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Vom "Dach der Welt" in die Wüste Gobi - das Werk, mit dem Sven Hedin berühmt wurde. Noch keine 30 Jahre alt war Sven Hedin, als er 1893 zu jenem Unternehmen aufbrach, das seinen Ruhm als einer der größten Forscher aller Zeiten begründen sollte. Er hatte die triumphale Rückkehr Nordenskiölds, des Bezwingers des Nord-Ost-Passage, nach Stockholm erlebt; er war schon am Persischen Golf, in Bagdad und Teheran gewesen; doch nun hatte er nichts Geringeres vor, als "ganz Asien von Westen bis Osten, vom Kaspischen Meer bis Peking, zu durchqueren und dabei besonders die am wenigsten bekannten Gebiete zu berühren".
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Seitenzahl: 430
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Sven Hedin (1865 –1952) war einer der berühmtesten und meistgeehrten Forschungsreisenden aller Zeiten. Auf mehreren großen Expeditionen durchzog er Zentralasien, löste das Rätsel der »wandernden Seen«, unternahm als Mongole verkleidet den Versuch, Lhasa zu erreichen, und überquerte acht Mal das bis dahin unbekannte und von ihm erst so benannte Massiv des Transhimalaya.
Dr. Detlef Brennecke (Jahrgang 1944) war in seiner Jugend Filmschauspieler in Berlin. Später lehrte er Skandinavistik in Frankfurt am Main. Seine Biographien über bedeutende abendländische Entdecker wie Sven Hedin, Roald Amundsen und Fridtjof Nansen wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
Zum Buch
»Der letzte große Landreisende der Geschichte.«www.nationalgeographic.de
Geograf, Topograf, Entdeckungsreisender, Fotograf, Reiseschriftsteller: Kenntnisse, für deren Erlangung andere ein ganzes Berufsleben benötigen, vereinte Sven Hedin bereits zu Beginn seiner Forscherkarriere in einer Person. Insgesamt vier mehrjährige Expeditionen führten den ambitionierten Schweden nach Zentralasien und schon während seiner ersten leistete er, noch keine 30 Jahre alt, Außergewöhnliches. Während seiner waghalsigen Reise durch Asiens Wüsten legte Hedin als erster Europäer mehrere Tausend Kilometer durch gänzlich unkartiertes Gebiet zurück und trug so maßgeblich zur Erschließung des bis dato kaum erforschten asiatischen Kontinents bei. Seine Aufzeichnungen bestechen nicht allein durch ihren Facettenreichtum, sondern auch durch den pointierten und fesselnden Stil, der sie zu einem Klassiker der Reiseliteratur macht.
In der an großen Namen reichen Geschichte der bedeutendsten Entdecker zählt Sven Hedin zu den absoluten Ausnahmeforschern: Am 16. Oktober 1893 bricht der Schwede von Stockholm zu seiner ersten großen Asienexpedition auf. Im Verlauf von nur drei Jahren legt er dabei über 25.000 km durch Asiens Wüsten zurück, erforscht den Pamir – das im tibetischen Hochland gelegene »Dach der Welt« –, durchquert unter lebensbedrohlichen Umständen mit seiner Karawane Nord-Tibet und China und erreicht schließlich am 2. März 1897 Peking. Bei der Rückkehr von seiner dritten Asienexpedition bereiten ihm seine Landsleute einen derart triumphalen Empfang, wie er vor ihm nur dem Polarforscher Adolf Erik Nordenskiöld zuteil wurde.
DIE 100 BEDEUTENDSTEN ENTDECKER
Sven Hedin
Drei Jahre auf neuen Wegen zwischen Pamir, Tibet und China
1893–1895
Herausgegeben von Detlef Brennecke
Mit 20 Abbildungen
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Alle Rechte vorbehalten
Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012Der Text basiert auf der Ausgabe Edition Erdmann Stuttgart und Wien, 2001Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH,nach der Gestaltung von Nele Schütz Design, MünchenBildnachweis: Sven Hedin, zeitgenössische FotographieeBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-8438-0294-9
www.marixverlag.de/Edition_Erdmann
Vorwort des Herausgebers
»… diese Popularität ist wunderbar.« Sven Hedin, der Großschriftsteller
Sven Hedin, Durch Asiens Wüsten
Zum Dach der Welt
Eine Winterfahrt über Pamir
Zum Vater der Eisberge
Erinnerungen an Kaschgar
Bei den Kirgisen des Mus-tag-ata
Wanderungen am Kleinen Kara-kul
Auf den Gletschern des Mus-tag-ata
Auf dem Vater der Eisberge
Eine neue Fahrt quer durch Pamir
Segelfahrten und Tiefenlotungen auf dem Kleinen Kara-kul
Das Leben der Kirgisen. Rückreise nach Kaschgar
Der Wüste entgegen
Eine Wallfahrt
Auf der Schwelle der Wüste
Ein irdisches Paradies
Die Heimat der Grabesstille
Kein Wasser!
Der Untergang der Karawane
Gerettet!
Rettung Islam Bais
Rückkehr aus der Wüste
Weiterführende Literatur
Editorische Notiz
»… diese Popularität ist wunderbar.« Sven Hedin, der Großschriftsteller
Ach, Dante! Zwar gab es das Gerücht, Odysseus habe die Glut, mit der es ihn »hinaustrieb, nach der Welt zu forschen«, nie besiegt und sich darum nach der Rückkehr von seiner Irrfahrt zu neuen Reisen aufgemacht. Aber war das belastend genug, um die Seele des Ahnherrn der abendländischen Entdecker in der Göttlichen Komödie als Insassin des Infernos vorzustellen? Oder sprach aus solcher Verdammnis nicht insgeheim eher der Unmut über einen, den niemand in den Griff bekommt?
Bereits der erste Satz der Odyssee spielt mit doppeltem Sinn: »Den Mann nenne mir, Muse, den vielgewandten, der gar viel umgetrieben wurde, nachdem er Trojas heilige Stadt zerstörte.« Das schmückende Beiwort des Helden, das Wolfgang Schadewaldt in seiner Prosaübersetzung mit »vielgewandt« wiedergab, ist von jener Zweideutigkeit, die den Recken rätselhaft und folglich bis heute faszinierend macht. Denn das griechische Adjektiv »polytropos« bezeichnet jemand, der vom Schicksal oft in die Ferne »verschlagen« wurde und in puncto Charakter mannigfach »verschlagen« ist.
Ein solcher Stammvater der Erdkundler freilich verhieß heikles Erbgut. Und tatsächlich sollte sich Witz, Arglist oder Schläue – je nach Stärke des Gepräges – in Zukunft wie ein Atavismus im Naturell von Explorern beweisen: als vergnügliche Schlitzohrigkeit, als hundsgemeine Machenschaft oder dreister Winkelzug.
Denn war es etwa keine ausgekochte Flunkerei, was der Isländer Erich der Rote im Sommer 990 vollführte? Vier Jahre zuvor hatte er seine Insel gen Westen verlassen und bald darauf eine Küste erreicht, die von nichts anderem bedeckt war als Eis und Schnee. Noch einmal kehrte er infolgedessen in seine Heimat zurück, um zur Besiedlung jenes unwirtlichen Gefildes Material einzukaufen und Begleiter zu finden, damit es am Fuße der Gletscher nicht zu einsam sei. Die Geschichte von Erich dem Roten erzählt mit Sarkasmus, wie es dieser Prototyp eines cleveren PR-Agenten erreichte, Kolonisten in sein dubioses Paradies zu locken: »Er nannte es Grönland, das heißt: das grüne Land. Denn er meinte, die Leute würden eher Lust bekommen, sich dort niederzulassen, wenn es einen so schönen Namen habe.«
Und war es etwa – Beispiel Nummer zwei – keine abgefeimte Niedertracht, was der Norweger Roald Amundsen zwischen 1908 und 1910 inszenierte? In zahllosen Verlautbarungen kündigte er an, sich zum Nordpol vorzukämpfen. Hierfür bat er um die »Fram«, jene Schute, mit der Fridtjof Nansen seinerzeit über den Saum der Arktis gedriftet war und in Kürze zur Antarktis lossegeln wollte. Seinem jüngeren Landsmann zuliebe schob er das nun auf … Kaum indes dass Amundsen durch diesen Großmut Kapitän der »Fram« geworden war, ließ er den avisierten Kurs um hundertachtzig Grad ändern – und entschuldigte sich für den hiermit ans Licht gekommenen Betrug in einem Brief. Doch sein Lügennetz war längst derart fest geknüpft, dass sich der ausgebootete Fridtjof Nansen daraus nicht entwinden konnte. Auf die Frage des inzwischen ebenfalls zum Südpol eilenden Robert Falcon Scott, was Amundsens »intentions« seien, musste er in nationaler Loyalität die Antwort drahten: »Unknown«.
Und war es schließlich – wir sind jetzt in der Sparte »Bubenstücke« – etwa keine ausgefuchste Nasführerei, was ein anderer Skandinavier, diesmal ein Schwede, 1892 auf dem Felde der akademischen Geografie veranstaltet hatte?
Streng genommen war er Student der Naturwissenschaften an den Universitäten Stockholm und Uppsala. Doch weil er sich in den Jahren 1885 und 1886 privat in Persien aufgehalten und dabei im Nu die Landessprache angeeignet hatte, galt er seither als Orientalist – zumal er ein dickes Buch über jene Monate im Morgenland veröffentlicht hatte. So kam es, dass er 1889 eingeladen worden war, eine Abordnung seines Königs, Oscars II., an den Hof von Schah Nasr-ed-Din zu begleiten.
Hiervon heimgekehrt nahm er seine Studien wieder auf, und zwar in Berlin bei dem Ordinarius für physische Geographie Ferdinand von Richthofen. Und obwohl ihn bald eine herzliche Freundschaft an den Meister seines Faches binden sollte, war diesem klar, dass sein Schüler kein Gelehrter war, kein Stubenhocker, sondern ein Flaneur, ein Globetrotter. Deshalb empfahl er ihm, ab Juli 1892 auch bei dem Kollegen Alfred Kirchhoff in Halle ein paar Vorlesungen zu hören. Dort kaum angekommen telegrafierte der junge Schwede seinen Eltern – nicht nur zu deren Verblüffung –: »Doktor der Philosophie«.
Was war geschehen? Der rührige Schwede hatte in Halle das Manuskript einer Dissertation mit dem Titel Der Demavend nach eigener Beobachtung aus der Reisetasche gezaubert und im Vorwort dieses Werkes auf Lateinisch seinen Lebenslauf skizziert. Darin erwähnte er sein jüngstes Buch, den 1891 in Stockholm vorgelegten Bericht von jener Gesandtschaft an den Schah (Konung Oscars beskickning till Schahen af Persien år 1890). Was er freilich verschwieg, war die Tatsache, dass der Band auf den Seiten 344 bis 393 mehrere Kapitel enthält, in denen ein Aufstieg zum höchsten Gipfel des Elburs-Gebirges beschrieben wird – und dass die vorliegende Abhandlung die zwar nachgefeilte, aber ansonsten wortwörtliche Wiedergabe eines längst gedruckten Textes ist, eine Dublette, ein Klon.
Der Urheber dieser verschmitzten Schummelei sollte die Wiederverwertung seiner Werke fürderhin zur Regel machen. Sein Name: Sven Hedin.
Sven Anders Hedin wurde am 19. Februar 1865, einem Sonntag, in Stockholm geboren und blieb – umrahmt von sechs Töchtern – der einzige Sohn des Architekten Abraham Ludvig Hedin und dessen Frau Anna: ein Liebling der weit verzweigten Familie und gelegentlich wohl auch der Götter – in jedem Fall ein Günstling des Schicksals, dem seine Bestimmung von Jugend an gewiss war.
Seine Memoiren fing er mit den Sätzen an: »Glücklich der Knabe, der schon in den ersten Schuljahren seinen späteren Beruf entdeckt. Dieses Glück war mir beschert. Schon im Alter von zwölf Jahren sah ich mein Ziel ziemlich deutlich vor mir. Meine besten Freunde waren Cooper und Jules Verne, Livingstone und Stanley, Franklin, Payer und Nordenskiöld, besonders die lange Reihe der Helden und Märtyrer in der Geschichte der Polarforschung. Damals war Nordenskiöld auf seiner kühnen Fahrt nach Spitzbergen, Nowaja Semlja und an die Mündung des Jennissei. Ich war gerade fünfzehn Jahre, als er in meine Vaterstadt Stockholm zurückkehrte, nachdem er die Nordostdurchfahrt vollendet hatte.«
Das Spektakel geriet zur Initiation. »Am 24. April 1880 lief die ›Vega‹ in Stockholms ›Strom‹ ein. Die ganze Stadt war illuminiert. Die Häuser rings um den Hafen flammten im Schein unzähliger Lampen und Fackeln. Auf dem Schloss leuchtete in Gasflammen das Sternbild der ›Vega‹. Mitten in diesem Lichtmeer glitt das berühmte Schiff in den Hafen.
Mit meinen Eltern und Geschwistern stand ich auf den Bergen von Södermalm, von wo wir eine beherrschende Aussicht hatten. Größte Spannung hatte mich erfasst. Mein ganzes Leben lang werde ich an diesen Tag zurückdenken; er wurde entscheidend für meinen künftigen Weg. Von Kais, Straßen, Fenstern und Dächern dröhnte donnernder Jubel. ›So will auch ich einst heimkommen‹, dachte ich.
Von nun an vertiefte ich mich in alles, was von Polarfahrten handelte. Ich las alte und neue Bücher über den Kampf um den Pol und zeichnete Karten von jeder einzelnen Expedition. Ich wälzte mich während unserer nordischen Winter im Schnee und schlief bei offenen Fenstern, um mich abzuhärten. Wenn ich erst erwachsen und ausgebildet war und es kam ein wohlwollender Mäzen und warf mir einen Sack voller Goldstücke vor die Füße mit den Worten: ›Such den Nordpol!‹, dann wollte ich mit Leuten, Hunden und Schlitten mein eigenes Schiff besteigen und durch Nacht und Eisfelder geradeswegs auf den Punkt zugehen, wo immer nur Südwind weht.«
Bis zu seinem Tod im Jahre 1952 hat Hedin den gloriosen 24. April 1880 für das Schlüsseldatum seines Lebens gehalten. Mit fünf hatte er noch geschwankt, ob er »Kutscher oder König« werden sollte. Mit fünfzehn aber hatte er sich dann für ein Jointventure der beiden Branchen entschieden: für das des Nationalidols, das irgendwann umbraust von »Vivat!«, »Bravo!« und »Hurra!« im Triumphzug eingeholt wird. So wurde der Beschluss im Besonderen ein Faktor des patriotischen Starkults und im Allgemeinen ein Element jener generellen Orientierung am Heros, die Thomas Carlyle 1841 in seiner Monografie Ueber Helden, Heldenverehrung und das Heldentümliche in der Geschichte anempfohlen hatte.
Dessen ungeachtet war Sven Hedins Favorit der schwedische Romantiker Esaias Tegnér, der 1817 eine Arktis-expedition im Lied besungen und vier Jahre zuvor sein bekanntestes Gedicht geschaffen hatte, Der Held. Darin verkündet der Protagonist in unbeirrtem Vorwärtsstreben:
»Und so geh ich, stets der Gleiche,
Mögen Hass und Lüge toben,
Wie das Schicksal mir bestimmt.«
Rückschauend kommt es einem vor, als pointierten diese Verse in ihrem Stolz und ihrem Trotz – man kann auch formulieren: in ihrem Dünkel und in ihrer Sturheit –, was Hedin seit der Kindheit pausenlos antrieb: das Sendungsbewusstsein, der Ruf, Bravouröses zu leisten, um anderen dadurch zur Leitfigur zu werden, zum Lichtbringer und Aufklärer. Ein Phoibos Apollon in Menschengestalt, der der andächtigen Leserschaft 1898 in Durch Asiens Wüsten, und zwar im zweiten Band Von Kaschgar nach Peking, seinen Beweggrund enthüllte, als er die Empfindungen beschrieb, die ihn eines Abends südlich des Tarim am Lagerfeuer beschlichen: »Alles ist so stumm, so still! Es wäre geradezu unheimlich gewesen, wenn nicht das trockene Holz unter den gierigen Flammen geknistert hätte. Ich kam mir wie ein König vor in diesem Lande, in dem ich jetzt auf einem Eroberungszuge begriffen war. Ich hatte es erobert; es gehörte mir. Ich war der erste Europäer, der diesen unbekannten, vergessenen Boden betrat!«
Das war sein Leitmotiv. Daher wiederholte er in Abenteuer in Tibet 1904: »Mir machte es Vergnügen, so zu reisen und zu wissen, dass ich überall der erste Europäer war, der über diese Berge wanderte, auf denen es keine anderen Pfade als die von wilden Tieren getretenen gibt und man im Boden keine anderen Spuren sieht als die Fährten von Yaken, Kulanen und Antilopen. Das Territorium ist herrenlos, Flüsse, Seen und Berge haben keine Namen, alles gehört mir, es ist für ein paar Monate mein Eigentum, mein eigenes Land.«
Auf die Liebe einer Frau zu verzichten und stattdessen, wie er es 1893 beim Aufbruch zu den Eisklüften des Pamir und den Glutdünen der Takla-makan exerziert hatte, also: dem Locken der Wildnis zu folgen und danach im Stile eines wackeren Prinzen das Schneewittchen hinter den Bergen aus seiner jungfräulichen Unerwecktheit zu erlösen … das war die quasi erotische Motivation von Sven Hedins Vorstoß, die Fremde zu erkennen. Er drückte es in Abenteuer in Tibet – und mit nahezu denselben Wörtern auch andernorts in seinem Œuvre – ähnlich aus: »Es war wie in einem Märchen, in dem der Held durch Feuer und Wasser gehen muss, um seine Braut aus den Krallen des Drachen zu befreien.« Dann schloss er den Bund fürs Leben mit ihr, denn 1910 konnte Sven Hedin seinem deutschen Verleger Albert Brockhaus in einem Postskriptum verraten: »Am 15. August dieses Jahres feiere ich meine silberne Hochzeit mit Asien.«
Solche Verklärung ist die Ursache dessen, dass Hedins Reportagen häufig die Aura des Phantastischen umstrahlt, des Fiktiven und Imaginären, der Utopie. Sie verlieh ihm seinen Nimbus. »Lasst uns froh darüber sein«, rief 1911 der schwedische Professor Fredrik Böök, »dass es uns vergönnt ist, einen der letzten Ritter des Abenteuers mitten unter uns zu haben, einen, der sein Leben in der Wüste für eine Schimäre gewagt hat! Denn mögen auch alle wissenschaftlichen Gesellschaften der Welt Sven Hedin zu ihrem Ehrenmitgliede machen – er hat dem Hitzetod und den Schneestürmen nicht um der Wissenschaft willen getrotzt.«
Der populäre Don Quijote der Moderne gab, was schon stets zur Tarnung taugte, dem dunklen Drange ein lateinisches Signum: »desiderium incogniti«. Und es war diese Sehnsucht nach dem Unentdeckten, dieses Fernweh, dieses Fort-nur-fort-nach-Irgendwo, das bereits den Zwanzigjährigen keine Stunde zögern ließ, als er 1885 das Angebot erhielt, einen Schweden als Gesellschafter nach Baku ans Kaspische Meer zu geleiten.
Dem frisch gebackenen Abiturienten wurde durch solche Offerte das sprichwörtliche Glück des Tüchtigen zuteil. Ihm gemäß begann mit diesem Lehrausflug eine betriebsame Epoche, in der sich Sven Hedin all seine Geltung, all seine Gunst erwarb.
In dem Vierteljahrhundert nach 1885 durchstreifte er Persien und Mesopotamien, studierte er und promovierte er, begab er sich abermals in das Gebiet des Schahinschah und ritt dabei bis in den Dunstkreis Chinas, brach er zu seiner ersten ausgedehnten Expedition nach Asien auf, wurde er von seinem Monarchen geadelt und unternahm er eine zweite und bald noch eine dritte akribische Operation quer durch Asien. Auf ihr explorierte er den Transhimalaja, jenen zu den Wolken aufragenden Felsgürtel im Norden des Himalaja, der in einigen Atlanten auch als »Hedin-Gebirge« ausgewiesen ist.
In denselben fünfundzwanzig Jahren publizierte Sven »von« Hedin unermüdlich Aufsätze, Vorträge und Bücher, darunter Die geographisch-wissenschaftlichen Ergebnisse meiner Reisen in Zentralasien 1894-1897 sowie die auf Englisch zu Papier gebrachte Heptalogie Scientific Results of a Journey in Central Asia 1899-1902 und last, not least die vor Stofffülle berstenden – meist mehrteiligen – Superseller Durch Asiens Wüsten, Im Herzen von Asien, Abenteuer in Tibet, Zu Land nach Indien und Transhimalaja. Sie allein zehn Wälzer!
In dieser Zeitspanne schließlich bis 1910 erreichte er, wovon er an jenem Abend im April 1880 geträumt hatte: Ruhm und Anerkennung. Und obwohl er sich auch künftig an die Spitze mancher Karawane setzte und obschon er bei einem Achtjahresprojekt, der von Peking nach Urumtschi »wandernden Universität«, Chef eines stattlichen Teams war und obzwar er, der Konservative, im Disput der Ideologien wiederholt den Ton angab (sein Spitzname daher »Trompeter«), hatte er den Scheitel seiner Schaffensbahn passiert. Er zehrte von früheren Taten … und – nimmt man alles in allem – immer von deren erster, der Klimax im vorliegenden ersten Band von Durch Asiens Wüsten, der Etappe Von Stockholm nach Kaschgar: Als er sich und seinen Diener Kasim Achun am 5. Mai 1895 vor dem Verdursten mit jenem Labsal rettete, das er in seinen »schwedischen, wasserdichten Stiefeln« herbeitrug.
So wie Stanleys Aufspüren von Livingstone bei Udjidji vorher (»Dr. Livingstone, I presume«) oder Armstrongs Sprung in den Mondstaub nachher (»That’s one small step for a man; one giant leap for mankind«) sollte Sven Hedins Wasserfund am Chotan-darja unvergesslich werden, unverwechselbar – ein Ereignis, das seinen Akteur aus der Wirklichkeit enthob und traumhaft machte … zauberhaft und sagenhaft wie den Recken in einer Dichtung. Wobei die wahrlich »tragende« Gestalt des Ganzen die Legendenbildung selber besorgte.
Blatt 233 in Sven Hedins Reisejournal. Unter dem Datum des 5. Mai 1895 enthält es die berühmte »Stiefel-Szene«. Das schwedische Schlüsselwort »stöflar« ist in der Mitte der fünften Zeiledeutlich zu erkennen.
Fürs Erste notierte Hedin das Vorgefallene – wenn auch in knappen Sätzen, so doch ohne eine Silbe zu streichen oder zu verbessern – nachgerade druckreif in seinem Itinerar unter dem Datum des 5. Mai 1895: »Ich füllte deshalb meine beiden Stiefel bis an den Rand, steckte meinen Stab durch die Enden der Schlaufen und trat eiligst, obgleich nun mit leichten Schritten, meinen Rückweg an, ohne zu rasten.« Damit hatte die Story von Anfang an eine epische Form, die Sven Hedin und – nicht zu vergessen! – seine Verleger sowie Übersetzer fortan nurmehr variierten.
Den Eltern wurde sie am 14. Mai 1895 in einem langen Brief erzählt. Sie war der Höhepunkt in Durch Asiens Wüsten – und zwar in allen Fassungen, den geänderten wie den gekürzten. Sie war Dramatik pur … So fesselnd, dass Albert Brockhaus seinem Autor 1904 zu bedenken gab, ob er nicht im nächsten Werk, Abenteuer in Tibet, jene schreckliche Begebenheit von 1895 ein zweites Mal aufrollen sollte. Was dieser prompt tat – und zwar in allen Fassungen, den geänderten wie den gekürzten. »Ich füllte meine wasserdichten Stiefel bis an den Rand, zog die Strippen über die Enden des Stabes und wanderte in meiner Spur wieder zurück.«
Wie ein Märchen, das stets aufs Neue gelesen und immer noch einmal erzählt wird, verlor die Geschichte »Als Sven Hedin sich selbst und seinen Gefährten vor dem Sterben rettete« nichts von ihrer Spannung. Sie wurde eine Zugnummer – ein gängiger Verschmachtfetzen. Play it again, Sven!
»Ich füllte«, hieß es deshalb 1911 in dem Jugendbuch Von Pol zu Pol, »meine wasserdichten Stiefel bis an den Rand, hängte sie mit den Henkeln an beiden Enden des Spatenstiels auf und kehrte mit dieser Last leichten Schrittes zum Walde zurück.« Die ewige Wiederkunft immer desselben, vorgetragen mit denselben Wörtern, evozierte ein permanentes Déjà-vu, wie es gemeinhin Parabeln bewirken, die Gleichnisse seit Menschengedenken: Allzeit war Odysseus der vielgewandte und Schneewittchen schwarzhaarig wie Ebenholz und Robinson ein Insulaner. Unter ihresgleichen rangierte Sven Hedin als »stöveln«, »der Stiefel«, das heißt: als Ausbund praktischer Vernunft und physischer Belastbarkeit – kurz und bündig: als einer, der sich nicht umbringen lässt.
Noch 1925 erinnerte er in seinen Memoiren Mein Leben als Entdecker an die Heldentat am Chotan-darja, als hätte sie sich gerade eben zugetragen. »Doch worin sollte ich [Kasim] Wasser bringen? Natürlich in meinen wasserdichten Stiefeln; ein anderes Gefäß hatte ich nicht. Ich füllte sie also bis zum Rand, steckte den Spatenstiel durch die Strippen und wanderte leichten Schrittes quer durch das Flussbett zurück.«
Nein, er wurde nicht müde, den Hergang aufzuwärmen: mit Beiträgen in Zeitschriften, mit Auftritten vor angstbebenden Hörerschaften, mit Anspielungen in Büchern und schließlich 1944 mit dem Durchhalteheftchen Im Kampf gegen Wüste und Tod unter Freunden in Nazideutschland: »Ein Gefäß, um Wasser darin zu transportieren, hatte ich nicht, aber meine Stiefel waren wasserdicht. Ich füllte sie bis zum Rand …« Und so weiter. Und so weiter. Ad infinitum. Als unendliche Geschichte.
Was diese Revue eines einzigen Motivs im Œuvre Sven Hedins lehrt, ist neben andauernder Selbstdarstellung die Tatsache, mit welcher Leidenschaft sich der Schwede als Schriftsteller verstand. In der Tat lässt sich gemäß der üblichen Frage, was zuerst da war, die Henne oder das Ei, im Falle Sven Hedins nicht entscheiden, was er vorrangig verkörperte – den Abenteurer oder den Verfasser. Denn immer zog er hinaus, um über seine Erlebnisse zu berichten, und immer berichtete er über seine Erlebnisse, um hinausziehen zu können.
Und war er dann unterwegs, setzte er seine Erfahrungen on location in Nachweise um. Er führte konstant Protokoll und zeichnete fortlaufend Karten, schrieb ohne Unterlass Briefe, malte pausenlos Bilder und speicherte permanent Daten – egal, ob im Sitzen, im Stehen, im Liegen; ob im Freien, in Palästen, in Jurten; ob in Sänften, auf Booten, beim Reiten, egal!
Ein Unheil konnte noch so dräuend sein, eine Gefahr noch so ernst, sein Leben noch so bedroht: Sven Hedin hielt alles fest. »Während der folgenden Tage«, versicherte er in Durch Asiens Wüsten bei der Schilderung seiner Durststrecke durch die Wüste Takla-makan, »machte ich ganz kurze Notizen mit einem Bleistift auf einem zusammengefalteten Bogen Papier. Aber ich versäumte nie, die Kompasspeilungen, die Schrittzahl in jeder Richtung und den Gang der Ereignisse zu notieren. Als ich dann endlich am Ufer des Chotan-darja wieder zur Ruhe gekommen war, war es meine erste Arbeit, diese Notizen in den Einzelheiten auszuführen, solange die Erinnerung noch frisch war.«
Um nach der Rückkehr von seinen Expeditionen – mitten im ebenso lustigen wie lästigen Willkommenstrubel – bei der Erstattung seiner Reporte keine Zeit zu verlieren, hatte Sven Hedin eine Methode entwickelt, die seine publizistische Professionalität energisch unterstreicht. Er teilte nämlich alle Geschehnisse ereigniswarm seiner Familie in Botschaften mit, die von seinem Vater gewissenhaft in Kladden übertragen wurden. Einmal bestand eine Epistel – er nannte dergleichen »Tagebuch in Briefform« – aus hundertvierundneunzig Seiten, ein andermal aus dreihundertzwanzig … »Islam Bai«, heißt es in Im Herzen von Asien, »nahm eine gewaltige Post von mir mit. Ich hatte einen 216 Seiten langen Brief – ein ganzes Buch – an meine Eltern […] geschrieben.« Summa summarum erhielten die Angehörigen in Stockholm von jener Reise ein Konvolut von eintausendfünfhundert Seiten. Wie gesagt: »ein ganzes Buch«.
Es nimmt angesichts solcher Effizienz nicht wunder, dass Sven Hedin seine Manuskripte mit erstaunlicher Schnelligkeit vorlegen konnte – übertrug er doch nur mehr »direkt aus den Tagebüchern, d. h. natürlich stark verkürzt und sprachlich verbessert«. Auf diese Weise konnte es passieren, dass der Anfang eines Textes schon gesetzt wurde, während sein Autor den Schluss noch gar nicht konzipiert hatte.
Mehr fishing for compliments als wirklich zerknirscht entschuldigte er sich im Zusammenhang mit seinem opus magnum Transhimalaja für Flüchtigkeiten, die sein Werk womöglich beeinträchtigt haben: »Und das ist dadurch auch nicht besser geworden, dass ich das ganze Buch in 107 Tagen schreiben musste, deren Stunden überdies noch usurpiert wurden durch mancherlei Arbeit mit Karten und Illustrationen und durch eine weitläufige Korrespondenz mit ausländischen Verlegern.« Hierzu sollte man wissen, dass der Titel, als er Weihnachten 1909 in den Schaufenstern der schwedischen Bücherstuben lag, eintausendzweihundertsiebenundsiebzig großformatige Seiten aufwies – das war das Konzentrat aus sechstausendeinhundert Tagebuchblättern. Doch niemandem war dieses Quantum zu viel. »Transhimalaja«, jubelte Hedin, »wird überall gelesen – diese Popularität ist wunderbar.« Sprach’s und nahm das nächste Großprojekt in Angriff, das Kompendium Von Pol zu Pol. »Wenn es gelingt, bedeutet das einen Absatz von 50 000 Exemplaren pro Jahr durch etwa 25 Jahre.«
In derselben Monumentalität, mit der er seine räumlich und zeitlich ausgedehnten Reisen unternahm, schuf Sven Hedin aus Hunderten von Reisebüchern, Kartenwerken, Zeichnungen, Abhandlungen, Dichtungen, Erinnerungen, Lebensbildern, Streitschriften, Ansprachen, Aufsätzen und Vorwörtern ein Gesamtwerk, das trotz mehrfacher Bemühungen bis dato in seinem Umfang nicht ausgemessen ist – »unexplored« wie einst der Transhimalaja.
Übersetzt wurde es in mindestens fünfundzwanzig Sprachen – darunter vor allem ins Deutsche, wo 1913 zum Beispiel die Anthologie Durch Eiswüsten und Sonnenbrand. Erlebnisse und Abenteuer im dunkelsten Asien sogar in Stenographie, »System Stolze-Schrey«, herauskam.
Der Autor hätte ein reicher Mann werden können; seine Einkünfte bemaßen sich nach heutigem Wert in Millionen. Da sich freilich die Ausgaben für seine Karawanenzüge und seine Publikationen – die nichtpopulären musste er bezuschussen – auf analoge Summen beliefen, verfügte er, als er im hohen Alter mit einem Finanzberater Kassensturz machte, gerade einmal über hunderttausend Kronen.
Aber war ihm je am Erwerb von Gütern dieser Art gelegen? Schon 1907, mitten in seiner dritten Grand Tour, hatte er im asiatischen Irgendwo eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufgestellt und als Resultat eine Lebensregel gewonnen: »Mein ganzes so genanntes Vermögen geht drauf. Aber das tut nichts, besser kann Geld nicht angelegt werden.«
Begonnen hatte Sven Hedin nach einer Mogelei, als er mit einer anderswo gedruckten Arbeit in Halle dissertierte. Und dadurch, dass er den Engländern weisgemacht hatte, er zöge gen Kaschmir, stattdessen jedoch in Tibet eingerückt war, hatte sich Sven Hedin den Gipfel all seiner Erfolge, den Transhimalaja, mit einem Trick erschlossen. Der Satz »Jetzt habe ich mir eine List ausgedacht« untermalte wie ein Grundton seinen ganzen Lebenslauf – eine Karriere, in deren Abenteuer, Entdeckungen und Irrfahrten uns der Schwede durch die Fülle seines Schrifttums wie Teilnehmer mit einbezieht … bis wir uns am Ende als Epigonen des Odysseus fühlen.
Wohl keiner unter uns aber käme deshalb auf den Gedanken, Sven Hedin, den vielgewandten Cicerone, mittlerweile in der Hölle zu wähnen. Eher vermuten wir ihn entrückt bis in den dritten Himmel, dessen pittoreske Sphäre wir dem Dreammaker gönnen. Trotz Dante!
Detlef Brennecke
Durch Asiens Wüsten
In der Geschichte geografischer Entdeckungen gehen wir einer neuen Epoche entgegen, in der die Pioniere ihre Rolle bald ausgespielt haben und in der die weißen Flecke auf den Karten der Kontinente zusammenschrumpfen werden. Wo einst die Pioniere sich unter beständigem Kampfe mit Gefahren und Schwierigkeiten Wege gebahnt haben, die sie dann in großen Zügen schilderten, dort werden die Entdeckungsreisenden des neuen Jahrhunderts eindringen und das überall auf der Erdoberfläche rastlos pulsierende Leben in seinen Einzelheiten untersuchen. Beständig werden sie neue Lücken finden, die auszufüllen, unzählige Probleme, die zu lösen sind.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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