Dünenkutter - Joost Jensen - E-Book
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Dünenkutter E-Book

Joost Jensen

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Beschreibung

Unerhört: Die junge Journalistin Fenna Kruskopp und ihre zahme Möwe Ziepeltrine sollen aus ihrer geliebten »Villa Kutterbunt«, einem ausrangierten Kutter in den Borkumer Dünen, ausziehen. Der Schönheitschirurg Dr. Gerber plant die Eröffnung einer Beautyklinik auf der Nordseeinsel und für dieses Bauvorhaben soll der Dünenkutter weichen. Sie rebelliert gegen ihre Vertreibung, und wenige Tage später ist der Mediziner tot - ermordet. Fenna, bekannt für ihre Impulsivität, wird verhaftet. Die Familie Kruskopp ist entsetzt - und ermittelt auf eigene Faust.

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Seitenzahl: 357

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Joost Jensen

Dünenkutter

Nordsee-Krimi

Zum Buch

Aufruhr auf Borkum Die Journalistin Fenna Kruskopp lebt zusammen mit der zahmen Möwe Ziepeltrine in einem ausrangierten Fischkutter in den Borkumer Dünen. Weil sie den Kutter bunt angestrichen hat und ihr Aussehen und ihre Lebenseinstellung an Pippi Langstrumpf erinnern, wird ihr Heim auf der Insel »Villa Kutterbunt« genannt. Und das soll nun einer Beautyklinik des Schönheitschirurgen Dr. Gerber weichen. Doch nicht mit Fenna! Sie rebelliert gegen ihre Vertreibung und ruft die Bevölkerung dazu auf, sich gegen den Ausverkauf der Insel an die Reichen und Schönen zu wehren. Wenige Tage später ist der Mediziner tot, ermordet mit einer Giftkapsel – und Fenna, allseits bekannt für ihre impulsive Art, wird von dem ehrgeizigen Polizisten Paul Bakenhus verhaftet. Ihr Bruder, Inselpolizist Jonas, kann gegen die Festnahme nichts ausrichten. Die zerstrittene Familie Kruskopp ist von Fennas Unschuld überzeugt und nimmt eigene Ermittlungen auf. Mit vereinten Kräften entdecken sie ein Geheimnis, dessen Enthüllung Jonas das Leben kosten könnte …

Joost Jensen, Jahrgang 1964, wuchs in Norddeutschland auf und verbrachte die Sommer seiner Kindheit auf einer Ostfriesischen Insel. Nach dem Abitur absolvierte er eine Lehre als Buchhändler und ein Studium der Betriebswirtschaft. Aus Freude am Schreiben führte er lange Zeit ein geheimes Leben als Buchautor und veröffentlichte erfolgreich unter verschiedenen Pseudonymen Kriminalromane. Schauplatz seiner Geschichten ist neben der Nordseeküste die Insel Borkum, auf der er inzwischen lebt. Jensen ist Mitglied im Syndikat (Verein für deutschsprachige Kriminalliteratur). Im Gmeiner-Verlag ist »Dünenkutter« seine erste Veröffentlichung.

Impressum

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Tachlinski

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Lutz Eberle mit Adobe Firefly; willma / photocase.de; Roberto Moretto / Pixabay; G.C. / Pixabay; Dimitris Vetsikas / Pixabay

ISBN 978-3-7349-3226-7

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Die Blicke der Anwesenden brannten sich wie winzige Flammen in seine Haut. Ihr Lachen und die hämischen Bemerkungen hörten sich dumpf an, als hätte jemand eine unsichtbare Glasglocke über ihn gestülpt, unter der er wie eine Jahrmarktattraktion zur Schau gestellt wurde.

Mit kreisförmigen Bewegungen wischte er über die raue Mauer. Die Muskulatur seiner Unterarme hatte sich inzwischen derart verkrampft, dass sie hart wie Stein war. Die Finger schmerzten. Er biss die Zähne zusammen, drückte die Stahlborsten der Bürste fester auf den farbigen Untergrund und schrubbte verbissen weiter. Rötliches Putzwasser floss an der Wand entlang und bildete eine Lache auf dem Boden.

In seiner Fantasie handelte es sich dabei nicht um Farbe, sondern um das Blut seines Peinigers. Am liebsten hätte er dessen Kopf in den Putzeimer gesteckt und ihn in dem verdreckten Wasser ertränkt.

Er presste die Lippen zusammen und versuchte, die Stimmen der Umstehenden, die sich lauthals über den »Halbstarken« unterhielten und von einer »gerechten Strafe« sprachen, zu ignorieren. Aber das war unmöglich, denn die Worte fraßen sich wie Parasiten in sein Gedächtnis.

Die Bürste rutschte aus seinen nassen Fingern und fiel zu Boden. Er griff danach, aber das laugenfeuchte Putzwerkzeug glitschte über die Steinplatten, als hätten sich die Borsten in unzählige Beine verwandelt.

Der Mann, dem er seine missliche Lage zu verdanken hatte, stellte seinen Fuß auf die Bürste, bückte sich und hob das Arbeitsgerät auf.

Einen winzigen Moment lang hatte er die Hoffnung, dass seine Tortur nun ein Ende hätte, aber der Uniformierte drückte ihm die Bürste wieder in die Hand.

»Du bist noch nicht fertig.« Die befehlsgewohnte Stimme duldete keinen Widerspruch.

Seine Finger schlossen sich erneut um das feuchte Putzgerät. Er schluckte eine Beleidigung hinunter und schrubbte so lange die Farbe von dem Gebäude, bis es wieder in altem Glanz erstrahlte.

»Du kannst jetzt gehen.«

Er warf die Bürste in den Eimer und marschierte mit geballten Fäusten davon. Diese Schmach würde er weder vergessen noch verzeihen.

Elf Jahre später in der Villa Kutterbunt

Der Verbrecher bahnte sich rücksichtslos seinen Weg durch die Menschenmenge. Die Beute hielt er mit der rechten Hand fest umklammert. Er wusste, dass ihn nur ein Mann aufhalten konnte, und das war …

Fenna Kruskopp hielt mitten im Satz inne, nahm die Finger von der Tastatur ihres Laptops und drehte sich zur offen stehenden Eingangstür der Kajüte um. Dort hatte sie das Geräusch schlagender Flügel gehört.

Eine Lachmöwe, die ein rotes Tuch um den Hals gebunden hatte, stand auf der obersten Stufe des ausrangierten Fischkutters, der inmitten der Borkumer Dünen einen sandigen Hafen gefunden hatte. Der Seevogel blickte sie mit schräg gelegtem Kopf an.

»Ziepeltriene, komm zu mir.«

Sie streckte die Hand aus und die Möwe hüpfte die fünf Stufen ins Schiffsinnere hinunter, in dem Fenna sich häuslich eingerichtet hatte.

An diesem späten Nachmittag saß sie auf einem der beiden Stühle an dem schmalen Tisch, der das Zentrum des bescheidenen Interieurs bildete. Auf der gegenüberliegenden Seite war eine Holzbank, die ein geschickter Handwerker – wie auch die übrige Einrichtung – aus alten Schiffsplanken angefertigt hatte.

Fenna schrieb bereits seit einer Stunde an den Artikeln für ihre Inselzeitung »Flaschenpost«, die sie monatlich herausgab. In den Texten informierte sie ihre Leser über alle wichtigen Neuigkeiten, die sich auf Borkum ereigneten. Momentan arbeitete sie an einem Bericht über den Diebstahl einer Flasche Bier, die ein junger Mann in einem Inselmarkt eingesteckt hatte. Damit sich die Leser bei ihrer Zeitungslektüre nicht langweilten, peppte Fenna ihre Geschichten immer wieder mit etwas Seemannsgarn zu spannenden oder lustigen Erzählungen auf.

Sie beugte sich vom Stuhl hinunter. Der zahme Seevogel machte einen Hüpfer, mit dem er seine roten Füße auf ihrer Handfläche platzierte.

»Wo bist du heute gewesen?« Fenna hob die Lachmöwe hoch und stellte sie neben den Laptop auf den Tisch.

Statt einer Antwort neigte der Vogel den Kopf wieder zur Seite und blickte auf den Monitor, als würde er den Text konzentriert lesen.

»Habe ich bei dem Artikel zu dick aufgetragen?«, fragte Fenna und strich Ziepeltriene über den Kopf.

Die Möwe öffnete den Schnabel, als wollte sie ihre Frage beantworten – nur um ihn wenige Augenblicke später wieder zuzuklappen, ohne einen Mucks von sich gegeben zu haben.

»War das ein Ja oder ein Nein?«

Fenna nestelte an dem blutroten Tuch, das sie ihrem Lieblingsvogel als Erkennungsmerkmal um den Hals gebunden hatte. Das Baumwolltuch, das Fenna immer wieder wechselte, grenzte den dunklen Kopf vom weißen Körper ab und passte hervorragend zu dem roten Schnabel – den der Vogel erneut öffnete. Aber auch dieses Mal blieb er stumm.

»Verstehe, du hast Hunger.«

Ziepeltriene senkte den Kopf, was Fenna als ein Nicken interpretierte.

»Hast du heute keinem Urlauber die Pommes stibitzt oder einem Kind das Eis geklaut?«

Ziepeltriene sah sie einen Moment lang mit ihren dunklen Knopfaugen an, als müsste sie die Frage überdenken. Dann pickte sie in die neben dem Laptop stehende Schale, in der Fenna ihre Sanddornhappen aufbewahrte.

»Die habe ich leider schon alle aufgefuttert. Warum fliegst du nicht an den Strand und suchst dir ein paar Krebse oder Würmer? Das machen deine Kumpel schließlich auch alle. Mit etwas Glück ergatterst du sogar einen frischen Fisch.«

Ziepeltriene gab nun einige Laute von sich, als wollte sie Fennas Vorschlag empört zurückweisen.

»Du musst nicht gleich so laut werden. Ich habe …«

»Moin, Fenna.«

Die Angesprochene verstummte und blickte zur Kajütentür, in der ihre Adoptivschwester Emilia stand. In der rechten Hand trug die zierliche Frau einen blauen Korb. Trotz des sommerlichen Wetters hatte sie dünne Handschuhe an.

Ziepeltriene breitete die Flügel aus, wobei sie die Schale zu Boden fegte. Ohne die Scherben eines Blickes zu würdigen, flatterte der Vogel auf die hölzernen Dielen und schlurrte erstaunlich flink auf Emilia zu, die inzwischen die letzte Stufe erreicht hatte.

»Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du hier unten nicht mit den Flügeln schlagen sollst?«, grummelte Fenna.

»Du kannst keinem Vogel das Fliegen verbieten. Willst du einen Fisch?« Die Inhaberin des Borkumer Spezialitätenrestaurants Piratenbraut trat in die Kajüte, zog die Handschuhe aus und ging vor dem Vogel in die Hocke.

»Du verwöhnst Ziepeltriene zu sehr. Wenn das so weitergeht, sitzt die Möwe irgendwann neben mir auf dem Sofa, guckt Fernsehen, knabbert Chips und trinkt meine Prickelbrause.«

»Ich gebe ihr doch nur einen Hering.« Emilia öffnete eine im Korb befindliche Plastikbox, nahm ein Matjesbrötchen heraus und zog den Fisch zwischen den Brötchenhälften hervor. Ziepeltriene schnappte danach und hüpfte mit ihrer Beute die Treppenstufen hinauf. Oben angekommen breitete sie die Flügel aus und war wenige Augenblicke später verschwunden.

»Bist du nur gekommen, um meine Möwe zu füttern?« Fenna blickte Emilia fragend an. Diese war, wie an jedem Nachmittag, wenn sie mit ihrem mobilen Fischstand über die Strandpromenade fuhr und die fangfrischen Leckereien an die Urlauber verkaufte, als Freibeuterin kostümiert. Heute trug sie ein mit Fransen verziertes Oberteil zu einer Carmenbluse. Die figurbetonte braune Stoffhose endete in langen schwarzen Lederstiefeln. Auf dem Kopf hatte sie einen mit bunten Federn geschmückten Hut.

»Nee, ich wollte mit dir ein Fischbrötchen essen. Wie wäre es mit einem Bismarckhering?« Emilia griff erneut in die Plastikbox.

»Ist dir meine Bruchbude dafür denn fein genug?«

»Ich habe nichts gegen die Villa Kutterbunt, das solltest du eigentlich wissen. Willst du jetzt ein Fischbrötchen oder nicht?«

»Hast du auch Bärlauchmatjes?«, lenkte Fenna ein, die nicht wieder mit ihrer Adoptivschwester streiten wollte.

»Leider nicht. Den letzten Matjes hat Ziepeltriene verdrückt.

»He, das war mein Matjes. Du magst die Möwe lieber als mich.« Fenna zog demonstrativ eine Flunsch. Dann sammelte sie die Scherben ein und warf diese in den Mülleimer, der in der Kombüse stand, die durch eine halbhohe Bretterwand vom Wohnbereich des Schiffes abgegrenzt wurde. »Setz dich.«

Fenna nahm zwei Teller aus einem Schrank und trug diese zum Tisch, an dem Emilia in der Zwischenzeit Platz genommen hatte. Die Box stand in der Mitte der Tischplatte.

Neugierig überflog Emilia den Text, der auf dem Monitor des Laptops sichtbar war.

»Das klingt wie die Passage aus einem Groschenroman und nicht wie ein Zeitungsartikel.«

»Tut mir leid, wenn meine Texte deinen Intellekt beleidigen, aber ich muss über irgendetwas schreiben. In den letzten Wochen ist trotz der vielen Sommerurlauber auf Borkum so wenig passiert, dass ich damit nicht einmal eine einzige Seite füllen könnte.« Fenna ließ sich auf der Bank nieder.

»Das wird sich bald ändern.« Emilia nahm ein Fischbrötchen und reichte es ihrer Schwester.

»Wie meinst du das denn?« Fenna griff danach und biss herzhaft hinein.

»Gerber will auf der Insel eine Klinik eröffnen.« Emilia klatschte in die Hände, als wollte sie sich für diese Mitteilung selbst applaudieren. Dann ließ sie sich ebenfalls ein Brötchen mit Bismarckhering schmecken.

»Gerber? Da klingelt bei mir nichts.«

»Erinnerst du dich nicht mehr an die Jingles, die im Frühjahr ständig im Radio liefen? ›Mit Falten gehörst du zu den Alten‹ oder ›Die Brüste zu klein, der Hintern zu dick? Gerber macht dich richtig schick‹.«

»Gerber ist dieser Schönheitsdoktor aus der Werbung?«

»Jo. Wenn du also wie ein Model aussehen möchtest, solltest du dich von ihm operieren lassen.«

»Dazu gibt es keinen Grund. Mir gefallen meine Lachfalten und die Wohlfühlrundungen.« Fenna strich sich über die gut gepolsterten Hüften. »Ich bin nun einmal ein Genussmensch und kein Hungerhaken. In nächster Zeit könnte ich allerdings wieder zum Friseur gehen.« Sie fuhr sich durch die halblangen rotblonden Haare, die farblich gut zu ihren Sommersprossen passten, welche Nase und Wangen sprenkelten – als hätte der Schöpfer aus lauter Übermut ein paar Farbkleckse in ihr Gesicht gespritzt. »Du bist doch genau seine Zielgruppe. Woher weißt du eigentlich von der Borkumer Klinik?«

»Ich habe ein Gespräch von zwei aufgetakelten Schnepfen mitbekommen, die sich in der Warteschlange vor meinem Fischstand unterhalten haben. Eine von ihnen hat übrigens zu jedem Fischbrötchen nicht nur eine genaue Kalorienangabe verlangt, sondern auch eine Nährwertanalyse. Ist das zu fassen?«

»Wenn Gerber auf der Insel praktiziert, werden viele Schickimickis und Möchtegern-Promis nach Borkum kommen«, prophezeite Fenna, ohne auf die letzte Frage einzugehen, und überlegte dann laut: »Warum eröffnet der Silikondoktor seine Klinik nicht auf Sylt? Dort ist die Schickeria inzwischen weitestgehend unter sich.«

»Keine Ahnung.« Emilia biss von ihrem Fischbrötchen ab. »Ich freue mich jedenfalls auf den Beauty-Palast. Das Geld, das seine betuchten Patienten auf die Insel bringen, kann ich gut gebrauchen.«

»Willst du die reichen Schnösel etwa in deinem Restaurant bewirten?« Fenna riss verwundert die Augen auf.

»Warum denn nicht? Für meine neuen Gäste würde ich die Preise vorher ordentlich anheben«, freute sich Emilia auf ein gutes Geschäft. »Wäre doch super, wenn ich meine Labskausmaultaschen als Spezialität in den elitären Kreisen etablieren könnte. Mit etwas Glück werde ich dann in einem angesagten Restaurantführer vorgestellt.«

»Das kann doch nicht dein Ernst sein«, polterte Fenna urplötzlich los.

»Wieso denn nicht?« Emilia legte das angebissene Fischbrötchen auf den Teller und blickte ihr Gegenüber verwundert an.

»Weil sich die normalen Gäste dein Essen dann nicht mehr leisten können. Wenn auch weitere Gastronomen und Hoteliers die Preise anheben, werden sich viele Urlauber andere Ferienziele suchen müssen. Eine Zeitschrift hat Borkum einmal als ›Insel der gewöhnlichen Leute‹ bezeichnet. Das war zwar als Beleidigung gedacht, aber für mich war es ein Kompliment.«

»Du hast vorhin doch selbst gesagt, dass auf Borkum nichts passiert. Frische Impulse werden der Insel sicherlich guttun. Ich hätte zudem nichts dagegen, wenn am Monatsende etwas mehr Geld in der Kasse wäre.«

»Hauke gehört als Kapitän eines Kreuzfahrtschiffes doch zu den Großverdienern.«

»Ohne das Einkommen meines Lebensgefährten könnte ich mir weder das Restaurant noch den Fischstand leisten. Auch wenn ich immer weniger Zuschüsse von ihm brauche, werde ich frühestens im nächsten Jahr damit eigenes Geld verdienen. Zudem futtert mir Lukas die Haare vom Kopf.«

»Dein Sohn wird sicherlich nicht hungern müssen.«

»Ich verstehe einfach nicht, warum du etwas gegen Gäste hast, du viel Geld auf die Insel bringen werden.«

»Weil ich keinesfalls möchte, dass Borkum auch zu einem luxuriösen Ghetto für Reiche verkommt und sich die Einheimischen ein Leben auf der eigenen Insel nicht mehr leisten können.«

»Jetzt beruhig dich mal wieder.« Emilia nahm den Hut ab und legte ihn neben sich auf den Tisch. Dann strich sie sich eine lange schwarze Strähne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, hinter das Ohr. »Wenn ich geahnt hätte, dass du heute derart auf Krawall gebürstet bist, hätte ich kein Wort über die Borkumer Klinik verloren.«

»Was willst du wirklich hier? Normalerweise bist du um diese Zeit längst im Restaurant und bereitest das Abendessen vor.«

»Meine Aushilfe hat sich krankgemeldet und ich brauche Unterstützung in der Küche. Ich hatte auf deine Mitarbeit gehofft, aber …«

»… was?«, hakte Fenna sofort nach.

»Nichts. Vergiss es.« Emilia griff nach ihrer Kopfbedeckung und stand auf.

»Habe ich dich jemals hängen lassen?« Fenna erhob sich ebenfalls.

»Nein.«

»Und das werde ich auch jetzt nicht tun, obwohl mich deine Begeisterung für die Schönheitsklinik ärgert. Das Vorhaben kommt auf die nächste Titelseite meiner Zeitung. Ich bin gespannt, wie die Insulaner darauf reagieren. Los jetzt.«

»Habt ihr noch ein Fischbrötchen für mich?« Stine Kruskopp steckte den Kopf durch die Tür und winkte den Stiefschwestern zu.

»In der Box auf dem Tisch sind noch Brötchen mit Bismarckhering. Nimm dir welche. Wir müssen uns jetzt vom Acker machen.« Emilia setzte sich den Hut wieder auf.

Stine, die als Psychologin im Borkumer Rehazentrum »Olde Düne« arbeitete und mit Fennas leiblichem Bruder Jonas verheiratet war, polterte die Treppen hinunter. Dabei fuhr sie sich mit der Hand durch die lockigen Haare, die danach aussahen wie ein vom Wind zerzaustes Möwennest. »Fenna, einen Moment noch.« Sie blieb vor den beiden stehen.

»Was ist mit dir los? Du siehst so ernst aus.« Fenna musterte ihre Schwägerin, die ihr seit vielen Jahren so vertraut war wie eine weitere Schwester.

»Dr. Gerber will auf Borkum eine neue Klinik bauen.«

»Emilia hat mir gerade davon erzählt.«

»Kennst du auch den genauen Standort seines neuen Schönheitstempels?«

»Nein und es ist mir auch egal. Meinetwegen kann er seine Privatklinik auf einer Sandbank bauen, dann spült die nächste Flut den blöden Schuppen gleich wieder ins Meer. Bist du extra zur Villa Kutterbunt gefahren, um mir das zu sagen?«

Stine nickte. »Jo, aber das ist noch nicht alles. Setz dich besser.«

»Hat das nicht Zeit bis morgen? Fenna hilft mir heute in der Piratenbraut und wir sind schon spät dran«, drängte Emilia zum Aufbruch.

»Es dauert nur ein paar Minuten. Ich möchte nicht, dass Fenna es von anderen Leuten erfährt.«

»Was ist denn los?« Die Angesprochene stemmte ihre Hände in die Seiten.

Stine atmete tief ein und ließ die Luft langsam durch Mund und Nase entweichen. »Gerber wird seine Klinik mitten in die Dünen bauen.«

»Die stehen unter Naturschutz. Dafür bekommt er niemals eine Baugenehmigung. Die Villa Kutterbunt ist die einzige Ausnahme und wird an dieser Stelle seit Jahren nur geduldet, weil … Nein, das glaube ich jetzt nicht.« Fenna riss die Augen auf und sah ihre Schwägerin fassungslos an.

»Es tut mir leid.« Stine senkte den Blick.

»Willst du uns ernsthaft erzählen, dass die Villa Kutterbunt für Gerbers Klinik weichen muss?«, schaltete sich Emilia in das Gespräch ein.

»Der Stadtrat wird Fennas Erbpachtvertrag nicht verlängern und das Grundstück an Gerber verkaufen. Mit dem Kaufpreis soll frisches Geld in die chronisch klamme Haushaltskasse der Insel gespült werden.«

»Die haben doch nicht mehr alle Latten am Zaun!« Fenna stapfte die Treppe nach oben an Deck.

»Wo willst du hin?« Stine folgte ihr.

»Ich werde den Vollpfosten im Rathaus so lange in ihre Allerwertesten treten, bis sie ihre Entscheidung rückgängig gemacht haben.«

»Bleib hier!« Emilia, die ebenfalls an Deck gekommen war, schnappte sich Fennas Arm. »Mit einem Auftritt als Dramaqueen wirst du nichts erreichen.« Dann wandte sie sich an Stine. »Woher hast du die Information überhaupt?«

»Jonas hat mir eben davon erzählt. Als Leiter der Polizeistation hat er gute Kontakte zum Rathaus und bekommt viele Informationen vor der offiziellen Veröffentlichung.«

»Kann unser Bruder nichts dagegen unternehmen?«

»Fenna, was soll er denn machen? Wenn mit dem Verkauf keine Gesetze gebrochen werden, sind ihm die Hände gebunden.«

Die Journalistin schüttelte fassungslos den Kopf, trat an die quietschgelb gestrichene Reling und ließ den Blick über die wundervolle Dünenlandschaft schweifen, die von der im Westen stehenden Sonne mit einem goldenen Schimmer überzogen wurde. Eine leichte Brise trug das Rauschen der Brandung zu ihr, welches immer wieder von den Schreien der Möwen und den Rufen der Austernfischer unterbrochen wurde.

Sie drehte sich um und betrachtete den Kutter, als sähe sie das ausgemusterte Schiff zum ersten Mal. Ihr Blick ruhte einen Moment auf den bunten Masten, die sie in roter und blauer Farbe gestrichen hatte, und glitt dann zu der Hängematte, die zwischen den Masten hing.

Auf dem aus alten Fischernetzen gefertigten Schlaflager hatte sie viele Nächte unter dem Sternenzelt verbracht, geschaukelt vom Wind und geküsst von der salzigen Luft. Das Brandungsrauschen war die Melodie ihres Schlafliedes gewesen. Wenn sie an Deck übernachtete, ruhte Ziepeltriene oft mit ins Gefieder gestecktem Kopf auf ihrem Bauch.

Die abblätternde Farbe des Rumpfes wurde jedes Jahr mit neuen Bildern überpinselt. In diesem Jahr waren fliegende Möwen, Seehunde und ein Leuchtturm zu bewundern. Wegen des farbenprächtigen Erscheinungsbildes war das Schiff bei Insulanern als »Villa Kutterbunt« bekannt und diente vielen Urlaubern als Fotomotiv. Auch wenn manche Leute in dem Kutter nur einen kunstvoll bemalten Bretterverschlag sahen, war es für Fenna mehr als ein Ort zum Arbeiten und Schlafen.

Es war ihr Zuhause.

Fenna konnte sich keinesfalls vorstellen, woanders zu leben. Der Gedanke, Ziepeltriene in einem Käfig in einer kleinen Wohnung unterbringen zu müssen, ließ sie erschaudern.

»Wir werden eine schöne Bleibe für dich finden.« Emilia nahm Fenna in den Arm.

»Ich werde mich mal umhören«, versprach Stine und legte die Arme um die Stiefschwestern. Einen Augenblick lang standen die drei Frauen eng umschlungen an Deck des Schiffes.

Keiner sagte ein Wort, bis Fenna sich aus der Umklammerung löste und laut und deutlich verkündete: »Ich werde nicht gehen.«

»Fenna, ich verstehe deinen Frust, aber du musst vernünftig sein.« Stine trat einen Schritt zurück.

»Einen Scheiß muss ich.«

»Wenn du die Villa Kutterbunt nach Ablauf des Erbpachtvertrages nicht räumst, wird dein Bruder polizeilich gegen dich vorgehen müssen. Willst du das?«

»Stine, so weit wird es nicht kommen. Ich werde mich mit allen Mitteln gegen den Grundstücksverkauf wehren.« Fenna ballte die Hände zu Fäusten.

»Wenn dir etwas nicht in den Kram passt, benimmst du dich wie Pippi Langstrumpf. Die hat sich ihre Welt auch zurechtgeschustert, wie es ihr gefiel. Du solltest langsam erwachsen werden. Okay, ich bin schon ruhig.« Emilia hob in einer abwehrenden Geste die Hände, als sie Fennas entschlossenen Gesichtsausdruck sah.

»Besser ist das.«

Fenna verließ das Deck über die schmale Treppe, deren Stufen sie in unterschiedlichen Farben gestrichen hatte, und trat in den weichen Dünensand. Die beiden anderen Frauen folgten ihr kurz darauf.

Protestaktion

NEIN zu Dr. Frankenstein!

Kommt am Samstag alle zur Demonstration gegen die geplante Schönheitsklinik. Treffpunkt ist um 15 Uhr beim Musikpavillon. Von dort aus marschieren wir durch das Inselzentrum zur Villa Kutterbunt.

Hauptkommissar Jonas Kruskopp knickte das orangefarbene Plakat, das er von der Eingangstür der Borkumer Polizeistation abgerissen hatte, in der Mitte zusammen und stampfte in sein Büro. Mit dem rechten Fuß trat er die Tür hinter sich zu.

Seit drei Wochen gab es auf der Insel kaum noch ein anderes Thema als das geplante Immobilienprojekt. Während sich vor allem Gastronomen und Hoteliers auf steigende Umsätze freuten, befürchteten viele Borkumer einen Ausverkauf der Insel. Die Mitglieder des Stadtrates wagten sich wegen der teilweise heftigen Anfeindungen kaum noch aus dem Rathaus. Der Bürgermeister Torben Puschen war nach einer öffentlichen Sitzung, die in einem Tumult geendet hatte, untergetaucht.

Im Zentrum der Entrüstung, die wie ein Wintersturm über die Insel fegte, stand ausgerechnet seine Schwester Fenna, die sich bei der letzten Protestaktion provokativ an den Vordermast ihrer Villa Kutterbunt gekettet und lauthals verkündet hatte, dass sie lieber mit ihrem Schiff untergehen als weichen würde.

Ihre Weggefährten – allen voran Jonas’ eigener Vater, der auf der Insel nicht ohne Grund »Opa Gnadderkopp« genannt wurde – hatten sie dabei gefilmt und die Aufnahme online gestellt. Diese wurde in den sozialen Netzwerken wie verrückt geteilt und mit vielen zustimmenden, aber auch ablehnenden Kommentaren versehen. Befürworter und Gegner standen sich auf der Insel zunehmend unversöhnlich gegenüber und es war nur eine Frage der Zeit, bis es zu ersten Handgreiflichkeiten kommen würde.

»Schiet ok.«

Jonas warf das Plakat in den Mülleimer und ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen. Gerber hätte seinen Luxusschuppen überall bauen können – warum musste er dafür ausgerechnet die Villa Kutterbunt versenken?

Der Hauptkommissar stellte die Ellenbogen auf die Schreibtischplatte und verbarg den Kopf in den Händen.

Er war vollkommen erledigt. In den letzten Nächten hatte er kaum geschlafen, weil entweder Fenna oder Emilia stundenlang auf ihn eingeredet hatten, die jeweils andere Schwester endlich zur Vernunft zu bringen. Der Einwand, dass sie doch einfach selbst miteinander reden sollten, wurde von beiden Seiten empört zurückgewiesen. Zickenalarm dieser Art hatte es in der Familie Kruskopp früher öfter gegeben – aber damals waren die beiden noch Kinder beziehungsweise Jugendliche gewesen und keine erwachsenen Frauen.

Zu allem Überfluss hatte seine bessere Hälfte Stine vor einigen Wochen irgendeine fernöstliche Meditation für sich entdeckt, deren Namen er sich einfach nicht merken konnte und die sie aus unerklärlichen Gründen ausgerechnet im Wohnzimmer praktizieren musste. Statt sich mit ihm auf dem Sofa zu fläzen und gemeinsam einen Fernsehkrimi anzusehen, saß sie mit geschlossenen Augen und verknoteten Beinen auf einer fliederfarbenen Schaumstoffmatte und gab Geräusche von sich, die ihn an einen winselnden Hund erinnerten. Angeblich suchte sie ihr weibliches Universum. Jonas hatte keine Ahnung, was seine Frau ihm damit sagen wollte, und er hatte auch nicht nachgefragt. Seiner Meinung nach gehörten die meisten Psychologen ohnehin selbst auf eine Therapiecouch, aber auch das hatte er Stine gegenüber nicht geäußert, weil er sich neben seinen Schwestern nicht auch noch mit ihr anlegen wollte.

Zu allem Überfluss hatten sich seine beiden Töchter Lisa und Laura, die auf dem Festland in ein Internat gingen, ebenfalls mit ihrer Lieblingstante solidarisch erklärt und bombardierten ihn mit WhatsApp-Nachrichten und Links zu Fennas Protestaktionen. Die grenzenlose Zuneigung war kein Wunder, schließlich hatte Fenna ihnen nicht nur alles durchgehen lassen, als sie Kinder waren, sondern auch jeden Blödsinn mit ihnen mitgemacht.

Als Polizist war ihm damals die Rolle des strengen Vaters zugefallen, der seine Kinder, die sich mit schokoladenverschmierten Schnuten oft an der Grenze eines Zuckerschocks befanden, aus der Villa Kutterbunt abholen und ins Bett bringen musste.

An dieser undankbaren Rolle hatte sich bis heute nichts geändert. Für seine Familie war er noch immer der kleinkarierte Beamte, der auf die Einhaltung der Regeln pochte. Dabei hätte es deutlich weniger Probleme gegeben, wenn sich alle an die bestehenden Gesetze und Verordnungen gehalten hätten.

Jonas hob den Kopf und sah zu dem Foto, das in einem silbernen Rahmen auf dem Schreibtisch stand – direkt neben den fünf Ermittlungsakten, die akribisch genau übereinandergestapelt waren. Auf dem Bild hatte er den Arm um seine neben ihm stehende Frau gelegt. Rechts und links von ihnen waren ihre Töchter, daneben seine Schwestern und ganz links war sein Vater zu sehen. Die Aufnahme stellte eines der schönsten Familienbilder dar, weil alle gleichzeitig lachten. Auf den anderen Fotos starrte mindestens eine der Frauen missmutig in die Kamera, weil sie mit ihrer Frisur, der Kleidung oder was auch immer unzufrieden war. Auf einigen Aufnahmen legte Opa Gnadderkopp so gekonnt die Stirn in Falten, als wäre die Haut seines Gesichts ein Laken, das ihm jemand über den Kopf geworfen hatte – und das alles nur, weil er seine Zigarette vor dem Fotografieren ausmachen musste.

Wahrscheinlich würde es eine Weile dauern, bis erneut alle gleichzeitig miteinander lachten. Wenn es überhaupt jemals wieder geschah.

Jonas lockerte die Dienstkrawatte und öffnete den obersten Knopf des Hemdkragens. Während er tief einatmete, fuhr er sich mit den Händen über den Bauch, der in den letzten Jahren wie ein Hefeteig aufgegangen war und nun deutlich über dem Gürtel hing. Er musste dringend wieder etwas für seine Fitness tun. Zunächst einmal musste er aber für Ruhe und Ordnung auf der Insel sorgen, bevor sich die Leute gegenseitig an die Gurgel gingen.

Jonas warf einen Blick auf das Telefon, das rechts neben dem Bildschirm stand – in einer Linie mit der Computertastatur.

Er streckte die Hand danach aus und hielt dann einen Moment lang inne. Sollte er ein weiteres Gespräch riskieren?

Obwohl die Aussicht auf eine gütliche Einigung gering war, wollte er es zumindest noch einmal probieren und suchte sich im Kurzwahlverzeichnis die Telefonnummer der Hausverwaltung Klabautermann heraus.

»Kruskopp«, meldete sich kurz darauf eine Stimme, die klang, als hätte jemand mit Reißzwecken gegurgelt.

»Moin, Vadder.«

»Bist du endlich zur Vernunft gekommen? Du könntest …« Der Rest des Satzes ging in einem bellenden Husten unter.

»Du solltest weniger rauchen«, sagte Jonas und bereute seine Anmerkung sofort, denn die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

»Willst du mir meine Zigaretten etwa auch noch verbieten?«

»Ich will dir nichts verbieten, sondern nur auf eine gesunde Lebensweise hinweisen.«

»So alt wie ich musst du erst einmal werden«, unterbrach ihn sein Vater ungehalten. »Fasse dich kurz, ich muss gleich los.«

»Willst du etwa zu der Demonstration?«

»Selbstverständlich. Da die Polizei nichts gegen die Kapitalisten unternimmt, die sich unsere schöne Insel unter den Nagel reißen wollen, müssen sich die Bürger selbst wehren.«

»Deine Hausverwaltung wird von den neuen Gästen doch auch profitieren«, versuchte Jonas ihn zu ködern, aber vergeblich.

»Auf die Bonzen kann ich gut verzichten. Ich bin schon in den 60er-Jahren gegen das Establishment auf die Straße gegangen und …«

»Vadder, bitte verschone mich mit deinen alten Geschichten«, unterbrach Jonas ihn genervt. »Du kannst die damalige Situation nicht mit den Protesten gegen die Schönheitsklinik vergleichen. Hierbei geht es keinesfalls um eine Demonstration gegen herrschende Kräfte, deren Macht angeblich auf Unterdrückung der nicht privilegierten Schichten beruht, sondern lediglich um ein Bauprojekt. Da diese Demonstration nicht angemeldet ist, riskiert Fenna als Veranstalterin eine Freiheitsstrafe.«

»Willst du etwa deine eigene Schwester festnehmen?«

»Von wollen kann keine Rede sein. Die Rechtslage lässt mir in dieser Hinsicht aber wenig Spielraum.«

»Klei mi ann Mors mit deiner Rechtslage«, fuhr ihm sein Vater in die Parade.

»Jetzt sei doch vernünftig. Kannst du nicht mit Fenna reden? Zusammen werden wir sicher eine Lösung finden und … hallo … hallo?«

Jonas schüttelte den Hörer, als könnten die Worte herausfallen. Dann stellte er das Telefon in die Basisstation zurück und raufte sich die Haare, die nicht nur zunehmend grauer, sondern auch in erschreckend schnellem Tempo immer weniger wurden. Sollte der Ärger bis zur Fertigstellung der Klinik weitergehen, würden bei der Eröffnung von Gerbers Luxushospital wahrscheinlich nur noch wenige Stoppeln auf seinem Kopf um ihr Überleben kämpfen wie Gräser in einer kargen Steppenlandschaft.

Jonas stand auf, ging zur Tür und öffnete sie. Er überquerte den Flur und trat in das Büro seiner Mitarbeiter.

An einem der vier Schreibtische, von denen sich jeweils zwei wie Inseln im Raum gegenüberstanden, saß Martin Eggen, ein junger Polizist, und malträtierte seine Computertastatur. Alle anderen Tische waren unbesetzt.

»Wo sind Tammo und Steffen?«

Der Angesprochene hob den Kopf und blickte ihn verwundert an. »Tammo ist krank und Steffen hat Urlaub.«

»Wir haben hier alle Hände voll zu tun. Wer hat das genehmigt?« Jonas’ Tonfall war so kalt wie ein Frosthauch.

»Sie selbst haben die freien Tage am Montag bewilligt. Zusammen mit meiner Fortbildung. Haben Sie das etwa vergessen?«

»Natürlich nicht«, versicherte Jonas sofort, obwohl er sich daran nicht mehr erinnern konnte. Wie an so viele andere Dinge auch. Der Stress setzte ihm nicht nur körperlich zu, sondern schien auch sein Gedächtnis in eine Rumpelkammer verwandelt zu haben, in der er auf der Suche nach einer Information mitunter stundenlang kramen musste. Stine sorgte sich deshalb bereits wegen einer Demenzerkrankung, aber davon wollte Jonas nichts wissen. Er brauchte nur ein paar Tage Ruhe, dann funktionierte er wieder so präzise wie ein Schweizer Uhrwerk.

»Dann müssen wir beide während der Demonstration die öffentliche Ordnung aufrechterhalten.«

Eggen schaute ihn nun vollkommen verständnislos an. »Nee, denn ich arbeite nur noch schnell meine Mails ab, dann bin auch ich verschwunden. In der nächsten Woche bin ich auf der Polizeiakademie in Hannover. Fortbildung.« Eggen zog das letzte Wort in die Länge, als spräche er mit einem begriffsstutzigen Kind.

Martin. Fortbildung. Polizeiakademie. In Jonas’ Kopf blinkten die Begriffe auf wie Werbetafeln und er nickte wieder. »Kannst du vielleicht erst morgen fahren? Ich brauche dich zur Unterstützung auf der Insel.«

»Das geht nicht. Ich muss an diesem Samstag zur Hochzeit.«

»Meine Gratulation.«

»Nee, ich doch nicht. Mein Bruder. Ich habe mir extra einen Inselflieger genommen, damit ich es noch rechtzeitig zur Trauung schaffe. Hoffentlich komme ich vor dem angekündigten Unwetter noch auf das Festland.« Eggen stand auf, nahm seine Jacke von der Garderobe und verabschiedete sich.

Jonas blieb allein zurück und ließ seinen Blick konsterniert durch die leere Dienststelle schweifen. Dann drehte er sich um und schlurrte zu seinem Schreibtisch zurück.

Eine halbe Stunde vor der Demonstration machte er sich auf den Weg zum Musikpavillon. Der Wind hatte in den letzten Stunden aufgefrischt und trieb dunkle Wolken vor sich her. Trotz des drohenden Regens waren im Inselzentrum viele Urlauber unterwegs. Während einige von ihnen die Schaufensterauslagen betrachteten, genossen andere ein herbes Bier oder einen süffigen Cocktail in einer der vielen Gastronomien.

In der Bismarckstraße schoben sich Feriengäste und Demonstranten dicht gedrängt aneinander vorbei. Aus der Menge ragte ein Schild hervor, auf dem in roter Farbe zu lesen war:Borkumer Frauen sind wunderschön, Gerber kann gleich wieder gehen. Dieses gehörte zu einer fünfköpfigen Gruppe, die sich ihm in den Weg stellte.

»Was unternimmt die Polizei gegen diesen Verbrecher?« Die Ehefrau des Bürgermeisters hielt ihm den Besenstil, auf den das selbst gemalte Pappschild aufgenagelt war, wie eine Lanze entgegen. Da sich ihr Mann für den Bau der Schönheitsklinik ausgesprochen hatte, schien Jonas’ Familie nicht die einzige zu sein, in der die Fetzen flogen.

»Dr. Gerber hat sich bisher nichts zuschulden kommen lassen.«

»Er reduziert die Frauen auf ihre Körper. Das ist total sexistisch«, ließ sich eine Mitarbeiterin der Borkumer Kleinbahn vernehmen.

»Große Titten und geiler Arsch, darauf fahren Männer wie Sie doch ab«, meldete sich eine zierliche Frau zu Wort, die Jonas aus der Tourist-Information kannte.

»Das kann man so nicht sagen. Zudem bitte ich Sie um eine angemessene Ausdrucksweise.«

»Diese Sprache verstehen selbstverliebte Machos doch am besten. Die meisten Kerle träumen doch von einer heißen Nummer mit diesen lebenden Silikonpuppen.« Eine Frau von etwa 50 Jahren, die der Polizist nie zuvor gesehen hatte, verschränkte die Arme vor ihrer fülligen Brust.

Jonas seufzte. Aus Erfahrung wusste er nur zu gut, dass bei einer Diskussion mit Frauen ein falsches Wort zu den Themen Sexualität, Figur, Kleidung oder Frisur eine Bombe war, die jederzeit detonieren und in einem Streit enden konnte, auf den er besonders heute gut verzichten konnte.

Da Jonas gerade mitten in einem Minenfeld zu stehen schien, suchte er sein Heil in der Flucht, machte einen Seitenschritt und drängte sich an der Gruppe vorbei. Glücklicherweise ließen ihn die Protestierenden ohne weiteren Kommentar ziehen.

Wenige Augenblicke später eilte er über die Treppe zur unteren Strandpromenade. Diese war bereits voller Demonstranten, die sich um den Musikpavillon versammelt hatten. Die Kneipen und Restaurants hatten die Bestuhlung ihrer Außenterrassen abgebaut und die Türen verschlossen. Die Fenster des Musikpavillons standen offen. Das Borkumlied »Insel meiner Träume« schallte über die Strandpromenade und wurde von vielen Teilnehmern textsicher mitgesungen.

Jonas ließ seinen Blick über die Menge schweifen, konnte Fenna aber nirgendwo entdecken. Urplötzlich ertönte ein Aufschrei und viele Demonstranten reckten ihre Arme in die Höhe. Einige klatschten, als wollten sie einem Rockstar applaudieren. Jonas folgte ihren Blicken und sah Fenna – die mit einer Leiter auf das Dach des Musikpavillons geklettert war. In der rechten Hand hielt sie ein Megafon, mit der linken klammerte sie sich an der auf der Spitze des Daches angebrachten Wetterfahne fest. Ziepeltriene hatte sich neben ihr niedergelassen und musterte die Teilnehmer mit schief gelegtem Kopf. Eine Windbö fegte über die Promenade und zerzauste die Frisuren der Anwesenden. In der Ferne hörte Jonas das Grollen eines herannahenden Gewitters.

Hatte seine Schwester jetzt endgültig den Verstand verloren?

Wenn der Blitz in die Wetterfahne einschlüge, würde Fenna geröstet wie ein Brathähnchen. Selbst wenn sich die am Horizont zuckenden Blitze ein anderes Ziel suchten, konnte sie abrutschen und sich dabei ernsthaft verletzen. Ein unglücklicher Sturz konnte auch tödlich enden.

»Komm sofort da runter!«, schrie Jonas, aber seine Aufforderung ging im Lärm der Demonstranten unter, die nun »Kutterbunt, Kutterbunt« skandierten.

»Die Villa Kutterbunt wird niemals untergehen.« Fennas Stimme klang durch das Megafon leicht verzerrt. »Ich werde so lange kämpfen, bis Gerber sein Projekt aufgibt. Seid ihr dabei?«

Die Menge antwortete mit Jubelrufen und Klatschen. Jonas wartete, bis die Protestler wieder leiser geworden waren, und rief dann: »Geht nach Hause. Diese Demonstration wurde nicht angemeldet.«

Einige Umstehende blickten ihn irritiert an, aber ansonsten reagierte niemand auf seine Anweisung, die von einem Donner begleitet wurde, als wollte selbst die Natur gegen ihn aufbegehren.

»Alter, mach dich vom Acker.« Jemand legte ihm von hinten eine Hand auf die Schulter.

Jonas drehte sich um und blickte in die blutunterlaufenen Augen eines Strandkorbvermieters, der die Statur eines Bären hatte. »Tjark, du solltest meinen Anweisungen folgen, sonst passiert …«

»… was?« Der Angesprochene ballte eine Hand zur Faust.

»Bedrohst du mich etwa?« Jonas versuchte, seine Stimme einschüchternd klingen zu lassen, brachte aber nur ein Krächzen heraus.

Bevor Tjark seine Frage beantworten konnte, zerfetzten plötzlich Trillerpfeifen das Stimmengewirr.

Über die Treppen strömten weitere Menschen auf die untere Strandpromenade. Dabei veranstalteten diese einen derartigen Lärm, dass selbst Fenna mit ihrem Megafon kaum noch durchdringen konnte. Über den Köpfen der Neuankömmlinge tanzten Schilder mit Aufschriften wie: Gerber bringt Geld in unsre Inselwelt, Lieber schön und reich als arm und bleich oder Paläste für unsere Gäste. Angeführt wurden sie von einer grazilen Person mit langen schwarzen Haaren, die wie eine Freibeuterin gekleidet und ebenfalls mit einem Megafon bewaffnet war.

Emilia.

Jonas stöhnte. Heute blieb ihm aber auch nichts erspart.

Aus leidvoller Erfahrung wusste er nur zu gut, dass man besser in Deckung ging, wenn die beiden Schwestern wie ungebremste Güterzüge aufeinander zurasten. Obwohl er die Strandpromenade am liebsten verlassen und sich in seinem Büro eingeschlossen hätte, musste er als Polizist die Ordnung auf Borkum wiederherstellen.

Ein bärtiger Mann nahm Emilia das Megafon aus der Hand und brüllte: »Wir versenken die Villa Kutterbunt bis auf den tiefsten Meeresgrund!«

Seine Worte, auf die ein erneutes Donnergrollen folgte, wirkten wie ein Schlachtruf. Während Emilias Gefolgschaft weiter auf die untere Strandpromenade drängte, drückten Fennas Anhänger nach oben.

»Werft die Piratenbrut in die Höllenglut!« Fennas Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

»Schiet ok, wir sind hier doch nicht bei einem Poetry-Slam«, grummelte Jonas. Da ihn in der Menge niemand beachtete, würde er trotz des herannahenden Gewitters mit der Leiter auf das Dach des Musikpavillons klettern und die Demonstranten mit Fennas Megafon von dort aus zerstreuen müssen, bevor es Verletzte gab.

Der Hauptkommissar zog den Kopf ein, drückte die Schultern nach vorn und bahnte sich wie ein Rammbock seinen Weg zum Musikpavillon. Nach einer gefühlten Ewigkeit – und einigen blauen Flecken später, die von in die Seiten gerammten Ellenbogen oder Tritten an die Waden herrührten – hatte er sein Ziel erreicht.

Opa Gnadderkopp stand vor einer Leiter, in der rechten Hand hielt er eine Leuchtpistole.

»Vadder, steck das Ding ein und verschwinde von hier. Die Situation kann jederzeit eskalieren.«

»Nichts da. Ein Seemann bleibt auch im Sturm auf seinem Kurs.« Die selbst gedrehte Zigarette tanzte beim Reden im Mundwinkel. Rauch kräuselte sich in Kringeln nach oben und verteilte sich in der Luft. Die Wolken hingen inzwischen so tief, dass es den Anschein hatte, als könnte man sie wie dunkle Zuckerwatte vom Himmel zupfen.

»Fenna darf die Leute nicht weiter aufstacheln.«

»Sie sagt den Menschen nur die Wahrheit. Statt als Piratenbraut einen Aufstand anzuzetteln, sollte sich Emilia lieber um ihren Sohn kümmern.«

»Wo ist Lukas jetzt überhaupt?«

»Stine passt auf ihn auf. Meines Wissens wollte sie mit ihm meditieren.«

»Armes Kind«, entfuhr es Jonas.

»Das kannst du laut sagen und … He, was soll das?«

Opa Gnadderkopp griff nach der Signalpistole, die ihm sein Sohn aus der Hand gerissen hatte. Jonas reckte den rechten Arm in die Höhe und zog den Abzug durch. Ein greller Blitz sauste in den Himmel. Sein Vater und einige Demonstranten legten die Köpfe in den Nacken und folgten dem Licht mit ihren Blicken. Jonas nutzte den Moment der allgemeinen Verwirrung und kletterte die Leiter hinauf.

»Komm da runter, aber sofort«, rief er seiner Schwester zu, sobald er über die Dachkante gucken konnte.

»Du hast mir nichts zu sagen.« Sie funkelte ihn wütend an.

»Als Polizist muss ich die unangemeldete Demonstration zerstreuen und …«

Eine heftige Windbö fegte über die Anwesenden hinweg und Jonas krallte seine Finger um die Holme der Leiter.

»Halt den Sabbel«, unterbrach ihn Fenna aufgebracht und brüllte in das Megafon: »Die Polizei will die Demonstration verbieten. Wollen wir uns das gefallen lassen?«

»Nein!«, ertönte ein vielstimmiger Chor und dieses Mal schienen sich die Anhänger von Fenna und Emilia ausnahmsweise einig zu sein.

»Runter da!«, zeterte Opa Gnadderkopp von unten. Jonas ignorierte seinen Vater und drohte Fenna: »Ist dir eigentlich klar, dass ich dich festnehmen kann?«

»Willst du mir vor allen Leuten Handschellen anlegen und mich abführen?«

»Nee, aber wenn mir keine andere Wahl bleibt, werde ich dich verhaften. Jetzt sei doch vernünftig.«

»Die Villa Kutterbunt wird niemals untergehen!« Fenna reckte den rechten Arm zu einer Siegespose in die Höhe.

»Statt dumme Sprüche zu klopfen, solltest du dich lieber mit der Realität auseinandersetzen.«

»Ich werde niemals …«

Fenna verstummte, als die ersten Tropfen auf das Dach klatschten. Innerhalb weniger Augenblicke wurde aus dem Regen eine Sturzflut, als hätte sich im Himmel eine unsichtbare Schleuse geöffnet. Der Regen lief über das runde Dach und rauschte wie ein Wasserfall zu Boden.

Die Protestierenden versuchten, sich vor dem Unwetter in Sicherheit zu bringen. Da sie wegen der geschlossenen Gastronomien aber nur in der Wandelhalle einen Unterschlupf fanden, drängten viele Demonstranten über die Treppen nach oben – die noch immer von Emilias Anhängern blockiert wurden.

Diesen schien der Regen weniger auszumachen als Fennas Unterstützern, denn sie blieben einfach stehen. Als sich die ersten Demonstranten rücksichtslos zur oberen Strandpromenade durchkämpfen wollten, wurden sie grob zurückgedrängt. Innerhalb weniger Augenblicke glich die Menge einem tosenden Meer aus Köpfen, die wie Wellen hin- und hergeworfen wurden. Inzwischen war es fast so dunkel wie in tiefer Nacht. Blitze zuckten im Abstand von wenigen Sekunden über den Himmel und erhellten die gespenstische Szene, die Jonas an eine Kampfarena erinnerte. Wenige Sekunden später knallte der Donner laut wie ein Kanonenschlag über die Insel.

»Warum laufen die Vollpfosten nicht an den Strand?« Er schüttelte den Kopf über so viel Dummheit und wandte sich dann erneut an seine Schwester. »Gib mir das Megafon.«

»Niemals!«

»Jonas, runter von der Leiter.« Der Befehl von Opa Gnadderkopp war trotz des rauschenden Regens gut zu verstehen.

»Jetzt reicht es mir aber.« Jonas kletterte auf den Sprossen weiter nach oben. Zumindest hatte er das vor, aber sein Vater hielt ihn am Fuß fest.

»Loslassen!«

Jonas zog sein Bein mit einem festen Ruck aus der Umklammerung. Durch die abrupte Bewegung verlor die Leiter ihren Halt und kippte nach hinten.

Einige bange Augenblicke lang tanzte sie auf den Holmen und Jonas fürchtete abzustürzen. Panisch verlagerte er sein Gewicht nach vorne und die Leiter kippte im Zeitlupentempo wieder zum Dach.

Erleichtert atmete Jonas auf. Die nasse Kleidung klebte an seinem Körper. Wasser rann aus seinen Schuhen, die sich in Planschbecken verwandelt hatten. Die Holme der Leiter waren wegen des herablaufenden Wassers inzwischen so rutschig, dass er kaum noch Halt fand.

»Komm runter!«, brüllte er seiner Schwester zu.

»Das kannst du vergessen.«

»Jetzt reicht es mir aber wirklich!« Jonas erklomm eine weitere Sprosse und setzte dann einen Fuß auf das regennasse Dach. Als er das Gewicht darauf verlagerte, rutschte er ab und konnte sich erst im letzten Moment an der Leiter festhalten.

Er atmete tief durch und wagte sich dann erneut auf das Dach. Dieses Mal balancierte er seinen Körper besser aus und stand wenige Sekunden später auf dem rutschigen Untergrund. Fenna, die sich noch immer an der Wetterfahne festhielt, wich einen Schritt zurück.

»Komm endlich runter«, rief Jonas.

Der Regen hatte die abschüssige Fläche inzwischen mit einem dünnen Wasserfilm bedeckt, der unablässig zu Boden rauschte. Jonas breitete die Arme aus, um das Gleichgewicht besser halten zu können – was ihm auch gelang. Vorsichtig machte er einen Schritt auf Fenna zu.

Ein weiterer Blitz zuckte über den Himmel und setzte seine Schwester wie eine zu allem entschlossene Kämpferin in Szene.

»Los jetzt!«, drängte Jonas und streckte die Hand nach Fenna aus. Aber diese blickte ihn nur trotzig an.

Urplötzlich erhob sich vor ihm ein geisterhafter Schatten und raste direkt auf sein Gesicht zu. Jonas riss einen Arm schützend davor und erkannte Ziepeltriene, die wenige Zentimeter über ihn hinwegflog.

Dabei verlor er sein Gleichgewicht. Einige Sekunden lang tanzte Jonas auf dem Dach so unbeholfen wie eine Holzfigur mit rostigen Gelenken. Dann stolperte er zum Dachrand.