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Du kannst deiner Vergangenheit nicht entkommen Clara Lofthus wird kurz nach dem Tod ihres Ehemannes zur neuen Justizministerin Norwegens ernannt. Ein anspruchsvoller Job – besonders für eine alleinerziehende Mutter. Doch plötzlich erhält sie Drohbriefe: Jemand weiß, was sie getan hat. Aber Clara lässt sich nicht einschüchtern und verzichtet auf Polizeischutz. Das bereut sie bitter, als sie nach einem langen Arbeitstag ihr Haus leer vorfindet: Ihre Zwillingssöhne Andreas und Nikolai wurden entführt! Die sonst so starke Clara verliert den Boden unter den Füßen. Verzweifelt begibt sie sich auf die Suche nach ihren geliebten Kindern und wird dabei von ihrer düsteren Vergangenheit gnadenlos eingeholt. Sie muss feststellen: Die Wahrheit kann ein tiefer, dunkler Abgrund sein … »Ein wahrer Pageturner« Hardanger Folkeblad »Eine Wucht! Dieser Thriller überzeugt mit seiner fesselnden, kraftvollen Prosa.«Dagens Næringsliv »Die klaren Sätze und präzisen Beschreibungen von Mensch und Natur sind eines Dichters würdig. Grandios!« Stavanger Aftenblad Lesen Sie auch: Ruth Lillegraven – Tiefer Fjord (Erster Teil der Clara-Trilogie)
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Dunkler Abgrund
Ruth Lillegraven wurde 1978 in Hardanger geboren und lebt heute in Bærum. 2005 debütierte sie mit einer Gedichtsammlung. Seitdem veröffentlichte sie Lyrik, Kinderbücher, ein Theaterstück und einen Roman. Tiefer Fjord ist ihr erster Psychothriller. Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem erhielt sie den Brage-Preis und den Nynorsk Literaturpreis.
»NACH DIESEM BUCH BRAUCHEN SIE EINE VERSCHNAUFPAUSE – SO ATEMRAUBEND, SO GRANDIOS, SO MITREIßEND IST ES!«Hardanger Folkeblad»EIN PACKENDER PSYCHOTHRILLER ÜBER RACHE, BLUTSBANDE UND ALTES UNRECHT.«Stavanger Aftenblad»VON ANFANG BIS ENDE EIN SPRACHLICHES VERGNÜGEN!«NRK
Ruth Lillegraven
Thriller
Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob
Ullstein
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© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024© 2021 Kagge ForlagDie norwegische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Av mitt blod im Kagge Forlag, Oslo.Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b U rhG ausdrücklich vor.Covergestaltung: zero-media.net, München nach einer Vorlage von Caroline Teagle JohnsonCovermotiv: FinePic®, MünchenFoto der Autorin: © Ann Sissel HoltheE-Book powered by pepyrusISBN 978-3-8437-3145-4
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Titelei
Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog – Andreas
Teil 1 – Arbeit
1 –
Clara
2 –
Leif
3 –
Sabiya
4 –
Clara
5 –
Halvor
6 –
Clara
7 –
Axel
8 –
Clara
9 –
Leif
10 –
Sabiya
11 –
Axel
12 –
Leif
13 –
Clara
14 –
Sabiya
15 –
Clara
16 –
Clara
17 –
Clara
Teil 2 – Die Kinder
18 –
Andreas
19 –
Clara
20 –
Andreas
21 –
Clara
22 –
Leif
23 –
Clara
24 –
Andreas
25 –
Clara
26 –
Andreas
27 –
Clara
28 –
Andreas
29 –
Clara
30 –
Andreas
31 –
Clara
32 –
Andreas
33 –
Clara
34 –
Andreas
35 –
Clara
36 –
Andreas
37 –
Clara
38 –
Andreas
39 –
Clara
40 –
Axel
41 –
Clara
42 –
Leif
43 –
Clara
44 –
Andreas
45 –
Clara
46 –
Clara
47 –
Halvor
48 –
Clara
49 –
Andreas
50 –
Clara
51 –
Andreas
52 –
Clara
Teil 3 – Gebirge
53 –
Clara
54 –
Andreas
55 –
Clara
56 –
Leif
57 –
Clara
58 –
Andreas
59 –
Clara
60 –
Andreas
61 –
Clara
62 –
Andreas
63 –
Axel
64 –
Clara
65 –
Leif
66 –
Andreas
67 –
Clara
68 –
Andreas
69 –
Clara
70 –
Andreas
71 –
Clara
72 –
Andreas
73 –
Clara
74 –
Andreas
75 –
Clara
Epilog –
Stian
Anhang
Danksagung
Leseprobe: Tiefer Fjord
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog – Andreas
Für Eva Hildrum
Dies ist ein fiktiver Text, und so habe ich es mir erlaubt, die wirkliche Welt ein bisschen zu verändern. In der Realität findet sich das norwegische Justizministerium seit 2011 im Osloer Stadtteil Nydalen. In den Büchern über Clara liegt dieses Ministerium aber im Regierungsgebäude 5 (R5) in der Akersgata mitten im Zentrum Oslos.
Der aufmerksame Leser wird überdies bemerken, dass einige der Geschehnisse im Buch in den Jahren 2020–2021 platziert werden können. Trotzdem habe ich mir ganz bewusst erlaubt, Corona in diesem Buch eine Pause zu gönnen.
Keltische Hochzeitsweise –aus der vorchristlichen Zeit (Auszug)
Erster Oktober
Nikolai liegt neben mir in dem engen, dunklen Raum. Es ist laut. Die Geräusche der Motoren, Reifen, das alles vermischt sich in meinem Kopf zu einem Rauschen, während wir immer weiter weggebracht werden, fort von zu Hause.
Nikolai liegt neben mir, seit wir als Babys in Mamas Bauch waren. Ich war bereit, hatte mich mit dem Kopf nach unten gedreht, das hat sie mir einmal erzählt. Nikolai lag über mir, wartete darauf, dass ich uns beide da rausbrachte, er wartet eigentlich immer darauf, dass ich uns den Weg bahne.
In den letzten Monaten kommt er immer wieder nachts in mein Zimmer. Auf dem Boden liegt eine Matratze, er kriecht aber trotzdem zu mir ins Bett, insbesondere seit der Sache mit Papa. Seine Füße stinken, wenn das denn nur seine Füße sind, aber seine Haare riechen gut, und er ist mein Bruder, mein kleiner Bruder. Wir sind gleichzeitig auf die Welt gekommen, aber irgendwie war ich trotzdem immer sein großer Bruder.
Dass Nikolai neben mir liegt, ist normal.
Alles andere nicht.
»Alles in Ordnung?«, flüstere ich leise.
»Ja«, antwortet er, aber in dem spärlichen Licht, das hereinfällt, sehe ich Tränen aus seinen Augen laufen.
»Nikolai. Alles wird gut, du musst nur fest daran glauben, okay?«
Er schnieft, und fast kommt es mir so vor, als könnte ich seine Tränen riechen, dabei riechen Tränen doch eigentlich gar nicht.
Ich liege sehr unbequem, habe einen Krampf im Bein und versuche, es auszustrecken. Wie lange hocken wir hier schon? Eine Stunde? Zwei? Drei? Ich weiß es nicht. Es ist unmöglich zu sagen. Es ist beinahe stockfinster, und draußen ist es jetzt sicher auch dunkel. Mir ist ein bisschen übel, und irgendwie bin ich benommen. Vielleicht ist hier drin einfach nicht genug Luft. Aber. Ich. Darf. Nicht. Daran. Denken. Wenn ich jetzt Panik bekomme, rastet Nikolai vollkommen aus, und das darf nicht geschehen.
Mama müsste jetzt schon längst zu Hause sein. Sie hatte keinen Babysitter für uns besorgt, hatte gesagt, es würde nicht spät werden. Wie so oft, dabei stimmt das nur selten. Heute klang es aber irgendwie glaubhafter.
Ich sehe sie vor mir. Clara, Mama, die Justizministerin. Wie sie die Tür öffnet, über die am Boden liegenden Schuhe, Taschen und Jacken steigt, die sie immer ärgern, ohne dass sie es selbst anders machen würde. Dann hört sie, wie still es ist. Ruft unsere Namen. Einmal, zweimal, bis ihr klar wird, dass da was nicht stimmt.
»Andreas?«, sagt Nikolai. »Ich habe Angst.«
Natürlich hat er Angst. Mir geht es nicht anders, aber das darf ich ihm nicht zeigen. Ich darf mich jetzt auch nicht über ihn ärgern, nicht jetzt.
»Alles wird gut«, sage ich und gebe mir Mühe, wie Papa zu klingen.
»Werden wir sterben?«, fragt er jammernd.
»Klar«, sage ich. »Aber nicht jetzt. In achtzig Jahren vielleicht.«
»Wie willst du das wissen?«
»Ich weiß es einfach. Versuch, ruhig zu bleiben! Und denk an Papa.« Ich hätte Papa nicht erwähnen sollen. Jetzt weint er nur noch mehr.
Plötzlich geht es um eine enge Kurve, erst in die eine, dann in die andere Richtung. Ich spüre etwas Saures im Hals und muss schlucken. Ich. Darf. Hier. Jetzt. Wirklich. Nicht. Kotzen. Ich schlucke noch einmal, und dann verschwindet es, aber Nikolai schluchzt noch immer.
»Nikolai!«, sage ich, und dieses Mal versuche ich mich an Mamas Stimme. »Wir müssen uns jetzt zusammenreißen.«
Ein Monat früher, 1. September
»Und los«, zwitschert die Ministerpräsidentin neben mir. »Geh.«
Als wir auf den Schlossplatz treten, spüre ich die Tropfen auf meinen Wangen, meiner Hand, meiner Stirn.
Das Presseaufgebot ist gigantisch, obwohl dieses Mal nur zwei neue Minister ernannt wurden. Ich fixiere die Journalisten, ohne einem einzigen Blick zu begegnen, sehe nur schwarze Kameralinsen unterschiedlicher Größe. Es ist, wie in eine Unmenge von Pistolenmündungen zu blicken.
»Lass dir nichts anmerken«, sagt die Ministerpräsidentin, während der Regen immer stärker wird.
Sie hat eine Hand fest an meinen Rücken gelegt. Die andere liegt an den Schultern des neuen Gesundheitsministers. Die Idee war sicherlich, uns zu unterstützen und Mut zu machen, aber der Schuss geht gehörig nach hinten los. Die Hand ist nämlich zu einer kleinen Faust geballt und wirkt eher bedrohlich als aufmunternd. Sie drückt gegen den Stoff meiner teuren Jacke, die dem Regen nichts entgegenzusetzen hat.
Ich habe mich für die sichere Variante entschieden. Schwarzer Rock, schwarze Jacke, schwarze Stilettos. Die hellblaue Bluse ist frisch gebügelt, fällt mit jedem Tropfen aber mehr in sich zusammen.
»Du siehst toll aus, Mama«, hatte Nikolai gesagt und war damit wie immer positiver und netter als sein Bruder. Andreas war sauer, er fand es gar nicht gut, dass ich das Amt angenommen hatte.
Die Journalisten und Fotografen haben bereits ihre Kapuzen aufgesetzt und die Schirme aufgespannt. Ich selbst kann nirgendwo Schutz suchen, das Wasser rinnt mir mittlerweile über das Gesicht. Trotzdem lächle ich. Bevor wir nach draußen gingen, hatte die Ministerpräsidentin noch betont, dass sie kein einziges mürrisches Bild von uns sehen will.
Wir sollen freundlich, offensiv und stark aussehen, und das signalisiert auch die Faust in meinem Rücken. Freundlich. Offensiv. Stark. Freundlich. Offensiv. Stark. Knips. Knips. Knips.
Ich stehe mit geradem Rücken auf meinen Stilettos. Die Sohlen sind so dünn, dass ich den Kies unter meinen Füßen spüre. Vorsichtig nehme ich meinen Fuß von dem größten Stein und stelle ihn ein paar Zentimeter weiter wieder auf.
Unsere Landesmutter Gro Harlem Brundtland soll in Situationen, in denen ihr die Tränen hätten kommen können, immer einen Stein im Schuh gehabt haben. Möglicherweise ist das eine gute Lösung für Menschen, die nah am Wasser gebaut sind, was auf mich nicht zutrifft.
Der Posten der Justizministerin gilt in Regierungskreisen als eine der gefragtesten Stellungen. Nach einer Reihe von großen Skandalen in den letzten Jahren ist das mittlerweile aber nicht mehr so.
Ich kenne das Gerede. Die Leute munkeln, eine ganze Reihe von Kandidaten, die eigentlich prädestiniert für diesen Job gewesen wären, hätten abgelehnt und ich sei eigentlich nur die zweite oder dritte Wahl. Die Ministerpräsidentin selbst behauptet, mich als Erste gefragt zu haben. Mir ist das eigentlich egal. Ich hätte den Job so oder so angenommen. Das ist jetzt meine große Chance, endlich etwas zu bewirken.
Zwei Grüppchen stehen rechts und links der Pressemeute. Bei der größeren scheint es sich um die Familie des Gesundheitsministers zu handeln. Ein älteres Ehepaar, bestimmt seine Eltern, ein paar Freunde oder Geschwister. Eine schmächtige blonde Frau mit drei Kindern. Andreas und Nikolai sind in der Schule, ich bin nicht einmal auf die Idee gekommen, sie zu fragen, ob sie dabei sein wollen.
Aber meine Schwiegereltern sind hier. In den letzten Monaten sind sie um etliche Jahre gealtert, eigentlich strahlen ihre Gesichter nur noch Trauer aus. Manchmal habe ich deshalb ein schlechtes Gewissen. Ohne mich wäre ihr Sohn jetzt hier. Andere Male macht es mich einfach nur ärger-lich.
Heute sehen sie beinahe glücklich aus, vor allem mein Schwiegervater, der pensionierte Richter am Obersten Gerichtshof. Haavard hat sich immer darüber beschwert, dass sein Vater sich mehr für mich und meine juristischen Leistungen als für die Tatsache interessiert hat, dass sein Sohn Tag für Tag Leben rettet. Vielleicht lag ein bisschen Wahrheit darin. Meine Schwiegermutter wischt sich unter dem Schirm ein paar Tränen weg. Ich sehe zu ihnen, lächle, so warm ich kann. Jetzt bemerke ich auch, dass neben Åsa ein anderes bekanntes Gesicht steht. Er drückt sich an sie, küsst ihr auf die Haare und bringt sie zum Lächeln.
Es ist Axel, Haavards bester Freund. Sein ganzes Leben ist er bei Familie Fougner aus und ein gegangen, war wie ein weiterer Sohn im Haus.
Ich hatte niemanden von ihnen hier erwartet, ganz sicher nicht Axel, obwohl er quasi auf der anderen Straßenseite arbeitet. Es ist schön, dass sie hier sind. Wenn auch seltsam.
Schwiegermutter hebt einen Blumenstrauß an und streckt ihn mir entgegen.
»Geh hin und nimm die Blumen entgegen«, flüstert die Ministerpräsidentin mir zu. »Aber schnell, wir können hier nicht lange stehen bleiben.«
Ich gehe zu meinem Grüppchen. Schwiegermutter küsst mich auf beide Wangen, dann ist Schwiegervater an der Reihe. Als Letzter kommt Axel, nimmt mich in die Arme und flüstert mir einen Glückwunsch zu. Ich höre seine Worte nicht richtig, spüre nur den warmen Atem an meinem Ohr.
In diesem Moment passiert es. Eine vielleicht sechzigjährige Frau mit dunklen Locken, unreiner Haut und schweren Lidern hinter dicken Brillengläsern kommt auf mich zugelaufen. In der Hand hält sie eine kleine Flasche, die sie mir wie eine Waffe entgegenstreckt.
»Mörderin!«, schreit sie. »Mörderin!«
Ich erstarre, halte aber mein Lächeln aufrecht. Es fühlt sich wie eine Grimasse an. Instinktiv hebe ich die Arme, als wollte ich mich schützen, mache ein paar unsichere Schritte nach hinten, bis ich gegen jemanden stoße. Er, ich spüre, dass es ein Mann ist, hält mich unter den Armen, sodass ich nicht falle.
»Immer mit der Ruhe«, sagt er leise. »Ich habe Sie.«
Für ein oder zwei Sekunden friert die Welt ein, dann ist alles wieder da.
»Mörderin!«, schreit die Frau noch einmal.
»Gehen Sie zur Ministerpräsidentin zurück, verhalten Sie sich ganz normal«, flüstert mein Retter.
Ich werfe einen kurzen Blick auf ihn. Er ist groß und schlank mit markantem Gesicht. Leuchtend blauen Augen. Helle, fast rötliche Haare und Bart. Zweifellos ein recht rauer Typ, er könnte gut ein Veteran sein, auf jeden Fall erinnert er mich an die Männer, die ich manchmal auf Skiern in der Marka treffe, wenn ich an den kältesten Januartagen da unterwegs bin, wo eigentlich niemand mehr ist. Die Uniform erinnert an irgendeinen Automobilclub, auf jeden Fall ist er kein Polizist.
Wir sammeln uns, bleiben ein paar Sekunden stehen. Der unerwartete heftige Regen hat uns alle Würde genommen, sodass die Journalisten zu grinsen beginnen, sei es aus Mitleid oder Schadenfreude.
»Nur weiterlächeln«, zwitschert die Ministerpräsidentin. »Lächeln, winken, umdrehen.«
Heute wird meine Tochter Justizministerin von Norwegen, denke ich beim Aufwachen.
Ich schwinge die Beine über die Bettkante, schiebe mich mit den Händen zum Rand und versuche, die morgendliche Steifheit in Knochen und Knien zu überwinden. Wenn ich erst eine Weile auf bin, geht es in der Regel besser.
Irgendwann bin ich auf den Beinen, drehe mich um, ziehe das Laken glatt und schüttele die Decke, so gut es geht, auf. Ich freue mich immer, wenn ich mich abends im kalten Schlafzimmer in ein gemachtes Bett legen kann. Wie ich mich freue, wenn ich morgens nach unten in die Küche komme, Kaffee aufsetze und mir die erste Tasse des Tages gönne.
Ich schmiere mir zwei Scheiben Brot, eine mit Gouda und die andere mit Marmelade, gieße mir Kaffee ein und fülle den Rest in die alte Thermoskanne, die schon meine Mutter benutzt hatte.
Draußen gehe ich zuerst zu den Hühnern. Sie gackern wild durcheinander, während ich mit den Pellets in den Stall komme. Ich bücke mich. Ein Ei. Zwei. Drei. Sie liegen warm in meiner Hand, als ich mich aus dem Hühnerstall schleiche und sie in der Küche auf die Arbeitsplatte lege. Danach gehe ich in den Schafstall. Es riecht nach Wolle, Schafpisse und warmen Tieren. Auch die Schafe blöken wild durcheinander. Alles ist wie immer und doch ganz neu.
Nachdem ich den Stall sauber gemacht habe, widme ich mich meinem neuen Projekt. Ich will ganz oben am Waldrand einen neuen Zaun errichten, damit die Schafe dort grasen können, wenn sie im Frühjahr erst ihre Lämmer bekommen haben.
Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich allein einen Zaun aufspannen kann. Jetzt habe ich ein neues Patent entwickelt. Zum Einsatz kommen dabei Stahlstäbe, eine Winde und der Traktor.
Es funktioniert so gut, dass ich mich frage, warum ich das nicht schon früher so gemacht habe.
Ich bleibe stehen, den Fuß auf einem Stein, stützte mich auf dem Knie ab und lasse meinen Blick schweifen. Die Laubwälder auf den Hügeln vor mir leuchten orange. Dahinter folgt ein Streifen aus dunklem Nadelwald. Das weiß ich, sehen kann ich das von hier aus nicht. Die Nadelbäume wachsen an einem steilen Hang, der bis unten zur Straße abfällt, aber auch die kann ich von hier aus nicht sehen.
Was ich sehen kann, ist der Fjord. An windstillen, sonnigen Herbsttagen, wie diesem, glänzt die Wasserfläche dort unten wie Metall. Es ist das Licht des Himmels, das dort reflektiert und bis zu mir nach oben geworfen wird.
Auch nach all den Jahren, einem ganzen Leben, überwältigt mich der Anblick.
Hier wohne ich, hier werde ich bleiben, solange noch Leben in mir ist. Einen schöneren Ort gibt es nicht.
Wieder zurück im Haus gieße ich mir noch einen Kaffee ein. Auf dem Tisch vor meinem Stuhl liegt das Buch, das ich zurzeit lese. Fast tausend Seiten über den Zweiten Weltkrieg, aber das Thema interessiert mich. Für gewöhnlich lese ich um diese Zeit für eine halbe Stunde, heute sehe ich stattdessen fern.
Anschließend arbeite ich weiter am Zaun und anderen Dingen, und heute Abend, nach dem Essen, werde ich mir ein Schnäpschen gönnen, mich in den Sessel am Fenster setzen, die Leselampe einschalten, dem Knistern des Ofens lauschen und mich in ein Buch vertiefen, bis meine Augenlider so schwer werden, dass ich nach oben gehen muss.
Ich liebe diese Stunden. Ich liebe mein Leben. Es war so viel Unruhe in mir. So lange. Die Zeit nach dem Libanon war sehr schwer, am schlimmsten aber waren die Wochen direkt nach Lars’ Tod. All diese Jahre, diese Zeiten ohne Ruhe, haben sich übereinandergelegt wie die unterschiedlichen Humusschichten in einem Boden.
In der letzten Zeit geht es mir besser. Vielleicht liegt das am Alter, vielleicht verkrafte ich einfach nicht noch mehr Unruhe.
Ich setze mich vor den Fernseher. Clara hat mich am Abend zuvor angerufen, das tut sie jeden Tag, aber gestern hatte sie etwas Außergewöhnliches zu erzählen.
Es ist wirklich nicht zu glauben. Meine Clara, Tochter eines armen Kleinbauern. Trotz all der Dinge, die uns widerfahren sind, trotz ihrer unbrauchbaren Mutter und des Todes von Lars hat sie es geschafft und soll nun also am Tisch des Königs sitzen.
Auf den Fernsehbildern erkenne ich sie kaum, so geschminkt und gestriegelt, mit Rock und Bluse und hohen Schuhen. Sie sieht wie eine Fremde aus, wie eine Städterin. Zum ersten Mal denke ich, dass sie ihrer Mutter doch ein bisschen ähnlich sieht. Zumindest so, wie Agnes einmal gewesen war. Groß gewachsen, voller Stil und Würde.
Die Stimme im Fernsehen kommentiert, dass die Wahl von Lofthus ebenso überraschend wie erfrischend sei, da sich ihre politische Erfahrung ja auf wenige Monate als Staatssekretärin beschränke. Lofthus wohne seit vielen Jahren in Oslo, stamme aber ursprünglich aus einer kleinen Gemeinde im Vestland. Sie sei erst vor Kurzem unter tragischen Umständen zur Witwe geworden, nachdem ihr Mann in einem Bergsee ertrunken sei, und müsse sich jetzt allein um ihre Zwillinge, zwei Söhne, kümmern. Auch ihr Privatleben unterstreiche, wie überraschend diese Ernennung sei.
Es beginnt zu regnen. Die Ministerpräsidentin und der neue Gesundheitsminister trippeln etwas auf der Stelle, lächeln aber noch immer. Clara steht einfach nur da. Mit geradem Rücken. Die Eltern von Haavard sind da. Und Axel. Ich erkenne sie und bin für einen Moment etwas eifersüchtig. Es wäre schön gewesen, dabei zu sein.
Eine Frau geht auf Clara zu, sie scheint etwas zu rufen und wedelt mit etwas in der Luft herum. Was ist da los? Ein paar Sekunden Pause. Dann geht Clara mit einem gequälten Lächeln zurück zur Ministerpräsidentin. Sie ist einen Kopf größer als ihre Chefin, ja sogar als ihr männlicher Kollege auf der anderen Seite.
Als ich gestern mit ihr telefoniert habe, meinte sie, sie könnte so viel für das Wohl der Kinder tun. Das mag stimmen. Ich frage mich nur, ob dieser Job auch gut für ihre eigenen Kinder ist, für Andreas und Nikolai. Ich hätte ihr das auch gesagt, wenn sie mich gefragt hätte, aber das hat sie nicht. Vermutlich ist es beides, gut und verrückt. Ich weiß nicht, ob mir das Leuchten in ihren Augen gefällt. Das führt nur selten zu guten Nachrichten. Ich hebe die Fernbedienung an, schalte den Fernseher aus und stehe auf.
Im Coop kommen gleich mehrere zu mir, um mir zu gratulieren.
»Du musst wahnsinnig stolz sein«, sagt die Frau an der Kasse.
Ich nicke nur, bevor ich zurück zum Wagen gehe.
Es ist seltsam, aber ich mag die Strecke, die aus dem Zentrum am Fjord entlangführt. Die schmale, kurvige Straße mit der steilen Felswand auf der linken Seite. Im Sommer und Herbst gibt es hier manchmal Steinschlag und im Winter Eisbruch. Rechter Hand liegt der Fjord. Er ist hier sehr tief. Dann öffnet sich plötzlich die Landschaft, und man kann weit blicken. Berge, Fjord, Himmel. In dieser Zeit des Jahres bringen die orange leuchtenden Laubbäume den ganzen Hang zum Glühen. Verantwortlich dafür war eine außergewöhnlich frühe Frostnacht, sie hat all die Farben gebracht.
Ein paar Kilometer weiter muss ich dann nach links abbiegen und den Weg nach oben auf den Gebirgssattel nehmen, auf dem ich wohne. Auf dem Weg dorthin komme ich am Storagjælet vorbei, dem Ort, an dem Clara und ihr Stiefvater vor vielen Jahren vom Weg abgekommen sind. Ich bin mit der Stelle vertraut. Seit dreißig Jahren fahre ich daran vorbei, wenn ich zum Einkaufen oder aus anderen Gründen ins Zentrum muss. Es bedrückt mich nicht.
Magne ist damals umgekommen. Clara hat überlebt, sie hat es gegen alle Logik aus eigener Kraft geschafft, sich aus dem Auto zu befreien und nach oben zu schwimmen.
Eigentlich verspüre ich immer, wenn ich hier vorbeifahre, so etwas wie Dankbarkeit. Wäre Clara damals etwas zugestoßen, ich glaube, ich hätte das nicht überlebt. Sie war alles, was ich noch hatte.
Im Spätsommer haben Taucher Magnes Wagen gefunden, er lag in 180 Meter Tiefe. Trotzdem war ich weder auf das Auto noch auf das Unbehagen vorbereitet, das der Anblick bei mir geweckt hat. Vielleicht hatte ich geglaubt, das Auto hätte sich aufgelöst und wäre verschwunden, obwohl ich ja weiß, dass es so etwas nicht gibt.
Schon aus einiger Entfernung sehe ich die Menschenmenge am Rastplatz unweit vom Storagjælet. Nach dem Unfall ist der Fels teilweise weggesprengt worden, sodass die Kurve nicht mehr so scharf ist. Nichts ist mehr wie früher, wobei natürlich noch immer auf der einen Seite der Fels und auf der anderen, weit unten, der Fjord liegt.
Ich halte an, steige zögernd aus und gehe zu den anderen. Frank Birger, alle nennen ihn nur Beaf, hebt die Hand. Er kommt auf mich zu. Am liebsten wäre ich direkt wieder zurück zu meinem Wagen gegangen und nach Hause gefahren.
»Tag«, sagt er und legt mir die Hand auf die Schulter. »Ich war sicher, du wärst in die Hauptstadt gefahren, um deine Tochter zu feiern?«
Beaf wiegt sicher 130 Kilo. Seine Hose hängt tief auf seinem Arsch. Er sieht ungepflegt aus, wie einer dieser riesigen Plastiktrolle vor den Touristenläden. Die fettigen Haare stehen in alle Richtungen ab. Die meiste Zeit hockt er vor der Imbissbude und stopft XXL-Burger und Pommes in sich hinein. Nach all den Stunden dort und den vielen Jahren als Taxifahrer für die Schüler von den abgelegensten Höfen weiß Beaf alles, was im Dorf so vor sich geht. Er erachtet es als seine Aufgabe, dieses Wissen an alle weiterzugeben, ob sie es nun hören wollen oder nicht.
Er zeigt auf die Ladefläche eines Abschleppwagens, auf dem das rostige Skelett des Wagens steht, der einmal dem Mann gehört hat, der meine Familie zerstört hat. Jetzt ist es wieder aufgetaucht, bedeckt von Schlamm und Algen.
Der Anblick des Autos weckt wieder alle Erinnerungen.
Sie waren meine Familie, mein Rudel. Agnes, Clara und Lars. Ich hätte auf sie aufpassen müssen, doch in diesem Punkt habe ich versagt.
Der kleine Lars mit all seinen blauen Flecken, dann ein Bild, als er etwas älter ist und kalt und blau im Krankenhausbett liegt. Clara im Streifenwagen nach dem Unfall, Agnes in der Tür im Regen.
Das alles wird nie verschwinden, nichts wird wieder so werden, wie es war.
Die klarste Erinnerung habe ich an mein dünnes, hoch aufgeschossenes Mädchen. Die Kleine hockt auf dem Grab ihres Bruders und umklammert den Grabstein, als wäre er Lars selbst. Ihre Augen, so traurig und dann auch wieder stolz, weil sie alles geregelt hat. Ich habe es verstanden und mir selbst versprochen, dass niemals jemand etwas erfahren soll. Inzwischen ist das dreißig Jahre her. Es hat niemand erfahren, und so muss das auch bleiben.
Beaf redet einfach weiter, obwohl ich mich zwischendurch immer wieder abwende.
»Unglaublich, dass die den Wagen nach all den Jahren noch bergen konnten! Der arme Magne, den haben wohl längst die Fische gefressen. Nur gut, dass Clara da noch rausgekommen ist. Aber deine Tochter war schon damals ziemlich tough. Tja, und jetzt ist sie also Justizministerin.«
Er lacht vor sich hin und beugt sich zu mir vor, sodass ich das alte Frittierfett rieche, den Schweiß, die ungewaschenen Haare und den Zigarettenrauch.
»Siehst du den Typ mit der Kamera da?«, fragt er.
Ich blicke zu dem Mann, auf den er zeigt. Er kommt mir irgendwie bekannt vor, ist groß, hat breite Schultern, einen stechenden Blick und einen dieser idiotischen kleinen Ziegenbärte an der Spitze des Kinns. Ich kann ihn aber trotzdem nicht zuordnen.
»Das ist der Sohn von Kjellaug Haugo«, sagt Beaf mit ziemlich dramatischer Betonung.
Kjellaug war die Femme fatale unseres Dorfs, schlank, lange Haare und keinerlei Hemmungen. So hübsch wie Agnes, aber ohne den Stil und die Eleganz, die meine Frau ausgezeichnet haben. Für ein paar Jahre war sie die Matratze des ganzen Dorfs, dann war sie irgendwann mit Halvor schwanger. Wer sein Vater war, wusste niemand. Kjellaug vollzog daraufhin die totale Kehrtwende, sie kaufte sich ein Haus, bekam einen Job als Krankenschwester und war nie wieder auf irgendeinem Fest zu sehen.
Während die anderen Jungs der Siedlung zum Fußballplatz radelten oder trainierten, saß ihr kleiner dicker Junge hinter der Kellergardine und beschäftigte sich rund um die Uhr mit Computerspielen, lange bevor irgendeiner der anderen sich dafür zu interessieren begann.
Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er ein pickliger, dicklicher Teenager war. Seit einigen Jahren schreibt er nun für die Zeitung, er ist also irgendwie auf die Füße gefallen und hat etwas aus sich gemacht. Auch an seiner Fitness muss er gearbeitet haben. Er wirkt athletisch, muskulös und stark.
»Der lässt nie locker«, zwitschert Beaf mit seinem schlechten Atem.
Jemand muss Halvor Haugo einen Tipp gegeben haben, dass ich da bin, denn er kommt durch die Menschenmenge auf mich zu.
Nein. Claras Ernennung zur Justizministerin und Magnes Autowrack sind schon genug für einen Tag, da muss ich nicht auch noch mit einem Journalisten reden.
Ich drehe mich um, gehe zum Auto und setze mich hinein. Dann lasse ich den Motor an und fahre auf die Straße.
»Hallo«, sagt Magnus Due-Salomonsson, oder wie er nun heißt, und streckt mir die Hand entgegen. Ich richte mich etwas auf und nehme sie. Der Händedruck ist ebenso schlaff und weich wie der Typ selbst. Ich habe kein Vertrauen in ihn. Ein anständiger Anwalt hätte mich nicht hier in diesem Scheißgefängnis verrotten lassen, während mein Leben da draußen immer mehr verschwindet.
»Also«, sagt er, nachdem er auf dem Stuhl am Schreibtisch Platz genommen hat. Ich selbst sitze auf dem Bett. »Haben Sie Neuigkeiten für mich, Sabiya?«
Ich hasse es, wie er meinen Namen ausspricht, als würde er ihn absichtlich falsch betonen. Ich habe es ihm immer wieder erklärt und dann irgendwann doch aufgegeben.
»Ob ich Neuigkeiten habe?«, erwidere ich. »Ich dachte, Sie hätten Neuigkeiten für mich?«
»Sabiya«, sagt er und fährt sich mit den Händen über das Gesicht.
Er hat sich nicht rasiert, aber sein Anzug ist teuer und sein Haarschnitt vermutlich auch. Ein verwöhnter Arsch, einer von denen, die wir gehasst haben, als wir vor zwanzig Jahren durch die Stadt gezogen sind.
Ich falte die Hände, reibe meine Daumen aneinander. Diese Unsitte habe ich mir in der letzten Zeit angewöhnt. Die Haut ist bereits wund. Die Ellenbogen habe ich auf die Knie gestützt, die in der Jogginghose auf und ab zucken. So ist es immer, ich kann einfach nicht still sitzen. Ich sehe, wie sehr ihm das auf die Nerven geht, was bei mir aber nur eine verschrobene Art von Genugtuung weckt, vielleicht sogar so etwas wie Freude.
Es wundert mich. Ich habe Jahre gebraucht, diese neue Sabiya zu erschaffen, doch wie es jetzt aussieht, besteht sie nur aus einer dünnen, zerbrechlichen Fassade, die ebenso rasch wie brutal in sich zusammenfällt. Mit jedem Tag, der vergeht, spüre ich den schwarzen Engel, der ich einmal war – mein eigentliches, echtes Ich –, deutlicher und stärker zum Vorschein treten.
Hätte Haavard diese Variante von mir gemocht, oder hätte sie ihm nur Angst gemacht? Ich werde es nie erfahren.
»Hören Sie«, fährt der Anwalt fort. »Es würde mir die Arbeit enorm erleichtern, wenn Sie ehrlich zu mir wären. Im Gegenzug bin ich dann auch ehrlich zu Ihnen …«
»Okay?«, sage ich. »Schießen Sie los.«
»Nun, die Menge an Beweisen ist überwältigend. Sie werden verurteilt werden. Wir können nur darauf hoffen, dass sie nicht auch noch Sicherheitsverwahrung beschließen. Aber dann müssen Sie mitarbeiten. Sie müssen die Karten auf den Tisch legen, verstehen Sie das?«
»Sicherheitsverwahrung? Verdammt, ich habe doch nichts Ungesetzliches getan!«
»Natürlich nicht«, antwortet er, begleitet von einem Blick, der das Gegenteil sagt.
Immer dieser fordernde, respektlose Ton, als würde er mit einem Teenager reden und nicht mit der Fachärztin eines der angesehensten Krankenhäuser der Stadt. Nicht mit einer zweifachen Mutter, die alles nur Erdenkliche für ihre Kinder getan hat.
Ich habe so hart gearbeitet, um eine gute norwegische Bürgerin zu werden, und jetzt sitze ich hier in Untersuchungshaft. Es gibt keine Gerechtigkeit. Das habe ich auch immer zu Haavard gesagt. Er hat jedes Mal protestiert, hat behauptet, ich wäre ebenso misanthropisch wie seine Ehefrau. Vielleicht ähneln Clara und ich uns wirklich in diesem Punkt, Ehefrau und Geliebte, wir, die wir sonst so unterschiedlich sind.
Clara, alles dreht sich immer um sie.
»Haben Sie mit jemandem über Clara Lofthus gesprochen?«, frage ich.
Mein Anwalt lehnt sich nach hinten, blickt an die Decke, atmet langsam aus, ehe er sich aufrichtet und mir in die Augen sieht. Erkenne ich da so etwas wie Schadenfreude?
»Clara Lofthus, ja«, sagt er. »Clara Lofthus …«
»Und?«, frage ich gespannt, es hört sich fast so an, als würde da noch mehr kommen.
Er hält inne, lacht kurz.
»Clara Lofthus wurde heute zur neuen Justizministerin des Landes ernannt.«
»Was?«, frage ich. Meine Knie, meine Daumen, alles erstarrt.
Clara war eine der wichtigsten Mitarbeiterinnen des Ministeriums, bevor all das geschah. Das war schon schlimm genug, aber Ministerin?
»Das ist nicht wahr«, sage ich.
»Doch«, erwidert er und schüttelt den Kopf. »Das ist wahr.«
Tief in meinem Inneren spüre ich, dass es so ist und ich das hätte vorhersehen müssen.
Anschließend liege ich auf meinem Bett. Weder mein Anwalt noch meine Familie glauben mir. Niemand glaubt mir. Offiziell bin ich wegen einer Tätigkeit für das Gemeinwohl von der Arbeit freigestellt worden. Inoffiziell bin ich für immer draußen. Nichts spricht dafür, dass ich hier jemals wieder rauskomme. Vorsätzlicher Mord in drei Fällen bedeutet Sicherheitsverwahrung, und die kann bis zum Ende meines Lebens immer wieder verlängert werden. Und Clara Lofthus ist heute Justizministerin geworden.
Vigdis aus dem Vorzimmer holt mich an der Rezeption ab. Sie war früher eine meiner engsten Kolleginnen. Seit ich Staatssekretärin wurde, ist es aber das erste Mal, dass sie mich hier trifft. Obwohl ich eine Schlüsselkarte habe und in diesem Gebäude seit fünfzehn Jahren ein und aus gehe, soll heute alles streng nach Protokoll ablaufen.
Vigdis ist ein Teil des Amtsapparats, eine Untergeordnete und trotzdem eine unersetzbare Mitarbeiterin. Ich bin jetzt Politikerin. Wir beide sind Zahnräder im selben System. Ein Ministerium ist eine kraftvolle Mühle, auch wenn man von außen den Eindruck bekommt, dass alles unglaublich langsam vor sich geht.
»Oje, du bist ja richtig nass geworden«, sagt sie. »Ziemlich ungewöhnliches Wetter da draußen.«
»Ja, wie zu Hause im Vestland«, antworte ich und versuche, die einmal so stolze steife Bluse auszuschütteln, damit der Stoff sich nicht an meinen Körper klebt.
»Und angegriffen haben sie dich auch schon? Weiß man, wer das war?«
»Nein«, antworte ich und schüttele den Kopf, höre in Gedanken wieder und wieder das Wort Mörderin.
Ich habe das Gefühl, diese Frau schon einmal gesehen zu haben. Sollte ich wissen, wer sie ist? Oder ist sie einfach eine dieser Verrückten, die ich in all den Jahren, die ich jetzt in dieser Stadt wohne, im Zentrum gesehen habe? Konnte es die Frau sein, die immer an der Straßenbahnhaltestelle vor Gunerius in der Brugata gestanden hat, eine Gegend, die für ihre Drogenszene bekannt war? Die Stimme war auf jeden Fall ähnlich hoch und durchdringend.
Vor den Glastüren der politischen Sektion treffe ich Ministerialrätin Mona Falkum. Viele Jahre war Mona meine Chefin gewesen. Ab jetzt soll ich ihre Chefin sein. Sie hatte schon eine ganze Reihe Staatssekretäre unter sich, die Fluktuation war in den letzten Jahren ziemlich hoch.
Der Zeitpunkt der Schlüsselübergabe ist vom Büro der Ministerpräsidentin festgelegt worden, und die Kameramafia steht bereit. Mona lächelt, ich sehe aber, wie schwer ihr das fällt. Unsere Beziehung hatte sich schon verändert, als ich im Frühjahr überraschend von einer Sachbearbeiterin zur Staatssekretärin wurde. Für sie war das ein unerhörter Karrieresprung gewesen. In ihren Augen liegt etwas Kühles, Musterndes.
»Willkommen«, sagt sie und drückt meine Hand. »Du kennst dich hier ja aus.«
»Das ist wohl richtig«, sage ich. Die Fotografen lachen.
Gemeinsam gehen wir zum Vorzimmer und weiter in das Ministerialbüro. Der große Raum fühlt sich heute irgendwie eng an. Der Sitzungstisch und die Stühle sind näher zum Fenster geschoben worden, um Platz für all die Journalisten und Fotografen zu schaffen. Vor der gegenüberliegenden Wand steht der Rest der Ministerialbeamten in Reih und Glied. Alle tragen mehr oder wenige passende, langweilige Anzüge und Kostüme. Die Hälfte ist noch die alte Mannschaft von Munch. Da ich niemanden in der Partei kenne, sind sie mir vom Büro der Ministerpräsidentin zugeteilt worden. Um diese Leute muss ich mich später kümmern.
Jetzt gilt meine Aufmerksamkeit erst einmal dem scheidenden Minister Anton Munch. Er steht vor seinem Schreibtisch. Jetzt meinem Schreibtisch. All seine privaten Dinge sind weggeräumt.
Munch hat sich als tatkräftiger, aktiver Minister ausgezeichnet. Er war sehr oft in den Medien und gehörte immer zu den beliebtesten Politikern. Er war es, der den Gesetzesentwurf gestoppt hat, den ich in all den Jahren als Sachbearbeiterin ausgearbeitet hatte und durch den gefährdete Kinder besser vor Misshandlung und häuslicher Gewalt geschützt gewesen wären. Trotzdem habe ich zugesagt, als er mich ziemlich überraschend gefragt hatte, ob ich Staatssekretärin werden wolle. Trotz aller Warnungen, trotz meines fehlenden Parteihintergrunds und wider besseres Wissen habe ich zugesagt.
Ein paar Monate später hat er sich dann selbst ein Bein gestellt, und jetzt bin ich hier.
»Willkommen, Frau Ministerin«, sagt er und versucht sich an einem Lächeln.
Wir reichen uns die rechten Hände, und er legt auch noch seine linke Hand obendrauf, um alles zu besiegeln. Ich sehe ihm in die Augen und erkenne, dass der Blick, den Mona mir zugeworfen hat, nicht kalt gewesen war. Dieser Blick war kalt.
»Herr Munch, wie fühlt es sich an, von seiner eigenen Staatssekretärin auf diese Weise überholt zu werden?«, fragt die Journalistin der Zeitung VG.
»Es könnte mir keine größere Genugtuung sein«, sagt Munch. »Ich bin stolz darauf, Claras Talent entdeckt zu haben. Ja, ich würde sagen, es ist mein Verdienst, dass wir hier und heute eine junge Frau mit einem etwas … anderen Hintergrund … im Amt als Justizministerin begrüßen dürfen.«
Spontaner Applaus. Was zum Henker war das? Hat er mich gerade beleidigt?
Er legt seine Hand warm und väterlich an meinen Hinterkopf, wohl wissend, wie gut sich das auf den Bildern macht, während er mir etwas ins Ohr flüstert.
»Ein paar Blumen für dich«, flüstert er. »Viel Glück, Bitch, du wirst es nicht leicht haben.«
Dann schiebt er mich von sich weg, eine Hand auf jeder Schulter; dasselbe falsche väterliche Lächeln. Schließlich schüttelt er mich leicht, bevor er mir die Blumen in die Arme drückt. Ich senke den Blick.
Weiße Lilien, Beerdigungsblumen. Eigentlich.
Dann folgen die Übergabe der Schlüssel und der offiziellen Blumen des Ministeriums. Protzige Sträuße, stilsicher, langweilig. Zum Glück hat man dieses Mal daran gedacht, zwei Sträuße zu bestellen, einen für jeden Minister. Der peinliche Fauxpas, nur einen Strauß zu bestellen, ist ihnen schon mehrfach unterlaufen. Dann wird Munch nach draußen geleitet. Ich begrüße die Staatssekretäre und politischen Ratgeber, registriere den schlaffen Händedruck eines der Berater und den leeren Blick des ältesten Staatssekretärs.
Die versammelte Presse fragt nach meinen Visionen. Mona hat immer gesagt, dass ein Minister, der nicht in der Lage ist, ein paar klare Sätze zu formulieren, was er in seiner Zeit erreichen will, seine Wertlosigkeit bereits zur Schau gestellt hat. Ich selbst habe alles ausformuliert, auf einen Zettel geschrieben und auswendig gelernt. Jetzt blicke ich in ihre Pistolenmündungen und sage – und das glaube ich wirklich –, dass es mein wichtigstes Ziel ist, dafür zu sorgen, dass der Staat und das Rechtswesen auch die Allerschwächsten der Gemeinschaft schützt, nämlich die Kinder. Das habe höchste Priorität.