Wandlungen - Das Geheimnis besonderer Frauen - Katharina Mohini - E-Book

Wandlungen - Das Geheimnis besonderer Frauen E-Book

Katharina Mohini

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Katharina "erbt" nach dem Tode ihres bedeutend älteren Lebensgefährten dessen lange verschollen geglaubten Sohn. Innerhalb kürzester Zeit stellen Michael Schuwart und seine drei lebhaften Kinder das geruhsame Leben, der resoluten wie auch geheimnisvollen Frau auf den Kopf. Mit jedem weiteren Tag geraten die Protagonisten tiefer in den Strudel ihrer Gefühle, Wünsche und Leidenschaften. Zumal ein jeder davon überzeugt ist, dass sich Amor einen gewaltigen Fehlschuss geleistet haben dürfte. Zudem waren da die Geheimnisse aus Katharinas Vergangenheit... Wann erzähle ich dem Menschen, den ich liebe, dass er mehr bekommt, als er sich im Traum vorzustellen vermag?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Katharina Mohini

Wandlungen - Das Geheimnis besonderer Frauen

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Epilog

Ein Nachwort in eigener Sache

Danksagung

Impressum

Kapitel 1

Sah ihre Zukunft schon jemals ungewisser aus als in den letzten Tagen? Nein, nur nicht wieder diesen Ängsten nachgeben … Nicht jetzt! Es bedurfte mehr als eines Anlaufs, die bohrenden Gedanken beiseitezuschieben, die Augen zu öffnen und sich der Realität zu stellen.

»Mein Gott, du siehst erbärmlich aus«, kommentierte Katharina Sommerbeck den Anblick, den ihr die Frau im Spiegel bot. Der erste Gedanke, der funzligen Beleuchtung die Schuld dafür zu geben, war nicht hilfreich. Die dunklen Schatten um ihre Augen herum und die tiefen Falten, die sich in ihr Gesicht gegraben hatten, waren definitiv da. Und sie kamen nicht von ungefähr. Zu wenig Schlaf, zu viele Sorgen und vor allem das Wissen um das Unabänderliche. Diese Ängste, die in Augenblicken wie diesem über sie herfielen. Jetzt, wo sie allein war, wo sie wusste, dass alles für Heinrich getan wurde und sie eigentlich schlafen sollte.

»Du musst dich nicht um ihn sorgen.« Katharinas Spiegelbild richtete sich ein wenig auf. Christa Hagedorn war eine versierte Pflegekraft, die wusste, wann es nötig war, sie zu informieren, sollte sich Heinrichs Zustand verschlechtern.

Denke lieber an all die schönen Momente, die du mit Heinrich hattest, betete sie sich stattdessen vor. Die Erinnerungen daran würde ihr auch diesmal über das Wissen des nahenden, unabwendbaren Endes hinweghelfen. Heinrich und sie waren so viele Jahre ein unzertrennliches Paar gewesen. Es gab niemanden, der sich noch darüber wunderte, was ein alter Knacker von über siebzig Lenzen mit seiner halb so alten Haushälterin – die sie offiziell war – anzustellen pflegte. Sieben Jahre lebte sie nun schon mit ihrem väterlichen Freund, Gönner und Vertrauten zusammen. Die schönsten Jahre ihres reichlich verdrehten Daseins, ergänzte sie mit einem Lächeln. Wie ein glückliches Ehepaar. Natürlich nicht nach außen hin! Das würde diese hochfeine, gutbetuchte Nachbarschaft dann doch nicht schätzen. Dabei ahnten die lieben Nachbarn nicht im Geringsten, wo und wie sie sich damals kennengelernt hatten.

Mit einem warmen, innigen Lächeln entfernte die attraktive Frau ihre letzten Haarkämme und griff zur Bürste.

Heinrich Schuwart, ein seit vielen Jahren verwitweter, gutsituierter Reeder aus altem hanseatischem Geblüt und ein ebensolcher Gentleman, hatte sich verlaufen. Zumindest behauptete er es immer wieder vor ihr und den wenigen wahren Freunden, die von ihrer Beziehung wussten. Eines späten Abends war er in der „Carina-Bar“, einem betagten Plüschpalast auf dem Hamburger Kiez, erschienen und hatte sich an einen der Tische gesetzt. Rotes Licht, rote Getränkekarten und kleine Preise, zumindest was deren Schriftgröße betraf. Dieser Mann roch nach Geld und wenig Arbeit. Ein leichter Verdienst für eine Animierdame, die, was hier kaum verwunderlich war, für solvente Kunden zu weit mehr bereit war. Und solvent war er, das hatte Katharina sofort erkannt. Noch bevor Jessy, ihre unliebsame Kollegin, ihren fetten Hintern vom Barhocker herunterbekam, saß sie am Tisch und suchte den Augenkontakt zu dem Alten. Dieser hatte sich gewandt erhoben und sich ihr mit einer formvollendeten Verneigung vorgestellt. Gestatten Sie, junge Frau, Heinrich Schuwart mein Name. Gehe ich recht in der Annahme, dass ich bei Ihnen ein Getränk bestellen darf?

Es waren weder die vornehm verdrehten Worte noch seine ungeahnte Agilität, die sie vom ersten Augenblick an faszinierten. Es waren seine hellgrauen Augen. Wissend, bis in die tiefsten Tiefen ihrer Seele schauend und dabei doch unvoreingenommen, freundlich und voller Respekt. Selbst heute noch durchlief Katharina ein wohliger Schauer, wenn sie sich an ihr Kennenlernen erinnerte.

Sie hatte sich unter ihrem Künstlernamen Chantal vorgestellt und mit ihm eine Flasche Sekt der Hausmarke zum Spottpreis von zweihundertvierzig Euro geleert. Zwei Tage später war Heinrich erneut in die „Carina-Bar“ eingekehrt. Um seine Unterhaltung mit einer faszinierenden Dame fortzusetzen, die sich, wie er allen Ernstes behauptete, für ihn als ebenbürtige Gesprächspartnerin entpuppte. Der dritte Tag sah Heinrich und sie in einem der Gästezimmer im ersten Stock, wo sie sich über Gott und die Welt unterhielten. Nur nicht über das, wozu die Räumlichkeiten ursprünglich vorgesehen waren. Die Woche darauf verließ Katharina ihren Arbeitgeber und zog bei Heinrich in Hamburg-Ohlstedt ein; angestellt als Hauswirtschafterin und Unterhalterin, wie es sich für solch vornehmen Stadtteil und Villenvorort geziemte. Die „Rundumbetreuung“, wie Heinrich ihre Vereinbarung verschmitzt bezeichnete, garantierte Katharina die Nutzung einer Einliegerwohnung in der über dreihundert Quadratmeter großen Villa. Ein elegantes Cabriolet gehörte ebenso zum Einkommen, wie ein reichlich bemessenes Taschengeld. Dabei wäre sie auch geblieben, wenn sie Geld hätte mitbringen müssen. Das hatte sie ihm gleich gestanden und es bis zum heutigen Tag nicht bereut. Ja, in den letzten Jahren war ihr wirklich das große Glück zugefallen. Doch nun sah es ganz danach aus, als würde alles erneut auf Anfang gesetzt.

Dieser Gedanke stieß sie gnadenlos in die Gegenwart zurück. Mit einem schweren Seufzen musterte sie die Frau, die ihr in Momenten wie diesem fremd vorkam. Das glänzende kastanienbraune Haar ergoss sich über ihre Schultern und umrahmte ein Gesicht, das so manch einen Fotografen faszinierte. Ihre tiefgrünen Augen in dem schmalen, von ausgeprägten Wangenknochen betonten Gesicht kehrten das geheimnisvolle Wesen hervor, das sie in der Tat für die meisten Menschen darstellte. Dazu das cremefarbene, mit aufwändiger Spitze besetzte Nachtgewand, das einen beruhigenden Kontrast zu ihrem verführerischen Aussehen bildete. Du bist zu selbstverliebt, nörgelte die selbstkritische Beobachterin in ihr. Selbst wenn sie für ihre siebenunddreißig Jahre mehr als passabel aussah. Vor allem, wenn man bedachte, was sie alles hatte durchmachen müssen, um dieses Aussehen zu erlangen. Und du bist zu sesshaft geworden! Letzteres stellte ihre innere Stimme vorwurfsvoll fest und würzte es mit der schonungslosen Frage, wie es nach Heinrichs Tod weitergehen würde. Diese ohnmächtige Frage, die sie beinahe ebenso fürchtete wie das nahende Ableben ihres Freundes und Wohltäters. Ein noch schwereres Seufzen trieb sie unter die kühle Bettdecke. Erneut eine Nacht, in der sie mit Gewissheit keine Ruhe und Entspannung finden würde. Dabei benötigte sie dringend diese Kraft, um einen weiteren Tag lang die fröhliche, ewig gut aufgelegte Frau darzustellen, die Heinrich an ihr so schätzte und liebte.

***

Die Sonne stand an diesem Morgen bereits hoch am Himmel, als es ihren Strahlen gelang, die Schläferin wach zu kitzeln. Erschrocken fuhr Katharina auf und sah irritiert auf die Ziffern ihres Weckers. Nach zehn Uhr! Mein Gott! Christa, wieso hatte sie sie nicht geweckt? War etwas mit Heinrich …

Hektisch fegte sie die Bettdecke beiseite und huschte ins angrenzende Bad. Wider Erwarten erblickte sie in dem Spiegel ein ausgeruht wirkendes Gesicht. Worin sich jedoch gleich wieder Sorge und Trauer bei dieser Wahrnehmung spiegelten. Mit wenigen Handgriffen versteckte sie diese unter einem Hauch von Make-up und verbarg sie mit der nötigen Portion an Zuversicht.

Keine zehn Minuten später begrüßte Katharina ihren Lebensgefährten mit einem liebevollen Lächeln und einem Kuss auf die Wange. »Guten Morgen, mein Schatz. Hattest du eine geruhsame Nacht?« Ihr fragender Blick registrierte das ermutigende Nicken, das Christa ihr über sein Bett hinweg sandte.

»Hübsch siehst du aus, Spatzi«, kam in Heinrich dieser alte Charmeur durch, der sich auch durch seine angegriffene Gesundheit kaum einschüchtern ließ. »Mir geht es außerordentlich gut. Ach, was sage ich! Bei der bezaubernden Frau, die mich heute Nacht umsorgt hat … Da kann es einem gar nicht schlecht gehen.« Er tätschelte die Hand der ergrauten Pflegerin, die bei dem Kompliment sogar errötete.

»Christa, warum haben Sie mich nicht geweckt?«, beschwerte Katharina sich schwach und strich ihr doch mit einer dankbaren Geste über die Schulter.

»Lassen Sie mal, Kathi. Sie hatten Ihren Schlaf dringend nötig. Zudem haben Herr Schuwart und ich schon ordentlich einen draufgemacht. Sogar einen Tee haben wir bereits miteinander getrunken.«

»Das freut mich.« Katharina erhob sich geschäftig. »Dann werde ich uns, beziehungsweise euch mal das zweite Frühstück zubereiten.«

»Spatzi! Mir bitte eine richtige Scheibe Toast, mit Erdbeermarmelade.« Heinrichs Stimme nahm fast die alte Stärke an, als er ihr seinen Herzenswunsch auftrug.

Katharina sah über die Schulter zurück und verbannte die mütterliche Strenge aus ihrem Blick. »Aber nur, wenn du mich nicht bei Doktor Haecks verpetzt. Du weißt, dass Zucker nicht gut für dich ist.«

»Ja, Mama. Bitte ganz dick mit Marmelade.«

Zum ersten Mal seit Tagen wagte Katharina leise zu hoffen, dass Vadder Hein doch noch ein Einsehen mit ihnen hatte und weiterzog. Heinrich war zäh. Auch wenn das bei der Art seiner Erkrankung leider kein Garant für ein längeres Leben war.

Kurz darauf kehrte sie mit einem großen Tablett zurück, auf dem vielerlei erlesene Köstlichkeiten angerichtet waren. Man würde zwar kaum den Appetit finden, auch nur einen Bruchteil von dem zu verspeisen, doch so war es nun einmal Brauch im Hause Schuwart. Immerhin hatte Christa nicht nur ein großes Herz, sondern einen ebensolchen gesunden Hunger.

Katharina zog den Tisch an das Bett ihres Partners, sodass er an guten Tagen wie diesem mit seinen beiden Damen menschenwürdig würde frühstücken können.

Das Zimmer, in dem sich Heinrich Schuwarts Krankenlager befand, war wie alle Räume in der herrschaftlichen Villa nicht gerade knapp bemessen. Zudem waren Katharinas Hüften, für die einer Frau, erstaunlich schmal ausgebildet. Und doch gelang es ihr ein ums andere Mal, die Fotografien umzustoßen, die Heinrich auf seinem Nachttisch stehen hatte.

»Du magst sie wohl nicht«, hatte er so manches Mal darüber gescherzt und lag zumindest nicht daneben, wenn er damit seinen Sohn und dessen Familie meinte. Ärgerlich über ihr wiederholtes Missgeschick nahm sie das Bild seiner vor vielen Jahren verstorbenen Frau und polierte das von Fingerabdrücken übersäte Glas mit dem Ärmel ihrer feinen Wolljacke. Heinrich musste sie sehr geliebt haben, dachte Katharina und daran, dass es das Einzige sei, worauf er sich freuen würde, sollte ihn der Tod einmal abholen kommen. Seine geliebte Katharina wieder zu sehen… Nicht nur der Name seiner ersten Frau, auch die Gesichtszüge erinnerten Katharina an ihre eigenen. Fast wie bei Mutter und Tochter. Hatte Heinrich sie deswegen damals zu sich geholt? Nur ein einziges Mal hatte sie in all den Jahren den Mut dafür aufgebracht, ihn danach zu fragen. Und nur ein einziges Mal war Heinrich ihr die Antwort schuldig geblieben.

Nun strahlte das Bild wieder. Wie auch Heinrich, der es gleich darauf erneut in die Hand nahm. Katharina bückte sich ein weiteres Mal und hob den anderen Bilderrahmen auf, auf dem der Rest der Familie vertreten war. Es musste sicher mehr als fünfzehn Jahre alt sein, rechnete sie nicht zum ersten Male insgeheim nach. Heinrichs einziger Sohn Michael und dessen Familie. Eine hochnäsig dreinschauende, aufgedonnert wirkende Diva und zwei Kleinkinder, die auf dem Schoß ihrer Eltern saßen. Im Grunde genommen sah dieser Michael gar nicht mal so übel aus. Zumindest erinnerte vieles auf diesem verblassenden Foto an den Vater in dessen jungen Jahren. Nur dass sein Charakter ganz augenscheinlich nicht dem des Vaters glich, quoll erneuter Unmut in ihr hoch. Katharina erinnerte sich widerstrebend an ihren mutigen Entschluss vom letzten Herbst. Zu dem Zeitpunkt, an dem sich die Krankheit bei Heinrich abzuzeichnen begann. Mit der Hilfe eines verschwiegenen Freundes hatte sie die aktuelle Adresse von Michael Schuwart herausbekommen und ihm einen langen und zudem sehr persönlichen Brief geschrieben. Sie hatte ihm darin ausführlich erklärt, wer sie war und warum ihr so viel daran lag, dass Vater und Sohn noch die Zeit fanden, sich auszusöhnen. Egal, welcher Streit sie damals entzweit haben mochte. Das alles war vor sechs Monaten geschehen. Mit jedem Tag, der seitdem ohne eine Antwort verstrich, verstand sie Heinrich ein wenig mehr, den eigenen Sohn totzuschweigen.

»Spatzi, denke nicht einmal im Traum daran.« Heinrich Schuwart hatte sich mit Christas Hilfe aufgerichtet und nahm ihr beinahe unwirsch das Bild aus den Händen.

Erneut kam es Katharina so vor, als könne er in ihre geheimsten Gedanken hinabtauchen. Ein verzeihendes Lächeln huschte über ihre Mundwinkel, während sie vergeblich dementierte: »Du hast mir ausdrücklich zu verstehen gegeben, dass es reicht, wenn ich deinen Sohn anrufe, sobald du kalt bist. Meine Meinung hierzu willst du ja nicht hören.«

»Weil ich sie kenne und weiß, dass jeder freundliche Gedanke für diesen Menschen und sein Weib nur vergeudete Lebenskraft ist.«

»Na, dir scheint es heute ja gut zu gehen. Was meinst du …«, lenkte sie von einer weiteren fruchtlosen Debatte ab und ergriff seine schmal gewordene Hand. »Das Wetter verspricht heute schön zu werden. Wollen wir nicht versuchen, nachher ein Stündchen auf die Terrasse zu gehen?«

»Ja, aber nur wenn du mir wieder etwas aus unserem Buch vorliest.«

Das Wetter hielt in der Tat sein Versprechen – was für Hamburg und im April nicht alltäglich war. Es sandte ihnen den ganzen Tag über strahlenden Sonnenschein auf die große Terrasse, die direkt unter ihrer Zimmerflucht lag. Katharina las Heinrich wohl zum ungezählten Male aus seinem Lieblingsroman vor. Mittlerweile würde sie bei einer Verfilmung dieses alten Schinkens manche Rolle problemlos spielen können. Doch sie tat es gern. Für Katharina war es geschenkte Zeit. Zeit, in der sie bei ihrem Partner sein und doch ihre unentwegten Gedanken auf Reisen schicken durfte. Eine Gabe, die niemand so gut beherrschte wie sie, glaubte man ihrem Freund Holgi. Nur war es wenig amüsant, wohin sie ihre Gedanken heute führten. Michael Schuwart. Dabei wusste sie nach sieben Jahren, in denen sie mit Heinrich lebte, nicht mehr, als dass dieser Michael nach einem heftigen Streit mit seinem Vater das Elternhaus verlassen und sich seitdem nie wieder gemeldet hatte; geschweige denn, dass er zurückgekehrt war. Dieses Bild, das sie heute Morgen mit ihrem Hintern heruntergerissen hatte, war, soweit sie wusste, das jüngste im Hause. Einmal hatte Heinrich geäußert, dass ein drittes Enkelkind hinzugekommen sei. Doch das schien er selbst nur aus anderweitiger Quelle erfahren zu haben. Welch ein Groll, welch ein Hass musste zwischen ihnen herrschen, dass ein Großvater nicht einmal seine Enkelkinder sehen oder sprechen durfte … oder wollte, ergänzte sie ehrlich für sich. Auch Heinrich war, wenn er trotzig wurde, nicht leicht zu besänftigen. Was wusste sie schon von diesem Menschen, den sie leider Gottes eines Tages würde kennenlernen müssen? Angeblich war er Manager in irgendeinem der großen Automobilkonzerne. Er hatte zwei oder drei Kinder und eine Gattin, die bereits auf dem Foto eine Miene zog, als würde ihr alles den letzten Nerv rauben. Kinder, Mann und ein begütertes Leben …

»Spatzi, kann es sein, dass du klammheimlich ein paar Seiten ausgelassen hast?«, holte Heinrichs Stimme sie in die Gegenwart zurück. »Aber macht nichts. Ich höre gern deiner unendlich erotischen Stimme zu. Sie ist bezaubernder als die von Zarah Leander. Weißt du, dass es das Erste war, was mich so sehr an dir faszinierte? Selbst heute spüre ich allein durch sie ein Kribbeln, das Jungs in meinem Alter gar nicht mehr haben dürften.«

»Heinrich!« Katharinas damenhaft zur Schau gestellte Empörung schmolz bei seinem Lächeln dahin. Sie rückte dicht an seine Seite und strich ihm mit der Hand über das stoppelige Kinn. Sie hatten heute Morgen tatsächlich vergessen, ihn zu rasieren. »Du verstehst es immer wieder aufs Neue, einer alten Schachtel wie mir den Hof zu machen.«

»Alte Schachtel«, echote er und schenkte ihr das gerissene Grinsen, das sie vom ersten Tag an verführt hatte. »Nein, wirklich. Was spricht dagegen, wenn wir uns an unsere besonderen Augenblicke erinnern?« Seine Finger schlossen sich um ihre zarte Hand. »Und komm mir nicht damit, dass ich sterbenskrank bin. Einen schöneren Tod als den, der mich dabei ereilen würde, kann es nicht geben.«

Lieber Herr Schuwart …

Katharina riss das Blatt vom Block und starrte in die Dunkelheit hinaus. Lange, tagelang hatte sie mit sich gerungen. Immer mit dieser Gewissheit, dass sie Heinrichs Sohn ein weiteres Mal schreiben musste. Einen allerletzten Versuch einleiten, die beiden Hitzköpfe zusammenzubringen, ehe ihnen die Endlichkeit jede Chance raubte. Keine simple Mail und kein ausgedruckter Bogen. Handgeschrieben, schwungvoll und von Herzen kommend.

Sehr geehrter Herr Schuwart, auch wenn ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben habe, eine Antwort auf meinen Brief vom Oktober zu erhalten, möchte ich mich noch einmal mit meiner innigsten Bitte an Sie wenden. Mein Name ist Katharina Sommerbeck. Ich bin seit nunmehr sieben Jahren bei Ihrem Herrn Vater als Hauswirtschafterin in Stellung. In dieser Zeit haben wir, Ihr Herr Vater und ich, ein sehr persönliches Verhältnis entwickelt. Dabei konnten wir auch über Themen sprechen, die manchmal familiär und privat waren. Oder eben solche, die uns großen Kummer bereiten.

Leider hat sich seit meinem letzten Brief der Gesundheitszustand Ihres Vaters nicht gebessert. Genau genommen ist es so, dass der behandelnde Arzt die Vermutung äußert, dass wir in Tagen und nicht in Wochen rechnen müssen. Mir ist nicht bekannt, welcher Zwist Sie und Ihren Vater nun wirklich entzweit hat. Es ist bestimmt nicht nur mein innigster Wunsch, dass Sie das große Herz besitzen, den ersten Schritt auf Ihren Vater zuzugehen. In der großen Hoffnung, dass dieser Brief Sie noch rechtzeitig erreicht und Ihr Herz öffnet, verbleibe ich mit allem gebührenden Respekt, Ihre Katharina Sommerbeck.

Die Leuchtziffern ihres Weckers zeigten weit nach Mitternacht, als Katharina mit ihrem wer weiß wievielten Entwurf zufrieden war und den Briefumschlag verschloss. Ihre Hoffnung war nicht groß und doch hätte es ihr keine Ruhe gelassen. Müde rutschte sie unter ihre Bettdecke und nahm sich vor, ihn gleich am nächsten Morgen durch Christa zur Post bringen zu lassen.

Kapitel 2

Doktor Haecks hatte nahezu recht behalten mit seiner Einschätzung von Heinrichs Gesundheit und Widerstandswillen. Heinrichs letzter Kampf hatte beinahe drei Wochen angedauert. Und nun hatte er den zehnten Mai doch nicht mehr erlebt. Katharinas Geburtstag, an dem er früher so gern mit ihr Ausflüge in den Duvenstedter Brook unternommen hatte. Zwei Tage zuvor war er mitten in der Nacht mit einem glücklichen Lächeln eingeschlafen. An seiner Seite die beiden Frauen, die ihm in den letzten Monaten und Jahren so nahestanden.

Nun war es vorbei und Heinrich war erlöst. Katharina hatte sich all die Monate über gefragt, hatte mit sich gehadert, wie es sein würde, wenn der geliebte Mensch auf ewig von ihr ging. Die Realität war weitaus grausamer. Für sie gab es nur Leere … Diese unendliche Leere. Mit der einzig wahren Gewissheit darin, dass ihre ganze Zukunft perspektivlos war und im Dunkeln lag.

Christa Hagedorn hatte in den Monaten ihrer Nachtpflege erlebt, welch Vertrauen und innige Liebe diese beiden Menschen verband. Für sie stand längst fest, dass ihre Aufgabe mit dem Dahinscheiden ihres Schützlings nicht endete. Die nächsten Tage über würde Kathi jeden Zuspruch und Beistand benötigen, den sie fand. Sämtliche Planungen um die Bestattung und all das, was auf sie zukam, würde allein auf ihren schmalen Schultern lasten. Doch jetzt war es erst einmal wichtig, dass Kathi für den Rest der Nacht zur Ruhe kam. Zumindest begann sich ihre Erstarrung zu lösen und wurde durch heftiges Schluchzen abgelöst.

»Spatzi«, nannte Christa Katharina bewusst bei ihrem Kosenamen und nötigte sie mit zarter Gewalt aus dem Zimmer hinaus. »Du wirst jetzt nach oben gehen und ein paar Stunden schlafen. Morgen wird ein langer Tag werden. Da brauchst du jedes bisschen Kraft.«

»Christa, ich fürchte mich, allein zu sein. Sobald ich meine Augen schließe, sehe ich Heinrich vor mir. Oder Bilder von all den schönen Momenten, die wir miteinander erlebt haben.«

»Das ist auch gut so, mein Kind. Solange wir uns mit Liebe an die von uns gegangenen Menschen erinnern, leben sie immer in unseren Herzen weiter. So, nun aber hoch und hinlegen.« Resolut scheuchte sie die erneut aufschluchzende Frau in den ersten Stock. »Ich werde die Nacht über hierbleiben. Morgen früh informieren wir Doktor Haecks und alle anderen. Kathi, wir zwei schaffen das.«

»Danke Christa, ich weiß nicht, wie ich das jemals gutmachen kann.«

»Nun hör aber auf. Ab nach oben und wehe, du liegst nicht im Bett, wenn ich nach dir sehe.«

***

Christa erwies sich in den folgenden Tagen mehrfach als Rettung in ihrer Not. Katharina mochte sich nicht im Traum ausmalen, wo sie heute gestanden hätte, wäre dieser Engel nicht an ihrer Seite geblieben. Die routinierte Art der Sozialhelferin, die anstehenden Aufgaben anzugehen, gaben Katharina Gelegenheit, sich mit den wichtigsten und intimsten Vorgängen zu beschäftigen. Zum Glück hatte Heinrich ihr die Schritte und Adressen der Freunde in seiner vorausschauenden Art auf einer Liste notiert. Am Ende der Aufstellung hatte er ihr einen letzten Gruß hinterlassen.

Spatzi, du musst nicht um mich weinen. Der Tod ist nur der Anfang von etwas Neuem. Ich sitze hier auf Wolke sieben, lasse die Beine baumeln und schaue voller Stolz auf dich hinab. Du schaffst es, mein geliebtes, starkes Mädchen.

Jedes Mal, wenn ihr Blick von den Adressen und den Hinweisen abglitt, blieb er an diesen Zeilen hängen. Selbst über den Tod machte Heinrich sich lustig und tat dabei so, als wäre alles normal. Vielleicht war es das auch? Oder man sah es anders, wenn die Jahre den Rücken beugten und Krankheiten das „Danach“ als Erlösung erscheinen ließen. Katharina schüttelte ihre tiefsinnigen Betrachtungen ab und suchte nach der Telefonnummer des Notars. Dieser musste unbedingt unterrichtet werden. Mit etwas Glück würde er ihr die größte Last von den Schultern nehmen.

Das Gespräch kam schnell zustande. Der Notar, ein Dr. Klaus-Peter Heinrichsen, versprach ihr, sie gleich am kommenden Tag zu empfangen und mit ihr alles Nötige in die Wege zu leiten. Mit der Telefonnummer eines Michael Schuwart könne er jedoch nicht dienen.

Katharina nahm sich vor, Heinrichs Liste von oben herunter abzuarbeiten. Das Geschäftliche, die nötige Firmenpolitik und alles andere befand sich seit Längerem bei Dr. Kopischek, Heinrichs langjährigem Geschäftsführer, in sicheren Händen. Blieb die schwere Pflicht, es Heinrichs engsten Freunden mitzuteilen. Die meisten dieser Leute hatte sie in den letzten Jahren kennen und schätzen gelernt. Es war beruhigend zu wissen, dass jeder von ihnen die Freundschaft, die Heinrich und sie miteinander teilten, akzeptierte. Nur eine der etwas mehr als ein Dutzend Adressen wies eine 07er-Vorwahl auf. Als Ort hatte Heinrich Stuttgart und den Namen Michael notiert. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, als ihr aus heiterem Himmel bewusst wurde, dass ihr Gefährte immer darüber informiert war, wo sein Sohn lebte und wie er zu erreichen wäre.

Es war nicht ihr Stil, dennoch hatte Katharina das Gefühl, dass sie – ehe sie zum Hörer griff – einen doppelten Kognak benötigte. Das warme Getränk rann ihr brennend die Kehle hinab. Doch es schien in der Tat zumindest das Zittern in den Fingern zu beruhigen. Ziffer für Ziffer drückte sie die Tasten. Geschenkte Sekunden, für den Augenblick, da auf der anderen Seite abgenommen wurde. Dabei war ihr nicht einmal klar, was und wie sie es sagen sollte.

»Laura Schuwart hier, guten Tag.«

Die Stimme war die eines Kindes und warf Katharinas eben gefassten Entschluss über den Haufen. »Hallo, hier spricht Katharina Sommerbeck. Ich würde gern deine Eltern sprechen. Ist das möglich?«

»Hallo, Frau Sommerbeck. Mein Vater ist auf der Arbeit. Darf ich ihm etwas ausrichten?«

»Das würde ich dann doch lieber mit deinem Vater persönlich besprechen. Gibt es eine Telefonnummer, auf der ich ihn direkt erreiche? Es ist wirklich sehr, sehr wichtig.«

Das Mädchen schien mit sich zu ringen. Schließlich nannte sie ihr seine Handynummer und fügte zaghaft an: »Bitte rufen Sie ihn nur an, wenn es echt dringend ist.«

»Vielen Dank, Laura. Und ja, es ist wirklich sehr wichtig.«

Katharina beendete das Gespräch und sah zweifelnd auf die Ziffern. Ihr war übel und das lag eindeutig nicht an dem im Magen auf und ab tanzenden Kognak. Es lässt sich nicht umgehen, bringe es hinter dich. Ihre Finger tanzten über die Tastatur. Drei- oder viermal vernahm sie das Freizeichen, dann wurde ihr Anruf einfach weggedrückt. Eine Minute lang gab sie ihrem aufkeimenden Unmut die Chance, sich zu legen. Ein weiterer Versuch, der mit dem gleichen Ergebnis endete. Was für ein Idiot! Katharina atmete tief durch und entschied sich, erst Heinrichs Freunde zu benachrichtigen, um später noch einmal bei diesem feinen Herrn anzurufen.

Es hatte ihr gutgetan, die Beileidsbekundungen und tröstenden Worte der Menschen entgegenzunehmen. Blieb einzig und allein dieser eine Anruf zu tätigen. Ein Blick zur Uhr, deren Zeiger quälend langsam voranschlichen. Michael Schuwart wäre mit Bestimmtheit noch lange nicht zu Hause. Sie nahm ein weiteres Mal den Hörer auf, blätterte durch die Liste der Telefonate und drückte auf Wahlwiederholung. Nur um erneut weggedrückt zu werden.

»Du Ar…mleuchter!«, fluchte sie leise zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Na warte, wir werden sehen, wer von uns den längeren Atem hat.«

»Zum Teufel noch mal, was wollen Sie!«, bellte eine wütende Stimme vom anderen Ende der Leitung.

»Mein Name ist Katharina Sommerbeck …«

»Woher haben Sie diese Nummer? Egal! Ich werde Ihnen jetzt mal was sagen, Sie impertinentes Weibsbild. Wenn Sie mich nur noch einmal mit Ihren Briefen oder Anrufen belästigen, dann wird Ihnen mein Anwalt …«

»Nein! Jetzt halten Sie mal Ihre bornierte Klappe und hören mir zu! Es ist meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Vater in der vergangenen Nacht verstorben ist. Was Sie letztlich mit diesem Wissen machen, ist mir egal. Die Beerdigung wird voraussichtlich in fünf Tagen stattfinden. Alles andere regeln Sie bitte mit dem Notar ihres Herrn Vaters. Und nun wünsche ich Ihnen einen erotischen Nachmittag, Sie … Sie …« Katharina knallte den unschuldigen Hörer auf die Schreibtischplatte und sprang auf. »Das kann doch wohl nicht wahr sein!!!« Entrüstet über diesen ungehobelten Patron und weitaus wütender über sich selbst und ihren absolut unpassenden Kommentar rannte sie aufgebracht im Zimmer auf und ab. »Was bist du nur für eine dumme Nuss!«

»Kathi, ist alles in Ordnung?« Christa sah erschrocken zu ihr ins Büro hinein.

Michael Schuwart starrte irritiert auf das stumme Handy in seiner Hand. Nur langsam sickerte die Tragweite dessen, was diese dreiste Person ihm ausgerichtet hatte, in sein Bewusstsein. Heinrich war tot. Er war sich all die Jahre über so sicher gewesen, dass es nichts mehr gab, was ihn und seinen Vater verband. Geschweige denn, dass es überhaupt so was wie eine seelische Verbindung gab. Jetzt wo es vorbei war, spürte er eine Trauer in sich aufsteigen, die er nicht für möglich gehalten hätte. Vor allem ließ sie sich nicht so einfach abstellen.

»Herr Schuwart, geht es Ihnen gut?«

Nur langsam kehrte er in die Gegenwart zurück und registrierte den besorgten Blick seiner Sekretärin. »Ja … Nein … Ich habe soeben erfahren, dass mein Vater verstorben ist.«

»Oh, wie schrecklich. Das tut mir sehr leid, Herr Schuwart.« Regina Niederhofer eilte nach nebenan und kehrte mit dem Terminplaner zurück. Pragmatisch begann sie darin zu blättern. »Morgen Mittag haben Sie eine wichtige Vorstandsbesprechung. Ansonsten sehe ich nichts, das dringend wäre oder das sich nicht verschieben ließe.«

»Das ist lieb von Ihnen, Regina. Ich denke, die nächsten zehn Tage Freiraum müssten reichen.« Michael Schuwart dachte mit Grauen daran, dass es einiges zu regeln geben würde. Dem würde er sich kaum entwinden können. »Ich bin dann bei Herrn Hausner und werde mit ihm meine Vertretung organisieren.«

»Ich regele für Sie die Termine. Wenn Sie im Anschluss die Unterschriften leisten, gebe ich Ihnen für den Rest des Tages frei.«

Michael Schuwart schenkte ihr ein dankbares Lächeln und unterdrückte den Wunsch, ihr liebevoll die Schulter zu tätscheln. Regina Niederhofer war ein Goldstück. Ein beherzter Griff zum Telefon. »Sebastian, hier Michi, kann ich kurz bei dir vorbeischauen?« Er registrierte die Zustimmung seines Management-Assistenten und besten Freundes. »Dürfte ich dich bitten, mich in den nächsten Tagen in der Firma zu vertreten? Ich habe einen Trauerfall in der Familie und muss oben in Hamburg einiges klären.«

»Holgi?«

Die Trauer in Katharinas Stimme enthielt für Holger Schmidt, ihren wohl ältesten Freund, die Gewissheit, dass es mit einem brillanten Menschen zu Ende gegangen war.

»Heinrich ist erlöst. Heute Nacht ist er ruhig und friedlich eingeschlafen.«

»Es tut mir so leid, mein Hase. Kathi, ich mach den Laden dicht und komme sofort vorbei. Hast du Anna schon informiert?«

»Du musst dich nicht beeilen. Christa ist bei mir. Außerdem habe ich noch so vieles zu erledigen. Aber ja«, seufzte Katharina erschöpft. »Wenn du und Anna heute Abend zu mir kommen mögt? Ich will Christa nicht über Gebühr strapazieren.«

»Mach dir keine Sorgen, Spatzi. Ich schnapp mir die Anna und besorge für uns das Nötigste. Gegen sieben werden wir bei dir sein.«

Katharina beendete das Gespräch und spürte dem sanften Lächeln nach, das sich letztlich erfolglos in ihrem Gesicht festzusetzen suchte. Dennoch wirkten Holgis einfühlsame Worte wie Balsam. Sie hatte sich richtig entschieden, ihre einzigen Freunde, die sie noch besaß, anzurufen. Ganz besonders nachdem sie mit diesem ungehobelten Knopf gesprochen hatte. Allein der Gedanke an diesen Michael Schuwart entfachte erneut ein heftiges Herzrasen.

»Hallo Paps, du bist heute aber früh zu Haus.« Jana Schuwart warf einen gehetzten Blick in den Flur und stutzte. »Ist etwas passiert?«

Bis zu seinem Eintreffen hatte sich Michael fest vorgenommen, die Kinder aus all dem herauszuhalten. Auch jetzt fand er, dass es vernünftig war. Was sollten die drei um einen Mann trauern, den sie nie kennengelernt hatten. Selbst wenn es ihr Großvater war. Nur, wie sollte er seinen Kummer, der ihn mit einer urplötzlichen Bestürzung herunterzog, vor den Kindern verheimlichen? Jana bemerkte sofort, wenn etwas nicht stimmte. Er stellte den Aktenkoffer ab und schlüpfte aus dem Sakko.

»Papaaa! Wie schön, dass du da bist!« Laura, seine Jüngste, stürmte in den Flur, sprang ihm in die Arme und übersäte sein Gesicht mit kleinen Willkommensküsschen. »Du, da hat vorhin eine Frau für dich angerufen. Die wollte dich dringend sprechen. Ich weiß nicht, ob es in Ordnung war, dass ich ihr deine Handynummer gegeben habe. Ich habe es nur gemacht, weil sie so unendlich traurig klang.«

»Das war schon in Ordnung, mein Pummelchen.« Er setzte die Neunjährige ab und strich ihr mit einem liebevollen Lächeln über das hellbraune Haar.

»Papa, du sollst nicht immer Pummelchen zu mir sagen. Ich habe heute noch nicht einmal Chips gegessen«, beschwerte sie sich. »Aber ich habe Hunger und Jana kommt mit dem Essen nicht in die Gänge!«

»Jana kocht für uns?«, fragte Michael skeptisch. »Was ist denn mit Frau Hofer?«

»Hey Paps, da gibtʼs ein kleines Problem«, begrüßte ihn nun auch Felix, sein Ältester. Ein Rang, auf den der Junge bestand, war er doch fünfzehn Minuten vor seiner Zwillingsschwester Jana zur Welt gekommen. »Frau Hofer wird sich die Tage bei dir wegen der ausstehenden Kohle melden.«

»Nein, nicht schon wieder«, entrang sich Michael ein Stöhnen. Eine Hiobsbotschaft nach der anderen! Dabei hatte er gerade einmal den Fuß über die Türschwelle gesetzt. »Kinder, ihr seid siebzehn und neun Jahre alt. Ist es denn zu viel verlangt, dass ihr euch mit den Menschen arrangiert, die um euer Wohl besorgt sind. Frau Hofer ist sage und schreibe die vierte Haushälterin in achtzehn Monaten, die …«

»Vierzehn Monate«, korrigierte Felix Schuwart seinen Vater und verschluckte im letzten Moment sein selbstgefälliges Grinsen. Doch das Donnerwetter war nicht mehr aufzuhalten. Der Alte schien heute so gar nicht in der Verfassung, Milde walten zu lassen.

»Über deine dummdreisten Witze kann ich längst nicht mehr lachen, junger Mann. Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!« Wütend ließ er seine Kinder stehen und betrat die Wohnung. Ein wahres Schlachtfeld begrüßte ihn. Da war seine letzte Haushälterin gerade mal drei Stunden fort und hier sah es aus wie in einer Sprengstoffversuchsanstalt. »Wenn ich wieder herunterkomme, ist hier aufgeräumt. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?!«

Laura und ihr großer Bruder unterbrachen die geschwisterliche Rangelei. Irritiert folgten ihre Blicke dem Vater und blieben letztlich an Janas Stupsnäschen hängen, das diese aus der Küchentür herausstreckte.

»Mann, der Alte ist ja super geladen«, äußerte Laura altklug, was ihre großen Geschwister vermuteten. Es war mehr als ein gewaltiger Ärger im Anmarsch. »Komm Felix, hilfst du mir beim Aufräumen?«

Statt der Kleinen wie gewohnt einen Vogel zu zeigen, entschied sich der Teenager dafür, ihrem Vorschlag zu folgen.

Der erfolgreiche Manager eines großen Automobilkonzerns schloss die Tür hinter sich und ließ die Welt außen vor. Der Schreibtischstuhl fing seine annähernd fünfundsiebzig Kilo auf und federte leicht nach. Eine böse Vorahnung sagte ihm, dass es mit seiner sehnlichst herbeigewünschten Ruhe heute und in den nächsten Tagen außerordentlich schlecht bestellt sein würde. Sein ganzes festgefügtes Leben bekam an allen Ecken und Enden Risse. Papa war gestorben. Idiotisch, was einem dabei durch den Kopf ging, horchte er hilflos in sich hinein. Machtlos, um sich gegen diese Erinnerungen zu wehren. Michael Schuwart fand sich mit einem Mal in der Rolle als Achtjähriger wieder, der miterleben musste, wie sein Großvater starb. Diese wahnsinnige Angst, die ihn damals überfiel, den Vater irgendwann ebenso zu verlieren. Den Menschen genommen zu bekommen, der für ihn der Größte war. Und nun? Waren wirklich mehr als fünfzehn Jahre vergangen, seitdem er ein letztes Mal mit seinem Vater gesprochen hatte? Wie üblich war es dabei zu einem handfesten Streit gekommen, an dessen Grund er sich nicht einmal mehr erinnerte. Es war gewiss wieder wegen Felicitas gewesen. Sein Vater hatte ihm nie vergeben, dass er diese Frau geheiratet hatte und – hörig wie er Idiot damals war – nach Süddeutschland zog. Heinrich hatte seine missliebige Schwiegertochter damals sofort durchschaut, gestand Michael sich peinlich berührt ein, wieder einmal. Doch jetzt war es ein für alle Mal zu spät, vor dem Vater zu Kreuze zu kriechen und sich mit ihm darüber auszusprechen. Wäre etwas besser geworden, hätte er der Bitte dieser Frau Sommerbeck entsprochen und Kontakt zu seinem Vater aufgenommen?

Wie unter einer schweren Last beugte Michael sich vor und öffnete die oberste Schublade des Schreibtisches. Er nahm ihre beiden Briefe an sich, die sie ihm geschrieben hatte. Haare auf den Zähnen hatte diese Person, erinnerte er sich an das kurze Telefonat mit ihr. Bei solch einem Drachen hatte sein alter Herr in den letzten Jahren bestimmt nichts zu lachen gehabt. Er öffnete den Brief, den diese Sommerbeck ihm im letzten Herbst geschrieben und den er nie beantwortet hatte.

So sehr er auch darauf hoffte, seine zuvor gehegten Vermutungen bestätigt zu sehen, war in ihren Zeilen nichts von der Furie zu entdecken, die er heute hatte erleben dürfen. Eher das Gegenteil. Sieben Jahre lang, las er ihre bezaubernde Handschrift, sei sie bei Heinrich bereits in Stellung. Aus jedem ihrer Worte las er Besorgnis, ja sogar so etwas wie Liebe heraus. Und diese unbändige Hoffnung darauf, dass sich Vater und Sohn aussprachen und endlich vertrugen. Dafür war es nun zu spät. Dennoch würde er sie unweigerlich in Kürze kennenlernen. Michael versuchte sie sich vorzustellen, diese Katharina Sommerbeck. Eine vertrocknete alte Schachtel, gouvernantenhaft, weit jenseits der Fünfzig und für keinen Mann ein wahrer Gewinn. Er selbst hatte in den letzten Jahren ein Übermaß an Stress und Ärger mit Frauen erlebt, als dass ihn der selbstgefällige Gedanke an den Leidensweg seines Vaters mit Freude erfüllte.

Von dieser Eingebung hin zu den anstehenden Aufgaben war es kein großer Schritt. Wer sorgte für die Kinder, wenn er in Hamburg war? Keine Haushälterin traute sich noch in ihre Nähe. Im weiten Umkreis gab es weder Verwandte noch Freunde, die bereit waren, die renitenten Schuwartkinder zu betreuen. Felicitas? Michael war bewusst, dass es keine grauenhaftere Idee gab, als die Kinder zu ihrer leiblichen Mutter zu bringen. Nicht einmal für ein paar Tage. Diese Zeiten wollte niemand wieder erleben. Weder er noch seine Exfrau – die sich auch Jahre nach der Scheidung mit irgendwelchen Typen auf Selbstfindungstrips befand – oder gar die Kinder. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als die Gören mitzunehmen. Das hieße, morgen mit der Schule zu telefonieren und die Kinder eine Woche vor den Pfingstferien herauszunehmen. Zudem musste er ihnen wohl oder übel gestehen, dass er ihnen all die Jahre über einen lebenden Großvater unterschlagen hatte. Mit einem herzerbarmenden Seufzer nahm er den zweiten Brief auf und las die Worte, die sie ihm erst vor Kurzem in ihrer schwungvollen Handschrift geschrieben hatte.

***

»Katharina, ich schau morgen Mittag wieder bei dir rein. Oder möchtest du nicht lieber doch mit zu mir kommen?« Christa Hagedorn schloss die junge Frau fest in ihre Arme und klopfte ihr dabei beruhigend den Rücken. »Es gibt Erbsensuppe. Genau der Dickmacher, den du jetzt dringend nötig hast.«

»Das ist lieb von dir, Christa. Danke für alles, was du für uns in den letzten Tagen und Wochen getan hast. Doch du musst keine Angst um mich haben, das Leben geht weiter. Außerdem kommen Holgi und Anna heute Abend. Die werden mich schon zum Lachen bringen.«

Als wäre ihre Ausrede das Stichwort, rollte ein verbeulter, von Aufklebern zusammengehaltener Wagen die geschwungene Auffahrt zur Villa hinauf. Das Tröten, mit dem die Ankömmlinge auf sich aufmerksam machten, klang eher nach einem rachitischen Nebelhorn als nach einer Hupe.

»Natürlich! Die zwei sind jetzt genau die richtige Medizin für dich. Macht euch einen schönen Abend und hör vor allem damit auf, Trübsal zu blasen.« Christa verabschiedete sich mit einem Kuss auf ihre Wange und schwang sich auf ihr Rad.

Holgi schälte sich unterdessen hinter dem Lenkrad hervor und winkte den Frauen zu. »Hallo, das Abendbrot kommt!« Erstaunlich agil begab sich der paradiesisch bunt gewandete Mann in Richtung Kofferraum, um einen überdimensionierten Bastkorb herauszuzerren. »Nun komm schon, Annalein! Du kannst ruhig mal mit anpacken, statt später mehr als die Hälfte zu essen.«

»Alter Sprücheklopfer«, drohte seine Beifahrerin lachend und bewegte ihre Traumfigur in seine Richtung. Zusammen wuchteten die beiden die Wegzehrung für ihren gemeinsamen Abend die Treppe hinauf. Als sie Katharina in ihre Arme schlossen, wich die Fröhlichkeit für einen langen Moment einer stillen Andacht.

»Kopf hoch, Mädchen. Heinrich hätte es nicht gewollt, dass wir hier wie die Trauerklöße herumhängen. Wir essen, wir werden uns einen zur Brust nehmen und über die guten, alten Zeiten reden. Da gibt es keine Widerrede!«, entwickelte Holger Schmidt eine Ernsthaftigkeit, die ihm sonst selten zu eigen war. Resolut nahm er den Korb auf und betrat das Haus.

»Er nun wieder«, wandte Katharina sich der Besucherin zu und bemühte sich, ein positives Schmunzeln an den Tag zu legen »Das ist der große Bruder, den man sich immer wünscht, oder?«

»Nein, das ist der Freund, den man immer braucht; und ich bin deine Freundin.« Johanna Neuhaus, die von allen nur liebevoll Anna gerufen wurde, zog sie mit einer Heftigkeit an sich, die man der zierlichen Person niemals zugetraut hätte. Ein Schluchzen ließ ihren schmalen Körper kurz erzittern. Doch sogleich hatte sie sich wieder unter Kontrolle.

»Kommt rein, ihr Süßen. Ich bin ja so froh, dass ihr zwei mich heute nicht allein lasst.« Katharina war glücklich, dass gerade die beiden Menschen bei ihr waren, die ihr neben Heinrich mehr als einmal wortwörtlich das Leben gerettet hatten.

»Holgi hat sogar seine Schmusedecke eingepackt. Was heißen soll, dass wir bis morgen bei dir bleiben werden.«

»Ich habe so etwas gehofft.« Zum ersten Mal fiel Katharina sämtliche Last von den Schultern. Sie ergriff die Hand ihrer besten Freundin und zog sie mit sich ins Haus hinein.

»Wenn ich euch beiden Hungerhaken durchfüttern muss, dann darf ich doch wohl erwarten, dass ihr den Tisch deckt!«, scheuchte Holger Schmidt die Freundinnen auf, die es sich mit einem Glas Wein in der cremefarbenen Ledergarnitur bequem gemacht hatten. Zufrieden mit sich kehrte er in die kleine Küche zurück, in der er sein spezielles „Schmerzfrei­-Menü“ kreierte. Die beiden süß errötenden Schnecken hatte er mit Arbeit versorgt. Jetzt galt es, dass das Roastbeef einen ebenso überzeugenden Touch annahm. Kochen, Backen und Braten waren seine große Leidenschaft; was man seinem Astralkörper leider Gottes manchmal ansah. Nur war er nicht dick, allemal ein wenig plüschig. Oder wie Kathi frech behauptete, er hätte kein Übergewicht, sondern sei nur untergroß. Er liebte diese Frau mit ihrer unheimlich großen Klappe und dem noch größeren Herzen. Nur schade, dass sie nicht der Mann war, der wie für ihn geschaffen war, sinnierte er wieder einmal mit einem Hauch Bedauern. Doch das war schon gut so. Seine Kathi war eben ein ganz besonderer Mensch, dem niemand das Wasser reichen konnte, dachte er mit Hochachtung. Ihre Anteilnahme und Fürsorge für die Menschen, die sie liebte, dieser eiserne Wille und die wagemutige Art, für ihre Überzeugung einzutreten. All das und noch viel mehr faszinierte ihn an diesem tollen „Stehaufmädchen“. Wie oft hatten Heinrich und er – sein Verlust wurde ihm erst jetzt so richtig bewusst – darüber resümiert, welch ein besonderer Mensch in dieser Vollblutfrau ruhte. Kathi hatte immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Menschen um sie herum. Dabei war ihr bisheriges Leben nie auf Rosen gebettet gewesen. Und doch war Katharina ein Engel auf Erden. Mehr als einmal hatte Holger Schmidt sich dabei ertappt, wie er suchend mit den Fingerkuppen über ihre Schulterblätter fuhr. Dort, wo irgendwo die Schraubvorrichtungen für die Flügel sitzen mussten, die sie immer vor ihnen verbarg.

»Eh, Maître. Wenn dein Braten im Ofen keine Zigarren raucht, würde ich sagen, da brennt was an«, nuschelte Anna mit vollem Mund und langte ein weiteres Mal in das Schälchen mit Paprikastreifen, ehe sie sich aus seiner Nähe flüchtete.

»Na, was macht unser Dreisternekoch?«

»Rettet gerade die Reste des Roastbeefs«, bauschte Anna dessen Malheur grinsend auf. »Du weißt ja, am schönsten schmeckt bei Holgi das Stück zwischen dem rohen und dem verbrannten Teil.«

Frech winkte sie zu dem Geneckten herüber und kontrollierte, ob der Tisch vollständig gedeckt war. Wieder einmal bewunderte sie dabei das edle Geschirr mit dem hellgraurosa Randdekor, das Katharina hervorgeholt hatte. Wie alles, was ihre beste Freundin in die Hand nahm, fügte es sich in das Flair ihrer liebevoll eingerichteten Wohnung ein. An Kathi war eine begnadete Innendekorateurin verloren gegangen. Die Einliegerwohnung, die Katharina hier in der Villa bewohnte, strahlte eine edle Zartheit aus, die ihresgleichen suchte. Viele helle Töne, weiß gelaugte Möbel, die verspielten und dennoch dezenten Accessoires verrieten mehr über das wahre Wesen der Katharina Sommerbeck, als diese freiwillig zugeben würde.

Und das alles sollte vielleicht bald Geschichte sein, erinnerte sich Anna an Katharinas jüngst geäußerte Besorgnis. Was wollte Heinrichs Sohn mit all dem hier anstellen? Dieser Mann, hatte Kathi ihr ihre Ängste geschildert, würde kaum eine Bindung zum Erbe seiner Familie haben und womöglich alles verkaufen. Wo würde Katharina dann ein Unterkommen finden? Nein Anna, rief sie sich zur Ordnung, du fängst jetzt nicht von dir aus an, hier schlechte Stimmung zu verbreiten. Kathi braucht Zuspruch und Mut, kein erneutes Aufkochen von irgendwelchen ungelegten Eiern!

»Diese versalzene Pampe kann doch niemand essen«, beschwerte Felix sich und schob den Teller von sich.

»Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Letzten Endes ist es eure Schuld, dass Frau Hofer gekündigt hat.« Der gestrenge Blick des Vaters duldete kein weiteres Aufbegehren. »Außerdem hat Jana uns ein schmackhaftes Gericht zubereitet.« Michael prostete seiner Tochter mit einem dankbaren Lächeln zu und hoffte, dass niemandem auffiel, dass es bereits sein drittes Hefeweizen war.

Jana errötete ob des Lobes und griff zur halb vollen Schüssel. »Möchte noch jemand? Ich kann auch noch ein weiteres Paket Fischstäbchen zubereiten.«

»Hoffentlich findet die später mal einen Mann, dem es die Geschmacksknospen vorher weggeätzt hat«, murmelte Felix und zog sich den Teller heran, bevor seine Schwester ihm noch mehr von der Pampe draufklatschte.

Selbst Michael zeigte ein Herz mit seinen Magenwänden und legte das Besteck beiseite. »Nein danke, mein Schatz. Ich glaube, wir sind nun gesättigt. Ich bin schon gespannt darauf, was du uns morgen servierst.«

»Morgen?« Janas unstete Blicke irrten zu ihren Geschwistern. »Ich treffe mich morgen mit Max und Julia.«

»Das wäre ganz gewiss kein Problem. Nur habe ich nicht den Eindruck, dass Frau Hofer wiederkommen wird. Oder wie seht ihr das?« Betretene Gesichter allerorten, aber mit Ironie, geschweige mit väterlichem Verständnis kamen sie nicht voran. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir einen ernsten Familienrat einberufen. Denn so, da stimmt ihr mir hoffentlich zu, kann es mit uns nicht mehr weitergehen. Die vierte Haushälterin in … Wie sagtest du, Felix? Die vierte in vierzehn Monaten.«

»Felix hat echt keine Schuld, Papa. Ich glaube, diesmal habe ich Mist gebaut«, nahm Laura ihren großen Bruder in Schutz und senkte sofort den Kopf, als sie der flammende Blick ihres Vaters traf.

»Es ist mir egal, wer hier wie viel Mist baut! Das ist im Übrigen eine Ausdrucksweise, die ich selbst von einer jungen Dame in deinem Alter nicht mehr hören möchte. Wir stehen vor einem Problem, bei dem ich das Gefühl habe, auf ganzer Strecke zu versagen«, setzte Michael zu einer Strafpredigt an. »Ihr wisst, wie ungern ich versage. Es ist nun einmal so, dass ich morgen, spätestens übermorgen für ein bis zwei Wochen dringend nach Hamburg muss. Wer soll da auf euch aufpassen? Niemand will sich noch um euch kümmern oder nur nach dem Rechten schauen. Ich denke, ich bin mit meinem Latein am Ende und frage mich, ob es nicht besser für alle wäre, wenn ich euch in einem Internat unterbringe.«

Diese Schlussfolgerung schlug bei den Kindern wie eine Bombe ein. Felix sprang auf, während Jana unter ihrem Make-up käsebleich wurde. Einzig Laura blieb abwartend sitzen, obwohl die Reaktion ihrer älteren Geschwister das Schlimmste befürchten ließ. Was war ein Internat?

Felix räusperte sich nach einem eindringlichen Blick auf seine Schwestern. »Paps, du hast mit deiner Standpauke absolut recht. Ich kann dich und deine Haltung sogar verstehen, dass wir nicht selbst auf uns aufpassen können. Doch das geht! Jana kann hervorragend kochen und ich …«

»Felix, wer soll euch denn noch glauben? Eure spontane Silvesterfete mit den Facebookfreunden hier und in der Nachbarschaft war Beweis genug. Wenn du es mir nicht glaubst, gebe ich dir gern die Nummer unseres Sachbearbeiters bei der Haftpflichtversicherung.«

»Das waren die alten Schuwartkinder! Meinst du nicht, dass wir eine letzte Chance verdient haben?«

»Nun kommt er gleich mit dem Spruch „Wie viele letzte Chancen wollt ihr noch haben“«, kam Laura ihrer bedrückt dasitzenden Schwester zuvor und kassierte stolz den respektvollen Blick ihres großen Bruders.

Die Faust des erbosten Vaters schien die Tischplatte zu spalten und verjagte sämtliche Opposition. »Madame, ich bin heute wirklich nicht zu Späßen aufgelegt! Ihr habt mittlerweile einen übleren Ruf als den einer Rockerbande. Ich kann so nicht mehr weiterleben!«

»Und wenn wir mit dir nach Hamburg kommen und versprechen, nicht nur da, sondern von nun an jederzeit nett und höflich zu sein«, fand Jana endlich ihre Sprache wieder. Unter dem zustimmenden Nicken ihre Geschwister flehte sie: »Bitte, Papa. Alles, nur kein Internat.« Dicke Krokodilstränen sammelten sich in ihren Augen.

»Ja, Paps. Jana hat recht und du natürlich auch«, hängte Felix die Fahne in den Wind. »Ihr Vorschlag ist doch super. In der letzten Woche passiert in der Penne eh nichts. Was hast du eigentlich in Hamburg zu erledigen?«

Die Kinder versprachen ihm Besserung und ja, er wollte ihnen vertrauen. Betreten drehte er das leere Glas in seiner Hand. »Ich muss zu einer Beerdigung. Danach werde ich einige unabwendbare Dinge zu regeln haben.«

»Beerdigung? Wer ist denn gestorben?«

Nun war es an ihn, Farbe zu bekennen. Michael schluckte trocken und setzte zu einer Beichte an, die er ihnen und sich selbst liebend gern erspart hätte.

Es wurde ein Nachmittag der Offenbarungen und der großen Versprechen. Was daraus erwachsen würde, musste die Zukunft zeigen. Zumindest hatte die Schuwartfamilie für die nächste Zeit zusammengefunden, resümierte Michael. Felix hatte den Auftrag übernommen, den günstigsten Flug für sie zu buchen und die Mädchen würden planen, was man als Familie für ein bis zwei Wochen mitnehmen musste. Auf ihn selbst wartete die schwierigste Aufgabe. Eine gewisse Katharina Sommerbeck darauf vorzubereiten, dass er sehr bald und nicht allein in Hamburg eintreffen würde.

Das Telefonklingeln wollte nicht abreißen.

»Ein wenig spät für Kondolenzanrufe«, bemerkte Anna nicht zu Unrecht.

Katharina warf ihr zerknülltes Papiertaschentuch in den Müll und griff zum Hörer. »Holgi, drehst du bitte die Musik etwas leiser.«

»Na klar.« Der Angesprochene folgte ihrer Bitte. Dabei gab es nichts Besseres zur Trauerbewältigung als die Musik von Christoffer Cross, Supertramp oder Alan Parsons Project. »Obwohl ich Anna nur zustimmen kann.«

»Wir haben noch die ganze Nacht, mein Kuschelbär.« Katharina lächelte ihm dankbar zu und nahm den Hörer an ihr Ohr. »Bei Schuwart. Sie sprechen mit Katharina Sommerbeck.«

»Michael Schuwart hier.« Herrgott, fragte sich der Mann am anderen Ende der Leitung, warum die Stimme einer alten Schachtel, eines Drachens mit Haaren auf den Zähnen, solch ein unvergleichbares Timbre besaß. Zumal sie jetzt weit gelöster klang als noch bei ihrem Gespräch am Nachmittag. Zu früh gefreut. Offenbar reichte sein Name allein, um bei ihr einen Hauptschalter umzulegen.

»Herr Schuwart, was verschafft mir die Ehre Ihres Anrufes zu nachtschlafender Zeit?«

Michael sah auf die Uhr. Okay, sie hatte das Recht, ein wenig pikiert zu sein. Doch er war ja wohl eine Ausnahme, oder? »Ich wollte Sie davon in Kenntnis setzen, dass wir morgen im Laufe des späten Nachmittags eintreffen werden.«

»Ja, Herr Schuwart.« Katharina erntete für sich die teils besorgt, teils wütenden Blicke ihrer Freunde. »Na, da freue ich mich doch außerordentlich, dass Sie zumindest die Zeit finden, um doch noch an der Trauerfeier Ihres Vaters teilzunehmen.«

Michaels Gerechtigkeitssinn konnte ihr ihre Bissigkeit nicht verübeln. Sein Vater hatte ihr, so wie es schien, sehr am Herzen gelegen. »Frau Sommerbeck, wäre es bitte möglich, dass sie uns ein paar Zimmer vorbereiten?«

Katharina sah an den Freunden vorbei ins Dunkel der Nacht hinein. Hätte er sich nicht wie jeder rücksichtsvolle Mensch in einem Hotel einmieten können! Dieser ungehobelte Kerl hatte es nie für nötig gehalten, sich jemals um seinen Vater zu kümmern. Und nun verlangte er allen Ernstes … Mädchen, du bist ungerecht, rief sie sich zur Ordnung. Es ist sein Elternhaus und er ist ohnehin der neue Eigentümer. »Gern, Herr Schuwart. Wen darf ich einplanen?«

Wenn Eisblöcke einen Namen trugen, sinnierte Michael für sich. Im Hintergrund hörte er leise Musik und mindestens ein weiteres Stimmenpaar. Komisch, warum fielen ihm gerade jetzt solche Nebensächlichkeiten auf? Er sammelte sich und sagte im versöhnlichen Tonfall: »Mein Sohn, die beiden Töchter und meine Wenigkeit.«

»Das ist kein Problem, Herr Schuwart. Soll ich dafür Sorge tragen, dass Sie abgeholt werden?«

»Nein, das ist nicht nötig. Wir haben einen Leihwagen gebucht.«

»Dann hoffe ich, dass Sie in der Lage sein werden, den Weg hierher zu finden.«

Der Klang ihrer honigsüßen Stimme ließ ihn wider Willen herzhaft auflachen. Im Nachhinein sollte er sich oft fragen, warum ihm die folgenden Worte über die Lippen kamen: »Frau Sommerbeck, ihr Sarkasmus ist einfach erfrischend. Ich freue mich schon wirklich darauf, Sie kennenzulernen.«

»Ich mich auch, Herr Schuwart. Ich mich auch.« Katharinas Versprechen klang dagegen wie eine Drohung. Sie wollte das Gespräch beenden, als er ihr eine weitere Frage stellte. »Bitte?«

»Wollen Sie mir nicht noch eine erotische Nacht wünschen?«

»Schlafen Sie gut«, wünschte Katharina ihm geheimnisvoll lächelnd und legte auf.

»Graziella, war das eben der Mensch, den ich vermute?«, überfiel Holgi sie, sobald sie das Gespräch unterbrochen hatte.

»Ja.« Katharina sah nachdenklich an den Freunden vorbei. »Ja, das war Michael Schuwart. Er und seine drei Kinder werden morgen kommen.«

»Spatzi, du siehst aus, als würdest du etwas ergründen wollen, das dir gar nicht so unschön vorkommt.«

»Süße, jetzt hör bloß damit auf, mir irgendwelche Romanzen anzudichten!« Katharina funkelte Anna peinlich berührt an. Verdammt, wie einfühlsam war diese Frau denn noch!?! Doch diesmal würde Anna auf dem Holzweg sein, schwor sie sich.

»Was wäre denn so grausig daran?«, hieb Holgi in die gleiche Kerbe. »Wer sagt denn, dass dieser Michael nicht ein jüngeres Pendant von Heinrich ist?«

»Kinder, jetzt hört ihr aber auf! Dieser Mann hat mindestens drei Kinder und ist mit einer unmöglichen Xanthippe verheiratet. Außerdem wäre er, hätten Heinrich und ich jemals den Mut gefunden zu heiraten, längst mein Stiefsohn.« Katharina schüttelte sich bei der Vorstellung. Zumal das „Kind“ wer weiß wie viele Jahre älter war als die Stiefmutter. »Es wird kommen, wie es kommt«, setzte sie dem Spuk ein Ende. »Jetzt werden wir die letzten Flaschen leeren und morgen früh dürft ihr mir helfen, die Gästezimmer herzurichten.«

Kapitel 3

»Ich war noch nie in Hamburg, Papa.« Laura sah mit leuchtenden Augen aus dem Fenster, als ihr Flieger langsam über den Hafen und die im Sonnenlicht glitzernde Elbe hinweg Kurs auf Fuhlsbüttel nahm. »Und du kommst echt von hier? Wie ist das, kann man in der Elbe baden?«

»Ich weiß es nicht, mein Schatz. Die Strömung ist nicht zu unterschätzen. Und ja, ich bin in dieser Stadt geboren. In der Finkenau.«

»Das hört sich aber lustig an!«, urteilte Jana und schaute über die Schulter ihrer Schwester hinaus. »Michael von der Finkenau. Das klingt wie bei einem echten Adligen.«

»Felix von Finkenau. Ob ich damit bei den Mädels hier Erfolg habe?«

»Hört mit dem Lästern auf!« Verlegen faltete Michael die Zeitung zusammen und steckte sie vor sich ins Gepäcknetz. »Schuwart ist ein edler Name. Ich meine, mich zu erinnern, dass euer Urgroßvater unsere Familie bis zu einem Bremer Kaufmann um 1514 zurückverfolgt hat.«

»Eh, geil! Denkst du, Opa hat so was wie einen Stammbaum herumliegen? Fünfhundert Jahre Familiengeschichte und mein alter Herr meint, man muss sich dafür entschuldigen«, spielte Felix mutig auf das gestrige Geständnis seines Vaters an. Grinsend überging er den zynischen Blick seines Vaters. »Und Opa war echt ein Reeder? Mit Schiffen und all soʼm Schotter?«

Bevor Michael über die ungebührlichen Worte seines Sohnes in Wallung geriet, machte Laura erneut auf sich aufmerksam. »Was ist denn ein Reeder? Ist das jemand, der immer Reden schwingt?«

Michael musste schmunzeln. So unrecht hatte seine Jüngste nicht, erinnerte er sich an seine Kindheit und Jugend. Reden geschwungen hatte sein alter Herr immer. »Nein, mein Schatz. Reeder sind Leute, die große Schiffe besitzen, diese mit Fracht von anderen Leuten beladen und über alle Weltmeere fahren.«

»Meinst du, wir können auch mal mit so einem Schiff fahren? Vielleicht nach Afrika, oder noch besser, nach Amerika?«

»Nein, das glaube ich nicht. Die Schiffe sind nur für Fracht und keine Luxusliner.«

»Eine Kreuzfahrt, das wäre mal was!«, schwärmte Jana selig. »Können wir das nicht auch mal gemeinsam machen?«

Ehe Michael auf den Wunsch seiner Ältesten reagieren konnte, überraschte ihn Felixʼ Feststellung. Zumindest was die Ernsthaftigkeit seiner Worte betraf. »Paps, das heißt, uns gehören jetzt richtige Frachtschiffe, mit denen wir Waren in alle Welt liefern können?«

Michael antwortete ihm mit einer tiefen Spur von Traurigkeit: »Ich weiß es nicht. Jedenfalls war es so, als ich damals von zu Haus fortging.«

Jana ergriff die Hand ihres Vaters und sah ihn an. »Papa, es ist nie zu spät, neue alte Wege zu gehen.«

Die Aufrichtigkeit seiner Kinder verblüffte und erfreute Michael Schuwart zu gleichen Teilen und mehr, als er sich einzugestehen wagte.

»Laura, wenn die Fahrwerke gleich beim Aufsetzen abbrechen, wickelt sich die Tragfläche um deinen Hals«, versprach Felix seiner kleinen Schwester, als es spürbar unter ihnen ruckte. Heldenhaft ertrug er die strafende Kopfnuss seines Vaters wie ein Mann.

***

»Wir werden die Daunenfedern garantiert bis Weihnachten in den Nasenlöchern und unserer Unterwäsche finden.« Holger Schmidt nieste übertrieben und beschwor die Freundin, als diese keine Reaktion auf seinen Kommentar zeigte: »Kathi, du bist uns etwas schuldig. Willst du uns nicht doch hier in deiner Nähe behalten?« Zu gespannt war er auf Heinrichs Sohn und dessen Kinder.

»An einem anderen Tag gern«, unterband die Angesprochene jeden weiteren Versuch. »Bitte seht ein, dass ich diesen komischen Knopf erst allein kennenlernen will. Ihr werdet ihm und seinen Kindern auf jeden Fall bei der Trauerfeier begegnen. Ihr kommt doch, oder?«

»Was für eine Frage! Spätestens da werden wir uns wiedersehen. Ich verspreche dir, dass Holgi nicht overdressed erscheinen wird.« Anna zwinkerte Katharina zu und scheuchte den gemeinsamen Freund zum Wagen.

Müde und gleichwohl aufgewühlt winkte Katharina ihnen hinterher und kehrte in die Villa zurück. Zum ersten Mal seit Heinrichs Tod war sie mit sich allein, wurde ihr bewusst. Die Angst holte sie ein weiteres Mal ein, all das hier in Kürze zu verlieren. Nein, so darfst du gar nicht erst anfangen zu denken, ermahnte sie sich und suchte ihr Seelenheil in irgendwelchen Routineaufgaben.

Ein letzter Kontrollgang durch ein Haus, das trotz aller guten Vorsätze mit einem Male so leer und einsam wirkte. Selbst die medizinischen Geräte und Hilfsmittel hatte man abgeholt. Nichts erinnerte an das Leiden eines alten, immer jung gebliebenen Mannes. Sie hatten alles vorbereitet, für diesen unbekannten Erben und dessen Kinder.

Vielleicht noch eine Stunde. Dann würde sie dem Mann von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, dessen markante Stimme sie gestern Abend so sehr an Heinrich erinnert hatte. An einen Heinrich, der sie immer wieder alles um sich herum hatte vergessen lassen. Ruhig Mädchen, rief Katharina sich zur Ordnung. Es läuft alles nur auf einen Deal hinaus. Ein Geschäft, bei dem du dich so gut verkaufen musst, dass er dir zumindest deine Wohnung lässt. Das war ihre größte Angst. Zumal ihr die alkoholgeschwängerten Albträume der letzten Nacht Schlimmeres suggerierten. Sie hatte tatsächlich davon geträumt, dass er alles versilbern und sie selbst auf die Straße setzen würde.

Wohl von jedem zweiten Fenster blickte sie hinaus. Voller Unruhe darauf wartend, dass dieser Herr und seine Kinder kamen. Jedes Mal kam es ihr vor, als würde Heinrichs Geist neben ihr stehen und ihr leise ins Ohr flüstern: »Vertraue mir, Spatzi, du wirst sie in dein Herz schließen.« Sie schüttelte den Kopf und lächelte dabei glücklich. »Heinrich, du bist immer nur ein Optimist gewesen.«

In diesem Moment bog eine dunkle Luxuslimousine von der Straße ab und kam langsam die Auffahrt hinauf.

Michael Schuwart sah die protzige Villa vor sich liegen. Nichts, rein gar nichts schien sich in all den Jahren verändert zu haben. Penibel gepflegt, wie eh und je. Das alles sollte nun ihm gehören … Beklommenheit manifestierte sich in ihm und griff auf die Kinder über. Er riss sich vom Anblick los und sah seine Mannschaft eindringlich an. »Eine letzte und eindringliche Warnung an euch. Benehmt euch! Und wehe, ihr vergrault mir diese Frau Sommerbeck. Selbst wenn sie nur eine Haushälterin ist und Haare auf den Zähnen hat. Ich sage nur „Internat“.« Die letzte Drohung zerkaute er beinahe genüsslich.

Sie waren eben ausgestiegen, als sich der schwere Türflügel des Portals öffnete und eine dunkel gekleidete Frau heraustrat.

Herr im Himmel! Michael blieb abrupt stehen. War das etwa die Sommerbeck? Er strich schlagartig zwanzig, wenn nicht sogar dreißig Jahre von dem Alter, das er ihr zugestanden hatte, und begab sich mit klopfendem Herzen auf sie zu. Sie trafen sich auf der Hälfte der Stufen. »Frau Sommerbeck?«

»Ja, Herr Schuwart. Ich heiße Sie und Ihre Kinder herzlich willkommen. Wenn der Anlass auch nicht schön ist, so freue ich mich doch, Sie endlich kennenzulernen.«

Michael wusste nicht, wie er sich an ihrer Erscheinung sattsehen sollte. Mein Gott, hätte er doch nur früher geahnt, welch eine Frau hier auf ihn gewartet hatte. Irgendwann bemerkte er, dass er weiterhin ihre zarte und gleichwohl kräftige Hand hielt. Die künstliche Bräune von der Sonnenbank verbarg hoffentlich sein heftiges Erröten. Und doch schien sie ihn mit einem wissenden Lächeln zu durchschauen.

»Entschuldigen Sie.« Sein Lachen wirkte so was von deplatziert. »Das muss wohl der Jetlag sein.« Jetlag? Oh Mann, packte Michael die Verzweiflung. Du machst dich hier völlig zum Löffel. »Mein Sohn Felix. Ehhh«, pfiff er erfolglos den Junior zurück, der sich grußlos, ganz aufs Smartphone konzentriert, an ihnen vorbeidrückte. »Felix, sei doch bitte so nett und begrüße Frau Sommerbeck!«

Katharina sah dem jungen Mann hinterher und nahm dessen Ignoranz des väterlichen Befehls mit einem toleranten Schulterzucken zur Kenntnis.

»Ich hoffe inständig, dass zumindest meine Töchter nicht alles an Erziehung verlernt haben«, entschuldigte sich Michael ein weiteres Mal. »Das ist Jana, meine Große, die Zwillingsschwester von dem Chaoten dort.«

»Hey.« Die junge Frau hob kurz die Hand, in der sie den überdimensionierten Beauty-Case trug und folgte ihrem Bruder ins Haus.

Michael drohte derweil vor Scham im Erdboden zu versinken. Herrgott, was musste diese Frau von ihm denken! Damit hatte er dann wohl endgültig alle ihm vorauseilenden Negativpunkte erfüllt.

»Guten Tag, Frau Sommerbeck. Mein Name ist Laura Schuwart. Ich freue mich sehr, Sie endlich kennenzulernen.« Laura strahlte die große Frau freundlich an und hielt ihr die Hand entgegen, die diese mit einem überraschten Lächeln ergriff.

»Hallo Laura. Ich bin die Katharina und ich freue mich sehr, deine Bekanntschaft zu machen. Wir hatten doch gestern bereits miteinander telefoniert, oder?«

»Ja, das war ich.« Laura vollführte einen Knicks und sah zu ihrem Vater auf, über dessen Gesicht ein erlöstes Lächeln zuckte. »Papa, denkst du, ich könnte Katharina mal fragen, ob sie etwas zu essen hat?«

»Natürlich, Laura. Ich habe uns allen ein Abendessen vorbereitet und hoffe, es wird dir und deiner Familie schmecken.« Katharina ergriff die Hand des Mädchens und blickte über ihre Schulter zurück auf den konsterniert dreinschauenden Mann. Für einen kurzen Moment zuckte es um ihre Mundwinkel herum, als probe sie ein amüsiertes Lächeln. »Die Einladung gilt natürlich auch für Sie.«