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Katharina Mohini

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Beschreibung

»Du kannst nicht wissen, wohin du gehst, wenn du nicht weißt, woher du kommst.« Politikommissær Ove Rassmussen, mittlerweile der erfolgreichste Zivilfahnder des PET, kehrt nach Blåvand zurück. Im Gepäck die schmerzhaften Erinnerungen, die ihn einst veranlasst hatten den Freunden und der alten Heimat den Rücken zu kehren. Doch der Urlaub an den schönsten Stränden der Nordsee und das Wiedersehen mit den lieben Freunden endet für Rassmussen jäh. Schon kurz nach seiner Ankunft ruft ihn die Pflicht nach Søborg zurück. Höchste Eile ist geboten. Es gilt, eine wichtige Kronzeugin in Sicherheit zu bringen. Eine Frau, deren Gefährlichkeit nicht zu unterschätzen ist und die bereit ist über Leichen zu gehen. Ein Job, der nicht nur das Leben Ove Rassmussens auf ewig verändern wird, sondern die Gefahr mit sich bringt, die Sicherheit Dänemarks bis in ihre Grundfesten zu erschüttern.

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Katharina Mohini

Dünenbrand

Weg der Erlösung

Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Epilog

Zu diesem Buch und ein Dank an all meine treuen Leser

In Memoriam

Ein Ausblick in die Zukunft

Impressum

Katharina Mohini

Dünenbrand

Weg der Erlösung

Roman

Zum Buch

»Du kannst nicht wissen, wohin du gehst, wenn du nicht weißt, woher du kommst.« Politikommissær Ove Rassmussen, mittlerweile der erfolgreichste Zivilfahnder des PET, kehrt nach Blåvand zurück. Im Gepäck die schmerzhaften Erinnerungen, die ihn einst veranlasst hatten den Freunden und der alten Heimat den Rücken zu kehren.

Doch der Urlaub an den schönsten Stränden der Nordsee und das Wiedersehen mit den lieben Freunden endet für Rassmussen jäh. Schon kurz nach seiner Ankunft ruft ihn die Pflicht nach Søborg zurück. Höchste Eile ist geboten. Es gilt, eine wichtige Kronzeugin in Sicherheit zu bringen. Eine Frau, deren Gefährlichkeit nicht zu unterschätzen ist und die bereit ist über Leichen zu gehen.

Ein Job, der nicht nur das Leben Ove Rassmussens auf ewig verändern wird, sondern auch die Gefahr mit sich bringt, die Sicherheit Dänemarks bis in ihre Grundfesten zu erschüttern.

Impressum

Die Handlung und die meisten der handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden Personen wäre zufällig. Ausgenommen derer, denen ich mit ihrem Wissen ein kleines Dankeschön setzen möchte.

Hinweis zu den Geschäften und der örtlichen Gegebenheiten. Die Genehmigung wurde mir freundlicherweise von den jeweiligen Geschäftsinhabern erteilt.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar.

Copyright: © 2023 Katharina Mohini

Ulzburger Str. 316, 22846 Norderstedt

Lektorat: Christel Baumgart

Titelbild: © Stephanie Raben

Rückseite: © Christin Strehse

Covergestaltung: TomJay - bookcover4everyone

Das Print-Book erschienen 2023 bei BoD, Books on Demand, Norderstedt

ISBN-Nr. des Print 978-3-7583-9465-2

Widmung

Meiner lieben Freundin Ute Mösch gewidmet.

Danke, dass du mich seit dem ersten Tag

meiner schriftstellerischen Karriere begleitest

und immer wieder das gute Gewissen bist.

Prolog

Kopenhagen im Februar dieses Jahres.

Das ganze Land ringsherum verbarg sich unter einer zentimeterdicken Schneedecke. Nur hier reichte es auf den Straßen der dänischen Hauptstadt gerade einmal für ein unangenehmes Gemisch aus Schneematsch und Pfützen. Dazu diese nasskalte Luft, die sich einem auf die Bronchien legte. Wer an diesem Sonntagnachmittag nicht wirklich vor die Tür musste, der blieb in seiner warmen Wohnung und genoss die Hygge, einen warmen Ofen und mindestens eine Kanne Tee.

Der in den dicken, edlen Wollmantel gehüllte Mann versagte sich ein Schmunzeln bei dem Gedanken, dass er die Aufmerksamkeit eines unbeteiligten Zuschauers gewiss wecken dürfte. So, wie er die Straße hier entlang hüpfte, um mit dem ungeeigneten Schuhwerk jeder Pfütze auszuweichen. Dabei war der Grund für das, was er hier tat, alles andere als lustig. In der Tat stellte sich ihm erneut die Frage, ob es nicht einen Weg gab, doch noch aus dieser Sache auszusteigen. Dabei drehte es sich nicht einmal um das Geld, das für ihn heraussprang. Es ging um mehr – bedeutend mehr!

Sein wie zufällig gewählter Weg führte ihn zum Eingang von „Det Kongelige Bibliothek Have“ – der Garten der Königlichen Bibliothek.

Heute war es wichtig, sich an einen Platz zu begeben, an dem er sich sicher fühlte. Er durfte nicht den Überblick verlieren. Im Sommer war diese Parkanlage einer seiner Lieblingsorte, an denen er sich nur zu gern aufhielt. In der Mittagspause hier zu sitzen und dem bunten Treiben um sich herum zuzuschauen war sein Highlight des Tages. Dem Lachen der Kinder zu folgen, wenn diese bis zu den Knien in dem flachen, künstlich angelegten Teich herumtollten und dabei versuchten, dem Sprühregen auszuweichen, der aus der meterhohen Wasserfontäne in seiner Mitte zur Erde fiel.

Doch jetzt war der kleine und schönste Flecken Kopenhagens in eine abweisende Winterstarre verfallen. Die alten, imposanten Bäume des Parks, die im Sommer angenehmen Schatten spendeten, reckten heute ihre kahlen Äste drohend in den bleigrauen Himmel. So, als wüssten sie, welch ein dunkler Anlass ihn an diesen Ort führte.

Der Blick des Mannes wanderte über das menschenleere Areal und suchte die Person zu entdecken, wegen der er sich hierher begeben hatte. Seine behandschuhte Rechte befreite die Uhr an seinem Handgelenk. Er war zu früh. Wäre es noch möglich umzukehren? Er betäubte sein erneut aufflackerndes Gewissen mit dem Gedanken, dass es dafür ohnehin zu spät war.

Von Christiansborg Slot verkündeten die Schläge der Turmuhr die fünfzehnte Stunde des Tages. Dabei begann die Dämmerung schon hereinzubrechen. Ein leichter Wind kam vom Øresund her auf und ließ die Luft um ihn herum nur noch feuchter wirken. Fröstelnd versenkte der Mann seine Hände erneut in den tiefen Taschen des Mantels und ging weiter in den Park hinein. Hin zu den Parkbänken, bei denen er sich mit seinem Kontaktmann treffen wollte.

Der helle Gegenstand, den er dort auf der Bank ausmachte, entpuppte sich als herrenlose Tageszeitung. Die „Politiken“ erkannte er auf den ersten Blick. Zumindest würde das Schmierenblatt sich dazu eignen, als Sitzunterlage für ihn zu dienen, dachte er abfällig und ergriff das erstaunlich trockene Papier.

»Wenn das kein Karma ist«, kommentierte er zynisch die Headline des Blattes, die ihm ins Auge stach. Weltweite Rüstungsausgaben auf Rekordniveau! Er faltete die Zeitung auseinander und überflog den Artikel. Die weltweiten Rüstungsausgaben erreichten, trotz schrumpfender Weltwirtschaft, im vergangenen Jahr ein Rekord-Niveau von fast 2 Billionen US-Dollar.

Was für ein Gehabe! Das gleichgültige Schnauben erzeugte einen feinen Sprühregen um ihn. Wenn ihr Gutmenschen wüsstet, wie groß die Dunkelziffer im Waffenhandel tatsächlich ist, würdet ihr kein Auge zubekommen, dachte er ungerührt und schob das Papier mit einem herablassenden Lächeln zusammen. Sorgfältig drapierte er es auf dem nassen Holz der Bank und setzte sich vorsichtig darauf. Ein erneuter Blick auf die Uhr. Seine Verabredung sollte langsam erscheinen. Dann konnte es noch ein schöner Nachmittag werden. Der Gedanke an seine Tochter und die Enkelkinder erfüllte ihn mit einer aufrichtigen Wärme. Sie waren heute Morgen endlich nach so vielen Monaten vom fernen Skagen her zu ihm zu Besuch gekommen. Er sah sie viel zu selten.

»Willst du den Fährmann bezahlen?«

Gunvald Førster fühlte seinem Schrecken nach. Völlig unbemerkt hatte sich jemand von der Seite her genähert. Umgehend hatte er sich unter Kontrolle und sah zu dem Fremden auf, der kaum eine Armlänge vor ihm stehen blieb. Das Gesicht des Mannes lag im Schatten einer breitrandigen Hutkrempe, die jegliche Konturen verbarg. »Nur wenn es über den Hades geht.« Seine Stimme wirkte brüchig, als er die seltsam klingende Frage beantwortete. Wie kindisch, murmelte die Vernunft in ihm und wurde von dem Wissen um die Tragweite seines Handelns überspült. Die Hand in seiner Manteltasche klammerte sich um die antike römische Münze, die der andere gleich fordern würde.

»Für einen Sesterz ist dir der Weg gewiss.« Der harte schwedische Dialekt, den der andere trug, klang nicht unnahbar. Es sah für einen Moment sogar aus, als würde er dabei lächeln. Seine in einem schwarzen Lederhandschuh steckende Hand schwebte fordernd zwischen ihnen.

Das Papier unter ihm knisterte leise, als er sich bewegte, um die Hand aus der Tasche zu ziehen. Die kleine bronzene Münze wechselte den Besitzer, der sie nach einem kurzen Blick darauf einsteckte.

Der Schwede streckte sich und drehte sich dabei langsam um die eigene Achse, um die nähere Umgebung in Augenschein zu nehmen.

»Niemand weiß, dass wir uns hier und heute treffen.«

»Vertrauen ist gut, Kontrolle besser.« Ein weiteres Abscannen der klassischen Hausfronten, die den Park umsäumten. »Eine Offenbarung des Hades-Projekts würde nicht nur uns den Hals brechen, Herr Abgeordneter.«

»Wer denkt sich nur solche Namen aus?«, rutschte es Førster heraus. Es ärgerte ihn, dass er sich zu dieser infantilen Äußerung hatte hinreißen lassen. Es war schlichtweg unprofessionell. »Haben Sie die Unterlagen dabei?«

Das leise, herablassende Lachen hinter dem Schal des anderen überrollte ihn. »Sie haben es hier nicht mit Anfängern zu tun, Herr Abgeordneter. In den Dokumenten steckt zu viel Brisanz, um sie in der Öffentlichkeit spazieren zu tragen. Wenn etwas davon bekannt wird, würde es nicht nur die Regierung Ihres Landes erschüttern.« In der behandschuhten Rechten des Fremden glänzte der Schlüssel eines Schließfachs. »Københavns Hovedbanegård. Fach 116. Die nötigen Unterlagen und Instruktionen befinden sich darin.«

Førster sah auf den metallenen Gegenstand, der auf seine ausgestreckte Handfläche wechselte. Ungehaltenheit quoll in ihm hoch. Ja, erwartete dieser Mann womöglich, er würde sich selbst in die dreckigsten Katakomben der Stadt begeben?

Als er sich seiner selbst und des Momentes erneut bewusst wurde, fand er sich allein auf weiter Flur wieder. Der Fremde war wie vom Erdboden verschluckt. So, als hätte es ihn nie gegeben. Suchend sah er sich um und trat zwei zögerliche Schritte vor. Doch außer einem Krähenpärchen in seiner Nähe wirkte alles wie ausgestorben. Es war so surreal. Und doch war da dieser massive Schlüssel, der sich ihm in seine schweißnasse Hand presste. Simon! Er würde seinen engsten Vertrauten damit betrauen, die brisanten Unterlagen umgehend sicherzustellen. Gunvald Førster versenkte beide Hände in den Manteltaschen und wandte sich um. Selten zuvor in seinem Leben hatte er sich so verunsichert gefühlt wie an diesem denkwürdigen Tag. Wurde ihm erst jetzt langsam bewusst, in was er sich da hineinlaviert hatte?

Kapitel 1

Selten hatte Politikommissær Ove Rassmussen solch einen turbulenten Flug erlebt. Dabei hatte ihn der Pilot der Militär-Frachtmaschine vor dem Start noch gewarnt. Ihr Flug würde bei den Tiefdruckgebieten, die derzeit über dem Nordatlantik herrschten, „etwas ruppig“ ausfallen dürfen. Da hatte er noch gelacht und behauptet, dass nichts einen Zivilfahnder des Politiets Efterretningstjenste umhauen würde. Nach den Bocksprüngen, die ihre Hercules C 180 während des mehrstündigen Fluges vollführt hatte, war er sich darin nicht mehr sicher. Zumal die Landung, zu der die Maschine ansetzte, vermutlich allem die Krone aufsetzen würde.

Rassmussen kontrollierte ein weiteres Mal den festen Sitz des Anschnallgurtes und schaute mit zusammengebissenen Zähnen durch das kleine Fenster, durch das man die Welt dort draußen sah. Oder was davon übriggeblieben war. Graue Wolkenfetzen wirbelten in wahnwitziger Geschwindigkeit vorbei. Urplötzlich riss die Waschküche auf. Ein Konglomerat aus bunten, durcheinandergewürfelt wirkenden Häusern sprang ihm entgegen und ließ ihn zurückschrecken. Waren sie nicht viel zu tief? Eine heftige Seitenböe erfasste die schwere Transportmaschine und drohte, sie seitlich über die Landebahn zu schieben, die längst unter ihnen sein musste. Doch der erfahrene Pilot brachte sie rechtzeitig auf Kurs. Nur um gleich darauf mit einem harten Ruck auf der Rollbahn von Nuuk aufzusetzen.

Ove hatte seine stillen Dankgebete noch nicht beendet, als die Maschine in ihre endgültige Parkposition vor einen allein stehenden Hangar rollte. Für den Polizeikommissar aus der pulsierenden Metropole Kopenhagen war es enttäuschend wenig, was sich seinen Blicken bot. Weit in der Ferne, kaum wahrzunehmen, ein einziger Terminal. Dazu einige Fahrzeuge, die sich um ihre Maschine herum nach einem undurchsichtigen Muster aufstellten.

»Die Königliche Luftwaffe dankt dir, dass du ihren Service genutzt hast.« Der Lademeister, der auf einem der wenigen Crewsitze Platz genommen hatte, schnallte sich los und stemmte sich beschwingt in die Höhe.

Rassmussen schenkte ihm ein Nicken und hoffte inständig, dass der andere nicht das Zittern seiner Hände bemerkte. Das Unwohlsein, das ihn fast den ganzen Flug über begleitet hatte, schwand erst, als er auf die offene Frachtklappe trat und gierig die eisige Luft in sich hineinsog.

»Herre Gud!« War das kalt hier, rang er sein Zittern nieder. Sie hatten April, zu Hause schlugen die Bäume aus und hier gefror ihm die Luft in den Lungen. Er musste sich bewegen, bevor er noch festfror. Ove schwang sich seinen Rucksack auf den Rücken und stiefelte die Laderampe hinunter.

Unter den Fahrzeugen, die ihre Maschine umringten, befand sich auch ein Jeep, von dem sich jetzt ein uniformierter Soldat löste und direkt Kurs auf ihn nahm.

»Politikommissær Rassmussen?« Der Mann nahm vor ihm Haltung an und salutierte zackig. Die Binde an seinem Arm wies ihn als Angehörigen der Militärpolizei aus.

Ove musste sich zwingen, den militärischen Gruß nicht mit einem Grinsen zu erwidern. All das ganze Brimborium, das die bei der Armee machten, war nicht wirklich seine Welt.

»Premierløjtnant Thyve Bertelsen erwartet bereits deine Ankunft.«

»Ja, Herr Jessen«, las er vom Namenschild an dessen Uniform ab. »Dann lass uns schnell zu deinem Chef fahren. Je schneller ich in den Flieger zurückkomme, umso besser.«

Zum Glück sparte das dänische Militär nicht an der Qualität bei der Ausstattung für das Arktisk Kommando. Der Jeep, der auf sie wartete, besaß eine Standheizung. Und sein Fahrer wusste, wie man sie bediente. Ove verstaute sein Gepäck auf dem Rücksitz und beeilte sich, auf den Beifahrersitz zu kommen.

Sie verließen den Flughafen durch ein kaum bewachtes Tor und nahmen eine gut ausgebaute Straße, die in Richtung Nuuk führte. Der Gefreite neben ihm war nicht gerade gesprächig, stellte Ove zufrieden fest und sah aus dem Fenster. Die farbenfrohen Gebäude, an denen sie vorbeikamen, erinnerten ihn mehr an das alte Blåvand seiner Kindheit als an die Hauptstadt Grønlands. Gerade einmal achtzehntausend Menschen sollten hier leben, hatte er sich zuvor im Netz erkundigt. Hier kannte noch jeder jeden.

»Darf ich dich fragen, was der PET bei uns zu suchen hat?«, riss ihn die Frage des Gefreiten aus seiner Nachdenklichkeit. »Weshalb interessiert sich der Inlandsnachrichtendienst für uns?«

Das zum Thema Verschwiegenheit. Ove vermied es wohlweislich, eine Antwort darauf zu geben. »Du holst den Mann da ab und führst ihn uns umgehend zu. Keine Fragen, keine Auskünfte und keinen Kontakt zu irgendjemandem«, hatte die Abteilungsleiterin Didde Povlsen ihm gestern Nachmittag unmissverständlich aufgetragen. Mit einem Ernst in der Stimme, den er so von seiner Vorgesetzten und langjährigen Freundin nicht gewohnt war.

»Sorry, ich wollte nicht neugierig sein«, wertete der Gefreite sein Schweigen als Vorwurf. »Der Sergeant Schiemann ist bei allen hier überaus beliebt. Es gibt niemanden, der versteht, warum man ihn suspendiert hat. Und dass er nun von einem zivilen …« Er verstummte umgehend, fast erschrocken.

»… einem zivilen Bullen abgeholt wird«, ergänzte Rassmussen und fügte mit einem kollegialen Unterton hinzu: »Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich weiß auch nicht, was sich der Sergeant zuschulden hat kommen lassen.«

Nun war es an dem Soldaten, das Schweigen zur Kunst zu erheben.

»Sollte ich sonst etwas über den Sergeanten wissen, das nicht an die große Glocke gehört? Noch kann ich vielleicht etwas für ihn tun.«

Außer einem stummen Schulterzucken erntete Ove nichts. Zumal sich die Fahrt ihrem Ende zuneigte. Gleich hinter dem Tor der militärischen Anlage hielt sein Fahrer vor einem flachen Dienstgebäude.

Der Politikommissær bedankte sich bei dem Mann, schulterte seinen Rucksack und suchte das Gebäude des Arktisk Kommandos auf. Das Klappern der Metallöse am Fahnenmast, der den großen Danebrog im Wind hielt, begleitete ihn über die Stufen in den nüchternen Zweckbau hinein. Ein Klang wie das Läuten einer Todesglocke. Ove Rassmussen wies sich bei dem Wachhabenden aus und wurde von einem noch wortkargeren Soldaten in das Büro des Sicherheitschefs geführt.

Premierløjtnant Esben Thyve Bertelsen, das war auf dem glänzenden Namensschild auf dem Schreibtisch in großen Lettern zu lesen, nahm den militärischen Gruß seines Untergebenen entgegen. Kühle Augen musterten kurz den Zivilisten, ehe sein Blick erneut in den Unterlagen versank, die vor ihm ausgebreitet lagen.

Ove verbiss sich seinen Kommentar auf diesen offensichtlichen Affront. Wenn Bertelsen ihm damit sein Desinteresse demonstrieren wollte, bitteschön. Da hatten sich bedeutend hellere Köpfchen an ihm die Zähne ausgebissen. Bei dem Gedanken daran, wie sehr es Didde bedauert hatte, diesem Mann nicht persönlich auf die Füße steigen zu dürfen, entglitten Ove die Gesichtszüge dann doch zu einem Grinsen.

Er wandte sich ab und betrachtete mit auf dem Rücken verschränkten Händen die gerahmten Fotografien an der Wand zu seiner Rechten. Gruppenbilder von martialisch wirkenden Soldaten. Auf jedem dieser Bilder befand sich der Offizier im Mittelpunkt. Definitiv ein sehr von sich überzeugter Mann, wie ihm schien. Auch in diesem Punkt waren die Berichte von Didde und Farid, die mit diesem Herren kollidiert waren, nicht übertrieben. Die Landschaften im Hintergrund wirkten meist verbrannt, ausgedörrt, ja fremdländisch. Von den Kollegen im fernen Søborg hatte er erfahren, dass Bertelsen damals ebenfalls in Afghanistan stationiert war. Eine Zeit, über die sie selbst nicht oft sprachen.

»Tschaghtscharan in der Provinz Ghor.« Von dem Besucher unbemerkt, war Thyve Bertelsen an dessen Seite getreten. In seiner Stimme schwang eine Mischung aus Stolz und Bedauern mit.

»Ich kann mir vorstellen, dass es klimatisch gesehen ein gewaltiger Unterschied zu hier sein muss, oder?«

»Man überlebt alles. Wenn ich an so manche Nacht dort in Afghanistan zurückdenke, stehen sie dem hier in nichts nach.«

»Nein, das wäre nichts für mich. Da lobe ich mir das Wetter bei uns zu Haus.«

»Du kommst also wegen Sergeant Schiemann«, beendete Thyve Bertelsen den für ihn belanglosen Smalltalk.

»Jepp. Ich soll ihn ohne großes Aufsehen nach Søborg begleiten. Die Verfügung vom PET und aus dem Verteidigungsministerium dürfte dir bestimmt zugegangen sein.«

»Da wirst du dich etwas gedulden müssen.« Bertelsen begab sich an seinen Schreibtisch und verschanzte sich regelrecht hinter ihm. »Zudem habe ich von meinem Vorgesetzten die Weisung bekommen, dass Sergeant Schiemann nur in Begleitung unserer Militäranwälte und mit einem unserer Versorgungsflüge nach Søborg überführt wird.«

»Du weißt, dass der Service an Bord grottenschlecht ist. Nicht einmal ein Glas Sekt beim Einchecken«, versuchte Ove es auf die lockere Tour. Dabei stank ihm dieses Schauspiel gewaltig. Wie kindisch dieses ganze Kompetenzgerangel doch war. Hier, wie auch in seinem eigenen Laden.

»Was gibt es denn sonst noch?« Für Thyve Bertelsen schien die Audienz beendet. Ja, er hielt es nicht einmal für angebracht, seinen Besucher ein weiteres Mal anzuschauen.

»Ich möchte heute noch mit dem Sergeanten sprechen. Du darfst gerne mit dabei sein«, nahm er dem anderen gleich den Wind aus den Segeln.

»Weshalb?«

Esben wirkte in der Tat irritiert, stellte Ove zufrieden fest. Widerspruch war offenbar nichts, was er täglich zu hören bekam. »Du warst es, der darauf bestand, dass Sergeant Schiemann in eurer Begleitung reisen wird; mit dem Versorgungsflug. Du hast Verständnis dafür, dass der PET nicht die Geduld kennt, die ihr im Allgemeinen an den Tag legt.« Ove war dieses Geplänkel langsam leid. Er griff in die Innentasche seiner Jacke und holte seine Order hervor. »Schiemann. Ich werde ihn nun sprechen. Und ich wäre dir dankbar, wenn du mich umgehend zu ihm in die Arrestzelle begleitest.«

Der Blick des Offiziers nahm einen undefinierbaren Ausdruck an. Er wischte das Schreiben, das der Politikommissær ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte, beiseite und lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. »Wie kommst du auf Arrestzelle?«

»Schiemann, du erinnerst dich? Ich bereite ihn auf die Reise vor und du sorgst dafür, dass eure Anwälte am Flughafen stehen.«

Esben Thyve Bertelsen schwang vor und bellte lautstark einen Befehl.

Umgehend flog die Tür in Oves Rücken auf. Der Mann, der ihn bis hierher begleitet hatte, stand im Raum und salutierte.

»Konstabel, führen Sie den Mann zum Sergeanten. Schiemann hat sich vierzehnhundert hier bei mir zu melden.«

Ove widmete diesem arroganten Schnösel einen letzten, kühlen Blick und drehte sich wortlos um, um dem Soldaten zu folgen.

Doch statt dass der Mann ihn in die dunkelsten Katakomben des Hauses führte, ging es auf demselben Weg zurück, den sie gekommen waren. »Konstabel? Eigentlich wollte ich umgehend mit Sergeant Schiemann sprechen«, brach Ove das Schweigen.

»Der Gefreite Jensen wird dich zu ihm bringen«, lautete die knappe Antwort des Mannes.

Oves Unzufriedenheit hielt weiter an. Selbst als er erneut bei seinem Chauffeur im Wagen saß. »Verstehen muss ich das jetzt nicht, oder?«

»Was denn?« Kaum hatten sie das Kasernentor hinter sich gelassen beschleunigte der Mann den Wagen. Sie schossen in Richtung Stadt davon.

»Was ist so schwer daran, mich zu dem inhaftierten Soldaten zu bringen?«

»Wir sind auf dem Weg zu ihm. Nach Nuussuaq. Dort wohnt Lutz. Oder glaubst du, dass wir unsere Leute hinter Schloss und Riegel bringen?«

»Schiemann hat etwa nur simplen Hausarrest bekommen!?!« Ove begann langsam am eigenen Verstand zu zweifeln. Da verschob der Mann womöglich Kriegsmaterial in Millionenhöhe und bekam nur … »Das ist doch jetzt ein makabrer Scherz, oder?«

»Wie?« Jensen nahm den Blick von der Straße und sah ihn ratlos von der Seite her an. »Wo soll er sonst sein? Wir sind hier auf Grønland. Da überlegt man es sich dreimal, ob man ins Land hineingeht.«

Rassmussen schüttelte den Kopf und schwor sich, einen Bericht zu schreiben, der sich gewaschen hatte. Von nun an blieb er stumm und konzentrierte sich auf den Weg, den sie von der Stadt her in die Außenbezirke nahmen. War die Bebauung des alten Nuuk schon was für Enthusiasten, so war der Stadtteil Nuussuaq, den man seit dem letzten Jahrzehnt aus dem Boden gestampft hatte, nichts für Suizidgefährdete. »Andere Länder, andere Sitten«, kam ihm der Sinnspruch seines Freundes Peder in den Sinn, den dieser von seinem deutschen Mädchen adaptiert hatte.

Ove war seinen abschweifenden Gedanken geradezu dankbar, dass sie einen Ausweg aus dem hier fanden. Etwas, auf das er sich auf der wortkargen Fahrt konzentrieren konnte. Er nahm sich fest vor, nach diesem chaotischen Ausflug hierher umgehend eine Woche Urlaub zu nehmen. Einfach nur abschalten, alte, beste Freunde treffen und an all das hier nicht mehr denken. Ja, viel zu lange war er nicht mehr in Blåvand gewesen. Nach Hause fahren …

Er schloss die Augen und verdrängte die Erinnerungen, die ihn wie so oft in den letzten Jahren immer wieder einmal einholten. Auch wenn es ihm mit der Zeit leichter fiel, Abstand zu finden. Die Zeit heilte wirklich alle Wunden. Mehr unbewusst betastete er seine Narbe auf der Brust. Die Stelle, in die das Geschoss eingedrungen war, das Anne-Mette damals ihr Leben gekostet und seines auf ewig verändert hatte. Anne-Mette, seine Kollegin, die für ihn weit mehr als eine Partnerin hätte werden können. Nach allem, was er mit Karen … Nej, slut nu! Er biss sich auf die Lippen, bis es schmerzte und zwang sich, an etwas anderes zu denken.

»Wir sind da.« Mit diesen Worten befreite der Gefreite unvermittelt seinen Passagier aus dessen Gedankenkarussell. Er lenkte den Jeep auf einen Parkplatz und deutete vor sich auf einen schmucklosen vierstöckigen Wohnblock. »Soll ich hier unten warten?«

»Nein«, entschied der Politikommissær aus dem Bauch heraus. »Ich wünsche, dass du mit mir kommst und dafür sorgst, dass sich unser Gespräch … nett gestaltet.«

»Eine gute Entscheidung.« Jensen schnallte sich los und schickte sich an, auszusteigen.

Ove folgte dem Uniformierten, der sich auf einen der Eingänge zubewegte. »Langsam fange ich an, euch und eure Art hier das Leben zu sehen zu bewundern.«

»Wie? Ich verstehe nicht.«

»Ach, vergiss es.« Der Politikommissær unterließ es erneut, den Gefreiten mit seinen Überlegungen zu konfrontieren. »Lass uns zusehen, dass wir Schiemann einsammeln. Ich will endlich mit meinem Hintern ins Warme kommen.«

Jensen nickte stumm und stieß die Haustür auf. Ein kahles Treppenhaus, in dem der Architekt den Fahrstuhl vergessen hatte, empfing sie. Ove folgte den schweren Tritten, die die Kampfstiefel auf den Treppenstufen vor ihm verursachten. Bis in den vierten Stock ging es hinauf. Er biss die Zähne zusammen und schwor sich, endlich mehr Sport zu machen. Gleich wenn er wieder zu Hause war.

Sie hatten das oberste Stockwerk erreicht. Jensen schlug zielgerichtet den Weg über den schmucklosen Flur ein. Es kam Ove vor, als wäre der Mann nicht zum ersten Mal hier.

»Lutz, wir sind es«, ließ sich Jensen lautstark aus und wummerte mit der Faust gegen die Tür. Verwundert sah er über seine Schulter hinweg zum Politikommissær. »Chef? Die Tür ist offen.«

»Warte!« Ove trat an Jensens Seite und zog zur Sicherheit seine Dienstwaffe. Die Wohnungstür stand einen Spalt weit offen. Das Schloss schien auf den ersten Blick intakt zu sein. »Lutz? Lutz Schiemann? Politikommissær Rassmussen vom PET in Søborg. Wir kommen jetzt rein.«

»Muss das sein?« Jensen bemerkte entsetzt die Pistole in der Hand des Polizisten. Verunsichert folgte er dem Mann, der sichernd die Wohnung betrat. Der Anblick, den die Wohnung bot, verschlug dem Gefreiten die Sprache. »Kommissær? Was ist mit dem Sergeanten?«

»Stopp!« Rassmussen war unvermittelt im Durchgang zur Küche stehen geblieben. »Bitte fass nichts an und sichere die Wohnung an der Eingangstür.«

Auf den ersten Blick war für Ove ersichtlich, dass für den Mann, der dort am Boden lag, jede Hilfe zu spät kam. Schaum vor dem Mund, unnatürlich verdrehte Augen. Er sank auf die Knie und achtete dabei darauf, keine Spuren zu zerstören. Ein leichter Geruch nach Mandeln trat ihm in die Nase.

Es gab bedeutend angenehmere Arten, sich vom Leben zum Tode zu befördern. Seine Gedanken rasten ihm durch den Kopf, während er mit der Waffe in der Hand die angrenzenden Räume durchsuchte. Doch von einem potenziellen Täter war nichts zu entdecken. Was nun kam, war unschöne Routine.

In die Küche zurückgekehrt trat er vorsichtig an den leblosen Körper heran, ohne mögliche Spuren zu vernichten. Sein im Tode angstverzerrtes Gesicht, schaumiger Speichel quoll ihm aus dem Mund, blaue Lippen – für ihn deutete alles auf eine Vergiftung hin. Wie auch immer, Schiemann war tot, und das nicht auf eine natürliche Weise.

Rassmussen erhob sich und trat an das Fenster des Nebenraumes. Sein Blick ging hinaus auf eine nahezu menschenleere Retortenstadt. Die Nummer, die er wählte, lag auf seiner Kurzwahl. »Didde, ich denke, wir haben hier ein ziemliches Problem.«

Kapitel 2

Das heftige Prasseln des Regens auf dem Dach über ihr setzte unvermittelt ein. Hmm, es war schon Mittag, zwölf Uhr. Wozu auf die Uhr sehen? Tamara Leonhard verfluchte insgeheim den Monsunregen, nach dem man in dieser Jahreszeit die Uhr stellen konnte. Dazu kam diese Schwüle, die das Atmen manchmal zur Qual werden ließ. Ein leises Seufzen entrang sich ihrer Kehle. Selbst nach Jahren hatte sie sich nicht wirklich an die klimatischen Eigenheiten ihrer neuen Heimat gewöhnt. Mitten im April zeigte das digitale Thermometer eine nahezu gleichbleibende Temperatur von 34 Grad an. Selbst in der Nacht sank es kaum unter 25 Grad. An die hohe Luftfeuchtigkeit mochte sie gar nicht erst denken. Doch diese Werte unterschlug ihr die Wetterstation seit Wochen glücklicherweise und zeigte stattdessen nur ein Wirrwarr zerstreuter Striche an.

Und doch würde sie ihr Los mit nichts auf dieser Welt eintauschen wollen. Nicht, seitdem Neela in ihr Leben getreten war.

»Neela?« Tamara warf einen Blick über die Schulter und schenkte dem Mädchen im Nebenraum ein herzliches Lächeln. Das diese wohl kaum mitbekam, ergänzte die Mittdreißigerin für sich; mit einer fatalistischen Abgeklärtheit, wie sie nur die Mutter einer pubertierenden Tochter besaß. Ihr Spatz entwickelte sich eben immer mehr zu einem gesunden Teenager. Wie könnte man da mit Facebook oder Instagram konkurrieren! »Spatz, ist es denn für dich in Ordnung, dass ich drei bis vier Stunden außer Haus bin?«

Eine Antwort darauf zu bekommen, mutmaßte Tamara, wäre reiner Zufall. Sie widmete sich erneut dem Wagnis, ihren Mascara unfallfrei aufzutragen. Herrje, dieses ganze Make-up war noch nie ihr Ding gewesen. Man konnte auch ungeschminkt Stil und Klasse bewahren. Vor allem, wenn man, so wie sie, dabei noch passabel aussah. Zumindest so lange man sich nicht aufbrezeln musste, um einen nüchtern kalkulierenden Geschäftsmann zu überzeugen, ergänzte sie für sich. Davon, dass es für alle ein Gewinn wäre, wenn er seine gut betuchten Hotelgäste auf eine ausgeklügelte Safari durch den Wilpattu-National-Park kutschieren ließ. Selbstverständlich nur auf den von ihr ausgesuchten Wegen, die ihre Schützlinge in ihrem natürlichen Habitat kaum störten. Die Planungen dafür hatten Monate gebraucht, glitt sie weiter in ihren Erinnerungen ab.

»Spatz?« Ein letzter kritischer Blick in den Spiegel. Das Make-up saß und ihr Businesskostüm ebenso. Natürlich war es reichlich übertrieben, was sie hier aufstellte, doch dieser Termin war für alle unendlich wichtig. Das Wohlwollen des Arbeitgebers, das Weiterbestehen ihres Forschungsprojekts und letztlich das Wohl der Tiere hingen vom Erfolg ihrer Mission ab.

Neela stand plötzlich an ihrer Seite und sah sie aus ihren kohlschwarzen Augen an. »Ja, was ist denn, Mama?«, fragte sie im Singsang ihres Tamil und ergriff die Hand der Älteren.

Tamara kaschierte ihr leichtes Erschrecken mit einem liebevollen Lächeln und drückte die Hand des Mädchens an ihr Herz. »Schatz, ich hoffe, du weißt, wie wichtig das Gespräch mit dem Manager der Anuradhapura-Lodge für uns alle ist? Sonst hätte ich dem nie zugestimmt …«

»Es ist schon okay, liebe Mama.« Das Mädchen schwang übergangslos in die Muttersprache der Älteren um. »Ich bin doch kein kleines Kind mehr.«

In der Tat, Neelas Lachen wirkte wie das einer Erwachsenen. Tamara überfiel der erschreckende Gedanke, dass es in diesem Land Kinder im Alter ihrer Tochter gab, die durch ihre Familien längst verheiratet und verschachert waren. Ein schaler Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus, als die Schatten ihrer eigenen Vergangenheit sie packten. Andere Länder, andere Sitten, fiel ihr darauf trainiertes Unterbewusstsein umgehend ein. Zumindest hatte sie mit Neelas Adoption einem Kind dieses Schicksal erspart. Ihr Mädchen sollte es später einmal besser haben, schwor sie sich. Sie war ein so aufgewecktes Kind. Gerade was ihre Fähigkeiten betraf, sich in Fremdsprachen hineinzudenken. Neben den Dialekten ihrer Heimat sprach Neela mittlerweile fließend Deutsch und Englisch. Selbst das Dänische beherrschte sie weit besser, als es ihr damals … Die plötzlichen Erinnerungen an eine Zeit, die sie auf immer und ewig ausgesperrt glaubte, überfielen Tamara heftiger als der auf das Land niedergehende Monsunregen.

»Meine liebe, schöööne Mama«, Neela schmiegte sich an sie und gab ihren Worten dennoch einen Touch an Vorwurf mit. »Gehen deine Gedanken schon wieder marschieren?« Die Vierzehnjährige nahm ihre Mutter in den Arm und lachte belustigt auf, weil sie sie wieder überführt hatte. »Du gehst jetzt zu diesem Manager und zeigst ihm, was eine Leonhard auf dem Kasten hat. Und ich bereite uns ein schönes Wochenendmahl zu.«

»Drei, höchstens vier Stunden. Versprochen!«, kehrte Tamara Leonhard in die Gegenwart zurück und erwiderte die herzliche Umarmung ihrer Tochter. Es tat ihr in der Seele weh, dass sie dem Manager diesen Tag hatte zusagen müssen. Gerade an dem gemeinsamen Wochenende mit ihrer Tochter. Etwas, das ihnen nur alle drei oder vier Wochen möglich war, da Neela die restliche Zeit über am Royal College im fast zweihundert Kilometer entfernten Colombo lebte. Nur zaghaft löste sie sich aus der Umarmung ihrer kleinen Großen und strich sanft über das blauschwarz schimmernde Haar. Plötzlich hatte sie es eilig, ihre Sachen zusammenzuraffen. Je schneller sie fortkam, umso eher wäre sie wieder hier. Außerdem waren ihr solche Abschiede zuwider.

»Nein, kleiner Onkel«, schimpfte Tamara liebevoll, als sich ihr anderes Kind entschied, sich auf ihre Schulter zu schwingen. »Du musst dich jetzt um Neela kümmern. Ich muss arbeiten«, erklärte sie dem Languren-Äffchen und kippte ihren Oberkörper so, dass er protestierend auf den nächstbesten Tisch sprang. Wie ein richtiger Macho baute er sich mit seinen fast siebzig Zentimetern vor ihr auf und bedachte seine Ziehmutter mit einem keckernden Protest. Dabei krauste sich sein schwarzes Gesichtchen so sehr, dass es beinahe einen menschlichen Ausdruck annahm. Mit mühsam beherrschter Miene schimpfte Tamara liebevoll: »Jetzt hör auf zu meckern, Rassmus. Ich muss schließlich auch deine Früchte und Leckereien verdienen.«

Das schien der kleine Mann zu verstehen und sprang auf den Schoß seiner großen Schwester.

Tamara nutzte die Gelegenheit zu flüchten. Ein letzter Blick auf das ungleiche Paar, dann griff sie ihre Laptoptasche und eilte aus dem Haus, das ihnen Wohn- und Arbeitsstätte zugleich war.

Der Regen und das Wetter hatten ein Einsehen mit ihrer Frisur, dem Make-up und der Kleidung. Ihr gelang es, trocken in den alten, aber zuverlässigen Geländewagen hineinzukommen. Kurz darauf spürte sie das beruhigende Vibrieren seines Motors unter den Händen. Ein Blick in den Rückspiegel des Land Cruisers. Ihre langjährige Heimat wurde schnell vom dschungelartigen Wald verschluckt. Wenn ihr das Glück treu blieb, war die Straße am Maradanmaduwa Wewa vorbei trotz der Regenmassen, die in den letzten Tagen heruntergekommen waren, noch passierbar. Ihre nächsten Nachbarn vom Maradanmaduwa Dormitory hätten sie sonst gewiss informiert. Somit lag es im Bereich des Möglichen, dass es ihr gelang, die knapp zwanzig Meilen zu ihrem Ziel in gut einer Stunde zurückzulegen. Im Grunde verabscheute sie solche Ausflüge in die Zivilisation, wie sie es nannte. Es gab für eine leitende Biologin auch so genug zu tun. Wenn da nur nicht immer das leidige Thema um das Geld wäre. Die Staatskassen waren leer. Und selbst etliche Jahre nach diesem schrecklichen Bürgerkrieg war jeder hier auf die Rupien und Dollars angewiesen, die von den zahlenden Touristen ins Land gebracht wurden. Tamara wischte die Gedanken, die eh zu nichts führten, ein weiteres Mal beiseite. Was war heute nur mit ihr los?

Sie ergriff das Lenkrad fester und nahm sich vor, sich auf die Strecke vor ihr zu konzentrieren. Die nächsten zehn Meilen über würde sie erst durch Wald und dann durch ausgedehntes Buschland fahren. Wunderschön an sich, doch auch eintönig. Und besonders gefährlich, wenn es darum ging, sich Gedanken über Gott und die Welt zu machen, zerbröselte ihr eben gefasster Vorsatz. Alles Mögliche würde ihr wieder durch den Kopf gehen. Ganz gewiss! Das war eines der wenigen Dinge, die sie sich gern von ihrem alten Leben her bewahrt hätte. Ausharren, alle unnötigen Gedanken und Gefühle ausblenden, um sich einzig auf das Wesentliche zu konzentrieren. Nein, jetzt nur nicht auch noch daran denken, flehte Tamara vergebens. Doch längst waren ihre Erinnerungen geweckt und hatten sich wie ein schleichendes Gift in ihr ausgebreitet. Schon vorhin, als sie sich zum ungezählten Male gefragt hatte, warum sie ihrem Languren damals unbedingt den Namen Rassmus gegeben hatte. »Sh…«, verschluckte sie ihren Fluch und ergab sich den auf sie einstürmenden Gedanken.

Wider Erwarten hatte Tamara sich und ihr Kopfkino dann doch in den Griff bekommen. Die urwaldartige Gegend war fast übergangslos der lichten Steppe gewichen. Sogar einen ihrer Sri Lanka Leoparden hatte sie kurz zu Gesicht bekommen. Leider war er zu weit entfernt, als dass sie ihn an der Zeichnung seines Fells erkannte. Auch für ihn und seine Artgenossen war es so immens wichtig, dass sie den Zuschlag bekam, fasste sie neuen Mut.

Gleich nachdem sie den Hunuwilgama-Eingang, eine der Hauptzufahrten zum Wilpattu-National-Park, hinter sich gelassen hatte, nahm der Verkehr spürbar zu. Und doch kam sie über die A12 in Richtung Puttalam schnell voran. Weit vor der Zeit erreichte sie den Parkplatz einer Hotelanlage, die für sri-lankische Verhältnisse nahezu pompös wirkte.

Es war, als betrete sie beim Durchschreiten des Eingangsportals eine andere Welt. Zumindest was das Klima betraf, dachte sie und verharrte einen Moment lang im kühlen Luftstrom, den eine funktionierende Klimaanlage erzeugte. Selbstbewusst nahm sie den Weg an die Rezeption auf, wo eine attraktive Frau sie bereits mit einem herzlichen Lächeln erwartete.

»Suba davasak«, grüßte Tamara ihr Gegenüber und zog es dann doch vor, ihr Anliegen auf Englisch vorzubringen. Das Singhalesisch war einfach nicht ihr Ding. »Mein Name ist Tamara Leonhard, ich bin die Leiterin der Maradanmadu Wildhüterstation und habe einen Termin mit Mister Albright.«

»Mister Albright ist leider noch in einer Konferenz«, entschuldigte die Rezeptionistin den Manager des Hotels. »Er bittet um etwas Geduld und hat mich gebeten, Ihnen solange jeden Wunsch zu erfüllen.«

Tamara sah auf ihre Armbanduhr. Sie war zwar vor der Zeit eingetroffen, und doch sagte etwas in ihr, dass ihr Gesprächspartner beabsichtigte, sie warten zu lassen. Äußerlich gelassen deutete sie an, dass auch ihre Zeit knapp bemessen sei.

»Es handelt sich wirklich nur um eine kurzzeitige Verspätung.« Mit diesem Versprechen geleitete die junge Frau ihre Besucherin in die angrenzende Lounge, die auf den ersten Blick verriet, welch solvente Klientel das Hotel besaß.

Mit einem leichten Weißwein und einer Karaffe Eiswasser wurde Tamara in einer der gemütlich aussehenden Sitzgruppen geparkt und mit einem weiteren, vertröstenden Kommentar sich selbst überlassen.

Tamara lebte lange genug in diesem Land, um zu wissen, dass eine kurzzeitige Verspätung so gut wie alles bedeutete. Wenn sie in einer Stunde noch immer hier herumsaß, nahm sie sich vor, würde sie den Mann selbst aufsuchen. Sie nippte von dem kühlen Nass, nahm einen kleinen Schluck von dem angenehm milde schmeckenden Wein und ließ sich von der leisen Pianomusik einfangen, die durch den Raum schwebte. Interessiert sah sie sich um. Alles um sie herum strahlte ein luxuriöses Ambiente aus, das einem fast den Atem nahm. Selbst der Sichtschutz, der die einzelnen Separees hier voneinander trennte, bestand aus heimischen Gewächsen, deren Grün alles zu überwuchern drohte. Hier wurde Privatsphäre wirklich großgeschrieben.

Sie ließ sich zurücksinken und schloss entspannt die Augen. Doch statt der Klaviermusik drängte sich das leise Gespräch aus der benachbarten Sitzgruppe in ihre Aufmerksamkeit hinein. Das, und die Tatsache, dass sich ihre Nachbarn in einer ihr sehr vertrauten Sprache unterhielten.

»Det skal nok gå. Kun vejen koster en særlig indsats.«

Dänisch? Und das hier, am anderen Ende der Welt? Was für ein Zufall. Tamara öffnete ihre Augen und suchte einen verstohlenen Blick auf die Sprechenden zu werfen. Doch der Urwald zwischen ihnen ließ sie die Männer kaum erkennen.

»Diplomatisk bagage kontrolleres ikke«, kam es von einer weiteren Person. Sein harter Sjælland-Dialekt war weit schwerer zu verstehen, als das Sønderjysk des ersten Mannes.

Lange verschüttet geglaubte Erinnerungen überschwemmten Tamara und fesselten sie an ihren Platz. Nur langsam wurde ihr bewusst, welch einen brisanten Inhalt diese Unterhaltung besaß. Hinzu kam diese gefühllose Kälte in der Stimme des Sjæländers, mit der er das Gespräch dominierte. Schrecken und Verwunderung fraßen sich zugleich in sie hinein und ließen ihr den Atem stocken. Das Gespräch drehte sich immer deutlicher um einen unmittelbar bevorstehenden Waffenhandel. Mit Billigung und Unterstützung von gewissen Politikern und Militärs womöglich. Namen, Waffensysteme und Orte, die sie aufschnappte, ohne dass es ihr in den Sinn kam, sich diese zu merken. Zu verstörend war all das, was sie hier mit anhören musste.

Nein, das ist nicht deine Baustelle, erwischte Tamara sich bei dem Gedanken, das Gehörte den Behörden zu melden. Das interessierte hier niemanden. Nur keine schlafenden Hunde wecken, beschwor sie sich und ihren archaischen Gerechtigkeitssinn. Dieser Vorsatz zerbrach spätestens in dem Moment, als sich die Männer über gewisse Risiken unterhielten und Namen fielen. Personen, die nicht mitspielen würden oder sich offen dagegenstellten, seien umgehend zu eliminieren.

»Und was ist nun mein Part an der ganzen Sache?«

»Es sind deine Kontakte zur Han-Dojeng-Triade. Sie sind für uns unbezahlbar.«

Eiseskälte krallte sich bei dem Namen, der fiel, tief in Tamaras Herz hinein. Han Dojeng … Scharf sog sie die Luft in sich hinein und hatte doch das erstickende Gefühl, unter Wasser atmen zu müssen. Alles war wieder da, riss sie in den Sog ihrer schmerzvollen Erinnerungen. Das Wasser … der heiße Sandstrand auf Phuket. Ein Mann mit einer silbernen, im Sonnenlicht glänzenden Waffe in der Hand … ihre Karen … das Blut und der langsam brechende Blick … alles … war so präsent.

»Frau Leonhard?«, drang eine Stimme schwach zu ihr durch. »Frau Leonhard, geht es ihnen nicht gut?«

Erschrocken zuckte die Angesprochene zusammen, als eine Hand sie sanft an ihrer Schulter berührte. Verstört sah sie zu dem Mann auf, der mit einem zuvorkommenden Lächeln vor ihr stand und auf sie hinabblickte. Wer wusste, wie lange schon?

»Ja«, kroch ihr ein Krächzen die Kehle hinauf. Nur unter Mühen gelang es Tamara, ihre nähere Umgebung wahrzunehmen. Die Stimmen aus der benachbarten Sitzgruppe waren verstummt. Nur mit größter mentaler Kraftanstrengung gelang es ihr, sich aus der Sitzgelegenheit zu erheben und wie zufällig einen Blick durch das Grün der Pflanzen zu werfen. Da, das musste der Sjæländer sein. Dieser harte Blick, dem sie für Sekundenbruchteile begegnete, ehe sie sich der Aufmerksamkeit ihres Gastgebers widmen musste. Kalte, stechende Augen, die ihr erneut das Blut in den Adern gefrieren ließ.

»Timothy Albright«, stellte sich der Mann, der sie um Haupteslänge überragte, vor und eroberte ihre Hand. »Es freut mich sehr, dass wir uns endlich persönlich kennenlernen.«

»Tam…«, brach sie unvermittelt ab, als ihr siedend heiß einfiel, dass sie hier vor den Männern auf keinen Fall ihren Namen nennen sollte. »Ja, ich freue mich auch, Mister Albright.«

»Wenn Sie mir bitte folgen wollen.« Einladend wies der Manager ihr den Weg, der sie unweigerlich an den beiden Übeltätern vorbeiführen würde. Doch diesmal war sie darauf gefasst, die Aufmerksamkeit der Männer über sich ergehen zu lassen und ihnen gar zu begegnen.

Kurz trafen sich auch ihre Blicke mit dem zweiten Mann. Der, mit dem angeblichen Draht zum Han-Dojeng-Clan. Fahle Augen, denen eine wirkliche Farbe fehlte, soweit sie erkannte. Er besaß ein auffällig unauffälliges Alltagsgesicht, in und an dem man weder ein Alter noch etwas Prägnantes festmachen konnte. Über einer Jeans und einem weißen Poloshirt trug er ein Sakko in einer unmöglichen, kackbraunen Farbe. Sein fisseliges, blondes Haar wirkte ungepflegt und wuchs ihm über die Ohren und den Kragen. Unweigerlich musste sie an ein Frettchen denken.

Dann galt es, nicht den Anschluss an Albright zu verlieren, der sich längst um die eigene Achse gedreht und auf dem Weg zu seinem Büro war. Ohne darauf zu achten, ob sie ihm überhaupt folgte.

Mit einem vagen Lächeln, das sie sich förmlich abringen musste, ging sie an den beiden aufmerksam gewordenen Männern vorbei. Sich dabei bewusst, dass deren Blicke sich ihr tief in den Rücken bohrten.

***

»Wie war dein Treffen, liebe Mama?« Neela Leonhard bemühte sich, ihre Verunsicherung zu verbergen, die sie bei der Rückkehr ihrer Mutter förmlich angesprungen hatte. Auch wenn diese ihr ein fröhliches Lächeln schenkte, sobald sie sich beobachtet fühlte. »War es erfolgreich? Können wir die neuen Projekte planen?«

»Ja, in der Tat.« Tamara Leonhard schloss ihre Tochter in die Arme und atmete hörbar auf. »Täglich eine geführte Tour für bis zu zwölf Besucher. Selbst die Wagen werden von der Lodge gestellt.«

Neela erwiderte die Umarmung ihrer Mutter, die auf sie mehr wie die einer Ertrinkenden wirkte. »Und? Was hast du sonst erlebt?«

»Nichts. Wirklich. Nichts Besonderes.«

Mama löste sich von ihr und streichelte ihr die Wangen. Wie bei einem kleinen Kind. Doch das liebevolle Lächeln, das sie auf ihre Gesichtszüge zauberte, konnte nicht wirklich die tiefe Besorgnis vor ihr verbergen. Was war nur geschehen? Ihre starke und so unabhängige Mutter war über etwas zutiefst besorgt, spürte Neela. Dabei wusste sie nur zu gut, dass niemand, nicht einmal sie selbst, hinter ihr Geheimnis kam, wenn es Tamara Leonhard nicht wollte.

»Es ist alles okay mit mir. Ich bin nur müde von der anstrengenden Fahrt.« Tamara gab ihre Tochter gänzlich frei und verschwand in Richtung Bad. Den Languren Rassmus natürlich in ihrem Gefolge. »Ich mache mich nur etwas frisch und dann lasse ich mich so richtig von meiner Tochter verwöhnen«, flötete es beschwingt von nebenan. »Obwohl, eigentlich sollte ich ja diejenige sein, die ihre Tochter verwöhnt.«

Ihre an den Tag gelegte Lässigkeit hatte gerade so weit gehalten, bis sie allein unter der Dusche stand. Wenn man diese steinalte Vorrichtung überhaupt so bezeichnen mochte. Zumindest produzierte das Ding so etwas wie warmes Wasser. Nur jetzt vermisste sie den Luxus eines ganz normalen europäischen Bades. Wasser, das so kochend heiß war, dass es einem sämtlichen Ekel und alle aufbrandenden Sorgen vom Leib wusch. Diese kalten, taxierenden Blicke, mit denen die Fremden sie vorhin gemustert hatten, klebten weiter an ihr. Das und dieses untrügliche Gefühl einer sich unaufhaltsam nähernden Gefahr, die auf sie und womöglich auch auf Neela zusteuerte. Sie musste Neela in Sicherheit bringen. Möglichst heute noch! Nein, du musst ruhig und besonnen handeln, rief sie ihre innere Stimme zu Ruhe und Besonnenheit auf. Niemand vermutet, dass du etwas Dänisch verstehst. Du warst nur zufällig in ihrer Nähe und bist wie nichtsahnend an ihnen vorbei. Den einen hast du sogar eine Spur interessiert angelächelt. Du bist immer noch eine gute Schauspielerin. Du hast diesen Kerlen die Femme fatale vorgespielt. Diese Typen werden keinen Verdacht schöpfen.

Tamara hielt ihr Gesicht in den mageren Wasserschauer, der aus dem Duschkopf kam. Und doch ahnte sie, dass ihre Taktik aus Verleugnung und Selbstsuggestion gerade einmal von zwölf bis Mittag hielt. Ihr Gewissen würde sie nicht eher ruhen lassen, bis sie das getan hatte, was in ihrer Macht stand. Und sie hatte, weiß Gott, einiges wiedergutzumachen und vor allem ein Leben zu retten.

Noch bevor sich Tamara Leonhard an den liebevoll gedeckten Tisch setzte, hatte sie sich entschieden. »Schatz, wie würdest du es finden, wenn ich dich morgen persönlich zur Schule bringe? Ich habe etwas Wichtiges in Colombo zu erledigen und kann so noch etwas länger mit dir zusammen sein.«

Kapitel 3

Er sah aus dem kleinen Kabinenfenster hinaus auf die Welt unter sich. Vor Kurzem war die Militärmaschine nach einem stundenlangen Flug über dem Meer endlich auf Land gestoßen und befand sich jetzt im Landeanflug auf Aalborg Lufthavn. Ove Rassmussen warf einen Blick über die Schulter. Hinein in den riesigen, fast leeren Frachtraum des Fliegers. Er blieb an dem schmucklosen Holzbehälter hängen, der dort festgezurrt im Transportgeschirr hing.

Sergeant Lutz Schiemanns letzte Reise, sagte die untrügliche Stimme in ihm und flüsterte davon, dass der Fall für ihn damit längst nicht abgeschlossen war. Dabei hatte er im Grunde genommen gar nichts mit diesem immer mysteriöser werdenden Fall zu tun, begehrte es in ihm auf. Er war doch nur für einen erkrankten Kollegen eingesprungen und sollte den straffällig gewordenen Sergeanten zu einer Vernehmung im Hauptquartier des Politiets Efterretningstjenste vorführen. Was danach geschah, war für ihn zu einem wahren Albtraum geworden.

Als er in Schiemanns Wohnung eintraf, hatte er den Soldaten auf dem Küchenboden liegend aufgefunden. Schaum vor dem Mund, der noch warme Körper wirkte seltsam verkrampft. Der sofort hinzugerufene Notarzt konnte nur noch den Tod des Mannes feststellen. Die offizielle Todesursache war Vergiftung. Die Weisung aus Søborg war unmissverständlich gewesen. Den Fall wie ein Attentat zu behandeln. Er und der Gefreite Jensen, der ihn gefahren hatte und Zeuge des Vorfalls war, wurden zum Schweigen verdonnert und angewiesen den Tatort abzusichern. Søborg übernahm umgehend den Fall und hatte ein Ermittlerteam in Bewegung gesetzt, das zwei Tage später eingetroffen war.

Er selbst hatte in dieser Zeit mit einem aufgebrachten Premierløjtnant zu debattieren, warum man diesen außen vor hielt. Oder er hatte simple Vorarbeiten für die Spezialisten zu leisten. Wie in der Nachbarschaft herumzugehen und die Nachbarn zu befragen. Auch hier wollte niemand etwas bemerkt haben. Schiemann war für die Mitbewohner des Hauses, entgegen der allgemeinen Beliebtheit unter den Kameraden, ein verschlossener Mensch gewesen. Freunde, Besucher oder auch eine Frau hatte der Mann hier offenbar nie empfangen. Die einzig existierende Kamera in der Nähe des Wohnblocks war ein simples Gerät, das am gegenüberliegenden Block angebracht, die Zufahrten der Parkplätze überwachte. In dem zeitlich überschaubaren Rahmen, in dem der Mord geschah, waren fünf Fahrzeuge auf der besagten Auffahrt festzustellen gewesen. Drei waren hinauf- und zwei heruntergefahren. Wenn der Täter auf diesem Wege gekommen und auch verschwunden war, käme ein alter, blauer Toyota als Nächstes in Frage. Doch die grobkörnige Aufzeichnung machte es unmöglich, ein Kennzeichen zu erkennen. Zudem waren annähernd einhundert Fahrzeuge dieses Typs in Grønland zugelassen, wie er ermitteln konnte. All diese Erkenntnisse hatte er seiner Behörde vorab geschickt und den eingetroffenen Spezialisten überlassen. Für Ove stand eines mittlerweile fest: Wenn es einen Mörder gab, dann gehörte dieser eindeutig in die Kategorie der Könner.

Das spürbare Rucken unter ihm brachte Oves Gedanken in die Gegenwart zurück. Ihre Maschine setzte zur Landung an. Was ihn nun wohl erwartete? Man hatte ihm nur übermittelt, dass man ihn und seine makabre Fracht abholen würde. Nicht mehr. Er wurde dabei den Verdacht einfach nicht los, dass der Fall Schiemann nur ein Teil von etwas ganz Großem war, und so kleine Lichter wie er definitiv nicht zum inneren Kreis gehörten.

Dann eben nicht! Der Gedanke an die Freunde im fernen Blåvand brachte ihn zu seiner Idee zurück, von alldem hier Abstand zu finden. In den vergangenen Jahren hatte er einige Urlaubstage angesammelt. Es war nun genau die Zeit, davon ein paar zu investieren und in die alte Heimat zurückzukehren.

Der Kommissar staunte nicht schlecht, als er, kaum dass er das Transportflugzeug verlassen hatte, von seiner Kollegin in Empfang genommen wurde.

»Didde? Womit habe ich mir denn dieses Empfangskomitee verdient? Dass gerade du mich abholst.«

»Du bist heute nur schmückendes Beiwerk«, konterte Politikommissær Didde Povlsen den Gruß des Kollegen mit einer reichlichen Portion Sarkasmus. »Unsere obersten Herren haben ein starkes Interesse daran, dass dein Kumpel da heil und unverzüglich in Søborg eintrifft.« Sie deutete auf den Sarg, der in den gleich neben der Frachtmaschine parkenden Learjet umgeladen wurde.

»Verstehen muss ich das alles nicht, oder?« Ove registrierte, wie Didde die Schultern hob. Offenbar wusste die ranghöhere Kollegen selbst nicht mehr. Oder sie durfte nicht mehr preisgeben, mutmaßte er weiter.

»Diese ganze Sache hier bringt mir meinen Zeitplan durcheinander«, verriet Didde ihm missgelaunt. »Ich sollte längst in Richtung Esbjerg unterwegs sein.«

»Esbjerg?« Ove schulterte seinen Seesack und ging neben ihr her zu dem Flieger, dessen Triebwerk im Leerlauf lief. »Dann könntest du mich ja gleich mitnehmen.«

»Du willst Urlaub machen? Wirklich?« Povlsen sah ihn skeptisch von der Seite an. »Und dann auch noch in Esbjerg?«

Er schenkte ihr ein verkniffenes Grinsen. »Was ist so verwunderlich daran?«

»Mal abgesehen davon, dass du überhaupt Urlaub machst? Einfach alles!«

Im Grunde genommen wussten beide, was an Oves Vorhaben befremdlich war. In Esbjerg und Blåvand hatten sich damals ihre Wege gekreuzt. In beiden Fällen war es dienstlicher Natur gewesen. Für Ove hatten diese Begegnungen jedes Mal in einem wahren Fiasko geendet.

»Ich kann nicht mein Leben lang vor allem davonrennen«, murmelte Ove und hoffte, dass sein Geständnis vom allgemeinen Lärm um sie herum verschluckt wurde. Seit damals war er nur selten in die alte Heimat zurückgekehrt. Zu schmerzhaft waren die Erinnerungen an die beiden Frauen, die sein ganzes Leben auf so drastische Art geprägt hatten. Anne-Mette Svalbard, die ihm mehr als eine Kollegin geworden war und die in seinen Armen starb. Durch die Kugel eines Mörders, die eigentlich ihm galt. Und dann diese andere Frau … Ove schüttelte sich, als könne er sich dadurch wenigstens diese Erinnerungen vom Halse halten. Karen … Die Frau, die sich ihm gegenüber damals als Biologiestudentin ausgegeben und ihn um den Finger gewickelt hatte. Bis heute war es der peinlichste Moment in seinem Leben, auf diese Verbrecherin hereingefallen zu sein. Ja, im Grunde genommen hatte er es dieser Frau zu verdanken, dass er sich zum Zivilfahnder hatte ausbilden lassen. Nur, um alle möglichen Ressourcen des Staates nutzen zu können, sie aufzuspüren und der Gerechtigkeit zuzuführen. Einzig Didde und ihr gemeinsamer Kollege Farid besaßen Kenntnis von seinen wirklichen Beweggründen, damals zum PET zu gehen. Doch man sprach nicht darüber. Jeder von ihnen hatte seine Leichen im Keller. Mittlerweile war jedoch alles Geschichte … oder sollte es zumindest sein. Seine persönliche Akte „Karen Winter“ lag seit etlichen Monaten unberührt im untersten Fach des Schreibtisches und würde da auch bleiben. Nein, Schluss mit der Vergangenheit. Er war jetzt der Ove Rassmussen, der nur noch voranblickte.

»Schön, dass du wieder unter uns weilst«, kam es trocken von dem Platz neben ihm.

Verwundert stellte Rassmussen fest, dass sie längst im Inneren des Geschäftsfliegers saßen und die Triebwerke hochfuhren. Peinlich berührt brachte er ein »Sorry, das muss der Jetlag sein« heraus.

»Falls du dann die Güte hättest, mir endlich zuzuhören? Ich fragte dich, ob ich im Notfall auf deine Unterstützung bauen kann, sollte ich an der Westküste Hilfe benötigen?«

Esbjerg!, kam es ihm wieder in den Sinn. Ja, Didde musste dienstlich nach Esbjerg. Weshalb, warum und wieso blieb ihm ein Rätsel. »Ja klar, du kannst auf mich zählen.« Hmm, wenn er sich da nur nicht in irgendwas hineinritt. Didde war, wie er selbst, berüchtigt für ihre Alleingänge, die sie manchmal startete. »Ich plane, bei Mads in Blåvand unterzukommen. Du kennst meine Freunde, oder?«

»Wie sollte ich die vergessen können.« Didde begann sich anzuschnallen, als sich die Maschine in Bewegung setzte. »Mads und Silje, stimmts?«

»Jepp, Mads und sie haben gerade ihren dritten Hochzeitstag gefeiert. Und wenn ich richtig gehört habe, werden mein Freund Peder und seine Marisa auch bald heiraten.«

»Dann fehlst ja nur noch du!« Didde brach peinlich berührt ab und schob ein knappes »Sorry« hinterher.

Das Ove mit einem herzhaften Lachen honorierte. Zumindest sollte es so klingen. »Bei mir ist der Zug längst abgefahren, denke ich mal. Vierzig Jahre. Wer da als Mann nicht gebunden ist, sollte es dann auch sein lassen. Als Bulle schon gar nicht.«

»Ach komm schon! So mancher von euch Kerlen wird da erst richtig interessant«, steuerte Didde kraftlos hinterher. Wohl wissend, dass Rassmussen bei seinem Glück, die wahre Liebe zu finden, der aussichtsloseste Kandidat war, der ihr je untergekommen war. Wenn jemand in diesen Dingen die Pechkarte zog, war es definitiv immer Ove.

»Was gibt es so Geheimnisvolles in Esbjerg, dass du nicht einmal Farid mitnehmen wirst?«, suchte Ove stümperhaft das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.

Didde tat ihm den Gefallen. »Kennst du die Bedeutung von Geheimnis?«

»Man teilt es ungern miteinander, oder?«

»Geeeenau«, zog sie das Wort in die Länge. Dabei wäre Ove mit seiner Ortskenntnis und seinen Kontakten die ideale Ergänzung. Nur sahen ihre Auftraggeber das anders. Dieser Auftrag war so geheim, dass sie nicht einmal den verlässlichsten Kollegen hinzuziehen durfte. Zumindest nicht im Vorfeld des Einsatzes.

»Wann soll es denn losgehen?« Ove vermied es, weiter nachzuhaken.

»Eigentlich schon heute. Doch dann kamst du und dein kalter Freund dazwischen.«

»Da steckt mehr dahinter, stimmts? Schiemann einzusammeln und ihn der Vernehmung zuzuführen war bestimmt nicht alles.«

Didde hob ihre Schultern. Ove war nicht auf den Kopf gefallen. Jede zusätzliche Andeutung würde den Jäger in ihm nur noch mehr reizen.

»Nun komm schon«, ließ der Kommissar nicht locker. »Das Spezialistenteam, das gleich am nächsten Tag in Nuuk aufschlug, kommt nicht raus, wenn sich ein simpler Soldat offiziell«, er malte mit beiden Händen Gänsefüßchen in die Luft, »das Leben nimmt.« Doch die Antwort der Abteilungsleiterin blieb weiterhin aus. »Didde, verkauf mich nicht für dumm. Selbst wenn es stimmt, dass Schiemann militärische Ausrüstung in Millionenhöhe verschoben hat, wäre das kein Fall für den PET. Muss ich dich erst foltern, bis du mich einweihst?«

Sie räusperte sich verhalten und blickte sich um. So als befürchte sie, dass die beiden Piloten oder der Tote im Frachtraum sie belauschten. »Natürlich steckt mehr dahinter. Nur um was es sich konkret handelt, habe nicht einmal ich erfahren. Angeblich haben die Amerikaner Wind davon bekommen, dass es sich um einen groß angelegten Waffendeal handelt. Und dass dänische Staatsbürger darin involviert sein sollen.«

»Und Sergeant Schiemann soll der Kopf der Operation sein?« Ove erntete ein weiteres Schulterzucken. Didde würde von sich aus nicht mehr preisgeben. Er sollte sich mit dem zufriedengeben und stattdessen lieber zusehen, dass er seine Berichte ins Reine brachte. »Okay, wann wird es nach Esbjerg gehen?«

»Morgen früh.«

»Passt! Wenn du mir meinen Urlaubsschein abzeichnest, komme ich mit dir mit.«

Kapitel 4

Die Zeiger der Uhr zeigten bereits die zehnte Stunde an, als Tamara Leonhard den Land-Cruiser auf die Auffahrt des altehrwürdigen CMS Ladys College lenkte.

Für sie war es immer wieder faszinierend, auf diese Insel der Natur mitten in einer pulsierenden Großstadt zu stoßen. Inmitten eines mehrere Hektar großen Parks wirkten die Schulgebäude, die im britischen Kolonialstil gehalten waren, wie hineingewachsen. Nur war das auch das einzig Positive an all ihren Wahrnehmungen. Tamara spürte, wie sie die Erinnerungen an ihre eigene Jugend ansprangen. Nur nicht wieder die Frage aufkommen lassen, warum sie Neela hier untergebracht hatte, wo sie es sich eigentlich gar nicht leisten konnte. Auf keinen Fall! Ihre Tochter war anders gestrickt. Für Neela war das College das Sprungbrett in ein besseres Leben. Zudem war Neela ein bedeutend reiferer und aufgeklärterer Mensch, als sie es in ihrem Alter war.

»Du musst dir keine Gedanken machen, liebe Mom. Du sollst mal sehen, die nächsten drei Wochen werden wie im Fluge vergehen. Und schon bald beginnen die Ferien.«

Ja, und Gedanken lesen konnte ihr Schatz auch wie keine zweite, ergänzte Tamara für sich und lenkte den Wagen auf einen der Besucherparkplätze bei der Schulverwaltung.

Die Abschiedsszene hielten beide bewusst knapp.

»Grüße mir Rassmus, Navin und all die anderen. Ach, und wenn du heil zu Hause angekommen bist, dann melde dich bitte kurz bei mir.«

Tamara schmunzelte bei dem Gedanken, wer von ihnen hier die Mutter war. »Natürlich mache ich das. Ich schicke dir eine Nachricht. Aber denke daran, es kann spät werden.«

»Ja, ich weiß, dein geheimes Date.« Neela löste sich von ihrer Mutter und gab ihr einen Abschiedskuss auf die Wange. »Hey, nun wirst du auch noch rot. Das gefällt mir.« Mit einem hellen Lachen und einem letzten Winken verschwand sie in Richtung des Hauses.

Dieses Gefühl einer unbestimmten Angst erwischte Tamara wie ein Blitzschlag und ließ sie erschrocken Luft holen. Neelas blauschwarzes Haar, das ihren schmächtigen Körper umwehte … es war wie ein Abschied für lange Zeit und ewig. Wie unter einer tonnenschweren Last begraben schleppte Tamara sich zum Wagen zurück und zog sich auf den Fahrersitz. Was war das? Diese rasende Angst, dass sie direkt in ein Unglück hineinsteuerten, lähmte alles in ihr. Sollte sie ihr Vorhaben tatsächlich durchziehen, zu dem sie sich nach einer schlaflosen Nacht durchgerungen hatte? Herrgott, jeden Tag fanden irgendwelche Waffendeals statt! Auf der ganzen Welt, von Regierungen abgesegnete und ganz besonders verbotene. Dafür würde sie sich nie und nimmer aus ihrer Deckung wagen oder gar ihr Inkognito gefährden. Und doch war da etwas, das sie aus der Unterhaltung der Männer erfahren hatte. Etwas, das ihr Gewissen nicht mehr ruhen ließ. Obwohl der Tod über viele Jahre ihres Lebens hinweg ein ständiger Begleiter gewesen war. Es galt, ein Attentat auf einen Menschen zu verhindern, den sie nicht einmal kannte. Bringe es hinter dich, riss sie sich zusammen und startete den Wagen. Das Lenkrad rutschte unter ihren schweißnassen Händen, als sie mit Schwung zurücksetzte, um ihr Vorhaben möglichst schnell in die Tat umzusetzen.

***

Tamara hatte ihre Tochter in dem Glauben gelassen, dass es sich bei ihrem Termin, den sie vorgeschoben hatte, um ein Date mit einem Mann handelte. Der Gedanke an Neelas Besorgnis, ihre Mutter würde in gewissen Dingen zu kurz kommen, zauberte ein mildes Lächeln in ihr Gesicht. Das langsam verhungerte, als sie den imposanten Büroturm hinaufsah, in dem das dänische Konsulat für Sri Lanka residierte. »Komm, bring es hinter dich«, sprach sie sich selbst Mut zu. »Du gehst da jetzt hoch, berichtest davon, was du gehört hast und fertig!« Du hast verdammt noch mal Leben genommen. Nun ist es an der Zeit, dass du welche rettest, ergänzte sie dann doch lieber stumm für sich. Mit neuer Energie eilte sie die Treppen zu dem Gebäude hinauf, das vor ihr in den Himmel wuchs.

Kaum hatte Tamara den Fahrstuhl verlassen und das Konsulat durch die schwere Glastür hindurch betreten, wurde es ihr leicht ums Herz. Die edle Ausstattung, das viele Grün und eine funktionierende Klimaanlage versetzten sie gefühlt in eine andere Welt. An der Wand, hinter dem Empfangstresen, hatte man ein lebensgroßes Bild mit einer lebendigen Szene aus Nyhavn in Kopenhagen angebracht. Sie überging den kleinen Stich in ihrem Herzen und verbarg vor sich den übermächtigen Wunsch, gerade jetzt dort in einem der Cafés zu sitzen, um einen richtigen dänischen Kaffee zu genießen und dem Treiben um sich herum zuzusehen.

»Goddag, hvor kan jeg hjælpe dig?«, begrüßte sie eine Frau mittleren Alters in der Sprache ihres Landes.

Nur allmählich erwachte Tamara aus ihrer Betrachtung. Sie riss sich zusammen und zauberte sich ein Lächeln auf die Lippen. »Hej, mit navn er Tamara Leonhard.« Komisch, ihr fiel es gar nicht schwer, die Begrüßung und ihr Anliegen in Dänisch vorzubringen, wunderte sie sich. »Ich möchte gern mit Ihrem Botschafter sprechen.«

»Hast du einen Termin mit ihm?« Die Empfangsdame machte sich daran, geschäftig in einem großen Tischkalender zu blättern.

»Äh … nein. Ich habe gestern zufällig ein Gespräch verfolgt …« Tamara fuhr sich hilflos mit der Hand durch ihr Haar. Daran, dass sie einen Termin benötigte, hatte sie im Traum nicht gedacht. »Hören Sie, es ist wichtig, dass ich den Botschafter umgehend spreche. Oder auch seinen Vertreter«, fügte sie ihrer Forderung an. Sie nahm sich fest vor umzukehren, wenn man sie hier und jetzt abwimmelte.

»Konsul«, verbesserte die Frau sie freundlich. An ihrer Brust glänzte ein Schild mit dem Danebrog und dem Namen „Irene“. Mit einem milden Lächeln ergänzte sie: »Der nächste Botschafter Dänemarks residiert in Neu-Delhi.«