem MTB den Berg runter rausche. Nein, mir wurde nicht der Lappen abgenommen wegen Trunkenheit, obwohl so manch einer in meiner Lage zur Flasche greifen würde, nicht ich. Ohne Auto lebt es sich billiger. Der alte Renault, den Marie mir gütigerweise mit den Worten: die Schrottlaube kannst du behalten, überlassen hat, hätte geschweißt werden müssen, um noch mal über den TÜV zu kommen. Stattdessen habe ich den Wagen samt den Erinnerungen an den Sohn meines Vermieters weitergegeben. Der gab mir dafür seinen alten PC und seit kurzem bin ich online. Wow, was sich da alles im Netz tummelt, würde offen ausgelebt sicher eingesperrt werden. Für so ein einsames Seelchen wie mich, die richtige Umgebung. Denn stets kann ich mir sagen, gut, dass du von solchen Bekundungen, wie beispielsweise ›Suche Frau zum Fersenlecken‹, meilenweit entfernt bist. Da gibt’s ja jede Menge arme Säcke und ›haste nicht gesehen‹.

2

Inseriert habe ich allerdings auch, aber in den Jobbörsen. Das einzig Gute an meiner Arbeitslosigkeit ist ja nur, das meine Ex nichts fordern kann. Aber an und für sich ist dieser Zustand nicht erstrebenswert. 44 Jahre und schon abgeschrieben, denkste oft. »Herr Himmel«, sagte der Boss vor vier Jahren, »wir verlegen unsere Produktion nach Tschechien. Wenn Sie mitkommen wollen, würden wir eine Änderungskündigung ausstellen. Wenn nicht, dann können Sie sich ab dem nächsten Ersten arbeitslos melden.« Das war ein Hammer. Hätte ich damals schon gewusst, dass meine Ehe den Bach runter gehen würde, dann hätte ich vielleicht anders entschieden. So bin ich geblieben, im Arbeitsamtsbezirk der Stadt Siegen.

Obwohl sie angeblich das wirtschaftliche und kulturelle Oberzentrum der Region Siegerland-Wittgenstein ist, habe ich in einem Prospekt gelesen – für Blechschlosser gibt es hier immer weniger zu schaffen. Eisenerzgruben gab es hier früher. Ebenso Verhüttungen, davon zeugen still die beeindruckenden Schlackehügel. Eine große Anhäufung grau-schwarzer Schlacken, bewachsen mit einigem Grünzeug. Ein besonderes Exemplar ist in der Nähe der Uni und Fachhochschule Siegen. Nebel überm Monte Schlacko. Wäre die Sicht damals doch noch schlechter gewesen. Wir waren beide 13 und ich hatte eine Wette verloren und musste sie vor Ort und vor allen anderen einlösen. Brrr. Ich meine in Momenten der Erinnerung wie diesen, noch den Geschmack Tabeas pelziger Zahnspange auf der Zunge zu spüren. Hätte ich doch studiert, denke ich manchmal, dann wärst du vielleicht jetzt ein arbeitsloser Maschinenbau-Ingenieur, beendete Marie in ihrer Kosten-Nutzen-orientierten Art, katalogblätternd meine einmalige Anwandlung kurz nach Eheschließung unters Studentenvolk zu gehen. Verloren in Siegen, jagt mir eine Schlagzeile durchs Hirn.

Trotz aller negativen Darstellung von wegen Provinz und so mag ich die Stadt, die zwischen sieben Hügeln liegt, wie Rom, na ja, großartiger Vergleich. Mir gefällt die Gegend hier. Passt irgendwie zu mir, rede ich mir bisweilen ein. Etwas rau im Klima, anspruchsvoll für Mountainbiker, der manchmal etwas mürrische wirkende Menschenschlag – aber ehrlich sind die Leute, keine Laberköppe und auf ihre Art herzlich, wenn man sie näher kennt. Die reden lieber ein Wort zu wenig als eines zuviel. Die Sprache gleiche einem vormals akkurat belegtem Apfelkuchen, durch den ein Quirl gewütet hätte, meinte mal eine Mitschülerin, die aus Hannover zugezogen war. Was soll’s, irgendwo muss man ja leben. Siegen ist immerhin eine Studentenstadt und hat zudem einige angenehme Lokale, finde ich. Wenn ich es mir leisten kann gehe ich schon mal ab und an ein Bierchen trinken in einer der Musikkneipen. Vergangenheit, ich sollte das in der Vergangenheit denken. Meine bevorzugte Kneipe haben sie abgerissen, für einen Parkplatz. Ehrlich gesagt, war ich schon lange nicht mehr aus. Ich wohne ja jetzt etwas weiter außerhalb, sozusagen an der Grenze zu Hessen. Hier gibt es noch mehr Grünflächen und meine Schwäche für die hügeligen Ausläufer des Rothaargebirges wird jeden Tag aufs Neue strapaziert, wenn ich mich auf mein Rad schwinge. Meine letzte ausgelassen begonnene und übelst betrunken ausklingende Tour durchs Siegener Nachtleben endete in der Altstadt, irgendwo im Schlosspark und lässt sich auf den Tag datieren, als ich bei meinem mich verwaltenden Beamten war, heute sagen sie so moderne Vokabeln wie Job-Vermittler. Jedenfalls sagte er freudig erregt, er war wohl neu im Amt, dass sie mich umschulen könnten. Was ich denn gerne tun wollte. Im Angebot hatte er Altenpfleger und diverse Kaufmannsberufe. Ich habe im BIZ sitzend alles angekreuzt, beflügelt von einem Spruch, den irgendein Frustrierter vor mir in den Tisch geritzt haben musste: Du hast keine Chance, nutze sie. Und verdammt, ich habe sie genutzt. Habe meine Umschulung mit Erfolg durchgezogen. »Herr Himmel«, sagte der Mann vom Amt eines Tages, »da fängt morgen eine Umschulung zum Werbekaufmann an. Es sind zwar alle Plätze belegt, aber vielleicht kommt ja einer nicht.« Werbekaufmann, ach du lieber Himmel. Was sollte ich denn da? Aber wer A sagt, muss auch B sagen, so saß ich am folgenden Tag im WK 4 (Werbekaufmann, 4. Kurs), den Blick starr aus dem Fenster auf die die Stadt durchschneidende Hüttentalstraße gerichtet, wünschte mich auf die linke Spur, nur weg hier. Während ich die betont heitere Einführungsrede des Verwaltungstypen anhörte, hoffte ich noch, dass der fehlende angemeldete Teilnehmer kommen möge. Als ich dann die Rede des leitenden Professors anhörte, hoffte ich inständig, der fehlende Teilnehmer möge auf der Stelle hereinspazieren und ich hinaus. Doch der kam nicht, so blieb ich. Inmitten der hochmotivierten Damenschneiderinnen, Versicherungskauffrauen, Lehrer (Sport und Englisch), Bäcker und im Dunst geistreicher Ergüsse und genossener ebenso geistreicher Getränke des Professors.

3

Vom arbeitslosen Blechschlosser zum arbeitslosen Werbekaufmann – Heiner Himmels steile Karriere. Immerhin sind die Arbeitslosen heute besser qualifiziert als vor 20 Jahren, könnte ich mir vorstellen. Warum ich Ihnen das alles erzähle? Ich will für Sie arbeiten. Geben Sie mir einen Job. Ich mache alles. Bin zwar arbeitslos, aber nicht frei von Visionen. Ohne Job, aber nicht ohne Ideen. Langhaarig aber nicht langweilig und ich habe gelernt, bilde ich mir ein. Wer nichts tut, dem wird auch nichts getan. Soll heißen: Der Unternehmer unternimmt was, hab ich aus so einem Workshop für Unternehmensgründer – bin aber nur drei Mal hingegangen. Für das was ich vorhabe, brauche ich keinen Finanzierungsplan, keine Marktanalyse, keine Kredite und keine Angestellten. Ich stell mich selbst an, beziehungsweise hin. Zum nächsten Ersten werde ich täglich in die Stadt radeln. Stelle mich in die Fußgängerzone mit einem attraktiven Plakat vorn und hinten. ›Sandwichman‹, nennt man das. Sie sehen, die Umschulung war nicht umsonst. Darauf folgender Text: Ich helfe Ihnen wann Sie wollen, wobei Sie wollen, so oft Sie wollen – für sieben Euro die Stunde, oder Tagespauschale.

NIMM MICH MIT!

4

Den Kater meines Lebens habe ich noch nicht ganz verwunden. Prost Neujahr! – hallen die gebrüllten guten Wünsche meines Nachbarn in mir nach. Fängt ja gut an. Allein beim Gedanken an Getränke wie Feigling, Schwarze Sau, Tequila und obendrauf noch Feuerzangenbowle krampft sich der innen nun wunde, hohle Beutel namens Magen schmerzlich zusammen. Dabei hatte es alles so harmlos angefangen. Eigentlich wollte ich gar nicht Silvester feiern. Mit wem auch. Durch die Scheidung von meiner Frau war ich gleichzeitig von unserem gesamten Freundeskreis geschieden. Der Freundeskreis mutierte also zum Feindeskreis. Still vor mich hin grimmend saß ich in der kleinen Dachwohnung und starrte auf die albernen Sketchsendungen, die im Öffentlich-Rechtlichen ausgestrahlt wurden – denen fällt auch bald nichts mehr ein. Alternde Schlagerfuzzis, greise Komiker, die vor 25 Jahren irgendwann mal lustig waren. Da kam mir das Angebot des Nachbarn ganz recht, der zu mir herauf rief, während ich meine Nase beim Lüften in den Nachthimmel hielt, als könne man den Mief alter Filme durch das Öffnen des Fensters vertreiben: »Komm Alter, feier mit, wir sind unten im Schuppen.«

Der Schuppen war ein zugiger Bretterverhau, der an den Garten meiner Dachwohnung grenzte und der Nachbar war ein 20jähriger Heavy Metal Fan, der mit seinen Kumpels nebst Freundinnen einen drauf machen wollte und mich, ich weiß nicht, ob er schon einen in der Krone hatte, dazu einlud. Besser jugendliche Lifeakts als die vertrockneten Fregatten in der ARD, dachte ich mir, staubte eine Flasche Asbach ab, die von meiner Einmann-Scheidungsfeier übrig geblieben war und bewegte mich gen Nachbarsgarten. Es war klirrend kalt und meine Lederjacke hielt nicht wirklich warm. Glücklicherweise hatten die jungen Leute ein altes Fass aufgestellt, in dem ein Feuer brannte. Nicht ganz ungefährlich. Auch ein Eimer Wasser stand bereit. AC/DC schmetterte ›Balls to the Wall‹ als ich die olle Scheune betrat. Die Headbanger waren schon recht gut abgefüllt, so mein Eindruck, als der erste vom Pissen nicht mehr wiederkam und man ihn später leicht unterkühlt hinter einem Holzstapel hervorzog. Die Ladys schenkten mir einen ekligen Trunk nach dem anderen ein und ich schluckte alles. Die Leute amüsierte es und ich plapperte im alkoholischen Überschwang sicherlich einigen Mist daher. Warum, ist mir bis heute nicht klar. Klar ist mir nur, dass ich dieses Jahr gänzlich vom Alkohol lassen werde. So wahr ich hier stehe, frisch gewaschen und gekämmt mit meinem Schild. Ich habe mich vor dem Eingang der City-Galerie postiert, in der Hoffnung, hier den meisten meiner potenziellen Kunden im Wege zu stehen und ins Auge zu fallen. Es ist nur kalt, nicht nass und so trete ich von einem Fuß auf den anderen, während die Menschen im Umtauschrausch an mir vorbeiziehen. Teilweise lächelnd, andere kopfschüttelnd. Engagiert hat mich noch niemand, ebenso wurde ich noch nicht angepöbelt. »Guck mal, da steht eine Ich-AG ... ob der schon den Börsengang geplant hat?«, unken zwei junge, gestylte Schnösel mit ihrem BWL-Studentenköfferchen und lachen über ihren genialen Witz. Typen mit breiten, blonden Strähnchen, also ich weiß ja nicht. Das war um 10 Uhr, eine halbe Stunde nachdem die Galerie ihre Pforten geöffnet hatte.

Jetzt ist es zwölf und mein Magen knurrt. Verdient habe ich noch nichts. Niemand hat mich mitgenommen an diesem Montag, den 3. Januar, in meiner neuen Anstellung. Man solle Geduld mitbringen und seine Frustrationstoleranz erhöhen, hieß es auf dem Gründerseminar. Mein Kopf schmerzt erbärmlich. Vielleicht sollte mein Outfit etwas besser sein, eine neue Hose vielleicht und eine nicht so abgewetzte Jacke wären fürs Erscheinungsbild eventuell besser. In der Tasche meiner etwas ausgeblichenen Jeans fühle ich meinen letzten Geldschein. Zwanzig Euro. Essen oder Kleiden, das ist hier die Frage. »Was kannste denn?«, werde ich aus meinen existenziellen Gedanken gerissen. Vor mir steht ein kleines Mädchen und guckt mich neugierig an. Sie wird so eben lesen gelernt haben, schätze ich. »Was brauchste denn?«, frage ich ebenso neugierig wie sie. »Ich brauch ’nen Erwachsenen, der mir die doofe Barbie umtauscht. Die ist noch original verpackt und den Kassenzettel hat meine bescheuerte Tante auch dran gelassen. Wenn du mir hilfst kriegste zwei Euro, aber nur, wenn die mir das Geld zurückgeben. Ist klar, ne?« Ich lehne das Geld dankend ab, das Mädchen zieht eine Schnute, bis ich ihr sage, dass ich ihr helfe, auch ohne Bezahlung. Welches clevere Mädchen braucht schon eine Barbie, denk ich mir. Die junge Dame zieht mich ungeduldig am Ärmel durch die großen Türen des modernen Konsumtempels, drängelt mit mir über die Rolltreppe nach unten und gemeinsam betreten wir den Spielzeugladen in der Galerie. Nach zähen Verhandlungen rückt die Verkäuferin das Geld raus. Meine Begleiterin ist überglücklich und besteht darauf mich zu bezahlen. Ich will aber kein Geld von ihr. »Ich werde dich empfehlen«, sagt sie altklug und hüpft davon. Na hoffentlich kommt jetzt nicht ihre ganze Schulklasse her, wobei, warum eigentlich nicht. Kinder haben Eltern, meistens, und wenn sich erst mal herumgesprochen hat, welch zäher Verhandlungspartner ich bin, wer weiß, vielleicht darf ich morgen schon Colliers und dergleichen umtauschen, dann aber mit Beteiligung.

5

Ich gönne mir eine erste Pause und setze mich auf die Bank beim Spuckbrunnen. Ein interessantes Wasserspiel, bei welchem das Nass mal aus dieser Röhre, dann aus jener wie gespuckt kommt, wenn es nicht gerade mittig heraussprudelt. Beruhigend, sehr beruhigend, wenn ich nicht aufpasse, werde ich hypnotisiert. Das Wohlstandsgejammer und Geschrei eines Kindes: »Warum kriegt Marvin immer das größte Stück?«, reißt mich zurück ins Hier und Jetzt. In der Kaufhöhle ist es nicht so kalt wie draußen und ich beschließe hier zu bleiben, ziehe mein Schild wieder über, fahre ins Erdgeschoss und warte. Auf die Polizei, wie sich nach einer Stunde herausstellt. Jemand vom Management des Einkaufsparadieses, für alle, die Einkommen haben, hat die zwei Sherrifs auf mich aufmerksam gemacht. Betteln und Hausieren sei verboten. Da ich weder bettle, noch hausiere, trifft mich dieses Verbot nicht, entgegne ich selbstbewusst. Ob ich einen Gewerbeschein hätte. Brauch ich nicht, ich sei Freiberufler, kontere ich und fiele somit unter die Kleinunternehmerregelung, so dass ich auch keine Umsatzsteuer leisten müsse. »Sie können mir nichts!«

Das erklärte ich im Brustton der Überzeugung und beschloss, mir in der Buchhandlung im Obergeschoss von meinem ersten Gewinn ›Rechtsgrundlagen für Geringverdiener‹ oder so was in der Art zu besorgen. Es hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet, die den Wortwechsel gespannt verfolgte und den Zugang einer Bäckerei blockierte. Sie könnten mir einen Platzverweis aussprechen, drohen die Beamten. Auf die Frage ins Forum, wen meine Anwesenheit denn störe – erwartungsvoll und ein bisschen angstvoll blicke ich in die Gesichter – meldet sich niemand. Nein, Sympathie würde ich das jetzt auch nicht gerade nennen, was mir aus dem Publikum entgegenschlägt, eher eine Art Teilnahmslosigkeit zu meinen Gunsten. »Wir behalten Sie im Auge«, meint der eine noch und nimmt meine Personalien auf. Kein Problem, ich hatte eh nicht vor meine Nebeneinkünfte dem Arbeitsamt zu verschweigen. Mein Magen knurrt hörbar. Ein Clochard löst sich aus der gesichtslosen, gaffenden Menge und schenkt mir eine Banane. Bevor ich ›Danke‹ sagen kann, verschwindet er hinter einem goldgeschmückten Tannenbaum und gleitet auf der Rolltreppe hinauf in die oberste Etage. Übrig von der beinahe unwirklichen Begegnung bleibt die Banane in meiner Hand und der Geruch von nassem Hund in meiner Nase. Als die Leute merken, dass es nichts mehr zu sehen gibt, da die Polizisten bereits das Feld geräumt haben, löst sich die Versammlung langsam auf. Hungrig mache ich mich über die Südfrucht her, genau das Richtige für einen vom Alkohol gebeutelten Magen. Danke, namenloser Wanderer.

Wo er wo hinwill, wo er her kam? Vielleicht sollte ich mein persönliches Leistungsangebot um den Posten: Fremdenführung im Dreiländereck bereichern? Es gäbe mehrere Adventure Touren: ›Lauern auf den Dilldapp‹, gegen aufkommenden Hunger: Einkehr in heimelige Fachwerkhäuschen mit heimischer Küche, oder ›Auf den Spuren des Haselhuhns‹ oder ›Schatzsuche im Silbersee‹, wie wäre ›Powersägen im Hauberg‹ oder ›Workout im Schiefergestein‹? Träum weiter. Reich wirst du hier damit bestimmt nicht, entgegnet der Pessimist in mir, der auch schon oft überlegt hat, wegzuziehen, doch sich bislang nicht durchsetzen konnte. Das hat wohl auch was mit einer gewissen Trägheit zu tun.

Ich habe mir noch gar keine Gedanken über die Länge meines Arbeitstages gemacht, stehe ich jetzt schon seit der Früh vor und hier in der Passage. Wenn ich meine Anfahrt hinzurechne, käme ich auf acht Stunden und es ist erst 16 Uhr. Da ich noch Umsatz erhoffe, die Büroleute strömen jetzt erst in die City-Galerie, werde ich ausharren. Ein Unternehmer hat keinen Acht-Stunden-Tag, da sollten wir uns nichts vormachen. Auch die Werbeleute in den Agenturen sind im Grunde mehr oder minder Leibeigene des Inhabers, erzählte neulich eine aus meiner Umschulung, die ich beim Tanken traf. Beim letzten Tanken für lange Zeit. Bis ich mir wieder würde ein Auto leisten können wollen, wird wohl einige Zeit verstreichen. Ich bin froh, wenn ich die Miete zahlen kann. Zweihundert Euro warm für eine Art Wohn-Klo. Aber gemütlich hab ich es in der 30 qm Dachwohnung, allein schon deshalb, weil die Schrägen bis zum Boden reichen. Dieser Tatbestand vereinfachte auch die Frage nach dem passenden Mobiliar. So konnte meine Ex die ganzen angepassten Möbel behalten. Habe ich eh nie gemocht, die starre Einbauküche im Einbauleben, die feste Sitzgruppe im festgesetzten Einerlei. Aufstehen, Brot schmieren, auf die Arbeit gehen, müde nach Hause kommen, vor dem TV einschlafen. Ich weiß gar nicht warum meine geschiedene Frau allein mir die Schuld dafür in die Schuhe schob. Wer wollte denn den beleuchteten Vitrinenschrank, für den Überstunden gemacht werden mussten – ich mal nicht. Trotz trüber Gedanken versuche ich freundlich zu gucken, ich bin schließlich Geschäftsmann und fühle mich zudem seit einigen Minuten beobachtet. Mein Blick schweift suchend durch die Tüten mit Kopf drauf, Armen dran und Beinen drunter. Einige Menschen versuchen wahrscheinlich, ihre Weihnachtsgeschenkgutscheine einzulösen. Auch so eine Sache mit den Gutscheinen. Da denkt man, man sei somit auf der sicheren Seite und könne sich nicht vergreifen, doch weit gefehlt. »Für die Summe kriege ich in dem Laden doch nichts Anständiges zum Anziehen«, war ein oft gehörter Vorwurf meiner Ex. Wieder Single sein hat durchaus Vorteile. Keine Weihnachtsgutscheine einlösen zu müssen auch. Hundert Geschäfte allein hier, in meinem gewählten Arbeitsbereich. Die vielen anderen in der Stadt gar nicht mitgerechnet. Ich könnte durchaus mit meinem Schild durch die Bahnhofstraße spazieren, am Kölner Tor hinauf bis zur Marburger Straße und wieder die steilste Fußgängerzone Deutschlands hinunter. Doch die Oberstadt kränkelt ein wenig, heißt es. Klar, wenn die hier unten so ein Einkaufszentrum errichten und die Verkaufsflächen in der Unterstadt erhöhen. Sieg-Caree heißt die kommende Shopping-Mall, für die gegenüber eine Häuserzeile weichen musste. Ob das mal alles gut geht? Wer soll das alles kaufen? Gibt es überhaupt ein Leben nach der Sozialreform? Ein kurzes Gefühl von Endzeitpanik flammt in mir auf. Jetzt halt mal den Ball flach, stutze ich meine Existenzsorgen zurecht. Sollte ich mich lieber später vor den ebenfalls in der Bauphase befindlichen IKEA-Markt platzieren, mit einem Bauchladen, Dübel, Werkzeugkiste, Bohrersätze im Anschlag – allzeit bereit zierlichen Damen beim Beladen ihrer umgeklappten Sitzbänke mit sperrigen Pressholzteilen helfend unter die Arme zu greifen? Ich könnte ein Netzwerk aufbauen, postiere meine Leute vor den Discountern, die ihre Kunden mit unverständlichen, schlecht aus dem taiwanesischen übersetzten Anleitungen aus den breiten Glastüren entlassen. Heiner, du spinnst, sagte meine Deutschlehrerin oft, immerhin mit einem freundlichen Lächeln, übergab mir den Aufsatz mit einer Vier darunter. Vier, die Zwei des kleinen Mannes.

6

Jetzt habe ich ihn entdeckt, den Gucker. Vor dem s. Oliver-Laden steht ein älterer gut gekleideter Herr und beobachtet mich ungeniert. Er zwinkert mir zu, ist es zu glauben. Nee, so einer bin ich nicht. Mir wird ein wenig unwohl. Der wird doch nicht hierüber kommen. Er winkt in meine Richtung. Neben mir winkt ein hübscher Junge zurück und greift in seine Hose, holt eine Münze hervor und will sie mir geben. »Nein danke«, sage ich, »ich suche einen Job keine Almosen.« Der Junge steckt das Geld wieder ein und wünscht mir gutes Gelingen. Sein älterer Freund nimmt ihn in Empfang und sie verschwinden in dem Mode-Laden. Langsam verlässt mich die anfängliche euphorische Stimmung. Ob ich abbreche für heute? Du machst es dir manchmal zu einfach, sagte meine Oma mit einem Schmunzeln zu mir, als ich ihr beim Kartoffelnschälen helfen sollte, stattdessen Pellkartoffeln vorschlug – wohlwissend, dass sie einen Sechsjährigen keine heißen Kartoffeln anfassen ließ. Also, Heiner, auf ins Obergeschoss, ermuntere ich mich, da es sonst keiner tut.

Ich beziehe Posten vor der Buchhandlung, so kann ich mit einem Auge die direkt zu vorderst ausgelegten Büchertürme studieren. Stunden später, so scheint mir, habe ich alles gelesen. Sieht nicht so aus, als würde noch einer meine Dienste benötigen. Gerade als ich mein Schild abstreife, kommt der Inhaber des Ladens, in dessen Nähe ich gestanden habe, auf mich zu. »Meine Putzfrau hat die Grippe, machen Sie auch sauber?« »Klar«, sag ich und die Freude, die über mein Gesicht huscht, bei diesem Jobangebot, scheint den Italiener zu befremden. Er zieht eine gezupfte Augenbraue hoch und zeigt mir die Putzutensilien, er hält mich vielleicht für pervers, da ich mich wirklich freue seine Pizza-eckenbude zu schrubben. Der Mann heißt Angelo, wie sonst, und verkauft den lieben langen Tag Pizza-ecken mit den unterschiedlichsten Belägen, die sich allesamt in Form einer schwarzen teerharten Kruste, so scheint es, im Ofen festgesetzt haben, wie ein Blick in das dunkle Loch verrät. Nein, der müsse erst abkühlen. Ich soll mit den Tischen anfangen. Ei verbibscht was klebt des Zeuch – Margarita auf Marmor, Kaugummi zwischen Käse, Artischockenherzen in Amarettopfützchen. Angelo wirft mir einen Schaber zu. Erst mal die Tische von grober Verunreinigung frei kratzen. Ich entscheide mich doch für die gelben Gummihandschuhe, in denen sicherlich noch die händeringende Feuchtigkeit der vor mir Putzenden konserviert ist. Ich stelle mir vor, dass es sehr schöne, zartgliedrige Finger waren, die in der baumwollgefütterten Gummihülle

gesteckt haben, gepflegte Fingernägel. Frauenhände, die zärtlich und gleichsam kräftig den richtigen Druck an den, an meinen, dafür empfänglichen Körperstellen ausüben konnten. Ein wohliger Schauer überläuft mich, während ich eingetrocknete Tomatenhäutchen von Tischkanten kratze. Tomatenrot stelle ich mir die Lippen der Frau vor, die vor mir in diesen Handschuhen, im Schweiße ihres Angesichts, sich unter den Tisch gebückt um Reinlichkeit bemüht, die Unterseite des rauen Marmors mit Meister Proper von fettigen Fingerabdrücken, satter, zufriedener Männer befreit. Ich bin so wild nach deinen Erdbeermund, fällt mir der Titel eines Kinski-Romans ein, spermaspritzende Sabberlektüre, eimerweise.

›Du ... du ...

ich bin so wild nach deinem Erdbeermund,

ich schrie mir schon die Lungen wund

nach deinem weißen Leib, du Weib.

Im Klee, da hat der Mai ein Bett gemacht,

da blüht ein süßer Zeitvertreib

mit deinem Leib die lange Nacht.

Da will ich sein im tiefen Tal

dein Nachtgebet und auch dein Sterngemahl.‹

Zitronenduft steigt mir plötzlich in die Nase. Angelo schiebt mir mit dem Schrubber einen dampfenden Putzeimer in die Kniekehlen und reißt mich in die klebrige Wirklichkeit und weg von François Villon und Klaus Kinski.

Wahrscheinlich sind ihre Hände schrumplig und schrundig, ihre Lippen trocken und aufgesprungen. Ich streife die Handschuhe wieder ab und bekomme ein besseres Gefühl für den Feudel, wische und wringe, bis alle Tische blank sind und blitzen, bereit den nächsten kleckernden Passanten als kurzfristige Stütze in ihren Fastfoodleben zu dienen. »Seniore, avanti – der Boden!«