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Lebendig begraben!
Die Psychologin Jolene Granger soll den Serienkiller Harvey Lee Smith betreuen, bis die Todesstrafe an ihm vollstreckt wird. Smith, der bereits seit einigen Jahren hinter Gittern sitzt, teilt seine letzten Geheimnisse mit Jolene: Er erzählt von Leichen, die niemals gefunden wurden, und einem Lehrling, der das grausame Werk vollenden soll. Plötzlich tauchen tatsächlich neue Opfer auf - und so wie einst wurden auch diese lebendig begraben. Immer tiefer wird Jolene in Smiths abscheuliche Pläne verwickelt. Bis ihr eigenes Leben auf dem Spiel steht. Jolenes einzige Hoffnung ist Brody Winchester - der Mann, der vor vielen Jahren ihr Herz gebrochen hat, aber Smith schon einmal das Handwerk legen konnte ...
"Ein spannender und meisterhaft erzählter Pageturner!" Romantic Times über "Niemand hört dich schreien" von Mary Burton
Weitere Romantic-Suspense-Titel von Mary Burton bei beTHRILLED:
Die Alexandria-Reihe: Das Flüstern der Albträume. So still die Toten. Der Preis der Sünde.
Die Richmond-Reihe: Mein Wille sei dein Wille. Niemand hört dich schreien.
Die Texas-Reihe: Das siebte Opfer. Dunkles Leid. Niemals vergeben, niemals vergessen.
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Seitenzahl: 529
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Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Prolog
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5
6
7
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Epilog
Die Alexandria-Reihe
Band 1: Das Flüstern der Alpträume
Band 2: So still die Toten
Band 3: Der Preis der Sünde
Die Richmond-Reihe
Band 1: Mein Wille sei dein Wille
Band 2: Niemand hört dich schreien
Die Texas-Reihe
Band 1: Das siebte Opfer
Band 3: Niemals vergeben, niemals vergessen
Lebendig begraben …
Die Psychologin Jolene Granger soll den Serienkiller Harvey Lee Smith betreuen, bis die Todesstrafe an ihm vollstreckt wird. Smith, der bereits seit einigen Jahren hinter Gittern sitzt, teilt seine letzten Geheimnisse mit Jolene: Er erzählt von Leichen, die niemals gefunden wurden, und einem Lehrling, der das grausame Werk vollenden soll. Plötzlich tauchen tatsächlich neue Opfer auf – und so wie einst wurden auch diese lebendig begraben. Immer tiefer wird Jolene in Smiths abscheuliche Pläne verwickelt. Bis ihr eigenes Leben auf dem Spiel steht. Jolenes einzige Hoffnung ist Brody Winchester – der Mann, der vor vielen Jahren ihr Herz gebrochen hat, aber Smith schon einmal das Handwerk legen konnte …
Mary Burton ist im Süden der USA aufgewachsen und hat an der Universität von Virginia Englisch studiert. Nach einer Karriere im Bereich Marketing begann sie äußerst erfolgreich Thriller zu schreiben. Burton lebt und arbeitet in Virginia. Weitere Informationen über die Autorin finden Sie unter: www.maryburton.com.
MARY BURTON
Dunkles Leid
Aus dem amerikanischen Englisch von Karin Will
beTHRILLED
Digitale Neuausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2013 by Mary Burton
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »No escape«
Originalverlag: Zebra Books als Teil der Kensington Publishing Corp., New York, NY, USA
Published by arrangement with Kensington Publishing Corp., New York, NY, USA.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2016/2019 by LYX/Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Corinna Winter
Covergestaltung: Tanja Østlyngen unter Verwendung von Motiven von © AlexanderTrou | fotandy
eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-7325-7559-6
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Zentral-Texas
Zehn Jahre zuvor
Sanftes Mondlicht tröpfelte auf den verrosteten blauen Chevy Impala, Baujahr neunundsiebzig, der quer am Ende einer staubigen Landstraße geparkt war. Mehrere Meter davon entfernt zweigte ein gewundener Fußweg ab und verschwand in einem verkümmerten Wäldchen. Irgendwo heulte ein Kojote.
Robbie war noch nie hier gewesen, doch sein Vater, Harvey Lee Smith, war in der Nähe dieses Grundstücks aufgewachsen. Er hatte oft davon gesprochen und geschworen, sich noch an jeden Stein, jede Erhebung und jeden Baum auf dem Gelände erinnern zu können, das jetzt im Frühling von Bluebonnets, den texanischen blauen Wiesenlupinen, übersät war.
Harvey sagte, dass die Bluebonnets immer seinen gehetzten Geist beruhigten und die Dämonen verscheuchten. Doch das Meer der zarten violetten Blüten konnte Robbies Furcht kaum verringern.
Harvey zog die Handbremse, beugte sich über das Lenkrad und sah zu dem Pfad hinüber, der sich auf die geliebten Blumen zuschlängelte. »Jede Wette, dass meinem kleinen Mädchen die Blumen gefallen würden. Oh ja, die würden ihr gefallen.«
»Sie ist kein kleines Mädchen mehr, Harvey«, sagte Robbie. »Sie ist zweiundzwanzig. Ein Jahr jünger als ich.«
Das Lächeln des Älteren verblasste, und ein Schatten legte sich über seine Züge. »Nein, ich schätze, sie ist wohl kein kleines Mädchen mehr, Robbie. Sie hat die Uni abgeschlossen. Hat ihren Bachelor und macht jetzt ihren Doktor. Kluges Mädchen. Ganz der Papa.«
Jähe Eifersucht durchzuckte Robbie, als er Harvey ansah. »Du solltest sie mal besuchen. Ihr sagen, wie stolz du auf sie bist.«
Harvey schüttelte den Kopf und schaute auf seine glatten Hände, die das Lenkrad umfassten. »Hab schon daran gedacht. Oft sogar. Aber wie schon gesagt, es ist keine gute Idee.«
»Vielleicht wüsste sie ja gerne, dass du da draußen bist und an sie denkst.« Robbie war klar, dass er an eine alte Wunde rührte, die sein Vater mit sich herumtrug. Aber das war ihm egal. Er hatte es satt, ständig mit dem von Harvey idealisierten Mädchen verglichen zu werden und sich minderwertig zu fühlen.
Mit finsterer Miene zog sein Vater am Türgriff und drückte mit der Schulter gegen die Tür. Ächzend ging sie auf. »Na los, Junge. Die Nacht dauert nicht ewig.«
Harvey warf die Tür zu und ging um den Impala herum.
Robbie wischte sich die verschwitzten Handflächen an den Jeans ab und beobachtete im Rückspiegel, wie Harvey einen Schlüssel in das Kofferraumschloss steckte.
Robbie drehte sich der Magen um, und wieder hoffte er, dass ihm nicht vor Furcht schlecht werden würde. Er wäre lieber nicht hier gewesen. Er öffnete die Beifahrertür, stieg schwerfällig aus und versteifte sich angesichts der kühlen Nachtluft. Neben der Wagentür blieb er stehen.
Den Schlüssel immer noch in der Hand, schaute Harvey hinauf in das helle Mondlicht, als wollte er auskosten, wie gut die Sterne hier im Texas Hill Country zu sehen waren, fern von den hellen Lichtern von Austin. Er atmete tief ein und genoss die weiche, kühle Frühlingsluft. »Gott, hab ich es vermisst, hier raufzukommen.«
Robbie steckte die zitternden Hände in seine Jeanstaschen. »Wieso kommst du nicht öfter her?«
Harvey schüttelte den Kopf und drehte den Schlüssel, worauf das Schloss sich öffnete. »Letztes Mal ist es hier oben nicht so gut gelaufen, deshalb bin ich nicht mehr hergekommen. Inzwischen ist mir klar, dass der Ausflug damals ein Fehler war.«
»War das hier denn nicht das Haus deiner Familie?«
»Nee. Nur ein Ort, wo ich gerne hingegangen bin.«
Mit wachsender Nervosität näherte Robbie sich dem Kofferraum und schaute hinein. Bei dem Anblick der Frau, die geknebelt und verschnürt darin lag, wie ein Spanferkel, bevor es aufgespießt wurde, unterdrückte er ein Schaudern.
Mit von Wimperntusche verschmierten Augen, die vom Weinen gerötet waren, sah sie zu ihm hoch. Der Knebel erstickte ihr Flehen.
Harvey schob die Schlüssel in die Jackentasche und ergötzte sich daran, wie sie wimmerte und sich wand. »Diesmal habe ich uns eine Hübsche ausgesucht, was, Junge?«
Robbie klimperte mit dem Wechselgeld in seinen Hosentaschen. »Sie ist dünn.«
»Ein oder zwei Pfund mehr könnten nicht schaden, aber sie ist gesund und hübsch. Sie würde bestimmt einmal eine tolle Frau werden.« Harvey ließ eine Hand an ihrem Bein entlanggleiten und lächelte, als sie heftig zurückzuckte. »Schönheit ist was Oberflächliches, Junge. Merk dir das. Eine Frau muss Verstand haben. Die hier hat sich nicht wie die anderen mit einem Fünfzig-Dollar-Schein ins Auto locken lassen. Nein, Sir, die hier ist von Natur aus misstrauisch. Hat sich nicht von schönen Worten einlullen lassen. Vorsichtig, zurückhaltend. Das sind die besten.«
Für diese Frau hatte Harvey sich eine komplizierte Vorgeschichte ausgedacht, einen neueren Volvo-Kombi gestohlen, mit Babysitz auf der Rückbank, und eine Kakihose und ein sportliches, hellblaues Hemd angezogen. »So ein Hemd, wie anständige Männer es tragen«, hatte er gesagt.
Schlussendlich war sie auf Harveys Trick hereingefallen, weil sie irrigerweise geglaubt hatte, die äußeren Merkmale würden die wahre Natur eines Menschen widerspiegeln.
Nachdem sie eingestiegen war und ihren Irrtum erkannt hatte, hatte sie laut Harvey gekämpft und ihm heftig ins Gesicht geschlagen. Der Schmerz hatte ihn ausflippen lassen, er hatte ausgeholt und ihr hart mit dem Handrücken auf den Mund geschlagen. Das Blut war über die Windschutzscheibe gespritzt, und sie war ohnmächtig geworden.
Wie geplant war Harvey mit dem Volvo zu dem leeren Parkplatz gefahren, wo Robbie mit dem Impala wartete. Während Harvey das Mädchen fesselte und in den Kofferraum verfrachtete, blieb Robbie wie befohlen im Wagen, doch er hatte seine ganze Selbstbeherrschung aufwenden müssen. Am liebsten wäre er weggelaufen und hätte sich versteckt.
Harvey dagegen war ganz in seinem Element. Er hatte dafür gesorgt, dass sie aufwachte. Er wollte, dass sie wach und sich der Gefahr bewusst war. Sie hatte sich heftig gegen ihre Fesseln gewehrt, aber die Knoten saßen sicher. Lächelnd hatte Harvey sich die schmerzende Stelle am Kinn gerieben und dann den Kofferraum zugeschlagen. Auf der Fahrt von Austin bis hierher hatte Harvey keinerlei Notiz davon genommen, wie sie im Kofferraum schrie und um sich trat. Er hatte über das Wetter geplaudert, über das Lokal, in dem es die besten Pancakes gab, und sogar über die Stelle als Lehrer, die er demnächst antreten würde. Für Harvey war es ein Tag so wie immer gewesen.
Doch jeder Tritt und jeder Schrei hatte an Robbies Nerven gezerrt, und als er es nicht mehr ertrug, hatte er das Radio eingeschaltet und nach einem Sender mit Country-Musik gesucht.
Als Harvey jetzt beobachtete, wie sie sich in ihren Fesseln wand, lächelte er. »Schön, dass dein Kampfgeist dir unterwegs nicht abhandengekommen ist, Mädel. Es gibt nichts Schlimmeres als einen gebrochenen Geist.«
Sie verengte die dunklen Augen, und er wusste, die hier würde nicht kampflos in den Tod gehen.
»Robbie«, sagte er und klatschte in die Hände, »es wird Zeit, die Sache anzugehen.«
Robbie packte das Mädchen um die Taille, zerrte es wie einen Kartoffelsack aus dem Kofferraum und hievte es sich über die Schulter. Sie roch nach Schweiß, Urin und ein wenig nach billigem Parfüm. Sie wehrte sich und versuchte, ihm die Knie in den Bauch zu rammen, doch dank der Fesseln wurde er leicht mit ihr fertig.
Robbie schaute zu der dunklen Straße, auf der sie gerade gefahren waren. »Harvey, ich will das nicht. Ich bin noch nicht so weit. Lass mich im Auto bleiben.« Nervös ließ er das Mädchen zu Boden gleiten.
»Komm schon, Sohn, wir reden jetzt schon seit Wochen darüber. Du bist dreiundzwanzig. Manns genug. Wir haben die Sache lange genug aufgeschoben.«
Vor lauter Angst fühlten Robbies Füße sich schwer wie Blei an. »Ich weiß ja, ich habe gesagt, dass ich es will, aber ich glaube, ich kann nicht. Noch nicht.«
»Blödsinn, Junge. Ist wie Fahrradfahren. Sobald du den Dreh raus hast, ist es ein Kinderspiel.«
Mühelos warf Harvey sich das Mädchen über die Schulter und ging auf dem vertrauten Fußweg in den Wald. Es war über zwanzig Jahre her, seit er zum letzten Mal hier gewesen war, aber Harvey kannte jede hervorstehende Wurzel, jeden Stein und jede Wegbiegung. Das hier war sein Wald. Sein Zu-hause.
Robbie trottete hinter ihm her. Ein paarmal stolperte er und fluchte unterdrückt, ohne jedoch stehen zu bleiben. Seit zehn Jahren war Harvey jetzt schon sein Vater. Und in Robbies Augen konnte Harvey es mit jedem anderen Vater aufnehmen. Harvey hatte ihn von einer cracksüchtigen Mutter weggeholt und sich um sein Essen, seine Kleidung und seine Bildung gekümmert. Er war der perfekte Vater – wenn man von der Tatsache absah, dass Harvey gerne Frauen umbrachte. Zwar nicht die ganze Zeit, aber hin und wieder. Robbie hatte die Obsession seines Vaters nie gefürchtet oder infrage gestellt und war immer davon ausgegangen, dass er eines Tages in seine Fußstapfen treten würde. Aber jetzt, konfrontiert mit der zweiten Gelegenheit zu morden, geriet sein Mut ins Wanken.
Bei der Lichtung angekommen, blieb Harvey stehen und betrachtete die Bluebonnets. »Die beste Jahreszeit hier oben«, sagte er, mehr zu sich selbst. »Bei so einem Anblick ist man froh, am Leben zu sein.«
Robbie verschränkte die Arme vor der Brust. Mit den Fingerspitzen massierte er sich den schmalen Bizeps, um sich zu beruhigen.
»Kein Grund, nervös zu sein, Junge. Ich weiß ja, dass du aufgeregt bist, aber wenn wir heute Abend hier fertig sind, wirst du froh sein, es durchgezogen zu haben.« Die Frau stöhnte, und Harvey spürte, wie sich ihr Magen an seiner Schulter zusammenzog. »Lieber nicht kotzen, Mädchen. Mit dem Knebel im Mund läuft das Zeug gleich wieder in die andere Richtung. Mit ein bisschen Pech erstickst du.«
Sie versteifte sich, wie um gegen die eigene Übelkeit anzukämpfen, dann erschlaffte sie wieder, stöhnend vor Angst und Verzweiflung.
Harvey gab ihr einen Klaps auf das Hinterteil, und sie zuckte zusammen. »Ich glaube, unser Mädel hier hat endlich kapiert, dass sie nicht viel machen kann. Wir haben hier das Sagen, nicht wahr, Robbie?«
Sie würde sterben.
Ganz gleich, was passierte.
»Ja, stimmt wohl.«
Vorsichtig bahnte Robbie sich einen Weg durch das Feld aus Bluebonnets, die sanft seine Knöchel streiften. Am Rand der Lichtung sah er die Grube, die Harvey vor ein paar Tagen ausgehoben und mit einer Plane bedeckt hatte.
»Junge, lauf rüber und zieh die Plane weg.«
Im Stillen betend, seinen Vater nicht zu enttäuschen, zog er die Plane von der Grube herunter und faltete sie fein säuberlich zu einem Quadrat. Dann legte er sie beiseite und spähte in die Grube. Knapp zwei Meter lang, einen guten Meter tief und sechzig Zentimeter breit. Harvey hatte erzählt, sie auszuheben habe ein paar Stunden gedauert, und sich darüber beschwert, dass die Arbeit für den eingeklemmten Nerv in seinem Rücken nicht gut gewesen war.
Jetzt packte er die Frau an den zusammengebundenen Händen, zog sie von seiner Schulter herab und ließ sie neben der Grube auf den Boden fallen. Ein wenig damenhaftes Stöhnen entfuhr ihr.
Durch die Fesselung bog sich ihr Rücken durch, und sie blieb auf der Seite liegen. Sie sah zu Robbie hoch, ein stummes Flehen im Blick.
Harvey zog ein Messer aus der Tasche und ließ es aufschnappen. Im Mondlicht glitzerte die Klinge. Das Mädchen zuckte zurück, Furcht flammte in ihren Augen auf und mischte sich mit der mitleiderregenden Bitte, die ihren Blick trübte. Zappelnd versuchte sie wegzukriechen, doch die Fesseln behinderten ihre Bewegungen.
Er durchschnitt die Seile, wegen der ihr Rücken sich durchbog, ohne diejenigen anzurühren, die ihre Hände und Füße fesselten. Mit einem Stöhnen streckte sie sich langsam und wimmerte dabei, als würden ihre Muskeln und Knochen protestieren.
Sie rollte sich auf den Rücken, sodass ihre kleinen Brüste zu ihm aufragten, und starrte mit dem wissenden Blick einer Frau zu ihm hoch, die auf der Straße zu Hause war.
Robbie kniete sich hin und entfernte den Knebel. Vorsichtig strich er ihr über das Haar. »Schrei nur, wenn du willst. Kein Mensch wird dich hören.«
Die aufgestaute Furcht und Wut entlud sich in einem lauten, durchdringenden Heulen.
Harvey lachte.
Robbie zuckte zurück und beobachtete sie, während sie brüllte, bis sie schließlich erschöpft verstummte.
Sie befeuchtete sich die ausgetrockneten Lippen. »Warum tut ihr das? Ich kenne euch doch gar nicht.«
»Die hier wird weder bitten noch betteln«, sagte Harvey. »Da habe ich dir ein verdammtes Prachtstück besorgt, Junge.«
Das Mädchen sah Robbie an, was ein seltsames Ziehen in seinem Magen auslöste, das gar nicht so übel war.
»Nicht schlecht, was, Junge?« Aufmerksam beobachtete Harvey ihn.
»Warum tust du das, Harvey? Das hat doch keinen Sinn«, sagte Robbie.
»Genau. Einfach ein unerklärlicher Drang, den ich schon lange nicht mehr infrage stelle.« Er zwinkerte Robbie zu und klatschte in die Hände. »Zeit für das große Finale.«
Die Schatten ließen die Wangenknochen der Frau stärker hervortreten. »Ihr müsst das nicht tun. Lasst mich laufen. Ich werde es keiner Menschenseele erzählen.«
»Spar dir deinen Atem, Mädchen.« Harvey schnalzte abschätzig mit der Zunge und zerrte sie zur Grube. »Ich weiß sowieso, dass du nichts weitererzählst.«
Sie warf einen panischen Blick zu der Grube, spannte ihre Muskeln an und stemmte die Absätze gegen das harte Erdreich. »Bitte, lasst mich gehen.«
»Robbie, hol die Schaufel. Sie liegt da drüben auf dem Boden.«
Mit mürrischem Gesicht kam Robbie der Bitte nach und hielt Harvey die Schaufel hin.
Harvey schüttelte den Kopf. »Wir haben gesagt, dass du es diesmal machst. Ich helfe dir nicht dabei. Wird Zeit, dass du zu dem Mann wirst, der in dir steckt.«
Robbie stieß einen Seufzer aus. Die Vorstellung, seinen Vater zu enttäuschen, zerriss ihm das Herz. Er würde alles für Harvey tun. Alles. Nur das nicht. »Heute Abend nicht, Harvey.«
Harvey sah den Jungen an, als versuche er, seine Angst zu verstehen. »Als ich die erste Frau begrub, hatte ich eine Scheißangst. Verdammt, beinahe hätte ich einen Rückzieher gemacht. Ich war mir ganz sicher, dass sie mich schnappen würden. Aber sie haben mich nicht geschnappt. Und dich werden sie auch nicht schnappen.«
Robbie schüttelte den Kopf. Langsam öffnete er die Faust und ließ die Schaufel fallen. »Ich kann nicht.«
Harvey wahrte einen ruhigen Tonfall. »Robbie, strapazier jetzt nicht meine Geduld. Ich hab es dir schon letztes Mal durchgehen lassen. Diesmal wirst du es durchziehen.«
»Robbie«, sagte das Mädchen. »Du brauchst das nicht zu tun.«
»Jetzt reicht’s mit deinem Gesabbel, Mädel.« Harvey riss den Oberkörper des Mädchens hoch und ließ sie in die Grube fallen. Sie blieb flach auf dem Rücken liegen. Auf ihrer blassen, von Hämatomen übersäten Haut schimmerte das Mondlicht.
»Bitte, lasst mich gehen!« Sie richtete sich auf.
Harvey stieß sie wieder zurück. »Nimm die Schaufel, Junge.«
»Nein.«
»Du brauchst das nicht zu tun, Robbie.« Wieder mühte das Mädchen sich ab, um sich aufzusetzen.
»Wenn du dich noch einmal hinsetzt, zieh ich dir eins mit der Schaufel über.« Harvey hob die Stimme nicht, doch seine Worte waren eindrücklicher als das Gezeter eines Wahnsinnigen. Mit dem Stiefelabsatz drückte er das Mädchen zurück in die Grube.
Sie biss die Zähne zusammen, ignorierte ihn, schrie und versuchte erneut, sich aufzusetzen. Ohne ein Wort nahm Harvey die Schaufel und ließ sie seitlich gegen ihren Schädel donnern. Der Schlag genügte, dass sie wieder auf den Rücken fiel, halb betäubt, ohne jedoch das Bewusstsein zu verlieren.
Robbie verzog das Gesicht und trat einen Schritt nach hinten.
Harvey stieß die Schaufel in das weiche Erdreich. »Siehst du, wozu du mich getrieben hast, Junge? Wenn du es durchgezogen hättest, dann wäre sie jetzt nicht halb bewusstlos.« Er schaufelte Erde auf ihren Bauch. Das Gewicht ließ die Luft aus ihrer Lunge entweichen. Er lud noch mehr Erde auf die Schaufel. »Komm rüber zu mir, Junge.«
Robbie wich noch einen Schritt zurück. »Nein.«
»Enttäusch mich jetzt nicht, Junge.«
»Tut mir leid, Harvey.« Seine Hände zitterten. »Ich weiß, dass ich gesagt habe, ich könnte es tun, aber es geht nicht. Nicht jetzt.«
Harvey legte den Kopf schief. »Ich höre wohl nicht richtig.«
Tränen standen in den Augen des Jungen. »Ich schaffe das nicht.«
»Die Wartezeit ist vorbei, Junge.« Er hielt ihm die Schaufel hin. »Jetzt oder nie. Bist du ein Mann, ja oder nein?«
Robbie schüttelte den Kopf.
»Du enttäuschst mich also schon wieder?«
»Es tut mir leid.«
Ein paar lange, angespannte Sekunden schwieg Harvey, dann sagte er ruhig: »Wenn du das jetzt nicht durchziehst, dann war’s das mit uns.«
Robbie zuckte zusammen. »Harvey, ich kann es ein anderes Mal versuchen.«
»Wenn du das hier jetzt nicht über die Bühne bringst, will ich dich nie wiedersehen.«
Tränen stiegen Robbie in die Augen, während er rückwärtsging. Er liebte seinen Vater. Den Mann, der ihn aus einem elenden Leben befreit hatte. Aber er konnte es einfach nicht tun.
Harvey schaufelte noch mehr Erde auf das Mädchen. Sie schrie, laut und durchdringend. Er warf Erde auf ihr Gesicht. Sie bemühte sich, die Augen freizubekommen, während er immer mehr Erde auf sie häufte. Sie blinzelte und versuchte den Kopf zu drehen, doch sie war gefangen.
Robbie warf zögernd einen letzten Blick auf ihre blasse Haut. Bei Gott, er konnte es einfach nicht tun.
Die Tränen liefen ihm über das Gesicht, als er sich umdrehte und davonlief.
Samstag, 6. April, 11:00 Uhr
Austin, Texas
Hätte Texas Ranger Brody Winchester Dr. Jolene Granger in einer persönlichen Angelegenheit sprechen wollen, dann wäre er als Bittsteller gekommen. Er hätte ausgiebig Asche auf sein Haupt gestreut und wäre zu Kreuze gekrochen.
Aber die Angelegenheit war nicht persönlich. Er war nicht hier, um sich zu entschuldigen oder etwas wiedergutzumachen. Er hatte nicht die Absicht, die Vergangenheit wieder auszugraben und Salz in alte Wunden zu streuen. Das. War. Dienstlich.
Er parkte den schwarzen SUV auf dem Parkplatz des Sportcenters und stieß einen Seufzer aus. Dann griff er nach dem weißen Stetson, der auf dem Beifahrersitz lag, und zog kurz das Hutband mit den silbernen Conchos gerade, bevor er aus dem Wagen stieg, die Schultern straffte und das große Gebäude mit dem Flachdach in Augenschein nahm. Auf dem Schild über der doppelten Glastür stand: KLETTERHALLE AUSTIN.
Während er mit dem Hut in der Hand das Schild betrachtete, überlegte er, ob die Jungs drüben im Hauptquartier ihm wohl die falsche Adresse gegeben hatten und sich gerade auf Kosten des Neuen kaputtlachten. Die Jo Granger, die er kannte, hasste Höhen, und wenn jemand mit ihm gewettet hätte, dass sie sich an einem solchen Ort herumtrieb, dann hätte er die Wette angenommen und wäre sich dabei verflucht sicher gewesen, sie zu gewinnen.
Allerdings hatte er Jo seit vierzehn Jahren nicht mehr gesehen. Und mit der Zeit änderte sich so manches.
Dr. Jolene Granger war keine naive Collegestudentin mehr, sondern war jetzt eine Psychologin, die mit den Texas Ranger zusammenarbeitete. Ihre Expertise für gewalttätiges Verhalten hatte ihr letztes Jahr sogar zu mehreren Fernsehauftritten verholfen, als ein Reporter nach den möglichen Motiven eines Serienmörders recherchiert hatte, der an mehreren Orten entlang der I-35 getötet hatte.
In der Fernsehsendung hatte er gesehen, dass sie die Bauernröcke und die Flipflops gegen dunkle Kostüme mit engen Röcken, eine Hochsteckfrisur und eine Perlenkette eingetauscht hatte. Sie erinnerte ihn an eine Bibliothekarin, die in seiner früheren Schule gearbeitet hatte. Kühl. Beherrscht. Sexy.
Ja, sie hatte sich in den vierzehn Jahren verändert. Vielleicht machte ihr Höhe ja nichts mehr aus.
Zwei lachende Teenager in Shorts und mit Sporttaschen in der Hand rannten am Eingang an ihm vorbei. Er ging gemächlich hinter ihnen her und gelangte in einen fabrikhallenähnlichen Eingangsbereich, der mit Zementfußboden, stabilen Kastenmöbeln und Getränkeautomaten ausgestattet war. Er näherte sich einer langen, schmalen Rezeption, wo ein junger Kerl auf seinem Handy herumtippte. Das dunkle Haar fiel ihm in das schmale, blasse Gesicht, und jeder Quadratzentimeter Haut unterhalb der Ärmel seines weißen T-Shirts war tätowiert.
Wäre Brody in großzügigerer Stimmung gewesen, hätte er den Jungen erst sein Getippe beenden lassen, bei dem es wahrscheinlich um Klatsch oder eine Party ging. Aber er hatte miserable Laune, die an seiner Geduld zerrte.
Mit der flachen Hand schlug er auf den Empfangstisch. »Ich möchte zu Dr. Jolene Granger.«
Der Junge fuhr zusammen, und sein Gesicht verfinsterte sich, bis er den Stetson, den Stern der Texas Ranger an Brodys ausladender Brust und seine Körpergröße von eins dreiundneunzig registriert hatte. Der Unmut wich erschrockener Beflissenheit. »Sie ist in der großen Halle. Soll ich ihr sagen, dass Sie hier sind?«
»Das mache ich schon selbst.«
Eilig kam der Junge um den Tresen herum und trat einen Schritt vor, als wollte er Brody folgen. »Steckt sie in irgendwelchen Schwierigkeiten?«
Brody blieb stehen und musterte den Jungen. »Mal angenommen, es ist so, was geht Sie das an?«
Der Junge schluckte, und sein Adamsapfel geriet in Bewegung. »Ich mag sie. Und wenn sie in Schwierigkeiten ist …«
Brodys eigene Sorgen ließen seinen Tonfall schärfer werden. »Was würden Sie denn machen, wenn sie in Schwierigkeiten wäre?«
Der Junge zog die schmalen Schultern hoch, ohne den Blick abzuwenden. »Weiß ich nicht.«
»So ist es. Sie wissen es nicht.«
»Sie ist eine nette Lady.«
Jo hatte schon immer diese Art von Loyalität aus den Leuten herausgekitzelt. Liebenswürdig und blitzgescheit, zog sie Menschen an wie ein Magnet. Dieser Junge bildete keine Ausnahme, und Brody musste ihm zugutehalten, dass er ihm die Stirn bot.
Er ließ seine Miene etwas weniger finster wirken. »Dr. Granger ist nicht in Schwierigkeiten. Aber es geht um etwas Dienstliches. Darf ich Sie bitten, zurück hinter ihren Tresen zu gehen und sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.« Er trat einen Schritt auf den Jungen zu, der eilig hinter dem Tresen verschwand.
Brody ging auf die große Halle zu. Wahrscheinlich saß der Junge schon wieder vor seinem Handy und tippte mit seinen schmalen Fingern Nachrichten an seine Freunde, so schnell seine Finger ihm gehorchten.
In der Halle schlug Brody der Geruch nach Schweiß und neuem Fußbodenbelag aus Polyurethan entgegen. Die Wände waren mit einer Oberfläche verkleidet, die wie Gestein aussah und mit ihren Vorsprüngen und Kurven wie eine Bergwand geformt war. Überall an der Wand waren bunte Haltegriffe und Fußstützen angebracht, manche davon groß, andere so klein, dass er sich fragte, wie er sich mit seinen großen Händen daran festhalten sollte.
Mehrere Kletterer stiegen gerade die Wände hinauf. Unten standen die Sicherungsleute, die die Seile der Kletternden hielten. Ein junges blondes Mädchen kletterte an der Wand hoch wie ein Affe. Zwei Mittzwanziger bewegten sich mit so viel Kraft und Geschmeidigkeit zwischen den Felsvorsprüngen, dass Brody voller Bewunderung war. Vierzehn Jahre konnten Jo doch wohl kaum so sehr verändert haben, dass sie jetzt an solchen Dummheiten Spaß hatte.
Das Rufen und Kichern einer Gruppe von Mädchen, die in einer Seitenhalle standen, erregte seine Aufmerksamkeit. Die zehn Mädchen, dem Aussehen nach zwischen vierzehn und sechzehn Jahren alt, standen am Fuß einer großen Felswand. Mehrere von ihnen waren schwanger, und die meisten waren tätowiert und gepierct. Jung, aber wahrscheinlich hatten sie schon eine ganze Menge Lebenserfahrung gesammelt.
Keinerlei Zorn oder Kummer ging von ihnen aus. Sie waren ausgelassen, wie es sich für Mädchen in diesem Alter gehörte. Sein Blick folgte ihren zu einer Frau, die mit einem Mann um die Wette kletterte, auf eine Glocke zu, die ganz oben an der künstlichen Felswand hing.
Die hellen jungen Stimmen skandierten: »Jo! Jo! Jo! Jo! Jo! Jo!«
Jo.
Brody blieb hinter den Schülerinnen stehen, legte die Hände an die Hüften und ließ den Blick von dem Kletterer zu der Frau gleiten. Ihre magnesiaweißen Finger umklammerten die künstlichen Felsbrocken, während sie gleichzeitig die Füße auf Vorsprünge setzte. Die schmale, schwarze Sporthose und das weiße, hautenge Spandex-Top schmiegten sich um einen schlanken, athletischen Körper. Das lange, rote Haar war zum Pferdeschwanz gebunden, der ihren muskulösen Rücken streifte, während sie scheinbar willkürlich von einem Felsvorsprung zum nächsten kletterte. Jo? Er schaute genauer hin.
Verdammt, wenn das mal nicht Jo war.
Die Jugendlichen jubelten, als sie oben ankam und an der Glocke zog. Sie hielt sich an je einem Hand- und Fußgriff fest, schaute über die Schulter und lächelte zu den Mädchen herunter. »Na, wer von euch Mädels hat gegen mich gewettet?«
Lachend schüttelten die Mädchen die Köpfe und bezichtigten sich gegenseitig. Keine wollte zugeben, an ihr gezweifelt zu haben.
Jo sah auf die Mädchen herab. »Und nachdem ich jetzt gewonnen habe, Ladys, werdet ihr den Rest des Halbjahrs alle richtig fleißig sein, stimmt’s?«
Von den Mädchen war Raunen und Gelächter zu hören. »Ja!«, riefen sie.
Der männliche Kletterer betätigte die Glocke. Er sah Jo an und nickte ihr gutmütig und mit sichtlicher Anerkennung zu.
Brody musterte den Mann und überlegte, ob Jo ihn wohl wirklich besiegt hatte oder ob er sie hatte gewinnen lassen, um bei ihr zu punkten. Brody tippte auf Letzteres.
»Doug lädt uns alle zu einem Eis ein!«, sagte Jo.
Die Mädchen jubelten.
Doug grinste. »Revanche!«
Jo lachte hell auf, drehte das Gesicht von der Wand weg und schaute liebevoll zu den Mädchen hinunter. Doch sie wandte den Blick sofort wieder ab, als würde die Höhe sie nervös machen. »Damit ich noch mal hier hinaufsteige, werden eine ganze Menge As und Bs nötig sein.«
Brody verschränkte die Arme vor der Brust und nahm den Anblick ihrer hohen Wangenknochen, der blassen Haut und der vollen Lippen in sich auf. Sie war relaxter und verflucht noch mal sehr viel heißer als die verbissene Frau, die er letztes Jahr im Fernsehen gesehen hatte.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sah sie von den Jugendlichen zu ihm hinüber. Einen Moment lang starrte sie ihn an, als würde sie ihren Augen nicht trauen. Er gab sich Mühe, keine Miene zu verziehen und sich nicht die geringste Neugier an dieser neuen Version von Dr. Granger anmerken zu lassen.
Sie riss sich aus ihrer Verblüffung und begann, die Wand hinunterzuklettern, griff jedoch an einem Vorsprung vorbei und stürzte ab. Die Mädchen kreischten. Erschrocken machte Brody eine Bewegung zu der Gruppe hin, bereit, sich zum Fuß der Kletterwand zu drängen. Doch das Seil spannte sich und bewahrte Jo vor dem Sturz. Der Sicherungsmann hielt es fest.
Sofort griff Jo wieder nach einem Felsvorsprung und schwang sich an die Wand. Einen Moment lang rührte sie sich nicht.
»Alles okay, Jo?«, fragte Doug.
»Alles bestens.« Sie streckte die Hand nach einem größeren Felsvorsprung aus. Innerhalb weniger Sekunden war sie hinuntergeklettert. Sie blickte die Mädchen an und wischte sich eine Schweißperle von der Stirn. »Aus genau diesem Grund reite ich immer darauf herum, wie wichtig Vorbereitung ist. Begebt euch nie in eine Lage, ohne zu überlegen, was alles schiefgehen könnte. Wer aufpasst, wird ein längeres, glücklicheres Leben haben.«
Die Mädchen kicherten nervös, und Doug stieg die Wand herunter. Er ging auf Jo zu und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ist wirklich alles in Ordnung?«
Sie musterte Brody kurz und senkte dann den Blick. »Ja, mir geht es gut. Würdest du mich entschuldigen?«
Sie drängte sich durch die Mädchengruppe. Ein paar von ihnen hielten sie auf und wollten erneut wissen, ob es ihr gut ging, und sie beschwichtigte sie. Sie hielt sich kerzengerade und sah ihn direkt an, als sie die Gruppe schließlich hinter sich ließ und zu ihm herüberkam.
Lose Haarsträhnen umrahmten ihr Gesicht, das mit den Jahren kantiger geworden war. Sie war zwar schon immer schlank gewesen, aber jetzt war ihr Körper straff und durchtrainiert. Nicht das leiseste Bedauern milderte den durchdringenden Blick der smaragdgrünen Augen. Die Jahre waren gut zu ihr gewesen. Und darüber war er froh. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie … verletzt gewesen.
Kaum einen halben Meter vor ihm blieb Jo stehen. Ihre Miene war streng, kontrolliert, und ein vages Interesse lag darin. »Ich nehme mal an, du bist dienstlich hier. Wegen eines Falles.«
»So ist es.« Er nahm den Hut ab und schaute zu den Mädchen und Doug hinüber, die ihn mit unverhohlener Neugier musterten. »Könnten wir uns vielleicht irgendwo ungestört unterhalten?«
»Natürlich. Lass mich nur schnell meine Tasche holen.« Sie nahm eine Sporttasche von einer Holzbank. »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie zu den Mädchen.
»Sind Sie verhaftet?«, rief eins.
Jo sah zu Brody auf. »Stecke ich in Schwierigkeiten, Ranger Winchester?«
»Nein, Ma’am.« Er sprach so laut, dass alle ihn verstehen konnten.
Sie folgte ihm nach draußen. Auf ihrer Haut glänzte Schweiß, dessen Geruch sich mit einem zarten Parfüm mischte, das ihn an Rosen erinnerte. Es hatte sich zwar viel bei Jo verändert, doch ihr Duft war gleich geblieben. »Was gibt es?«
»Hast du schon mal von Harvey Lee Smith gehört?«
»Klar.« Sie zog eine Kapuzenjacke aus ihrer Tasche und schlüpfte hinein. »Ein verurteilter Serienmörder. Ich habe in meiner Dissertation ›Psychologie des Serienmordes‹ über ihn geschrieben. Wenn ich mich recht erinnere, warst du der DPS-Polizist, der ihn verhaftet hat.«
Als er Smith gefasst hatte, war er beim Texas Department of Public Security, dem DPS, beschäftigt gewesen. Doch die Verhaftung war der Coup gewesen, der ihm seinen Ranger-Stern eingebracht hatte. Die Texas Ranger waren eine Elitetruppe von 144 Männern und Frauen innerhalb des DPS.
»Stimmt. Und wenn du dich mit Smith beschäftigt hast, weißt du bestimmt auch, dass er für den Mord an zehn Frauen verurteilt wurde. Allerdings geht man davon aus, dass die Zahl seiner Opfer bei mehr als dreizehn liegt.«
Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu und schob die Hände in die Taschen. »Beim Verhör hat er die Morde an den Frauen gestanden. Drei der zehn Opfer, die man mit ihm in Verbindung bringt, sind nie gefunden worden. Auch unter Druck hat er nichts preisgegeben.«
»In den letzten drei Jahren habe ich ihn oft verhört. Aber er hat seine Geschichte immer wieder abgeändert und ›vergessen‹, wo die anderen Leichen begraben sind. Für ihn war das alles nichts als ein Spiel.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich habe gehört, dass er Krebs im Endstadium hat. Er hat nicht mehr lange zu leben.«
»Die Ärzte sagen, dass die Erkrankung auf seine Leber übergegriffen hat. Er hat nur noch ein paar Monate.«
Sie schwieg mehrere Sekunden. »Er wird seine Geheimnisse mit ins Grab nehmen, ohne dass die Familien der Opfer damit abschließen können. Es ist das letzte bissschen Kontrolle, das ihm geblieben ist.«
Brodys Gesicht verfinsterte sich. Er hatte sämtliche Register gezogen, um Smith zu knacken, aber die stundenlangen Verhöre waren umsonst gewesen. Smith hatte seinen Spaß daran gehabt, ihn an der Nase herumzuführen.
»Gestern am späten Nachmittag hat Smith der Gefängnisbehörde mitgeteilt, dass er reden will. Er weiß, dass die Uhr tickt, und will seine Seele läutern. Er hat sich bereit erklärt, uns die Begräbnisstellen der Leichen zu verraten.«
Jo seufzte. »Er hat früher schon Ähnliches versprochen. Du hast es doch selbst gesagt. Für ihn ist das alles nur ein Spiel.«
»Ich weiß. Und am liebsten würde ich ihm sagen, er soll in der Hölle verfaulen. Aber das ist möglicherweise die letzte Chance, mit ihm zu reden und diese Leichen zu finden.«
Sie nickte. »Und die kannst du nicht einfach verstreichen lassen. Das kann ich verstehen.«
»So ist es.«
Sie sah ihn an. »Wieso ich?«
Brody atmete tief ein und ließ den Atem dann langsam entweichen. »Weil es Smiths Wunsch ist, dass du dir sein letztes Geständnis anhörst.«
Kopfschüttelnd zog sie die Brauen hoch. »Ausgerechnet ich? Das kann ich kaum glauben.«
»Er hat ausdrücklich gesagt, dass er nur mit dir reden will und mit sonst niemandem.«
»Ich habe zwar ein paarmal für die Texas Ranger gearbeitet und über den Mann eine wissenschaftliche Arbeit geschrieben, aber ich bin bei Weitem nicht die erfahrenste Psychologin. Da gibt es andere, die mehr über ihn veröffentlicht haben und bedeutend mehr vorzuweisen haben.«
In der klaren Selbsteinschätzung lag keinerlei falsche Bescheidenheit. »Dein Lebenslauf ist durchaus eindrucksvoll.«
Ihre grünen Augen verengten sich. »Ich bin dabei, mir einen Ruf aufzubauen, aber noch mal, wieso ich? Eigentlich sollte dieser Mann gar nichts über mich wissen.«
Brody legte die rechte Hand neben seiner Pistole auf den Gürtel. »Dieser Kerl ist verteufelt schlau. Er hatte alle Zeit der Welt, um zu recherchieren.«
Um ihre Mundwinkel zuckte ein humorloses Lächeln. »Und er hat herausgefunden, dass wir beide früher mal verheiratet waren.«
»Ja, davon gehe ich aus. Ich habe ihn öfter verhört als jeder andere, und jedes Mal hat er sich alle Mühe gegeben, um mir persönliche Details zu entlocken.«
»Ich kann mir kaum vorstellen, dass du über persönliche Angelegenheiten redest.«
Der Unterton der Bemerkung entging ihm keineswegs. »Habe ich auch nicht. Aber wie gesagt, meiner Vermutung nach hat er recherchiert.«
»Und irgendwie von mir erfahren.«
»Irgendwie.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. »Vielleicht hat er ja von meiner Dissertation gehört. Die Universität hat sie online veröffentlicht. Vielleicht ist das alles ja nur ein seltsamer Zufall.«
Das Leder seines Pistolengürtels knarrte, als Brody das Standbein wechselte. »Kann sein, dass die Erklärung wirklich so einfach ist. Aber ich habe noch nie viel auf Zufälle gegeben. Die sind meiner Meinung nach so selten wie Schnee in der Wüste.«
Sie verstärkte den Griff um ihre Tasche. »Du hast dir Gedanken gemacht.«
»Seit dem Anruf aus dem Gefängnis heute Morgen. ›Mir den Kopf zerbrochen‹ kommt der Sache schon näher.«
Sie blickte zu Boden und schüttelte den Kopf.
»Wenn du nicht willst, geht das in Ordnung. Dann fahre ich noch mal zu Smith und warte ab, ob er doch mit mir redet. Vielleicht wird er ja weich, jetzt, wo der Tod nahe ist.«
»Und wenn nicht?«
Brody zuckte mit den Schultern. »Dann ist die letzte Chance, diese drei Leichen zu finden, dahin.«
Sie atmete ruhig und kontrolliert ein und ließ die Luft dann wieder entweichen. »Ich mache es. Ich komme mit. Das ist das Mindeste, was ich für diese Familien tun kann.«
Jo mochte zwar nichts mehr für ihn übrig haben, aber sie würde ihren Samstag opfern, um mit einem Killer zu sprechen und damit den trauernden Familien zu helfen. »Bist du sicher?«
»Soweit ich mich erinnere, ist Smith ein Kontrollfreak, der nur kooperiert, wenn man auf alle seine Forderungen eingeht. Wann will er mit mir reden?«
»Heute.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Jetzt gleich?«
»Mein Flugzeug steht fix und fertig vollgetankt am Flughafen. Ich kann dich in zwei Stunden nach West Livingston bringen.« In West Livingston, Texas, befand sich das Gefängnis, in dem der Todestrakt für die männlichen Insassen untergebracht war.
»Ich habe keine Kleidung zum Wechseln dabei. Ich müsste bei mir zu Hause vorbeifahren.«
»Ich fahre dir hinterher.«
Sie fischte die Schlüssel aus ihrer Tasche und sagte ohne große Begeisterung: »Na schön. Ich sage nur schnell Doug und den Mädchen Bescheid.«
Ohne weitere Worte zu verlieren, lief sie wieder in die Halle. Ein paar Augenblicke später kehrte sie zurück, überquerte den Parkplatz und stieg in einen eleganten schwarzen BMW. Es wunderte ihn nicht, dass es ihr finanziell gut ging. Er hatte immer gewusst, dass sie für Höheres bestimmt war. Nach allem, was er gehört hatte – und er hörte immer gut zu, wenn ihr Name fiel –, hatte sie mit ihrem entspannten Stil großen Erfolg.
Brody setzte sich hinter das Steuer seines Broncos und beobachtete, wie sie langsam aus der Parklücke und über den Parkplatz fuhr. Am Stoppschild hielt sie an, setzte den rechten Blinker und bog ab.
»Hältst dich wohl immer noch an sämtliche Regeln«, murmelte er.
Die Fahrt vom Kletterzentrum zu ihrem kleinen erdfarbenen Bungalow in Hyde Park, einem zentralen Stadtviertel von Austin, dauerte nur wenige Minuten. Hyde Park war in den Zwanzigerjahren entstanden und beherbergte inzwischen hauptsächlich Universitätsdozenten, Studenten und Akademiker.
Als sie in die Auffahrt einbog, bemerkte er, dass der Garten irgendwann einmal ordentlich angelegt worden war, aber wie alle, die unter der texanischen Dürre der letzten Jahre zu leiden gehabt hatten, hatte sie sich nach Inkrafttreten der Bewässerungsvorschriften von ihrem Rasen verabschieden müssen. Doch auch ohne Gras war es ihr gelungen, alles nett aussehen zu lassen.
Da er bei den Rangern in den letzten drei Jahren mehrmals versetzt worden war, hatte er ein Vagabundenleben geführt und in übergangsweise gemieteten, gesichtslosen Apartments gewohnt. Früher war er immer davon ausgegangen, ein Zuhause mit Frau und Kindern zu haben, wenn er so alt war wie jetzt. Doch die Arbeit und vielleicht auch die eigenen Fehler hatten ihn Single bleiben lassen.
Sie stieg aus, holte die Post aus einem weißen Briefkasten und winkte ihm, ihr zu folgen. »Du kannst ebenso gut mit reinkommen. Ich werde etwa eine halbe Stunde brauchen.«
Er wäre zwar lieber im Wagen geblieben, aber es war nicht der Zeitpunkt, Umstände zu machen. Immerhin tat sie ihm einen Gefallen, obwohl sie ihm genauso gut hätte sagen können, er solle verschwinden.
»Ist gut.« Er stellte den Motor ab und folgte ihr über den Gehweg, der von der letzten sommerlichen Hitzewelle an manchen Stellen rissig war.
Er betrachtete die leeren Blumenkästen, die einen neuen türkisfarbenen Anstrich hatten, und die schwarze Eingangstür, die ebenfalls frisch gestrichen war. Akkurat. Ordentlich. Vorne stand ein bestimmt hundert Jahre alter Pecannussbaum, der so hoch war, dass die Krone die Veranda überschattete und die Wurzeln in das Fundament hineinwuchsen.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte Jo: »Die Veranda werde ich diesen Sommer renovieren. In den letzten Jahren habe ich mich auf das Hausinnere konzentriert.«
»Gute Entscheidung, angesichts der Dürre.«
Jo hatte schon immer alles im Griff gehabt. Früher war er sich neben ihr wie ein Trottel vorgekommen, ohne dass sie es darauf angelegt hätte. Er hatte sich über sie geärgert. Mit den Jahren war ihm klar geworden, dass die Probleme bei ihm und nicht bei ihr lagen.
Sie öffnete die Fliegenschutztür, und er hielt sie ihr auf, während sie mit ihren Schlüsseln hantierte.
»Ich habe drei Katzen«, sagte sie. »Sie sind harmlos, aber erschrick nicht, wenn du sie siehst. Es sind ehemalige Streuner, die ein bisschen wild aussehen.«
»Mit drei Katzen werde ich schon fertig.«
»Wunderbar.« Sie öffnete die Tür, schaltete das Licht ein und legte Handtasche und Schlüssel neben dem Eingang ab, wie wahrscheinlich jeden Tag, seit sie hier eingezogen war. Das Wohnzimmer war gemütlich – ein Polstersessel vor einem Kamin, der den kalten Nächten in Austin vorbehalten war. Die Fußböden bestanden aus hellem Kiefernholz, die Decke war hoch und gewölbt. Ein langer Bauerntisch stand mitten im Esszimmer, das mit der Küche verbunden war.
»Setz dich doch aufs Sofa. Im Kühlschrank ist Wasser. Sogar ein oder zwei Flaschen Cola. Ich beeile mich.«
»Eine Cola wäre toll«, sagte er. »Ich bin direkt von der Arbeit gekommen.«
»Es ist Dosenfleisch und Brot da, falls du Hunger hast. Bedien dich.« Ihr Lächeln war beinahe herzlich.
Sie verschwand im Schlafzimmer, und er schlenderte an mehreren Schwarz-Weiß-Fotografien vorbei, die im Esszimmer an der Wand hingen. Man musste kein Experte sein, um zu erkennen, dass sie wertvoll waren. Die Küche aus schimmerndem Edelstahl und Granit sah aus wie frisch geputzt. Verdammt, wenn bei ihm überraschender Besuch käme … nun ja, es würde mit Sicherheit nicht so ordentlich aussehen. Er nahm sich eine Cola aus dem Kühlschrank und öffnete sie. Er ließ die kühle Flüssigkeit durch seine ausgedörrte Kehle rinnen und fragte sich, wie zum Teufel er im Haus seiner Ex gelandet war.
Jo stellte die Dusche an und schleuderte Schuhe und Strümpfe von sich. Dann beugte sie sich über das Waschbecken und starrte in den beschlagenen Spiegel. Sie war froh, dass ihr Gesicht ruhig wirkte und ihre Wangen vom Schock nicht gerötet waren. Brody Winchester. Sie hatte zwar gehört, dass er zurück in die Stadt gezogen war, jedoch gehofft, dass Austin groß genug war, um ihm aus dem Weg zu gehen.
Sekundenlang starrte sie vor sich hin, bis der Dampf jede Spur von ihr verdeckte.
»Heilige Scheiße«, flüsterte sie, drehte sich um und zog das Kapuzenshirt, das Trainingsoberteil und die Hose aus. Sie trat in die Dusche, hielt den Kopf unter den heißen Strahl und spürte kaum, wie das Wasser über ihren Körper strömte und den salzigen Schweiß von ihrer Haut wusch.
Verdammt noch mal, Brody Winchester war bei ihr zu Hause. Und holte sich eine Cola aus ihrem Kühlschrank. Brody Winchester saß auf ihrem Sofa, als wäre er auf Besuch in der alten Heimat.
Brody Winchester, verdammmt.
Ihr Exmann.
Vierzehn Jahre war es her, seit sie einander zum letzten Mal gesehen hatten. Nach ihrer Scheidung hatte sie jahrelang davon geträumt, ihn zu konfrontieren und eine Entschuldigung zu verlangen. Sie hatte sich ausgemalt, wie er seine Fehler einsehen und ehrliche Reue zeigen würde. Eine Zeit lang hatte der Traum sie am Leben erhalten, aber nach ein paar Jahren war sie das Zornigsein einfach leid geworden. Und so hatte sie Winchester ziehen lassen und aufrichtig geglaubt, ihn los zu sein.
Und dann hatte er dort im Kletterzentrum gestanden und sie angestarrt, als wäre sie eine seltsame Spezies. Sie war erschrocken, hatte den Halt verloren und die einstudierten, nach der Scheidung allzu oft wiederholten Ansprachen waren vergessen.
Sie stöhnte. Sie hatte ihn hereingebeten. Ihm eine Erfrischung angeboten. Und ein Sandwich. Du bist schon immer schnell schwach geworden, wenn er in der Nähe war.
Sie stellte sich vor, wie das Wasser ihre Gedanken und Enttäuschungen wegspülte. Lass los. Lass los. Das vertraute Mantra plätscherte über ihren Körper und nahm ein paar der Gefühle mit.
Brodys Besuch war keine persönliche Angelegenheit. Er betraf die Arbeit. Und Brody verhielt sich erwachsen, ganz wie ein Profi. Er war nicht mehr der frisch angeworbene, zweiundzwanzigjährige Marine-Soldat, der auf alles eine Antwort hatte, und er behandelte sie auch nicht, als wäre sie ihm etwas schuldig. Und sie war keine linkische Achtzehnjährige, die für jedes bisschen Liebe und Aufmerksamkeit dankbar war. Sie brauchte ihn nicht – nicht so, wie sie es damals geglaubt hatte.
Das heiße Wasser perlte über ihre Stirn. Sie war zweiunddreißig. Er sechsunddreißig. Wenn sie sich jetzt nicht erwachsen verhalten konnten, wann dann? Die Vergangenheit war vorbei. Lass sie los und zieh einen Schlussstrich.
Morgen um diese Zeit würde ihr Gespräch mit Harvey Lee Smith vorbei sein, und Brody würde wieder aus ihrem Leben verschwinden. Fall geschlossen – hoffentlich.
Sie stellte das Wasser ab, frottierte sich, föhnte sich rasch die Haare und zog einen dunklen, engen Rock, eine weiße Bluse und eine dazu passende Jacke an. Sie legte ihre Perlenkette und die Perlenohrringe an und war, wie sie es versprochen hatte, nach einer halben Stunde abfahrtbereit.
Als sie aus dem Schlafzimmer trat, hatten ihre Katzen sich um Brody versammelt. Atticus, ein sieben Kilo schwerer, orangefarbener Kater, saß am Sofaende und starrte Brody an, als wollte er sich auf ihn stürzen. Shakespeare, ein drahtiger, schwarzer Kater mit kurzem Schwanz, saß außerhalb seiner Reichweite auf dem Fußboden, und Mrs Ramsey, eine kleine, graue Tigerkatze, lag auf seinem Schoß und schnurrte, während er sie zwischen den Ohren kraulte.
Gott, was musste er nur von ihr denken. All die Jahre, und sie war nicht nur immer noch dieselbe in ihre Arbeit vergrabene Eigenbrötlerin, sondern außerdem auch eine alleinstehende Frau mit einem Haus voller Katzen.
Sie nahm ihre Handtasche und öffnete sie. »Fertig?«
Er trank seine Cola aus und schubste Mrs Ramsey sanft zurück auf die Couch. Als er aufstand, ließ er den Blick kurz auf ihr ruhen, dann hob er die Dose. »Ja. Wo kann ich das wegwerfen?«
Ihr erster Reflex war, ihm die Dose abzunehmen und sie für ihn zu entsorgen. Bei jedem anderen hätte sie es getan. »In der Küche, unter der Spüle.«
Während er die Dose wegwarf, überprüfte sie ihre Geldbörse, um sicherzugehen, dass sie genug Geld und ihren Ausweis bei sich hatte. Sie steckte einen Notizblock, zusätzliche Kugelschreiber und eine Kompaktkamera ein. »Ich fahre dir zum Flughafen hinterher.«
Mit dem Hut in der Hand kam er auf sie zu, jeder Schritt wohl abgemessen.
Wann hatte sie vergessen, wie groß und breitschultrig er war? Schon auf dem College war er so gewesen, hatte jeden Raum beherrscht, den er betrat. Mit den Jahren war sein Muskeltonus ganz gewiss nicht geringer geworden. Seine Schultern waren breiter, seine Beine und Unterarme muskulöser.
Er war nie im klassischen Sinne gut aussehend oder hübsch gewesen. »Sehr männlich« wurde ihm als Beschreibung noch am ehesten gerecht. Mit den Jahren waren nicht nur die jugendlichen Züge verschwunden, er hatte auch ein schmales, markantes Gesicht bekommen, dessen Aussehen ans Bedrohliche grenzte.
»Es könnte spät werden«, sagte er. »Wir sollten lieber keinen zusätzlichen Wagen am Flughafen stehen lassen.«
Ohne Zweifel würde er den vorderen Teil des Broncos nahezu allein ausfüllen. »Das macht mir nichts aus.«
»Es wird einfacher sein, wenn ich fahre.«
Ihr lag ein Widerspruch auf der Zunge, doch dann schluckte sie ihn hinunter. Je mehr sie widersprach, desto mehr Bedeutung gab sie dem Ganzen. Und das hier war nicht weiter bedeutsam. Es war rein beruflich.
»Na gut.« Atticus miaute und sprang von der Sofalehne herunter. »Lass mich noch schnell die Katzen füttern.«
Er streckte den Arm aus und deutete mit dem Hut zur Küche. »Da hast du dir ja eine ganz schöne Meute ins Haus geholt.«
»Die haben mich irgendwie gefunden.«
»Du hast eben ein weiches Herz.«
»Kann schon sein.« Sie öffnete die Speisekammer, holte eine Tüte Trockenfutter heraus und schüttete es in drei verschiedene Näpfe, die in Küche und Arbeitszimmer verteilt standen. Atticus wählte den Napf neben dem Mülleimer. Shakespeare ging zu seinem Napf unter dem Küchentisch und Mrs Ramsey fraß hinter dem Sessel.
»Der große Rote da ist wohl der Chef«, sagte Brody.
Sie füllte einen Wassernapf und stellte ihn neben Atticus. »Ich habe ihn jetzt seit einem Jahr. Aber er hat gleich nach seiner Ankunft das Kommando übernommen.«
»Knurrt er etwa?«
»Ja, immer, wenn er frisst. Wahrscheinlich ein Verteidigungsmechanismus. Der Tierarzt meint, dass er sich eine ganze Weile allein durchschlagen musste. Als er zu mir kam, war er halb verhungert und ziemlich heruntergekommen.«
»Man muss dem alten Jungen zugutehalten, dass er überlebt hat.«
»Ich schaue schnell bei meinem Nachbarn vorbei und sage ihm Bescheid, dass ich wegfahre. Heute Abend beträgt die Regenwahrscheinlichkeit fünfzig Prozent, und jemand muss die Katzen füttern, falls wir dort nicht wegkommen.«
Er folgte ihr aus dem Haus. »Schaust du immer noch jeden Morgen den Wetterbericht?«
Isst du morgens immer noch Frosties? Die unerwartete Erinnerung ließ sie die Haustür ein wenig zu fest zuschlagen. Sie drehte den Schlüssel im Schloss, bis es einrastete. »Die erste Anspielung auf unsere kurze Ehe – das heikle Thema.«
Er stand am Treppenabsatz und hatte einen Fuß auf der untersten Stufe abgestellt. »Ich war noch nie gut darin, mich zu verstellen.«
»Durch und durch ehrlich, ich erinnere mich.«
Er setzte sich den Hut auf, und ganz kurz wurde sein Gesicht grimmig. »Gibt es da etwas zwischen uns, worüber wir reden sollten, bevor es losgeht?«
»Nein.« Einen Augenblick wurde sie von ihren Gefühlen überwältigt, dann war es vorbei. Sie nickte zu dem Haus auf der rechten Seite hinüber. »Ich bin gleich wieder da.«
Er musterte sie kurz. »Ich warte im Wagen.«
Ohne recht zu wissen, weshalb sie wegen des Wetters und Erinnerungen an Frühstücksflocken so kratzbürstig reagierte, lief sie zur Haustür ihres Nachbarn Ted Rucker, wobei ihre hohen Absätze auf dem Asphalt klapperten. Nach raschem zweimaligen Klopfen ging die Tür auf, und ein großer, schlanker Mann mit blondem Haar und Hornbrille stand vor ihr.
»Rucker«, sagte sie. »Ich muss eine Weile weg. Könntest du vielleicht nach den Katzen sehen, falls du nichts von mir hörst? Wahrscheinlich bin ich heute Abend wieder da, aber man weiß ja nie.«
Er blickte an ihr vorbei zu Brody hinüber, der mit vor der Brust verschränkten Armen neben seinem Bronco stand. »Die Ranger?«
»Ranger Brody Winchester.« Sie redete niemals über ihre Fälle. »Ich müsste am späten Abend wieder da sein, aber falls das Wetter nicht hält, könnten wir aufgehalten werden.«
Rucker grinste. »Ich füttere die drei Musketiere schon. Wie steht’s mit diesem Abszess an Atticus’ Seite?«
»Die Antibiotika, die du verschrieben hast, haben gewirkt. Hoffentlich lernt er daraus, dass er sich nicht mit dem Streuner am Ende der Straße anlegen sollte.«
»Mal sehen. Er hat ja seinen eigenen Kopf.« Er zog die Brauen zusammen. »Gute Fahrt.«
»Noch mal danke.«
»Hey, wenn du zurückkommst, wollen wir da nicht mal Kaffee trinken gehen? Wir haben schon einige Male darüber geredet, aber irgendwie ist es nie dazu gekommen. Ein kleines Schwätzchen unter Nachbarn.«
Sie lachte, während sie bereits rückwärtsging. »Gute Idee.«
Als sie zum Wagen kam, öffnete Brody ihr die Tür, und sie blieb stehen. »Das hast du noch nie gemacht.«
»Doch, schon. Nur nicht für dich.«
Kein Zorn. Keine Verstimmung. Nur eine sachliche Feststellung. Nicht ganz sicher, was sie davon halten sollte, schlüpfte sie in den Wagen und rückte sorgfältig ihre Tasche zurecht, während er die Tür schloss. Als er sich hinter das Steuer setzte, schrumpfte die große Fahrerkabine des Broncos tatsächlich zusammen. Eine seiner großen, wettergegerbten Hände schob den Schlüssel ins Zündschloss. Diese Hand hatte einen Baseballschläger umfasst, als wäre er eine Rettungsleine. Diese Hand hatte sich einst um ihre Brust gelegt und ein Feuer in ihr entfacht, das ihr den Atem geraubt hatte.
»Es ist hilfreich, dass du mit Smith vertraut bist«, sagte er, als er den Motor anließ und auf die Straße fuhr.
Sie schluckte und blickte auf die Straße, die vor ihnen lag. »Er war einer von vier Serienmördern, auf denen ich meine Dissertation aufgebaut habe. Natürlich habe ich nie mit ihm gesprochen. Meine Quellen bestanden aus Polizeiakten und ein paar Verhören.« Als sie erfahren hatte, dass es Brody gewesen war, der ihn verhaftet hatte, hätte sie Smith beinahe ganz aus ihrer Arbeit gestrichen. Ihr Stolz hatte es nicht zugelassen, Brody um ein Interview zu bitten, doch aus Sturheit hatte sie Smith in ihrer Dissertation behalten. »Gibt es noch mehr, was ich wissen sollte?«
»Er war ein Aushilfslehrer, der sich für einen Romanschriftsteller hielt. Für den nächsten Poe. Er hat immer in seinem Garten gesessen, beziehungsweise auf seinem Friedhof, und stundenlang an seinen Kurzgeschichten und Büchern gearbeitet.
Geboren in Texas, Abschluss an der Universität von Oklahoma mit Bestnote. Seine Dozenten und viele der Schulleiter und Lehrer, für die er gearbeitet hat, respektierten ihn. Als er einmal einen längerfristigen Job hatte, schwärmten viele Eltern von ihm und verlangten, man solle ihn dauerhaft einstellen. Aber er lehnte alle Angebote ab. Er zog mehrere Jahre lang durch Oklahoma und Kansas und ist dann vor zwanzig Jahren endgültig nach Texas zurückgekehrt.«
Brody fädelte den Wagen durch den Verkehr, und bald fuhren sie nach Austin auf den städtischen Flughafen zu. »Ich habe ihn gefragt, wieso er wieder zurück nach Austin gezogen ist, aber er hat die Frage nie beantwortet. Meiner Theorie zufolge wünschte er sich mehr Platz, mehr Land und besseres Wetter, weil die Mordsaison damit länger dauert.«
»Als er wieder nach Texas gezogen ist, war er Ende vierzig.«
»Stimmt.«
Sie blickte durch die Windschutzscheibe und ging im Geist durch, was sie über Smith wusste. »Seine Hauptbegräbnisstätte war sein Garten, aber man vermutet, dass es noch eine weitere gab.«
»Als er vor drei Jahren wegen der mutmaßlichen Verwicklung in das Verschwinden von Tammy Lynn Myers verhaftet wurde, haben wir uns einen Durchsuchungsbefehl für sein Haus und sein Grundstück besorgt. Wir mussten uns im Garten nur kurz umsehen, um zu sehen, dass die Erde viele Male aufgeworfen worden war. Wir haben Wochen in diesem Garten verbracht und zehn Leichen ausgegraben. Aber Tammy Lynn Myers haben wir nie gefunden. Außerdem sind wir in seinem Haus auf Hinweise gestoßen, die auf mindestens zwei weitere Opfer hindeuten. Auch sie wurden nie gefunden.«
»Der Gerichtsmediziner glaubte, dass die Opfer lebendig begraben wurden.«
»Die meisten Leichen waren so stark verwest, dass es kein weiches Gewebe mehr zu untersuchen gab. Dann haben wir eine Leiche ausgegraben, von der wir glauben, dass sie sein vorletztes Opfer war, eine Frau, die er ein paar Wochen vor Tammy umgebracht hatte. Der Gerichtsmediziner fand Erde in ihrer Lunge und ihrem Magen, ein klarer Hinweis darauf, dass sie bei dem Versuch, Luft zu holen, Erde eingeatmet hat.«
Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken bei dem Gedanken an diese Frauen, die panisch nach Luft geschnappt hatten. »Er hat die Vorwürfe nie bestritten.«
»Nein. Mitunter war er sogar hilfsbereit.«
»Er ist zum Tode verurteilt worden.«
»Und hat während der letzten beiden Jahre sämtliche Gnadengesuche aufgesetzt, die nur möglich waren.«
»Erst gesteht er, dann kämpft er«, sagte sie. »Bei ihm geht es immer um Kontrolle.«
Brody biss die Zähne zusammen, was einen Muskel neben dem Kiefergelenk zucken ließ. »Sieht so aus, als würde der Krebs jetzt wieder alles umwerfen. Er wird ihn umbringen, bevor es der Henker tut.«
»Das Karma hat seine eigene Gerechtigkeit.«
Ohne Kommentar fuhr Brody durch das Tor des kleinen städtischen Flughafens und folgte der geschwungenen Straße am Hauptgebäude mit dem Kontrollturm vorbei und dann zu den Flugzeughallen an der nördlichen Seite des Geländes. Er parkte neben einem Hangar. »Bevor ich heute Morgen losgefahren bin, habe ich angeordnet, das Flugzeug vollzutanken, die Vorflugkontrolle sollte also nicht zu lange dauern.«
»Kann ich irgendwie helfen?«
»Nein, ich mach das schon.« Sie stiegen aus, und er schloss eine kleine Tür auf, die in die Flugzeughalle führte, und schloss sie hinter sich. Sekunden später hörte sie die Scharniere der großen Tür des Hangars ächzen, als das Metall nach oben und hinten glitt. In der Flugzeughalle stand eine Cessna 150. Die zweisitzige Einpropellermaschine war weiß gestrichen und hatte rote und schwarze Streifen. Brody nahm seinen weißen Hut und die Jacke und warf beides hinten in den Gepäckraum. Er befestigte einen Haken am Vorderrad des Flugzeugs und zog es mit Leichtigkeit aus dem Hangar heraus. Innerhalb weniger Minuten hatte er das Flugzeug von außen überprüft, als hätte er schon Tausende von Vorflugkontrollen durchgeführt.
Er öffnete Jo die Tür und wartete, bis sie die hohe Stufe erklommen hatte, die in das Flugzeug führte. Nachdem er die Hangartür geschlossen hatte, setzte er sich hinter den Steuerknüppel. Seine Schulter streifte ihre, als er sich vorbeugte und nach einer weiteren Vorflugliste griff, die neben dem Sitz klemmte. Gegen das Cockpit war sein Bronco geradezu geräumig.
Er setzte einen Kopfhörer auf und gab ihr ebenfalls einen, bevor er den Antrieb mit der Starterklappe zündete und dann den Schlüssel drehte. Der Propeller machte eine Drehung und blieb dann stehen, doch als Brody den Schlüssel ein zweites Mal drehte, kam der Propeller in Gang und rotierte bald so schnell, dass er kaum noch zu sehen war.
Froh über den Lärm der Triebwerke, die jedes Gespräch unmöglich machen würden, lehnte sie sich auf ihrem Sitz zurück, setzte die Sonnenbrille auf und gestattete ihrem Geist zum ersten Mal, seit sie Brody unten an der Kletterwand gesehen hatte, zur Ruhe zu kommen.
Während er mit dem Tower sprach, manövrierte er zur Startbahn und wendete das Flugzeug, bis es auf den Startbahnziffern stand und mit der Schnauze nach Osten zeigte. Ohne einen Blick in ihre Richtung warf er die Triebwerke an, und sie schossen über die Startbahn. Auf halbem Weg legte er den Steuerknüppel zurück, und mühelos hoben sich die vorderen Räder vom Boden. Ihr Magen vollführte einen kleinen Salto, und sie war froh, dass sie nur wenig gefrühstückt hatte.
Durch das Seitenfenster sah sie, wie die quadratischen, zweckmäßigen Flughafengebäude schnell immer kleiner wurden. Sie gewannen an Höhe, und der strahlend blaue Horizont hob sich gegen das braune, von der Dürre rissige Erdreich ab. Sie warf einen Blick auf den Tacho und berechnete schnell, dass sie in einer Stunde in West Livingston ankommen würden.
Damit blieben ihr sechzig Minuten, um sich auf die Begegnung mit einem der bösartigsten Serienmörder der texanischen Geschichte vorzubereiten.
Samstag, 6. April, fünfzehn Uhr
Die grauen Mauern des Staatsgefängnisses Livingston ragten hoch auf, als Jo auf der Rückbank des DPS-Polizeiwagens aus dem Fenster blickte. Brody hatte noch vom Flugzeug aus angerufen und dafür gesorgt, dass sie von einem Polizeiwagen abgeholt wurden. Jetzt saß er vorne neben dem Officer und sie auf dem Rücksitz.
Ein hoher Stacheldrahtzaun zog sich um das Gefängnis. Jetzt schlugen Regentropfen gegen das Fenster und verwandelten den kühlen Tag in einen vollends ungemütlichen. Sie war schon früher in Gefängnissen gewesen und hatte Verdächtige befragt. Sie war keine Anfängerin. Sie kannte sich aus. Und doch hatte eine Beklommenheit von ihr Besitz ergriffen, die sie gereizt und nervös machte.
Brody fing ihren Blick im Rückspiegel auf. Hoch aufgerichtet saß er da. Stark. Und wäre er jemand anders gewesen, hätte sie vielleicht einen Witz gemacht, um die spannungsgeladene Atmosphäre aufzulockern. Ein bisschen Lachen hätte jetzt sehr geholfen. Aber sie wollte nicht mit Brody lachen. Sie wollte überhaupt keine Verbindung mit ihm. Ihre letzte Begegnung war vierzehn Jahre her, und bis heute Morgen hatte sie geglaubt, die Gefühle, die mit ihrer Beziehung zusammenhingen, wären längst tot und begraben. Doch wie ein Ungeheuer, das sich nach einem langen Schlummer regte, wurden gerade viel zu viele unerwünschte Emotionen wach.
Verdammt.
Ihren ersten echten freien Tag seit zwei Wochen hatte sie nicht mit Grübeleien über ihre Gefühle für Brody Winchester verbringen wollen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Brody.
»Alles bestens.« Sie schenkte ihm ein gleichgültiges Lächeln, wie sie es oft bei den halbwüchsigen Mädchen in ihrer Selbsthilfegruppe gesehen hatte, merkte jedoch, dass es ihre Beunruhigung nicht verbergen konnte. Sie erwog einen kurzen, knackigen Kommentar, verzichtete dann jedoch darauf, weil sie wusste, dass ihre Witzeleien oft eher bissig als scherzhaft klangen. »Ich versuche immer noch, zu verstehen, wieso Smith mich hat kommen lassen. Und kann nicht glauben, dass es nur an meiner Verbindung zu dir liegt.«
Der Officer auf dem Fahrersitz, ein großer, stämmiger Mann mit Bürstenhaarschnitt und einem dichten schwarzen Schnurrbart sagte nichts dazu, aber bei den Worten »meine Verbindung zu dir« spannten seine Schultern sich ein wenig an. Sie konnte sich lebhaft ausmalen, was in seinem Kopf vorging.
Sie passierten den ersten Kontrollpunkt, dann einen zweiten, bevor sie und Brody ausstiegen. Von Westen wehte eine steife Brise, die durch ihre Jacke drang und sie frösteln ließ.
Brody bedankte sich bei dem Polizisten und betrat dann zusammen mit ihr das Gebäude, wo sie einen weiteren Metalldetektor passieren mussten. Eine Polizistin durchsuchte ihre Handtasche, während die Wachen Brodys Pistole überprüften. Eine Viertelstunde später kamen sie im Büro des Gefängnisdirektors an.
Ein mittelgroßer, stämmiger Mann erhob sich, als sie das karge Büro betraten. Er hatte schütteres, rotes Haar, das aus dem runden, geröteten Gesicht zurückgekämmt war. Er kam um seinen Schreibtisch herum und wischte sich die Hand an seinem blau karierten Schlips ab, bevor er sie Brody hinstreckte. »Brody. Hab schon gehört, dass du kommst.«
»Der Teufel schläft nie«, sagte Brody.
»Damit meinst du wohl dich«, sagte der Direktor lächelnd. Sein Blick glitt zu Jo hinüber. »Ich bin Larry Maddox, der Direktor hier in Livingston. Dr. Granger?«
Sie lächelte und ergriff seine schwielige Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Direktor. Und bitte nennen Sie mich Jo.«
Er nickte. »Dann also Jo. Und ich bin Larry.« Er hakte die Daumen in seinen dicken Ledergürtel. »Wie ich höre, möchte Mr Smith mit ihnen plaudern?«
Sie zog die Brauen zusammen. »Ja, und das überrascht mich sehr.«