Dürre: Krieger des Lichts - D. K. Berg - E-Book

Dürre: Krieger des Lichts E-Book

D. K. Berg

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Beschreibung

Was, wenn du nicht der sein darfst, der du bist? 2489 – Die Menschheit ließ die Erde vor langer Zeit hinter sich. Auf Terra Nova mit ihren sieben Monden hat sie eine neue, scheinbar friedliche Heimat geschaffen. Jack hat es tatsächlich geschafft. Für eine kurze Zeitspanne darf er zurück auf seinen alten Heimatplaneten. Vieles hat sich in seiner Abwesenheit verändert. Seiner eigenen Identität beraubt, entwickelt sich sein Aufenthalt in der Sternenakademie von Terra Nova zum gefährlichen Drahtseilakt. Ohne es zu beabsichtigen, gerät er erneut in den Fokus der Bruderschaft des Lichts, vor der ihn sein Vater damals beschützen wollte. Als ein Student der Akademie stirbt, überschlagen sich die Ereignisse. Der zweite Band der Sci-Fi-Geschichte um Gefahren, Geheimbünde und ein junges Computergenie, das dem Krieger des Lichts auf die Spur kommen will …

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Trigger Warnung: Häusliche Gewalt, Misshandlung

Impressum: Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Veröffentlicht bei Infinity Gaze Studios AB

1. Auflage/ September 2024

Alle Rechte vorbehalten / © 2024 Infinity Gaze Studios

Texte: © Copyright by D. K. Berg

Cover & Buchsatz: Valmontbooks

Autorenfoto: Maike Vará

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung von Infinity Gaze Studios AB unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.

Infinity Gaze Studios AB

Södra Vägen 37

829 60 Gnarp

Schweden

www.infinitygaze.com

 

D. K. Berg

 

 

 

Dürre

 

Band II

Krieger des Lichts

 

Widmung

 

Für Gudrun und Peter,

die mir Geschichten erzählten

und vorlasen

und so den Grundstein legten

 

- 1 -

 

 

Das gleißende Licht stach Jack in die Augen, als er diese langsam zu öffnen versuchte. Erst nach und nach erkannte er seine Umgebung. Er lag auf dem Rücken in einem weiten Raum, die Fensterscheiben zeigten die grüne, tröstliche Silhouette eines Waldes. Selbst das leise Rauschen der Blätter war zu hören, und das friedliche Zwitschern von Vögeln, die er noch nie gehört hatte. Es roch schwach nach Desinfektionsmittel. Wo zum Teufel war er?

Er versuchte sich aufzurichten, stellte aber zu seiner Verwunderung fest, dass er sich keinen Millimeter bewegen konnte. Panik stieg in ihm auf, als er versuchte, ein Bein, einen Arm oder zumindest seine Hand zu heben, doch außer seinem Kopf schien nichts mehr seinem Willen zu gehorchen. Hinter seiner Stirn pochte ein gewaltiger Kopfschmerz, der fast alles andere überlagerte. Wo war er? Und warum konnte er sich nicht mehr bewegen?

Ein enervierendes Piepsen, das sich in der letzten Minute hektisch gesteigert hatte, half nicht gerade, Jacks Verwirrung aufzulösen. Ein Gesicht schob sich in sein Blickfeld. Es fiel ihm schwer, es auch dort zu behalten. Immer wieder fielen ihm die Augen zu, auch wenn er sich hinlänglich bemühte, sie geöffnet zu halten. Verschiedene Stimmen drangen an sein Ohr, doch sie waren seltsam verzerrt, schienen gedoppelt oder hallten als mehrfaches Echo in seinem Gehirn hin und her. Er schüttelte den Kopf, um ihn klarer zu bekommen, und versuchte erneut, sich zu bewegen.

„Schalten Sie endlich das verdammte Sicherheitssystem ab. Der Junge ist nicht gefährlich.“

Die Stimme kam ihm vage bekannt vor. Plötzlich löste sich der Druck, den er bisher auf seiner Brust verspürt hatte, und mit einem Ruck setzte er sich auf. Im nächsten Atemzug wünschte er, er könnte seine Aktion rückgängig machen. Ihm wurde übel, und der Kopf schien nun wirklich explodieren zu wollen. Er stöhnte leise. Was zur Hölle war bloß passiert?

„Jack? Alles in Ordnung? Was haben die ihm da bloß gespritzt?“

Die Stimme, die sich kurzfristig unangenehm nah an seinem Ohr befunden hatte, schien jetzt wieder irgendwo im Raum zu schweben. Immerhin hörte er sie nicht mehr doppelt. Offenbar schien sich sein Zustand insgesamt allmählich zu verbessern. Wenn nur diese grässlichen Kopfschmerzen nicht wären. Er hielt sich den Kopf mit beiden Händen, um zu verhindern, dass er von seinen Schultern rollte.

„Sie dürfen ihn nicht aufregen, Miss!“

„Sie regen mich auf!“

Die Stimme gehörte zu einem Mädchen, das ganz offensichtlich sehr verärgert zu sein schien. Wegen ihm? Hatte er etwas angestellt?

„Ich bin für ihn verantwortlich, und ich weiß nicht, ob der Aufenthalt hier für ihn gut ist.“

„Er ist hier in den besten Händen, Miss Trusc.“

Trusc? Irgendetwas kam ihm an dem Namen vertraut vor. Er öffnete erneut die Lider. Etwas von seinem Bett entfernt standen eine junge Frau mit langem, rotblondem Haar in einem weißen Kleid und ein Mann mittleren Alters in einem weißen Anzug, der seinen gesamten Körper extrem betonte. Der Junge musterte sie verwirrt. Warum trugen sie nicht die Farben von Luna V? Und dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag.

„Joe?“

Seine Stimme klang hoch und unsicher. Gar nicht wie sonst. Das Mädchen wirbelte auf dem Absatz herum, und keinen Wimpernschlag später stand sie neben ihm.

„Jack! Wie geht es dir? Du warst fast vier Stunden lang bewusstlos. Ist alles in Ordnung?“

„Bis auf die Tatsache, dass mir gleich der Schädel platzt und mir unendlich schlecht ist, geht es mir prächtig“, versuchte er zu scherzen. „Was ist überhaupt passiert? Sind wir schon da?“

„Kannst du dich nicht mehr erinnern? Du bist im Shuttle plötzlich ausgeflippt und hast versucht, es gewaltsam zu verlassen, obwohl wir schon gestartet waren. Du hast uns einen fürchterlichen Schreck eingejagt. Der Sicherheitsdienst hat dich kaltgestellt und dir irgendwas gespritzt, was dich umgehauen hat.“

„Seggi“, mischte sich der Arzt ein. „Genauer gesagt Seobarbital. Ein sehr wirksames Schlafmittel, allerdings mit unangenehmen Nebenwirkungen wie Kopfschmerz und Übelkeit. Wie geht es Ihnen, junger Mann?“

„Wie gesagt, ohne die Nebenwirkungen ginge es mir prächtig.“

Jack schaute an sich herunter. Er war in einen weißen Krankenhauskittel gehüllt. Offenbar war er in einem Krankenhaus auf Terra Nova. Plötzlich packte ihn eiskaltes Grauen. Hastig schlug er die Bettdecke zurück. Der schwarze Metallreif hatte von Gelb auf Grün gewechselt. Offenbar war er nun aktiviert, befand sich aber wohl noch in einem akzeptablen Radius.

„Wo genau sind wir?“ Er blickte den Arzt, soweit es einer war, fragend an. Dieser runzelte die Stirn, als er die Fußfessel am Bein des Patienten bemerkte.

„Im Militärkrankenhaus von Hangar 5. Was hat die Fußfessel zu bedeuten?“ Er machte einen Schritt rückwärts, als ginge von dem Jungen plötzlich eine Bedrohung aus.

„Es ist nicht so, wie Sie denken!“ Joe hob beschwörend die Hände. „Er kommt von Luna V. Sein Onkel hat auf die Fußfessel bestanden, sonst hätte er nicht mitfahren dürfen.“

Der Arzt schien nicht wirklich überzeugt davon. Jack rollte entnervt mit den Augen. Einen besseren Auftakt zu seiner Rückkehr hätte er sich gar nicht wünschen können.

„Sir, mein Onkel ist ein wenig … eigentümlich, könnte man sagen. Er hatte wohl Angst, dass ich hier verloren gehen könnte. Deshalb die Fußfessel. Vergessen Sie das Ding einfach wieder.“

Eine der Schnüre, die den Kittel an Ort und Stelle hielten, hatte sich gelöst. Der Kittel rutschte über seine Schulter und entblößte die Blutergüsse, die noch von der letzten Tracht Prügel herrührten, die Jack bezogen hatte. Augenblicklich war der Arzt abgelenkt und trat wieder näher an den Jungen heran.

„Das sieht aber übel aus“, wagte er zu bemerken.

Sein Patient zog die Augenbrauen zusammen und bemühte sich, den rutschigen Kittel wieder über die Schultern zu ziehen.

„Das ist nichts weiter. Nur ein paar blaue Flecken, Sir.“

„Ein paar ist gut!“

Der Arzt stellte sich hinter den Jungen und versuchte, einen Blick auf dessen Rücken zu werfen. Jack fiel in die Kissen zurück, um dem Arzt weitere Einblicke zu verwehren.

„Eigentümlich, ja?“ Der Arzt sah ihn scharf an. „Wir könnten das behandeln. Binnen ein paar Stunden wäre davon nichts mehr zu sehen.“

Einen Moment war Jack versucht, ihm zuzustimmen. Allerdings hätte er dann vermutlich erklären müssen, was genau passiert war, und das kam auf gar keinen Fall in Frage.

„Offenbar geht es ihm gut, Doktor. Kann er denn nun mit? Er muss zum Metis-Turm.“ Joe klang ungeduldig. Der Arzt blickte zwischen den beiden hin und her.

„Ich muss nur noch ein paar abschließende Untersuchungen machen. Wenn nichts dagegenspricht, könnte er durchaus entlassen werden.“

Jack nickte kurz. Die Kopfschmerzen traten ganz langsam ihren Rückzug an. Auch die Übelkeit hatte nachgelassen. Der Arzt schloss erneut das Sicherheitssystem. Mehrere helle Ringe aus Licht legten sich um Jacks Körper.

„Keine Angst, es tut nicht weh. Der Computer scannt kurz deinen Körper, um mir zu sagen, ob dir sonst noch irgendetwas fehlt“, beschwichtigte der Arzt den Jungen, als dieser sich reflexartig zu bewegen versuchte. Die Lichtreifen unterbanden jede Muskelaktivität.

„Beginne mit dem Scan“, ertönte wieder die freundliche Frauenstimme, die schon im Shuttle vorhanden gewesen war.

„Patient Jack O’Connor. Geboren und wohnhaft auf Luna V. Erziehungsberechtigte Amos und Marguerite O’Connor. Eltern verstorben.“

Jack riss bei den Worten der freundlichen, aber seltsam emotionslosen Stimme die Augen auf. Sein Gesicht wurde aschfahl und er rührte sich nicht mehr. Auch Joe runzelte irritiert die Stirn.

„Wieso…“

„Körpergröße: 173 Zentimeter, Gewicht: 54 Kilogramm – leicht untergewichtig. Puls erhöht: 128. Blutdruck: 150 zu 90“, fuhr die Stimme unbeirrt fort. „Hämatome und verheilende Schnittwunden auf Rücken, Schultern sowie Oberarmen. Wiederholte Gewalteinwirkung. Letzte Einwirkung vor rund fünf Tagen.“

Nun war es der Arzt, der irritiert aufblickte. „Wiederholt?“

„Es klingt schlimmer, als es ist“, sagte der Junge abwesend. Die Computerstimme fuhr weiter mit ihrer Analyse fort.

„Minimal dehydriert. Barbiturate im Blut gemessen: 6%, Tendenz abnehmend. Körper ansonsten in gesundheitlich guter Verfassung. Keine weiteren Krankheitsmerkmale zu finden. Analyse abgeschlossen.“

Die hellen Lichtreifen verschwanden wieder, doch Jack bewegte keinen Muskel.

„Können wir jetzt endlich gehen?“ Joe schaute entnervt zwischen ihrem Freund und dem Arzt hin und her. Dieser musterte den Jungen nachdenklich.

„Irgendwie kommst du mir bekannt vor. Sind wir uns schon mal begegnet?“

Durchdringend sah Jack den Mann an. „Wenn Sie mal auf Luna V waren, Sir, vielleicht.“

Der Arzt schüttelte den Kopf. „Ich habe Terra Nova noch nie verlassen.“

Jack zuckte mit den Schultern und drehte den Kopf weg. Der Typ ging ihm auf die Nerven. Er war müde, obwohl er nach Joes Aussage vier Stunden lang im Land der Träume verbracht hatte. Aber Jammern half nichts. Er wusste nicht genau, ob die Fußfessel einen längeren Aufenthalt im Hangar 5 akzeptierte oder ob sie nur für eine bestimmte Zeitspanne darauf programmiert war, dass er sich hier aufhielt. Eigentlich wollte er es auch nicht wirklich wissen oder darauf ankommen lassen. Er richtete sich wieder auf, peinlich darauf bedacht, dass der Kittel auch dort blieb, wo er war.

„Wenn sonst nichts weiter ansteht, würde ich mich gern anziehen. Allein. Wo sind meine Sachen?“

Joe reichte sie ihm wortlos. Sie hatten auf seinem Seesack gelegen, der für ihn nicht sichtbar am Fuß des Bettes gelehnt hatte.

Joe und der Arzt verließen das Zimmer und der Junge schlüpfte so schnell es ihm möglich war in seine eigenen Sachen zurück. Sie rochen eigentümlich scharf, was Jack auf die K.-o.-Spritze zurückführte. Offenbar hatte er das Mittel nach und nach auch über den Schweiß abgesondert. Er rümpfte die Nase. Bevor er sich entschieden hatte, in seinem Seesack nach frischer Kleidung zu kramen, kam Joe wieder zurück ins Zimmer. Er schaute verärgert auf.

„Hast du schon mal was von Anklopfen gehört?“

Joe verzog schuldbewusst das Gesicht. Dann siegte ihre Ungeduld. „Hab dich nicht so. Ich schau dir schon nichts weg. Der Arzt lässt dich gehen. Auch wenn er ziemlich entschlossen war, herauszufinden, warum du so zugerichtet bist.“

„Du hast ihm hoffentlich nichts gesagt, oder?“ Kurz sah er alarmiert aus. Ihr erstes Gespräch kam ihm wieder in den Sinn. Sie hatte die Behörden verständigen wollen. Joe machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Dafür haben wir keine Zeit. Wir müssen zur Sternenakademie. Und zwar zügig.“

Jack schulterte seinen Seesack. „Dann lass uns keine Zeit mehr verlieren.“

 

 

Eine Weile sprachen sie kein Wort. Joe führte ihren Freund durch scheinbar endlose Flure, die flackernd beleuchtet waren. Hin und wieder warf Jack einen Blick durch die Fenster, welche die öde, rötlich-braune Weite von Terra Nova zeigten. Er war wieder zu Hause! Doch er fühlte sich seltsam leer. Joe kaute gedankenverloren auf ihrer Unterlippe. Ihm war aufgefallen, dass sie das meistens machte, wenn sie etwas massiv beschäftigte. Er wusste, dass sie damit allerdings nicht eher herausrücken würde, bis sie nicht selbst zu einem Ergebnis gekommen war.

Schließlich kamen sie bei einem Fahrstuhl an. Joe drückte einen Knopf und wenige Augenblicke später schnurrten die Türen geräuschlos auf. Sie betraten die Kabine. Joe drückte auf U35, worauf sich die Türen automatisch wieder schlossen. Sie starrten beide auf die geschlossene Tür, während sich der Fahrstuhl leicht vibrierend in Bewegung setzte.

„Warum hast du mich belogen?“ platzte es schließlich aus Joe heraus. Jack schaute sie überrascht an.

„Belogen? Wieso, ich verstehe nicht…“

„Du hast mich von vorn bis hinten beschwindelt! Du bist ein Loonie! Du warst noch nie auf Terra Nova! Gib es zu! Und dein Vater ist auch nicht der Senator! Auch wenn du ihm verblüffend ähnlich siehst und zufälligerweise auch noch den gleichen Nachnamen hast wie er. Ist er ein Verwandter?“ Er starrte Joe an, die sich immer mehr in Rage geredet hatte. „All dein Gerede von deinen Computerprogrammierereien! Und ich bin doch tatsächlich auf dich reingefallen!“

Joe begann, den Jungen mit ihren Fäusten zu traktieren. Sie war wirklich wütend. Jack ließ sie gewähren und rührte sich nicht. Schließlich ließ sie schwer atmend von ihm ab. Sie funkelte ihn böse an, doch ihr Zorn verrauchte, als sie sein Gesicht genauer betrachtete. In seinen Augen lag ein solcher Schmerz, dass sie ihn fast körperlich fühlen konnte.

„Glaubst du wirklich, dass ich mir das alles ausgedacht habe?“

Seine Stimme war sehr leise. Das Summen des Fahrstuhls übertönte sie beinahe. Dann drehte er sich ohne Hast um und ließ seine linke Faust gegen die Kabinenwand krachen. Dort, wo sie getroffen hatte, blieb eine Delle zurück. Das Licht flackerte kurz. Joe sah erschrocken zu dem Jungen hinüber, der sie über seine Schulter durchdringend musterte.

„Du glaubst also, ich bin ein Lügner. Ein Schwindler, der sich das alles nur ausgedacht hat, ja?“

Joe hatte das Gefühl, dass seine Augen grünes Feuer versprühten, und wich vor ihm zurück.

„Aber der Computer hat doch gerade…“ versuchte sie kleinlaut einzuwenden.

„Ach, der Computer? Ja! Der allwissende, niemals lügende Computer!“ Jack lachte bitter auf und drehte sich wieder vollends zu ihr um. „Ich vergaß. Der Computer ist unbestechlich. Er weiß alles. Ach, Joe! Komm schon! Ist dir vielleicht in den Sinn gekommen, dass jemand mein Profil und damit auch meine Herkunft geändert haben könnte?“

„Geändert? Warum um alles in der Welt sollte jemand dein Profil verändern?“

„Woher soll ich das wissen?

„Und vor allem: Wie denn? Das ist nicht möglich!“

„Du hast selbst herausgefunden, dass es möglich ist. Mit meinem Programm, das ich geschrieben habe.“

„Und wozu sollte das bitte gut sein?“

„ICH WEISS ES NICHT!“

Jack brüllte, dass die Kabine erzitterte, und Joe wich noch weiter von ihm zurück, bis sie an die Rückwand des Fahrstuhls stieß. Er fuhr sich mit beiden Händen verzweifelt durch die Haare.

„Joe, bitte! Du bist meine einzige Chance, von Luna V und Onkel Amos endgültig wegzukommen. Ich habe dich nicht belogen. Ich schwöre dir, dass ich der bin, für den du mich bisher gehalten hast. Ich bin hier auf Terra Nova geboren. Auch wenn der Computer etwas anderes behauptet.“

Er blickte sie flehentlich an. Joe biss sich auf die Unterlippe und schielte zu ihm hoch.

„Dann musst du mit deinem Vater sprechen.“

Falls er dein Vater ist, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie war noch nicht völlig überzeugt. Dass man überflüssige und falsche Daten aus dem Strom löschen könnte, leuchtete ihr ja ein. Aber warum sollte jemand Interesse daran haben, dem Sohn des Senators eine andere Identität zu geben? Warum sollte jemand diese Daten absichtlich manipulieren?

„Ich kann nicht mit meinem Vater sprechen“, erwiderte Jack unwirsch.

„Weil du deinem Onkel dein Wort gegeben hast? Mach dich nicht lächerlich!“

„Das auch. Aber darum geht es nicht. Ich kann nicht mit ihm sprechen, weil er gar nicht hier ist!“

Joe starrte ihren Freund entgeistert an. „Was? Wieso? Wie kommst du darauf?“

„Er ist auf Luna V.“

„Machst du Witze? Was für ein Märchen kommt jetzt?“ Joe war drauf und dran, wieder ärgerlich zu werden.

Jack schüttelte unglücklich den Kopf. „Ich wünschte, es wäre so. Deshalb wollte ich bei unserem Abflug wieder aussteigen. Das Raumschiff, das angekommen ist, kurz bevor wir losgeflogen sind, war ein Flottenkreuzer des Hexavirats. Ich bin fast vom Glauben abgefallen, als ich das begriffen habe."

Joes Augen wurden groß. „Dein Vater ist auf Luna V? Jetzt?“

„Ja. Nenn es einfach ein schlechtes Timing.“

Er versuchte zu lächeln, doch mehr als eine angestrengte Grimasse brachte er nicht zustande. Joe runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.

„Wenn das alles wahr ist, was du sagst, dann glaube ich, dass es ein ganz hervorragendes Timing war – von deinem Onkel!“

Jack schaute sie irritiert an. „Von meinem Onkel? Was hat der denn damit zu tun?“

Joe rollte mit den Augen. „Jack, manchmal bist du wirklich naiv! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass dein Vater rein zufällig genau dann auf Luna V aufkreuzt, wenn du dich zufälligerweise gerade auf den Weg nach Terra Nova machst … oder doch? Ein bisschen viele Zufälle, meinst du nicht?“

Der Junge stutzte und schüttelte dann ungläubig den Kopf. „Aber warum sollte er das tun?“

„Nun, zunächst ist dein Onkel sicherlich nicht besonders scharf darauf, seinem Bruder erklären zu müssen, warum er seinem Sohn so zusetzt. Glaubst du im Ernst, dass deinen Vater das kalt gelassen hätte? Ich nicht.“

„Na ja …“, musste er zugeben.

„Als nächstes bestünde die Gefahr, dass sich dein Vater spontan entscheidet, dich aus dem Exil zu holen. Und dein Onkel stünde ohne deine Arbeitskraft ziemlich dumm da. Das will er natürlich vermeiden. Also wählt er das kleinere Übel und entscheidet sich dafür, dass du auf den Austausch mitdarfst. So fehlst du ihm nur zehn Tage und bist dann wieder voll verfügbar. Ich gehe mal stark davon aus, dass dein Vater sich nicht länger als zehn Tage auf Luna V aufhalten wird, bevor ihn seine Geschäfte wieder nach Terra Nova rufen, oder?“

„Vermutlich. Ja.“

„Und dein Onkel muss dich nicht verstecken oder irgendwo einsperren, muss nicht lügen deinetwegen und sich nicht rechtfertigen oder Sonstiges. Schlau eingefädelt.“

„Ich hatte mich sowieso gewundert, dass er seine Meinung plötzlich geändert hatte“, sagte Jack. Er lehnte sich gegen die Kabinenwand und schloss die Augen. Der Fahrstuhl schien zu einer älteren Generation zu gehören, denn er fuhr sehr langsam immer noch in die Tiefe. „Und nun?“ Sein Gehirn war wie leergefegt. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen.

„Meinst du, dass deine Mutter ihn begleitet hat?“

Joe sah ihn fragend an. Jack schlug die Augen wieder auf und suchte ihren Blick.

„Sie begleitet ihn oft, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mit nach Luna V geflogen ist.“

Nicht, nachdem Tante Maggy ihm offenbart hatte, dass sie die Schwester seiner Mutter war und sie ähnlich wie er in der Verbannung lebte. Er kannte seine Mutter. Sie hasste Konfrontationen und ging ihnen lieber aus dem Weg. Wenn etwas zwischen ihr und ihrer Schwester stand, dann würde sie den Weg des geringsten Widerstands wählen und ihr fernbleiben. So schätzte er sie jedenfalls ein. Es sei denn, Onkel Amos hatte es so geschickt eingefädelt, dass sie einfach mitkommen musste, was er aber ernsthaft bezweifelte.

„Dann suchen wir den Kontakt zu ihr. Oder besser gesagt, ich suche ihn. Dein albernes Versprechen enthebt dich ja jeder Anstrengung.“ Joes Stimme triefte vor Ironie.

„Ich habe mein Wort gegeben und dazu stehe ich. Wie würdest du dich fühlen, wenn ich dir etwas verspreche und es bei der nächsten Gelegenheit einfach ignoriere?“ Seine Augen blitzten wütend auf, doch dann schaute er betreten zu Boden. „Ich bin dir zutiefst dankbar.“

Joe winkte ungeduldig ab. „Vergiss es wieder. Das war gemein und dumm von mir.“

Sie lächelte ein wenig unsicher. War er wirklich der, der er vorgab zu sein? Trotz seiner glaubhaften Beteuerung blieb ein kleiner Rest Zweifel, der an ihr nagte.

„Joe, ich muss dir etwas Wichtiges sagen“, hob Jack an. Joe betrachtete ihn neugierig. „Sie hatte mich gebeten, es für mich zu behalten. Aber ich denke, du hast ein Recht darauf, es zu wissen.“

„Was zu wissen? Wer hat dir gesagt, dass du was für dich behalten sollst?“ Joe runzelte die Stirn.

„Wenn du es tatsächlich schaffst, mit meiner Mutter zu sprechen, dann solltest du wissen …“ Er verstummte. Er wusste nicht, wie er es ihr beibringen sollte.

„Was sollte ich wissen? Wenn es wichtig ist, dann musst du es mir sagen!“ Sie packte ihn drängend am Arm.

„Dann solltest du wissen, dass sie deine Tante ist.“

So, jetzt war es heraus. Er hielt den Atem an. Joe kniff verstört die Augen zu Schlitzen.

„Meine Tante? Was soll das jetzt wieder? Langsam habe ich deine Geschichten echt satt!“ Sie ließ ihn ruckartig los.

„Meine Mutter ist deine Tante, so wie deine Mutter meine Tante ist.“

„Meine Mutter ist tot! Sie ist bei meiner Geburt gestorben. Sie kann also gar nicht deine Tante sein, verdammt!“

„Dann hat man dir eine Lüge aufgetischt.“

„Du nennst meinen Vater einen Lügner?“ Joe richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und stieß Jack vor die Brust.

„Wenn dein Vater es dir so gesagt hat, dann ja. Oder er wusste es nicht besser. Das weiß ich natürlich nicht, aber Tante Maggy ist deine Mutter. Sie hat es mir selbst gesagt, und ich glaube ihr, denn du bist ihr doch recht ähnlich.“

Joe öffnete den Mund zu einer scharfen Erwiderung, doch dann überlegte sie es sich anders. Sie dachte kurz nach.

„Das werden wir ja sehen!“

Wie aufs Stichwort kam der Fahrstuhl endlich zum Stillstand und die Türen öffneten sich zu einem schlecht ausgeleuchteten Gang, der in einem fahlen Hellgrün gestrichen worden war, offenbar vor einer sehr langen Zeit.

Jack war noch nie in den Untergeschossen der Türme gewesen. Joe scheinbar schon. Zielstrebig trat sie auf den Flur hinaus und wandte sich ohne ein weiteres Wort nach rechts. Er schulterte seinen Seesack und folgte ihr schweigend. Nach wenigen Schritten öffnete sich der Flur hin zu einem kleinen Bahnsteig. Er tippte darauf, dass es sich um die alte Untergrundverbindung zum Metis-Turm handeln musste. Wie viele Meter waren sie jetzt unter der Erde? Jack verfolgte den Gedanken nicht weiter, denn er bereitete ihm Unbehagen. Er stapfte hinter Joe her, die sich in einigem Abstand zu ihm auf eine Wartebank gesetzt hatte. Eines der Lichter hatte offenbar einen Defekt und flackerte unruhig, sodass ihre Schatten an der Wand rastlos hin und her zuckten. Vorsichtig trat er zu seiner Cousine.

„Joe?“ Sie blickte starr geradeaus und versuchte ihn zu ignorieren. „Joe, bitte!“

„Lass mich in Ruhe!“ fauchte Joe.

Jack senkte den Kopf, trat zwei Schritte zurück und setzte sich dann halb abgewandt von ihr auf den kalten Betonboden. Er ließ den Kopf hängen. Seine Tante hatte recht gehabt. Er hätte es für sich behalten sollen. Erst diese Identitätsgeschichte und nun das. Sie musste ja ihr Vertrauen in ihn verlieren! Er konnte nur darauf hoffen, dass Joe die Enthüllung nach und nach an sich heranließ und ihm Glauben schenkte. Ihm blieb nichts weiter, als abzuwarten. Dumm nur, dass seine Zeit begrenzt war.

 

- 2 -

 

 

Joes Gedanken rasten hin und her. Sie konnte kaum vernünftig über einen nachdenken, schon schob sich der nächste ins Blickfeld und verhinderte, den vorherigen in Ruhe zu betrachten. War Jack der, der er vorgab zu sein? Oder war alles eine große Lüge? Wie die Aussage, dass er ihr Cousin sein sollte und sie mit einem der mächtigsten Männer von Terra Nova verwandt sei? Oder besser mit seiner Frau? Und Maggy sollte ihre Mutter sein? Das war lächerlich! Absurd! Aber warum hatte sie sich dann stets in ihrer Nähe wohl und geborgen gefühlt? Warum hatte ihr Vater ihr vorgemacht, ihre Mutter wäre bei der Geburt gestorben?

So viele Fragen stürmten auf sie ein und sie war außerstande, auch nur eine davon für sich klar und korrekt zu beantworten. Wer war sie, wenn sie die Tochter von Marguerite O’Connor war? War ihr Vater dann überhaupt ihr Vater? Oder war es vielleicht Amos O’Connor? Bei dem Gedanken daran wurde ihr übel. Alles! Nur das nicht! Sie schloss die Augen, als sie einen leichten Luftzug wahrnahm. Die alte Untergrundbahn näherte sich mit Hochgeschwindigkeit. Sie fuhr noch auf Magneten und damit nahezu lautlos. Am liebsten wäre sie sitzen geblieben, doch das ging natürlich nicht. Seufzend öffnete sie die Augen und schaute zu dem Jungen hinüber. Der saß wie ein Häuflein Elend auf dem kalten Boden und schien mit seinen Gedanken ebenfalls weit weg zu sein. Joe stand auf und ging zu ihm hinüber. Sie stupste sanft mit ihrem Knie gegen seine Schulter. Jack schaute zu ihr hoch. Er sah sehr müde und traurig aus.

„Die Bahn kommt. Wir müssen uns für den Einstieg bereitmachen.“

Der Junge nickte wortlos und rappelte sich auf.

„Achtung! Zug fährt ein. Bitte Vorsicht an der Bahnsteigkante!“

Erneut die freundliche Frauencomputerstimme. Joe war noch nie aufgefallen, dass es immer dieselbe Stimme war, egal ob im Shuttle, im Krankenhaus oder jetzt hier. Früher war ihr das nie bewusst geworden.

Die Türen öffneten sich, aber niemand stieg aus. Der Zug war bis auf zwei weitere Passagiere leer. Joe richtete ihr Gesicht auf ein Augenlesegerät und ließ sich scannen.

„Joanne Trusc. Wohnhaft in der Sternenakademie, Metis-Turm. Einfache Fahrt.“

Jack zögerte, doch dann verzog er entschlossen das Gesicht und ließ sein Auge ebenfalls scannen.

„Passagier Jack O’Connor. Wohnhaft auf Luna V. Keine weiteren Daten gespeichert. Passage kann nicht erteilt werden.“

Für Jack war das ein erneuter Tiefschlag. Er war eindeutig nicht auf Terra Nova existent. Er stöhnte leise auf. Joe bedachte ihn mit einem prüfenden Blick. Dann ließ sie sich ein zweites Mal scannen.

„Übernehme für Passagier Jack O‘Connor“, teilte sie dem Computer mit.

„Zwei Fahrten werden für Joanne Trusc berechnet.“

Sie musste daran denken, Professor Beelaird zu fragen, wie das mit der Kostenabrechnung funktionieren sollte.

Sie nahmen auf den nächsten freien Sitzen Platz. Die beiden anderen Passagiere schienen sie nicht weiter zu beachten. Das Innere des Zuges war in diffuses, gelbes Licht getaucht, das aber nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass der Zug eindeutig schon bessere Zeiten gesehen hatte. Die Sitze waren abgewetzt, die Haltestangen abgegriffen, die Wände mit Schmierereien überzogen. Die meisten Wechselglasscheiben waren gesprungen und zeigten in unruhigen Brüchen verschiedene blasse Naturszenen, Werbung und Nachrichten. Es machte einen ungemütlichen Eindruck.

Jack konnte verstehen, warum Joe es vorgezogen hatte, ein Zimmer im Metis-Turm zu beziehen, als hier drin zweimal während eines Tages auch nur für kurze Zeit eingesperrt zu sein. Er fragte sich, ob seinem Vater bekannt war, in welch erbärmlichem Zustand sich dieser Zug befand. In seinem Turm hatte Aaron O’Connor als Bürgermeister sehr darauf geachtet, dass alles immer peinlichst sauber und in tadellosem Zustand war. Die teuren Maßnahmen hatten sich allerdings bewährt, denn laut Statistiken war es im Zephyr-Turm deutlich seltener zu Krankheits- und Unfällen gekommen. Auch zu Hause hatten Ordnung und Sauberkeit einen hohen Stellenwert eingenommen. Sein Vater hasste es, wenn etwas unnötig herumlag. Das schien in der Familie zu liegen, denn Onkel Amos hatte einen ähnlichen Ordnungsfimmel.

 

 

Während der nächsten halben Stunde sprachen sie kein einziges Wort miteinander. Jack wurden die Augenlider immer schwerer. Dass er so früh am Morgen erwacht und aufgestanden war, forderte jetzt seinen Tribut, und er nahm an, dass er noch immer etwas von diesem Seggie im Blut hatte. Das diffuse Licht und die flackernden Bilder steigerten wieder seine Kopfschmerzen. Er musste dringend etwas trinken. Seine Zunge klebte am Gaumen. Die beiden Passagiere hatten insbesondere ihn beim Aussteigen scharf gemustert, zum Glück aber nicht angesprochen. Er nahm an, dass es an seiner Luna V-Kleidung lag, die ihn ausgrenzte. Jetzt, bei der Endhaltestelle, waren sie wirklich die einzigen, die noch im Zug saßen. Joe saß in sich gekehrt auf ihrem Platz und spielte ununterbrochen an einer ihrer Haarsträhnen. So offen hatte sie ihre Haare auf Luna V nie getragen. Vermutlich hatte sie instinktiv gespürt, dass es unschicklich für Frauen war, wenn sie ihr Haar lang und offen trugen. Auf Terra Nova gab es keine wirkliche Kleiderordnung, wenn die Kleidung nur weiß war.

Der Zug kam leise vibrierend zum Stehen. Joe erhob sich und wandte sich Richtung Ausgang. Die Türen öffneten sich und Jack zuckte zurück. Der große, helle Vorplatz war gestopft voll mit Menschen. Vornehmlich Studenten, die sich entweder schneller oder langsamer, allein oder in Gruppen von links nach rechts oder andersherum bewegten. Manche standen lachend und diskutierend zusammen und erörterten irgendwelche Theorien oder die letzte Studentenparty. Es war ein schreckliches Durcheinander.

Am liebsten wäre er einfach im Zug sitzen geblieben. Er hatte schlicht vergessen, wie es war, unter so vielen Menschen zu sein. Joe packte ihn ärgerlich am Ärmel und zog ihn hinaus in das gleißende Licht. Zwischen all dem Weiß fiel seine Kleidung auf, wie das Knallrot der Strafgefangenen zwischen all dem Gelb und Grün auf Luna V. Er drückte seinen Seesack gegen seine Brust, als wollte er dahinter Schutz suchen. Seine Ruhe, die er sonst ausstrahlte, war wie weggewischt. Joe erkannte Panik in Jacks Gesicht und fasste kräftiger zu.

„Es ist alles in Ordnung. Kein Grund, nervös zu sein.“

Immer mehr Augenpaare richteten sich auf das eigentümliche Paar am Eingang der Halle. Jack schoss das Blut ins Gesicht und er blickte zu Boden. Hier und da begannen die Leute zu tuscheln. Manche zeigten auch unverhohlen auf ihn. Joe ergriff seine Hand und zog ihn durch die Menge zu den Aufzügen. „Ich bringe dich jetzt zu deinem Zimmer. Dort kannst du dich frisch machen, während ich probiere herauszufinden, wo die anderen stecken, ja?“

Statt zu antworten, nickte Jack nur wortlos und ließ sich willenlos von ihr mitziehen. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er fühlte, wie ihm die Panik die Luft abzuschnüren begann, und versuchte, ruhig und regelmäßig zu atmen, aber selbst das fiel ihm schwer. Joe arbeitete sich indes zum Innern des Turmes vor, wo sich die Aufzüge befanden. Schließlich erreichten sie den Fahrstuhl, der sie direkt und ohne Unterbrechung zu den Studentenzimmern brachte. Sie suchte zunächst ihr eigenes Zimmer auf, in der Hoffnung, dort auf Carry zu treffen.

Als sie das Zimmer betrat, warteten nur ihre Koffer auf sie. Jack wusste nicht, ob er vor dem Zimmer warten sollte, und blieb abrupt stehen. Joe sah sich verständnislos nach ihm um. Dann dämmerte ihr, dass der Junge bestimmte Umgangsformen nutzte, die für sie nicht unbedingt verständlich waren. Hereingebeten zu werden, gehörte wohl offensichtlich dazu.

„Komm rein!“

Ungeduldig winkte sie ihn zu sich. Jack trat zögernd ein und schloss die Tür hinter sich, bevor er sich dagegen lehnte. Er war ganz blass.

„Ich hätte nie gedacht, dass es mir mal etwas ausmachen würde, unter so vielen Menschen zu sein“, seufzte er erleichtert. Joe hatte inzwischen ihren Komm gefunden.

„Aktivieren. Nachrichten abrufen!“ Es war so schön, wieder ein Stück Technik in der Hand halten zu dürfen!

„Es ist eine Nachricht vorhanden.“

„Abhören.“

Miss Trusc, bitte melden Sie sich bei mir, wenn Sie und Mr. O‘Connor an der Sternenakademie eingetroffen sind. Beelaird, Ende.

„Nachricht speichern?“, wollte die Computerstimme wissen.

„Nein, Kontakt kontaktieren.“

Jack beobachtete sie reglos. Der Komm summte und blinkte dann grün.

„Professor Beelaird spricht.“ Die Stimme des Professors klang klar durch den Raum, als stünde er hinter Joe.

„Hallo, Professor Beelaird. Hier ist Joanne Trusc. Ich bin mit Jack O’Connor jetzt im Metis-Turm. Ist sein Zimmer fertig?“

„Zimmer? Sie haben mir keine Nachricht gegeben, dass Sie ein Zimmer benötigen. Daher bin ich davon ausgegangen, dass Mr. O’Connor bei Ihnen zu Hause unterkommt.“

„Ich bin mir absolut sicher, dass ich Ihnen eine Nachricht bezüglich eines Zimmers gesendet hatte“, widersprach Joe. „Hat Sie diese nicht erreicht?“

„Offenbar nicht. Das könnte jetzt etwas schwierig werden. Wir treffen uns heute gegen 20:00 unten in der Mensa zu einem gemeinsamen Abendessen. Wir können dann dort alles Weitere besprechen.“

„Aber er braucht einen Schlafplatz! Wer übernimmt eigentlich die Kosten, die entstehen werden? Immerhin müssen unsere Gäste ja etwas essen, und ich bin mit Jack in der Bahn hergekommen. Da er nicht auf Terra Nova verzeichnet ist, konnte er natürlich nicht gescannt werden.“

„Wir werden eine kurzfristige Lösung finden, da bin ich sicher. Die Kosten werden von der Akademie getragen. Wir werden Ihnen zu Beginn des Semesters die angefallenen Kosten zurückerstatten. Sie müssen jetzt allerdings in Vorkasse treten. Das ist logistisch leider nicht anders lösbar. Wie geht es Mr. O’Connor? Hat er den kleinen Zwischenfall gut überstanden?“

„Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Allerdings hätte ich gern für ihn direkt ein Zimmer gehabt, denn er ist müde und würde sich gern ein wenig ausruhen. Nun, ich werde mir etwas ausdenken. Ist Carry Andrews bei Ihnen?“

„Nein, sie ist mit ihrer Briefpartnerin auf Erkundungsgang durch den Turm. So wie die meisten. Ruhen Sie sich etwas aus. Wir sehen uns heute Abend. Das Essen geht auf Kosten der Akademie.“

„Danke, Professor! Bis später! Kontakt trennen.“

„Also kein Bett für mich, wie?“ Jack lächelte schief.

Joe wies auf Carries Röhre. „Du kannst erstmal in ihrer Röhre schlafen. Ich glaube nicht, dass Carry etwas dagegen haben wird.“ Sie erinnerte sich an Carries schmachtenden Blick, den sie Jack auf dem Treffen im Schulhaus zugeworfen hatte. Sicherlich wäre sie entzückt, wenn sie erfuhr, dass der Farmersjunge ihre Decken zerwühlt hatte.

„Willst du dich frisch machen?“ Joe wies auf das Bad.

Jacks Augen leuchteten auf. Eine Dusche! Eine warme Dusche! Konnte es etwas Wundervolleres geben? Jetzt, in diesem Augenblick? Er nickte. „Gern.“

„Da wir in den letzten zehn Tagen nicht hier waren, ist alles gründlich gereinigt worden. Es ist alles frisch. Bediene dich einfach an den Handtüchern und was du sonst noch so brauchst.“

Jack zog seine Schuhe aus und stellte sie ordentlich neben die Röhre. Joe beobachtete ihn amüsiert. Carry hatte die Angewohnheit, alles auf dem Boden und auf den umliegenden freien Plätzen zu verteilen. Er suchte aus seinem Seesack eine frische Montur heraus und verschwand im Badezimmer.

Joe starrte ihm hinterher. Es war merkwürdig, mit ihm hier zu sein. So perfekt er auf Luna V ins Bild gepasst hatte, so deplatziert kam er ihr nun vor. Ob er wirklich die Wahrheit sagte? Derzeit sah es nicht so aus. Oder lag es wirklich daran, dass ihn das gefälschte Profil zu einem Außenseiter machte und er durch die lange Zeit auf der einsamen Farm einfach verlernt hatte, wie man mit vielen Menschen umging? Ihr Kopf wehrte sich gegen diesen Gedankengang und hielt sich hartnäckig an den nackten Tatsachen fest, die ihn zu einem Lügner abstempelten, doch ihr Bauchgefühl hegte leise Zweifel, die sie nicht ignorieren konnte. Sie hatte ihn in der kurzen Zeit wirklich in ihr Herz geschlossen, und das lag nicht nur an seinem traurigen Los, welches er mit seinem Onkel gezogen hatte. Seine gesamte Art gefiel ihr. Wie er sich immer um sie gekümmert hatte. Wenn das auch alles zu seinem Plan gehörte? Sie seufzte. So kam sie nicht weiter. Sie würde ihn weiter beobachten und dann eine Entscheidung treffen müssen. Sie klappte ihren Koffer auf und begann ihre Kleider zu sortieren. Das meiste würde sie in die Wäscherei geben. Denn auch wenn Maggy alles gewissenhaft gereinigt hatte, beschlich sie doch das Gefühl, dass die Kleider besser noch einmal durch die Waschmaschine liefen.

 

 

Jack stand nackt in der Mitte des für ihn gewaltigen Badezimmers. Die Tür hatte er zur Sicherheit hinter sich abgeschlossen, sodass er sicher sein konnte, dass es zu keinen peinlichen Zwischenfällen kommen würde. Er starrte in den großen Spiegel, der ihn bis zur Hüfte zeigte. So deutlich hatte er sich lange nicht mehr selbst gesehen. Er war verblüfft, wie sehr er sich verändert hatte. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er sich selbst für einen Fremden gehalten. Langsam drehte er sich hin und her und genoss das Licht- und Schattenspiel seiner Muskeln. Als sein Blick auf ein Spiegelbild schräg hinter ihm fiel, erstarrte er kurz.

Es war das erste Mal, dass er wirklich das Ausmaß eines Tribunals mit eigenen Augen sehen konnte. Nun wurde ihm klar, warum Silas blass geworden war, als er im Büro seines Onkels auf sein Geheiß hin die Tunika hatte ausziehen müssen. Große Hämatome in unterschiedlichen Blaufärbungen liefen kreuz und quer über den gesamten Rücken. Hier und da fanden sich auch grüne, gelbe und braune Flecken, die von älteren Hieben stammten. Vereinzelt schimmerten grellrote Linien, wo der Gürtel vor etwas mehr als einer MK die Haut aufgerissen hatte und nun alles langsam verheilte. Es sah wirklich beängstigend aus.

Zehn herrliche Tage würde er sich nicht vor weiteren Tribunalen fürchten müssen. Wenn sich von den Studenten niemand mit ihm anlegen wollte, hätte er Zeit genug, um zu regenerieren. Die Aussicht erfüllte ihn mit purer Freude. Aufmerksam sah er sich im Badezimmer um. Es war nicht mit dem Bad im Apartment seiner Eltern zu vergleichen, aber trotzdem für seine Begriffe sehr luxuriös ausgestattet.

Die beiden großen Spiegel ermöglichten es, sich sowohl von vorn als auch von hinten zu betrachten. Er grinste kurz. Offenbar war das für Frauen etwas Elementares. Seine Mutter hatte auch zwei Spiegel besessen, die sich fast gegenüberstanden. Früher hatte es ihn fasziniert, wie sich die gegenseitige Spiegelung im Unendlichen verlor, wenn man sie genau gegenüber aufstellte. Im Bad seiner Eltern hatte es zusätzlich zu der großzügigen Komfort-Dusche noch eine Badewanne gegeben, die gern genutzt wurde, wenn ein Familienmitglied an einer Erkältung litt. Denn trotz der fortschrittlichen Medizin, die mit der auf der Erde schon seit langem nicht mehr vergleichbar war, war einer Erkältung noch immer nicht wirklich beizukommen. Er erinnerte sich an die unterschiedlichen Düfte, die man dem Wasser zugeben konnte, und inspizierte vorsichtig, welche Funktionen die Dusche aufwies. Es dauerte etwas, bis er sich zurechtgefunden hatte. Sie besaß eine Sprachsteuerung, wie er wenig überrascht feststellte. Nur, welche Programme beinhaltete sie? Fast war er versucht, Joe zu fragen, doch dann hätte er sich wieder anziehen müssen. Das erschien ihm dann doch zu umständlich.

„Wasser an“, sagte er.

Der heiße Wasserstrahl kam so überraschend, dass er erschrocken zur Seite sprang. „Temperatur runter! Mindestens zehn Grad!“ Er hielt seine Hände unter den harten Strahl. Erstaunlich, dass die Mädchen so eine harte und vor allem heiße Dusche bevorzugten. „Wasserdruck runter. Regendusche an.“

Jetzt kam er der Sache schon näher. Vorsichtig schob er sich in den warmen Regen. Dampfschwaden verbreiteten sich im Bad. Er schloss die Augen und ließ das Wasser über sein Gesicht und seinen Körper rinnen. Das Gefühl, welches ihn dabei übermannte, war fast nicht zu ertragen. Er stützte sich mit den Händen an der Wand ab und ließ das Wasser sanft auf seinen Rücken trommeln. Es war ein wenig unangenehm, aber auszuhalten. Eine ganze Weile stand er unbeweglich da und gab sich seinen Emotionen hin. Seine Tränen vermischten sich mit den Wassertropfen, die ihm stetig über das Gesicht liefen. Niemand würde sehen, dass er weinte.

Er war mit so viel Hoffnung hierhergekommen, und nun entwickelte es sich zu einem totalen Albtraum. Er war praktisch nicht mehr existent! Zumindest nicht hier. Er war sicher, dass er im Datenstrom nichts mehr über sich finden würde. Als hätte es ihn nie gegeben. Irgendwer hatte ihn komplett gelöscht. Aber er war hier! Er musste dringend mit seiner Mutter sprechen. Von ihr erhoffte er sich Antworten, aber wie sollte er sie kontaktieren? Er kam aus dem Turm nicht raus. Jedenfalls noch nicht, und Joe konnte nicht einfach so zu ihr ins Apartment spazieren. Dann fiel ihm etwas ein. Wenn er Glück hatte, dann gab es vielleicht doch eine Möglichkeit. Das konnte er jedoch nur überprüfen, wenn er sich in den Datenstrom einklinkte.

„Seifenschaum.“

Sofort spritzten aus allen vier Ecken der Duschkabine feine Seifenstrahlen, während das Wasser deutlich reduziert wurde. Sie duftete leicht süßlich. Nun, er würde damit leben müssen. Immerhin war das eine Damendusche. Was hatte er auch anderes erwartet. Er seifte sich erneut gründlich von Kopf bis Fuß ein. Dass er sich an einem Tag gleich zweimal so gründlich gereinigt hatte, war lange nicht mehr vorgekommen.

„Seifenschaum aus.“

Sofort erhöhte sich der Wasserdruck wieder, während die Duschecken so unschuldig wirkten, als würden sie nur die Kabinenwände zusammenhalten. Jack wusch sich sorgfältig den Seifenschaum vom Körper.

„Wasser aus“, sagte er, und in seiner Stimme lag ein wenig Bedauern. Sofort versiegte der Wasserfluss. Das gesamte Bad hatte sich in eine Dampfsauna verwandelt. Wasser, das sich an den schillernden Fliesen abgesetzt hatte, lief daran hinunter wie ein Tränenmeer und sammelte sich auf dem Fußboden. Dieser war seltsam rau und unterband so die Gefahr, dass er ausrutschte. Er griff sich ein großes Handtuch und trocknete sich vorsichtig ab. Die Spiegel waren erstaunlicherweise nicht beschlagen. Sein Spiegelbild starrte ihn trotzig an. Wasser tropfte ihm aus den Haaren. Er sah ein wenig aus wie einer der alten Wassergeister, die der Sage nach auf der Erde beheimatet gewesen sein sollten. Ein energisches Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken.

„Nun beeil dich endlich mal! Ich will mich auch noch frisch machen!“

Jack zuckte schuldbewusst zusammen. „Ja, ich bin gleich fertig! Nur noch zwei Minuten!“

Schnell schlüpfte er in seine frischen Kleider und rubbelte seine Haare trocken. Die weißen Kacheln unterstrichen seine scheinbar farbenfrohe Kleidung noch zusätzlich. Er seufzte. Auf Luna V war ihm das nie so sehr aufgefallen wie jetzt hier. Er räumte seine wenigen Habseligkeiten wieder zusammen. Bis auf die Feuchtigkeit erinnerte nichts daran, dass er hier gewesen war. Schließlich trat er aus dem Bad. Joe betrachtete ihn kritisch von oben bis unten.

„Bist du mit der Dusche zurechtgekommen?“

Er war sich nicht sicher, ob sie herausfinden wollte, ob er tatsächlich von hier stammte. Jeder Loonie wäre vermutlich ohne Einweisung verloren gewesen. Er lächelte leicht und nickte.

„Ich musste die Einstellung etwas verändern. Ich bin so heißes Wasser nicht mehr gewohnt. Der Massagestrahl war mir zu hart.“

Joe grinste frech. „Weichei!“

Damit verschwand sie im Bad, ehe er etwas darauf erwidern konnte. Kurz blieb er zögernd stehen und sah sich im Zimmer um. Direkt am Fenster standen zwei gegenüberliegende Arbeitsplätze. Wie magisch angezogen steuerte Jack darauf zu. Direkt in den Tisch eingelassen war eine große Tabletstation. Joe hatte sie offenbar schon aktiviert, wie er erkannte. Er setzte sich und klinkte sich in den Datenstrom ein. Seine Finger glitten zunächst etwas unsicher über die Oberfläche. Er stellte fest, dass in den drei Jahren die Oberflächenberührung noch sensibler geworden war. Ein paar Anwendungsschritte hatten sich ebenfalls verändert, und er musste eine Weile nachforschen, bis er sich wieder zurechtgefunden hatte. Das hielt ihn allerdings nicht lange auf. Irgendwie war es wie Jetfahren. Hatte man es einmal erlernt, kam es einem nie wieder abhanden. Seine Finger begannen in einem abgehackten Stakkato über die Wischtastatur zu fliegen. Er rief Bilder auf, zoomte sie heran und verwarf sie nach kurzer Ansicht wieder. Er flog über Berichte und wusste doch selbst nicht genau, was er eigentlich suchte oder zu finden glaubte.

 

 

Joe wusste nicht, was sie erwartet hatte, im Bad zu entdecken. Bis auf die schon leicht abgetrocknete Feuchtigkeit konnte sie keinen Hinweis darauf bemerken, dass Jack in irgendeiner Art Schwierigkeiten gehabt hätte. Ein Loonie wäre doch wohl nie im Leben allein hier zurechtgekommen. Vielleicht sagte er ja tatsächlich die Wahrheit und war der, für den er sich ausgab?

Sie zuckte ungeduldig mit den Schultern. Vor allem wollte sie jetzt eines: duschen und sich den Schmutz der letzten zehn Tage vom Leib spülen.

„Wasser an“, forderte sie und quiekte Sekunden später auf. Wie konnte der Kerl nur so kalt duschen! Sie erschauerte.

„Wassertemperatur rauf! Um zehn Grad langsam erhöhen!“ Der sanfte Regenfall konnte ihretwegen erst einmal bleiben. Es war herrlich, sich nach dieser endlosen Katzenwäsche endlich wieder wirklich sauber zu fühlen. Sie genoss den Seifenschaum auf ihrer Haut und wusch ihre langen Haare gründlich aus. Die Zivilisation hatte eindeutig ihre Vorteile.

Nachdem sie sich mit einem Handtuch abgerieben und ihre Haare getrocknet hatte, schlüpfte sie ebenfalls in saubere Wäsche. Sie kam sich rundherum erfrischt vor und voller Tatendrang. Bis 20:00 hatten sie noch reichlich Zeit. Vielleicht gelang es ihnen ja, direkt Kontakt zu Isabelle O’Connor aufzunehmen.

Als sie die Tür zum Zimmer öffnete, registrierte sie den Jungen am Arbeitstisch. Das gab ihr die letzte Bestätigung, dass es mit Jack O’Connor mehr auf sich haben musste. Als Loonie hätte er sich niemals an den Computer gesetzt. Es war ihre letzte Prüfungsmöglichkeit gewesen, um sich selbst zu überzeugen, dass er der Terra war, der er behauptete zu sein. Somit hatte sie vorausschauend den Zugang zum Datenstrom hergestellt. Sie konnte an seiner Haltung erkennen, dass er offensichtlich etwas gefunden hatte. Zeitgleich bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Jack saß völlig reglos da. Sie stellte sich leise hinter ihn und schaute über seine Schulter. Es war nur eine kleine Notiz, die in einer der lokalen Online-Gazetten erschienen war.

 

Senatoren-Sohn verstorben

Senator Aaron O’Connor betrauert den Verlust seines Sohnes, der überraschend vergangenen Montag, 7.MK, 6.SU 2486 verstarb. Die Trauerfeier wird im engsten Familienkreis stattfinden.

 

„Van Gulden hatte Recht, als er sagte, ich sei tot“, sagte Jack, der Joes Anwesenheit nun auch bemerkt hatte. Joe runzelte kurz irritiert die Stirn, doch dann fiel ihr wieder ein, was Vincent auf dem Schulhof über ihn gesagt hatte.

„Aber ich sehe den Sinn, der dahintersteckt, nicht“, widersprach sie. „Wer hätte etwas davon, wenn alle Welt glaubt, du wärst gestorben?“

Jack zuckte mit den Schultern und schüttelte abwehrend den Kopf. „Woher soll ich das wissen? Ich bin ja offenbar der Letzte, der mitbekommen hat, dass ich ins Gras gebissen habe“, stellte er sarkastisch fest. Er ließ seine Finger erneut über die Oberfläche gleiten. Dann verengte er die Augen.

„Merkwürdig. Diese Nachricht ist die Einzige, die ich dazu finden kann. Fast so…“

„… als hätte sie jemand einfach nur eingefügt. Fürs Protokoll, sozusagen. Für den Fall, dass mal jemand nachforschen sollte, richtig?“ beendete Joe seine Überlegungen.

„Genau. Jemand, der das System nicht anzweifelt, wird hier den Beweis meines Todes sehen und mit der Gewissheit weiterleben, dass dem auch wirklich so ist.“

„Dann hätte dich jemand aber sehr gut versteckt.“

„Versteckt? Wie meinst du das?“ Jack war sich nicht sicher, ob er Joes Erklärung wirklich wissen wollte.

„Wenn jemand will, dass du nicht auffindbar bist, ist es am einfachsten, dich für tot zu erklären. Nach Toten sucht man nicht, denn sie sind eben tot und bringen dir nichts mehr. Außer Scherereien vielleicht. Somit wärst du perfekt verborgen, wenn niemand wüsste, dass du stattdessen auf Luna V weilst.“

Jack musste wieder an die merkwürdige Ankunft damals vor mehr als drei Jahren auf dem Mond denken. Es war ihm immer eigenartig vorgekommen, dass weder eine Eskorte dabei gewesen noch ein offizieller Landeplatz angesteuert worden war.

„Aber deine Tarnung wird spätestens jetzt auffliegen.“

„Nicht unbedingt. Laut Computer komme ich von Luna V, nicht von Terra Nova. Der Sohn des Senators ist ein Terra, schon vergessen?“

„Und du hast vergessen, wie ähnlich du deinem Vater siehst! Du bist eine junge, wenn auch rothaarige Kopie von ihm.“

„Eine Laune der Natur?“ Jack versuchte zu scherzen, aber Joe lachte nicht.

„Wem es auch immer wichtig war, dich aus der Schusslinie zu nehmen, sein Plan geht nicht mehr auf. Ich denke, wir müssen sehr vorsichtig sein. Vincent hat dich erkannt. Vergiss das nicht. Die anderen könnten wir vielleicht täuschen. Ihn aber nicht … und sein Vater sitzt im Hexavirat.“

„Vincent hat mich vielleicht erkannt, aber ich habe es nicht bestätigt. Vielleicht kann ich ihn verwirren. Sollte eigentlich nicht so schwierig sein. Wenn ich mich richtig erinnere, dann konnten sich mein Vater und Senator van Gulden nicht wirklich leiden. Ich kann mich aber auch irren. Ich war damals noch zu jung, um mich ernsthaft damit zu befassen. Ich hatte maßgeblich meine Programme im Kopf.“

„Ein echter Nerd eben“, sagte Joe und grinste.

„Besser ein Nerd als ein Idiot“, erwiderte Jack ernst.

„Und was jetzt?“

„Ich werde versuchen, mit meiner Mutter in Kontakt zu treten.“

„Und wie?“

„Mal sehen, ob es ihren alten Account noch gibt. Früher haben wir uns hier Nachrichten geschickt.“

Der Junge begann erneut über die Benutzeroberfläche zu fahren. Joe hatte sich immer für schnell gehalten. Bei Jack kam sie allerdings kaum mit. Zwischendurch brummte er seltsame Abkürzungen, auf die der Computer in ihren Augen höchst eigenartig reagierte. Jacks Gesichtsausdruck wurde immer finsterer. Mit einem Mal schlug er wütend auf das Tablet und sprang entnervt auf. Joe beobachtete, wie er wie ein Tiger im Käfig auf- und abschritt und sich die Haare raufte. Erstaunlicherweise erinnerte er sie in diesem Moment stark an seinen Onkel.

„Der verdammte Account ist gelöscht. Einfach nicht mehr da!“

„Na ja, was erwartest du auch?“ wagte Joe vorsichtig einzuwenden. „Immerhin bist du offiziell tot. Warum sollte sie ihn dann noch behalten?“

„Keine Ahnung! Aus nostalgischen Gründen vielleicht?“ Jack war jetzt wirklich wütend. „Sie hat gewusst, dass es nicht wahr ist. Warum hat sie ihn nicht behalten?“

„Vielleicht wurde oder wird sie ja beobachtet. Spionageprogramme gibt es doch wie Sand am Meer, oder?“ Er stoppte mitten in der Bewegung und fuhr sich müde über das Gesicht.

„Also schön. Gehen wir den offiziellen Weg.“

Joe schüttelte den Kopf. „Das dauert zu lange. Bis ich da vorsprechen kann, bist du längst wieder auf Luna V.“

Oder sonst wo, fügte sie mit einem unangenehmen Gefühl in der Magengegend in Gedanken hinzu. Sie setzte sich hin und versuchte, Informationen zum Senator und seinen Terminen zu finden.

„Das klingt interessant. In zwei Tagen spricht Mrs. O’Connor auf einem Kongress zur Förderung der Schulbildung von Basic People Kindern.“ Eine Weile betrachtete sie das Konterfei seiner Mutter. „Sie ist hübsch.“

„Ja. Ich weiß. Sie sieht dir im Übrigen ähnlich“, fügte Jack beiläufig hinzu.

Joe betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen, sagte aber nichts. Stattdessen begann sie, Informationen zusammenzusuchen, die ihre eigene Person betrafen. Sie fand nichts, was seine Theorie untermauert hätte. Oder negiert. Überraschenderweise fand sie auch nichts über Marguerite Vallée. Es war, als würden Menschen in Jacks Familie einfach verschwinden, wenn man nicht aufpasste.

 

- 3-

 

 

Aaron O’Connor war sich der Tragweite seines offiziellen Besuches durchaus bewusst, aber er konnte nicht länger so tun, als gäbe es auf Luna V keine Probleme. Der Brief seines Bruders hatte ihn in seiner Befürchtung bestätigt, dass sich dort irgendetwas zusammenbraute, das das empfindliche Gefüge der Versorgung massiv stören konnte. Die Folgen waren nicht abzusehen! Hunger wäre dann das geringste Problem. Trotzdem wäre er lieber nicht gekommen. Er fürchtete die Begegnung mit seinem Sohn, den er über drei Jahre im Ungewissen gelassen hatte. Die Entscheidung war ihm damals nicht leichtgefallen. Entscheidungen fielen ihm nie leicht, doch wenn er sich zu einem Entschluss durchgerungen hatte, dann gab es für ihn auch kein Zurück mehr. Ihm jetzt wieder gegenüberzutreten, bereitete ihm mehr als Kopfschmerzen. Wie sollte er ihm erklären, dass er Jack zu seiner eigenen Sicherheit hier zurückgelassen hatte? Wie ihm erklären, dass es unumgänglich war, so zu tun, als gäbe es ihn nicht?

Er hatte ein Kind zurückgelassen. Ein wildes, ungezügeltes Kind mit gefährlichen Ideen. Die Jahre hier hatten ihn mit Sicherheit reifen lassen. Er bedauerte, dass er nicht dabei sein konnte, um zu erleben, wie sein Sohn sich in dieser harten Welt behauptete. Das Leben auf Luna V war noch nie einfach gewesen. Nun würde er ihn wiedersehen. Nach drei Jahren!

Er blickte nach vorn und sah, dass gerade ein anderes Shuttle vom Landeplatz abhob. Der Staub, den es dabei aufwirbelte, war gewaltig. Er hatte vergessen, dass es auf Luna V wochenlang nicht geregnet hatte und dass sie sich hier maßgeblich unter freiem Himmel bewegten. Seine Begleiter kniffen ebenso wie er die Augen zusammen. Ihre weiten Gewänder, die an römische Togen erinnerten, flatterten wild in den Luftverwirbelungen. Hätte der Pilot nicht noch zwei Minuten warten können? Aaron fühlte Ärger in sich hochsteigen, doch er hielt ihn unter Kontrolle. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt aufzuregen.

Wohl dosierte Emotionen benötigte er später, wenn er sich mit den Farmern unterhielt und mit dem Bürgermeister von Washington sprach. Alles hatte seine Zeit. Das hatte ihm sein Vater beigebracht. Eines der wenigen Dinge, die er von ihm gelernt hatte. Jaques Vallée war derjenige, der ihn größtenteils geformt und den Mann aus ihm gemacht hatte, den er heute verkörperte. Manchmal schaute er über die Schulter, weil er seine leise Stimme im Rücken zu hören glaubte, die ihn zum Nachdenken anstachelte oder auf geschickte politische Winkelzüge hinwies. Aber der alte Fuchs war seit neun Jahren tot. Trotzdem, er vermisste ihn immer noch. Aaron seufzte. Ob sein Sohn sich genauso fühlte, wenn er an seinen Vater dachte? Er hoffte es. Gleichzeitig war er sich sicher, dass Amos seinen Sohn ebenso geformt hatte, wie Jaques Vallée ihn geprägt hatte. Wenn sein Plan aufging, dann würde Jack in einer späteren MK die Farm übernehmen und an der Entwicklung von Computerprogrammen endgültig das Interesse verloren haben. Nur das war wichtig ... und sein Sohn in Sicherheit. Weit weg von Terra Nova.

Nachdem sich der Wind wieder beruhigt hatte, liefen er und seine Begleiter zum Sicherheits-Check. Jetzt fiel ihm wieder ein, warum er Terra Nova nur ungern verließ. Die scharfen Sicherheitskontrollen gaben ihm immer ein Gefühl von völliger Hilflosigkeit. Nicht, dass er es je jemandem anvertraut hätte. Trotz seines hohen Amtes und seiner steilen Karriere in der Politik fühlte er sich im Innern in solchen Situationen immer noch wie der kleine Junge aus der Provinz, der er einmal gewesen war.

Er, seine drei Begleiter und zwei Bodyguards aus seinem Sicherheitspersonal ließen den doppelten Körperscan über sich ergehen, ebenso wie ihr Gepäck. Aaron hatte vor, nicht länger als unbedingt nötig auf Luna V zu bleiben. Er war fast sicher, dass er mindestens eine Woche benötigen würde, um sich ein umfassendes Bild zu machen. Sein Blick huschte immer wieder zu dem großen Tor, das sich nun langsam öffnete und einen Blick auf die weite Ebene dahinter freigab. Ein einsames Pferdefuhrwerk stand dort. Offenbar wurden sie erwartet. Etwas an der Person, die dort auf dem Kutschbock reglos verharrte, kam ihm vage bekannt vor. Als das Tor sich weiter öffnete, erhob sich die Gestalt und kletterte von der Kutsche herunter. Sie war auffallend groß und Aaron versteifte sich unwillkürlich. Der Mann dort draußen war Amos. Er hatte ihm zwar geschrieben, wann er ankommen würde, aber er hatte nicht damit gerechnet, seinem Bruder schon so bald gegenüberzustehen. Seine Augen glitten suchend über die Kutsche. Nichts deutete darauf hin, dass er Jack mitgebracht hatte. Aaron entspannte sich wieder ein wenig. Es war besser, wenn niemand sonst seinen Sohn zu Gesicht bekam. Auch wenn es unwahrscheinlich schien, dass irgendwer einen Jungen von hier mit ihm, dem Senator, in Verbindung gebracht hätte. Dafür hatte er gesorgt. Gründlich. Es war schon erstaunlich, dass ausgerechnet Jacks Datenstromprogramm, das ihm zum Verhängnis geworden war, jetzt dabei half, ihn und seine gesamte Familie zu beschützen. Andererseits hätte es nie so weit kommen müssen, wenn er das verfluchte Programm überhaupt nie geschrieben hätte.

 

 

Die Scans waren abgeschlossen, und sie machten sich geschlossen auf den Weg nach draußen. Seine drei Begleiter waren Stan Norris, ein gerade promovierter Wirtschaftsberater, Rufus Alexus, Lebensmittelkontrolleur, sowie Melinda Bow, seine persönliche Assistentin. Insbesondere sie sah wenig begeistert aus, als sie durch das Tor traten und sich Amos vor ihnen aufbaute. Er hatte verdrängt, wie groß sein Bruder war. Aaron selbst war zwar mit seinen knappen 1,85 m auch nicht gerade klein, doch sein Bruder überragte ihn deutlich.

„Ich bin hier, um euch abzuholen“, erklärte Amos und deutete auf die Kutsche hinter ihm.

„In diesem wackeligen Gefährt?“ Melinda fasste sich vor Schreck an die Kehle.

„Sie können auch laufen, Miss. Könnte allerdings nass werden“, erwiderte Amos ungerührt und warf erst einen finsteren Blick auf die junge Frau und dann in den Himmel. Offenbar braute sich ein Gewitter zusammen. Stan schaute ebenfalls alarmiert nach oben und auch Rufus folgte seinem Blick.

„Dann sollten wir nicht länger hier herumstehen“, meinte Aaron ruhig und betrachtete seinen Bruder.

Amos' Blick glitt zu ihm herüber, machte aber keinerlei Anstalten zu zeigen, dass er den Senator persönlich kannte. Vielleicht war das auch besser so. Er würde heute Abend seinem Bruder einen privaten Besuch abstatten, wenn er konnte. Er wies die Bodyguards an, das Gepäck zu verladen, da Amos schon wieder im Begriff war, auf den Kutschbock zu klettern, ohne sich auch nur im Mindesten um seine Fahrgäste zu kümmern. So kannte Aaron seinen charmanten Bruder. Er lächelte zynisch.

Die Kutsche war eigentlich für maximal vier Leute ausgelegt. Einer seiner Sicherheitsleute kletterte wortlos zu Amos nach vorn auf den Kutschbock, der ihm nur widerwillig Platz machte. Das Gefährt ruckte an, und die beiden riesigen schwarzen Kaltblüter zockelten langsam los. Amos schnalzte gelegentlich mit der Zunge oder ließ die Peitsche sausen, ohne die Tiere tatsächlich zu treffen, worauf die Pferde in einen raschen Trab überwechselten. Melinda saß neben ihm und hielt sich ein Taschentuch vor die Nase. Sie war sichtlich grün im Gesicht. Er seufzte innerlich und ärgerte sich, dass er sie überhaupt mitgenommen hatte. Das hatte er nun davon, dass er ihren ständigen Bitten nachgegeben hatte. Jetzt würde sie die raue Welt von Luna V leibhaftig erleben. Vermutlich würde sie sich danach nie wieder von Terra Nova herunterwagen. Stan und Rufus schienen von der primitiven Art des Mondes weniger beeindruckt. Mal sehen, wie lange das anhalten würde.

Aaron wusste genau, dass es den meisten Terras nicht gelang, nicht abfällig über Luna V zu sprechen. Die harte Arbeit, die hier verrichtet wurde, verblasste bei den vielen Vorurteilen, die in diesem Bezug mit dem Getreidemond standen. Das hatten die Farmer zum großen Teil mit ihrem Beharren auf den völlig althergebrachten Traditionen selbst verursacht. Wer war schon bei klarem Verstand, wenn er die Hilfen von hervorragenden Technologien konsequent verweigerte? Damit würde nun bald Schluss sein. Nur hatte Aaron keine Ahnung, wie er es den Farmern begreiflich machen konnte, dass es so, wie es bisher abgelaufen war, nicht mehr weitergehen konnte. Er hoffte, dass er mit nüchternen Fakten die Menschen hier überzeugen konnte. Deshalb hatte er Stan und Rufus mitgebracht. Die Statistiken und Präsentationen hatten ihm mindestens ein Dutzendmal vorgelegen, ehe er sie endgültig abgesegnet hatte. Die ersten Versuche der beiden hatte er selbst kaum verstanden. Wie sollten dann einfach gestrickte Farmer begreifen, dass die Zeit gegen sie arbeitete? Es war so typisch für diese versnobten Wirtschaftsheinies. Sie lebten in ihren Elfenbeintürmen zwischen Formeln und Statistiken. Wie die reale Welt dort draußen aussah, wussten sie nicht, und es war ihnen im Endeffekt auch egal. Nur das Ergebnis zählte.

 

 

Die Fahrt verlief ausgesprochen schweigsam. Die eintönige Landschaft trug nicht wirklich zu einer angeregten Unterhaltung bei. Aaron betrachtete die abgeernteten Felder. Hier und da konnte er Sturmschäden erkennen, denn das Getreide lag flach auf dem Boden. Offenbar hatte vor kurzem hier ein schweres Unwetter geherrscht. In der Ferne sah er immer wieder Menschen, die in endlosen Reihen Korn mit der Sense schnitten, es rafften und zu Garben zusammenstellten. Die Ernte war fast abgeschlossen, wie er erkennen konnte. Nicht lange, dann würden sie die Felder für die neue Saat vorbereiten: Umpflügen, Düngen und dann den Winterweizen aussäen. Auf den Farmen würde es noch Wochen dauern, bis das Korn gedroschen und in Säcke abgefüllt war. Es war eine nie enden wollende Schufterei. Aaron war froh, dass er sich davon befreit hatte. Trotzdem wollte er, dass sein Sohn hier sein Lebensglück fand. Manchmal hatte er deswegen ein schlechtes Gewissen. Aber dann rief er sich ins Gedächtnis, dass es für seinen Jungen die sicherste Lösung bedeutete, und brachte damit die leise Stimme des Zweifels rigoros zum Schweigen.

„Ist das Washington?“ Die gedämpfte Stimme seiner Assistentin riss ihn aus seinen Überlegungen. Er schaute an ihrem ausgestreckten Arm nach vorn, wo die ersten Ausläufer der kleinen Stadt in Sicht kamen. Gegen die hohen Prachttürme, die auf Terra Nova ihre gläsernen Finger in den Himmel streckten, war das hier mehr als armselig zu nennen. Die wenigen Häuser duckten sich um eine altersschwache Kirche, die Farbe der zum größten Teil aus Holz gebauten Gebäude war ausgeblichen und verwittert. Hier und dort bröckelte der Putz. Aaron setzte ein unverbindliches Lächeln auf.

„Ja. Das ist Washington. Was hatten Sie erwartet?“

Melinda zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht ... aber mehr als ... das da.“ Sie ruckte mit dem Kinn in die Richtung der Stadt. „Wo werden wir schlafen? Ich hoffe, sie haben hier geräumige Röhren.“ Aaron lächelte noch immer unverbindlich, doch er merkte selbst, dass es nicht an seine Augen heranreichte.

„Ich glaube kaum, dass wir hier Röhren finden werden. Sie werden sich mit einer Bettstatt zufriedengeben müssen. Wo wir genau unterkommen werden, erklärt uns sicherlich Bürgermeister Grünfeld.“

Melinda verlor jede Farbe aus ihrem Gesicht. Aaron konnte erkennen, dass sie den Impuls unterdrückte, nach hinten zu blicken, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie richtete sich steif auf und atmete tief durch. Wäre es nicht so unpassend gewesen, hätte Aaron laut aufgelacht, aber er hütete sich.

„Sie werden es überleben“, flüsterte er. Melinda bewegte keine Miene.

Vor der Kirche hielt Amos die Pferde an. „Bürgermeister Grünfeld erwartet Sie, Senator.“