Dumala - Eduard von Keyserling - E-Book

Dumala E-Book

Eduard von Keyserling

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Beschreibung

Pastor Werner aus Dumala vollzieht seinen Dienst an der Gemeinde pflichtschuldig und mit ganzem Herzen. Somit wird er unfreiwillig auch zum Abnehmer der dörflichen Beichten. Er nennt es »Barmherzigkeitssport«; von der untreuen Ehefrau bis zum betrogenen Ehemann, von der Erbschleicherei bis zum Testamentsbetrug ist alles dabei. Schließlich kommt es, wie es kommen musste: Der Pastor will den Wahrheitsgehalt einer Beichte des notorischen Dorftrinkers überprüfen. Hätte er es lassen sollen? Wie viel kann man am Ende eines Tages wirklich von einem Menschen wissen? Null Papier Verlag

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Eduard von Keyserling

Dumala

Roman

Eduard von Keyserling

Dumala

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] EV: S. Fischer, Berlin, 1915 (190 S.) 2. Auflage, ISBN 978-3-962814-46-5

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Dan­ke

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Dumala

Der Pas­tor von Du­ma­la, Er­win Wer­ner, stand an sei­nem Kla­vier und sang:

»Der Ne­bel stieg, das Was­ser schwoll, Die Möwe flog hin und wie­d–e–r«

Er rich­te­te sei­ne mäch­ti­ge Ge­stalt auf. Sein schö­ner Ba­ri­ton er­füll­te ihn selbst ganz mit Kraft und süßem Ge­fühl. Es war an­ge­nehm zu spü­ren, wie die Brust sich wei­te­te, wie die Töne in ihr schwol­len.

»Aus dei­nen Au­gen lie­be­voll Fie­len – die Trä­nen – nie–ie–­der.«

Er zog die Töne, ließ sie aus­klin­gen, weich hin­schmel­zen.

Sei­ne Frau saß am Kla­vier, sehr hübsch mit dem run­den rosa Ge­sicht un­ter dem krau­sen asch­blon­den Haar, hell­be­leuch­tet von den zwei Ker­zen, die kurz­sich­ti­gen blau­en Au­gen mit den blon­den Wim­pern ganz nah dem No­ten­blatt. Die klei­nen ro­ten Hän­de stol­per­ten auf­ge­regt über die Tas­ten. Den­noch, wenn ein län­ge­res Tre­mo­lo ihr einen Au­gen­blick Zeit ließ, wag­te sie es, von den No­ten fort zu ih­rem Mann auf­zu­se­hen, mit ei­nem ver­zück­ten Blick der Be­wun­de­rung.

Es war zu schön, wie der Mann, von der Mu­sik hin­ge­ris­sen, sich wieg­te, wie er wuchs, grö­ßer und brei­ter wur­de, wie all das Süße und Star­ke, all die Lei­den­schaft her­aus­ström­ten. Das gab ihr einen köst­li­chen Rausch. Trä­nen schnür­ten ihr die Keh­le zu­sam­men, und um das Herz wur­de es ihr selt­sam be­klom­men.

»Seit je­ner Stun­de ver­zehrt sich mein Leib, Die See­le stirbt vor Seh–­nen –«

Die Stim­me füll­te das gan­ze Pas­to­rat mit ih­ren schwü­len Lei­den­schafts­ru­fen. Die alte Tija hielt im Ess­zim­mer mit dem Tisch­de­cken inne, fal­te­te ihre Hän­de über dem Bauch, schloss ihr ei­nes, blin­des Auge und schau­te mit dem an­de­ren starr vor sich hin. Da­bei leg­te sich ihr blan­kes, gel­bes Ge­sicht in an­däch­ti­ge Fal­ten.

Das gan­ze Haus, bis in den Win­kel, wo die Kat­ze am Her­de schlief, klang wi­der von den wil­den und schmel­zen­den Lie­bes­tö­nen. Sie dran­gen durch die Fens­ter hin­aus in die Ebe­ne, wo die Nacht über dem No­vem­ber­schnee lag; ja vom na­hen Bau­ern­hof ant­wor­te­te ih­nen ein Hund mit lang­ge­zo­ge­nem, sen­ti­men­ta­lem Ge­heul.

»Mich hat das un­glück­sel’­ge Weib Ver­gif­tet – ver­gif­tet – –«

Die Fens­ter beb­ten von dem Verzweif­lungs­ruf. Die Kat­ze er­wach­te in ih­rer Ecke, die alte Tija fuhr sich mit der Hand über das Ge­sicht und mur­mel­te:

»Ach – Gott­chen!«

»Ver­gif­tet mit ih­ren Trä­nen.«

Die klei­ne Frau lehn­te sich in ih­ren Stuhl zu­rück, fal­te­te die Hän­de im Schoß und sah ih­ren Mann an.

Pas­tor Wer­ner stand schwei­gend da und strich sich sei­nen blon­den Voll­bart. Er muss­te sich auch erst wie­der zu­rück­fin­den.

Jetzt war es ganz still im Pas­to­ra­te. Nur Tija be­gann wie­der lei­se mit den Tel­lern zu klap­pern.

»Wie Sieg­fried!« kam es lei­se über die Lip­pen der klei­nen Frau.

»Wer?« fuhr Pas­tor Wer­ner auf.

»Du«, sag­te sei­ne Frau.

Wer­ner lach­te spöt­tisch, wand­te sich ab und be­gann, die Hän­de auf dem Rücken, im Zim­mer auf und ab zu ge­hen.

So war es je­des Mal, wenn er sich im Sin­gen hat­te ge­hen las­sen, wenn er sich mit Ge­fühl voll­ge­trun­ken hat­te. Dann kam der Rück­schlag.

Man hat­te ge­glaubt, et­was Gro­ßes zu er­le­ben, einen Schmerz, eine Lei­den­schaft, und dann war es nur ein Lied, et­was, das ein an­de­rer er­lebt hat, und die Win­de des Zim­mers mit ih­ren Fo­to­gra­fi­en, die großen schwarz und rot ge­mus­ter­ten Mö­bel, all das be­eng­te ihn, drück­te auf ihn.

Sei­ne Frau saß noch im­mer am Kla­vier und starr­te in das Licht. Auch bei ihr war der schö­ne Rausch der Mu­sik vor­über. Nur eine müde Trau­rig­keit war üb­rig­ge­blie­ben. Sie dach­te dar­über nach, warum er sich ge­är­gert hat­te, als sie »Sieg­fried« sag­te. Das kam oft so. Wenn sie ganz voll von Be­geis­te­rung für ihn war, dann war ihm et­was nicht recht, und er lach­te kalt und spöt­tisch.

»Lene, es­sen wir nicht?« frag­te Wer­ner.

Da fuhr sie auf.

»Na­tür­lich! Ge­füll­te Pfann­ku­chen!«

Und sie lief in die Kü­che hin­aus.

Am Ess­tisch un­ter der Hän­ge­lam­pe war al­les Frem­de und Er­re­gen­de fort. Wenn es ihm schmeck­te, war Pas­tor Wer­ner ge­müt­lich, das wuss­te Lene. Dann konn­te sie ru­hig vor sich hin­plau­dern, ohne be­ru­fen zu wer­den, dann hat­te sie das Ge­fühl, dass er ihr ge­hör­te.

»Die Baro­nin aus Du­ma­la fuhr heu­te hier vor­über«, be­rich­te­te sie.

»So«, mein­te Wer­ner, und sah über das Schnaps­glas, das er zum Mun­de füh­ren woll­te, hin­weg sei­ne Frau scharf an: »Nun – und?«

»Nun, ja. Sie hat­te eine neue Pelz­ja­cke an. Ent­zückend!«

Wer­ner trank sei­nen Schnaps aus und frag­te dann:

»Stand sie ihr gut, die­se Ja­cke?«

Lene seufz­te: »Na­tür­lich! Die­se Frau ist ja so schön!«

»Was ist da­bei zu seuf­zen?« frag­te Wer­ner. »Lass sie doch schön sein.«

»Weil ich sie nicht mag«, fuhr Lene fort, »des­halb. Sie will alle Män­ner in sich ver­liebt ma­chen. Aber schön ist sie.«

Wer­ner lach­te. »Was für Män­ner? Die arme Frau pflegt ih­ren ge­lähm­ten Mann Tag und Nacht. Die sieht ja kei­nen. Eine neue Pelz­ja­cke ist da doch eine sehr un­schul­di­ge Zer­streu­ung.«

»Dich sieht sie doch.« Lene nahm einen her­aus­for­dern­den Ton an, als su­che sie Streit.

Wer­ner zuck­te nur die Ach­seln.

»Mich!«

»Ja dich«, fuhr Lene fort. »Und du bist doch auch in sie ver­liebt, – et­was – nicht?«

Heu­te är­ger­te das Wer­ner nicht.

»Wenn du willst!« mein­te er.

Die klei­ne Frau durf­te heu­te ru­hig mit ihm spie­len, wie mit ei­nem großen, gut­mü­ti­gen Neu­fund­län­der. Ein we­nig schweig­sam war er, aber das pfleg­te er am Sonn­abend im­mer zu sein, wenn die Pre­digt ihm im Kop­fe her­um­ging.

Nach dem Es­sen saß das Ehe­paar am Ka­min­feu­er. Durch das Fens­ter, an dem die Lä­den of­fen ge­blie­ben wa­ren, schau­te die blei­che Schne­e­nacht in das Zim­mer. Aus der Ge­sin­de­stu­be klang Ti­jas dün­ne, zit­tern­de Stim­me. Sie sang einen Ge­sang­buch­vers.

»So ist’s hübsch«, sag­te Lene. »So ist’s ge­müt­lich! Nicht wahr? Al­les ist still, und das Feu­er, – und man sitzt bei­sam­men.«

»Stell doch der Le­bens­la­ge kei­ne Zen­sur aus«, ver­setz­te Wer­ner, der sin­nend in das Feu­er starr­te.

»Wa­rum?« frag­te Lene ei­gen­sin­nig.

»Weil, weil« – Wer­ners Stim­me wur­de streng – »weil Zen­su­ren aus­ge­stellt wer­den, wenn die Schu­le zu Ende ist.«

»Des­halb!« mein­te Lene, die ihn nicht recht ver­stan­den hat­te.

»Nun sei aber nicht un­ge­müt­lich, Wer­ner­chen.«

Sie stand auf, ging zu ihm, setz­te sich auf sei­ne Knie, schmieg­te sich an sei­ne Brust, um­rank­te den großen Mann ganz mit ih­rer klei­nen, le­gi­ti­men Sinn­lich­keit, die sich schüch­tern her­vor­wag­te.

»Wir sind doch glück­lich!« sag­te sie. »Ich sag’s doch. Ich stell’ gute Zen­su­ren aus.«

Wer­ner saß still da, ließ sich von der Wär­me die­ses jun­gen Frau­en­kör­pers durch­drin­gen. Dann plötz­lich schob er Lene bei­sei­te und stand auf.

»Wo­hin?« frag­te sie er­schro­cken.

»Oh – nichts«, er­wi­der­te er, »ich – ich will mir noch was über­le­gen.«

»Die­se ewi­ge Pre­digt!« seufz­te Lene. »Wor­über pre­digst du denn mor­gen?«

»Über die Ver­su­chung in der Wüs­te, du weißt’s ja.«

»Ach ja! Sei doch nicht wie­der so streng. Wenn du so her­un­ter­don­nerst, wird ei­nem ganz bang.«

Er zuck­te die Ach­seln.

»Seit wann willst du denn Ein­fluss auf mei­ne Pre­dig­ten neh­men?«

Also nun hat­te sie ihn auch noch ge­är­gert. Sie schwieg. Wäh­rend Wer­ner, die Hän­de auf dem Rücken, im Zim­mer auf und ab ging, kau­er­te sie auf ih­rem Ses­sel und folg­te ihm un­ver­wandt mit den Bli­cken. Eben noch hat­te sie sich glück­lich ge­fühlt, jetzt war wie­der et­was über ihn ge­kom­men, das sie nicht ver­stand. Sie fühl­te, wie müde ihre Glie­der von der Ar­beit des Ta­ges wa­ren, und das Trau­ri­ge war über sie ge­kom­men, dem sie nicht nach­den­ken woll­te. Sie folg­te Wer­ner mit den Bli­cken, wie er auf und ab ging, sehr auf­recht in sei­nem schwar­zen Rock, auf und ab, bis sei­ne Ge­stalt un­deut­lich wur­de und ihr die Au­gen zu­fie­len.

»Her­un­ter­don­nern«, hat­te Lene ge­sagt, ja, das lieb­te er, das Pre­di­gen war wie das Sin­gen, da konn­te er sich aus­ge­ben, da hat­te er das Ge­fühl, als »gin­ge eine Kraft von ihm aus«, wie die Bi­bel sagt. All die großen, schö­nen Wor­te, der große Zorn, mit dem er dro­hen, die ganz großen Se­lig­kei­ten, die er ver­spre­chen konn­te, und all das war un­end­lich und ewig, das gab auch einen Rausch. Er freu­te sich schon dar­auf. Dazu zog die Ver­su­chung in der Wüs­te, die­se wun­der­ba­re Geis­ter­un­ter­hal­tung, groß wie Dan­tes Ver­se, ihn selt­sam an. Das Wil­de des Kamp­fes der bei­den Wun­der­kräf­te in der Wüs­te reg­te ihn auf.

In tie­fem Sin­nen ging er auf und ab, ver­gaß sei­ne Um­ge­bung, bis ein ver­schla­fe­ner Laut aus Le­nes halb­ge­öff­ne­ten Lip­pen ihn auf­schau­en mach­te.

»Ja so – der Frie­de des Pas­to­rats« – dach­te er nicht ohne Bit­ter­keit. Weiß es Gott! ihm war we­nig fried­lich zu­mu­te!

Er stell­te sich an das Fens­ter, schau­te in die Nacht hin­aus.

Oben am Him­mel war Auf­re­gung un­ter den Wol­ken, zer­fetzt und ge­bläht wie Se­gel scho­ben sie sich an­ein­an­der vor­über. Der Mond muss­te ir­gend­wo sein, aber er wur­de ver­deckt, nur ein schwa­ches, mü­des Däm­mer­licht lag über der Ebe­ne.

Frie­den! Ja, wenn ei­ner sich be­stän­dig mit Wun­der­din­gen ab­ge­ben muss, wenn er im­mer die­se Sprü­che im Mun­de füh­ren muss, die so voll Lei­den­schaft und Zorn und Sü­ßig­keit und Ge­heim­nis sind, wo soll da der Frie­de her­kom­men? Das Herz wird so emp­find­lich und so er­regt, dass es auf al­les hin­ein­fällt.

Der Wind trieb klei­ne Schnee­wir­bel wie wei­ße Rauch­wölk­chen über die Ebe­ne. Win­zi­ge Licht­pünkt­chen wa­ren in die Nacht ge­streut, wie ver­lo­ren in dem fah­len, wei­ßen Däm­mern. Dort die Rei­he hel­ler Punk­te wa­ren die Fens­ter des Schlos­ses Du­ma­la. Wer­ner fiel die neue Pelz­ja­cke der Baro­nin Wer­land ein, und dann sah er das große, düs­te­re Zim­mer vor sich, die grün ver­han­ge­ne Lam­pe, am Ka­min im Ses­sel den Her­ren mit dem wachs­gel­ben, schar­fen Ge­sicht, die Füße in eine rote De­cke ge­wi­ckelt. Bei ihm auf dem nied­ri­gen Stühl­chen die schö­ne Frau mit den schma­len Au­gen, die un­ru­hig schil­ler­ten, und dem selt­sam fie­ber­ro­ten Mun­de. Sie saß da, blin­zel­te schläf­rig in das Ka­min­feu­er und strich mit ih­rer Hand lang­sam an dem Bein des Kran­ken auf und ab.

Ein Schmerz, et­was wie ein kör­per­li­cher Schmerz, schüt­tel­te Wer­ner bei die­sem Bil­de, ließ ihn blass wer­den und das Ge­sicht leicht ver­zie­hen.

Är­ger­lich wand­te er sich vom Fens­ter ab. Es war zu dumm! Die­ses Pre­digt­ma­chen ließ je­des Mal al­les in ihm tol­ler ru­mo­ren denn je!

Er be­gann wie­der auf und ab zu ge­hen, dann blieb er vor Lene ste­hen.

Sie hat­te die Füße auf den Ses­sel hin­auf­ge­zo­gen, die Wan­ge an die Stuhl­leh­ne ge­stützt. So schlief sie. Die Lip­pen halb ge­öff­net, at­me­te sie tief, auf dem Ge­sich­te den erns­ten, be­sorg­ten Aus­druck, den Men­schen in schwe­rem Schla­fe an­neh­men, als sei das Schla­fen eine Ar­beit.

Wer­ner be­trach­te­te sie eine Wei­le. Er fühl­te plötz­lich ein tie­fes Er­bar­men mit die­sem jun­gen schla­fen­den We­sen. Auch wie­der die Ner­ven und die un­nüt­ze Weich­heit! Er konn­te ja jetzt nichts mehr an­se­hen, ohne dass es schmerz­te!

Be­hut­sam nahm er Lene auf sei­ne Arme und trug sie in das Schlaf­zim­mer hin­über.

*

Die Sa­kris­tei war vol­ler Schnee­licht. Zwi­schen den en­gen, wei­ßen Wän­den, in dem wei­ßen Lich­te, sah Pas­tor Wer­ner, im schwar­zen Tala­re, sehr groß aus. Er saß am Tisch, vor sich das auf­ge­schla­ge­ne Ge­sang­buch und das Blatt mit den No­ti­zen zu sei­ner Pre­digt. Drau­ßen san­gen sie schon das Lied, ein Chor har­ter Frau­en­stim­men, hei­se­rer Kin­der­stim­men, da­zwi­schen das Knar­ren der Bäs­se. Sie zo­gen die Töne schläf­rig und be­ru­higt. Gott! spiel­te der Or­ga­nist heu­te tol­les Zeug zu­sam­men! Si­cher­lich hat­te der Mann wie­der die gan­ze Nacht durch ge­sof­fen. Die alte Or­gel stöhn­te und seufz­te or­dent­lich un­ter sei­nen rück­sichts­lo­sen Fin­gern.

Wer­ner sang nicht mit. Er schau­te zum Fens­ter hin­aus. Es tau­te und die Son­ne schi­en. Die Bäu­me hin­gen ganz voll blan­ker Trop­fen und das be­stän­di­ge Trop­fen vom Da­che und den Trau­fen leg­te um die Kir­che ein hel­les Blit­zen und Klin­gen.

Sonn­täg­lich! Die Sonn­tags­stim­mung war da, die kam im­mer, aus al­ter Ge­wohn­heit, an­fangs fei­er­lich, spä­ter an­ge­nehm schläf­rig. Er lieb­te die­sen Au­gen­blick in der Sa­kris­tei vor der Pre­digt, wenn er da­saß und sich voll großer Wor­te, voll lau­ter, ein­dring­li­cher Töne fühl­te.

Er horch­te hin­aus. Er kann­te die Schel­len der Schlit­ten, die her­an­fuh­ren. Das wa­ren die Schel­len von Deb­schen, das – der Dok­tor Braun, das die Schel­len von Du­ma­la.

Den­noch frag­te er, als der Küs­ter ein­trat: »Wer ist al­les da?«

Der Küs­ter Pe­ter­son leg­te sein großes, schlau­es Bau­ern­ge­sicht in pas­to­ra­le Fal­ten.

»Die Du­ma­la­schen sind da«, mel­de­te er, »die Baro­nin und der Se­kre­tär.«

»Wer noch?« frag­te Wer­ner un­ge­dul­dig. Wa­rum mel­de­te der Kerl ge­ra­de nur die Du­ma­la­schen?

Pe­ter­son zog er­ge­ben die Au­gen­brau­en em­por:

»Der Dok­tor ist da, die aus Deb­schen.« –

»Gut – gut.« Wer­ner wink­te ab. Es war doch ganz gleich­gül­tig, ob der Dok­tor da war und die Alte aus Deb­schen!

Nun war es Zeit, auf die Kan­zel zu stei­gen, sie san­gen da drin schon den letz­ten Vers des Lie­des. Wer­ner freu­te sich, zu fin­den, dass die Kir­che vol­ler Licht war. Wenn die brei­ten, gel­ben Licht­bän­der durch die ho­hen Fens­ter in den Raum flu­te­ten, dann be­kam sei­ne Pre­digt auch an­ders hel­le Far­ben, als wenn die Kir­che voll grau­er Däm­me­rung war, und der Re­gen ge­gen die Fens­ter­schei­ben klopf­te.

Es roch nach nas­sen, schwe­ren Woll­klei­dern, frisch­ge­wa­sche­nen Katt­un­tü­chern und Tran­s­tie­feln.

Wer­ner beug­te sich über das Pult auf der Kan­zel zum Ge­bet. Die­ser Au­gen­blick brach­te ihm stets eine sanf­te, an­däch­ti­ge Ek­sta­se, so die Stirn auf das Pult zu le­gen, und un­ten wur­de es still, und sie war­te­ten, war­te­ten auf sein Wort.

Die Pre­digt be­gann. Die ei­ge­ne Be­red­sam­keit er­wärm­te ihn heu­te be­son­ders. Er hör­te es, wie die Leu­te un­ten auf­merk­sam wur­den, wie das Hus­ten und Sichräus­pern schwie­gen.

Und Wer­ner gab sei­ner Stim­me vol­le­re Töne, mach­te große, freie Be­we­gun­gen. Er wuss­te es wohl, die meis­ten dort un­ten ver­stan­den ihn nicht, aber heu­te dräng­te eine in­ne­re Er­re­gung ihn, hin­aus­zu­sa­gen, hin­aus­zu­ru­fen, was ihn be­weg­te.

»›Fal­le vor mir nie­der und bete mich an‹, sprach der Böse zum Soh­ne Got­tes. ›Be­te mich an!‹ Ja, das ist es, das will er. Er hat nicht ge­nug mit un­se­ren Sün­den der Schwä­che, der Nach­läs­sig­keit, der Bos­heit, des Un­glau­bens, nein, nie­der­fal­len sol­len wir vor ihm und ihn an­be­ten. Er will an­ge­be­tet, er will ver­ehrt, er will ge­liebt wer­den. Da­nach dürs­tet er. Er will, dass wir zu ihm spre­chen: Um dich ge­ben wir die ewi­ge Se­lig­keit und die Got­tes­kind­schaft hin, dir op­fern wir sie, um dich ge­hen wir mit of­fe­nen Au­gen in un­ser Ver­der­ben, weil wir dich an­be­ten, weil du uns groß und lie­bens­wert er­scheinst, weil wir zu dir wol­len. Der Böse will, dass wir die Sün­de lie­ben, dass wir sie an­be­ten. Das ist sein Tri­umph. Das ist das tie­fe, furcht­ba­re Ge­heim­nis der Sün­de.« Die Stim­me des Pas­tors hat­te hier einen tie­fen, ge­heim­nis­vol­len und lei­den­schaft­li­chen Ton­fall an­ge­nom­men, wie eine un­heim­li­che Lie­bes­er­klä­rung an die Sün­de klang es.

Er hielt inne, selbst er­staunt über das, was er sag­te. Es klang fremd in die Kir­che hin­ein, und zu­gleich schi­en es ihm, als ver­rie­te er et­was, als sprä­che er et­was aus, das ge­heim sein soll­te und nur von ihm ge­ahnt wur­de.

Er schau­te hin­un­ter auf die Ge­mein­de.

Ru­hig sa­ßen sie da alle bei­sam­men. Alte Frau­en schlie­fen. Mäd­chen, mit glatt­ge­bürs­te­tem Haar, die Hän­de im Schoß ge­fal­tet, starr­ten aus­drucks­los vor sich hin, ge­nos­sen die Ruhe des Au­gen­blicks. Ihm ge­gen­über im Ge­stüh­le der Wer­lands von Du­ma­la saß die Baro­nin Ka­ro­la. Sie hat­te den Kopf leicht zu­rück­ge­lehnt und schau­te scharf zu ihm her­über, sie kniff da­bei die Au­gen­li­der zu­sam­men, so­dass die Au­gen nur wie sehr blan­ke Stri­che zwi­schen den lan­gen Wim­pern her­vor­schim­mer­ten.

Wer­ner ging zum Schluss sei­ner Pre­digt über. Sei­ne Stim­me nahm wie­der ih­ren ru­hig er­mah­nen­den Ton an, in dem er­bau­lich das Me­tall sei­nes schö­nen Ba­ri­tons mit­klang.

Nach dem Got­tes­dienst frag­te Wer­ner den Küs­ter, wäh­rend er sich in der Sa­kris­tei um­klei­de­te:

»Ist die Baro­nin aus Du­ma­la schon fort­ge­fah­ren?«

»Nein«, mein­te der Küs­ter, »die Frau Baro­nin war­tet auf den Herrn Pas­tor – wie im­mer.«

»Wie­so – wie im­mer?« frag­te Wer­ner un­ge­dul­dig. »Pe­ter­son, Sie fan­gen an, Un­sinn zu spre­chen.«

Leu­te ka­men zu ihm, die Wald­häus­le­rin Mar­ri, ihre Mut­ter, die alte Geh­da, konn­te nicht ster­ben, das dau­er­te nun schon Wo­chen. Der Herr Pas­tor soll her­über­kom­men. Wer­ner fer­tig­te die Leu­te ei­lig und me­cha­nisch ab, sag­te das nö­ti­ge »Gott weiß am bes­ten, wenn er uns zu sich ruft. Wir müs­sen war­ten«. Die Wald­hü­te­rin klag­te, dass ihr Mann sie zu­schan­den schlug, wenn er be­sof­fen war.

Wer­ner zog sich sei­nen Pelz an. »Ja, ja – ich kom­me mal an. Gott be­hüt’ euch lie­ben Leu­te – Gott be­foh­len.« Ei­lig ging er hin­aus.

Die Baro­nin Ka­ro­la stand vor ih­rem Schlit­ten, sehr schlank, fest in die blaue Pelz­ja­cke ge­knöpft, das Ge­sicht ganz rosa von der schar­fen Win­ter­luft, der Mund un­na­tür­lich rot, die Stirn­löck­chen vol­ler Trop­fen un­ter der klei­nen Fi­schot­ter­müt­ze. »Ah, Pas­tor!« rief sie, »ich war­te auf Sie. Sie dür­fen uns heu­te nicht ver­las­sen. Ja – er lei­det, und es ist abends so trau­rig bei uns. Also, Sie kom­men?« Sie reich­te ihm die Hand, schüt­tel­te die sei­ne mit un­ter­stri­che­ner Ka­me­rad­schaft­lich­keit. »Die Ver­las­se­nen trös­ten ist ja doch Ihr Amt.« Sie lä­chel­te, wo­bei ihre Mund­win­kel sich hin­auf­bo­gen, was ihr einen leicht durch­trie­be­nen Aus­druck ver­lieh.

Wer­ner ver­beug­te sich in sei­ner fei­er­li­chen Art, die et­was Be­fan­ge­nes hat­te.

»Oh – ge­wiss – mit Ver­gnü­gen«, und er lä­chel­te auch aus rei­nem Be­ha­gen, die­se schö­ne Frau an­zu­sehn.

»So, dan­ke«, sag­te sie. »Jetzt wol­len wir fah­ren, mein Page friert.« Karl Pich­wit, der Se­kre­tär und Vor­le­ser des Barons Wer­land, fror im­mer. Sein hüb­sches, kränk­li­ches Kna­ben­ge­sicht war blau von Frost, und er zit­ter­te.

Er half der Baro­nin in den Schlit­ten, setz­te sich ne­ben sie, und da lä­chel­te auch das kränk­li­che Kna­ben­ge­sicht und er­rö­te­te.

Wer­ner stand noch eine Wei­le da und schau­te dem Schlit­ten, dem We­hen des blau­en Schlei­ers auf dem Fi­schot­ter­mütz­chen nach, er schütz­te die Au­gen mit der Hand vor der Son­ne, um län­ger und bes­ser se­hen zu kön­nen.

*

»Ich fin­de es rück­sichts­los«, sag­te Lene beim Mit­ta­ges­sen zu ih­rem Mann, »dass die Wer­lands dich im­mer­fort hin­über bit­ten. Ich bin je­den Sonn­tag­abend al­lein. Der Sonn­tag ge­hört doch we­nigs­tens der Fa­mi­lie.«

Wer­ner zuck­te die Ach­seln, ja, dar­an war nichts zu än­dern. Drü­ben ging es nicht hei­ter zu, da muss­te er eben – –

Aber Lene är­ger­te sich.

»Ach was! Die­ser Baron, der Gott­lo­sig­kei­ten und Un­an­stän­dig­kei­ten spricht, der ist über­haupt kein Um­gang für einen Pas­tor.«

Wer­ner lä­chel­te nur und aß ru­hig sei­nen Sonn­tags­bra­ten. Lene er­reg­te sich im­mer mehr. »Ach was – der Baron! Der ist’s ja gar nicht. Sie ist’s!«

»Sie?« Wer­ner schau­te auf.