Dustlands - Die Entführung - Moira Young - E-Book

Dustlands - Die Entführung E-Book

Moira Young

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Beschreibung

***SIE NENNEN MICH DEN TODESENGEL. WEIL ICH NOCH NIE EINEN KAMPF VERLOREN HABE.*** Sabas Zwillingsbruder wird von Soldaten verschleppt. Sie schwört, ihn zu finden und zu befreien. Mit dem Mut der Verzweiflung macht sie sich auf einen Weg voller Gefahren, Gewalt und Verrat. Sie kann niemandem vertrauen - auch nicht dem Mann, der ihr das Leben rettet. Der erste Band einer epischen Endzeit-Fantasy, eine Geschichte, die dein Herz schneller schlagen lässt.

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Seitenzahl: 507

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Moira Young

Dustlands – Die Entführung

Roman

Aus dem Englischen von Alice Jakubeit

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungLugh ist zuerst geborenWeil alles schon feststehtLugh und ichSilverlakeDer PfadCrosscreekDas SandmeerHopetownHopetown Einen Monat späterDarktreesDie Black MountainsFreedom FieldsDankLeseprobe zum zweiten BandJack

Gewidmet meinen Eltern und Paul

Lugh ist zuerst geboren. An Mittwinter, wenn die Sonne tief am Himmel hängt.

Dann ich. Zwei Stunden später.

Das sagt eigentlich alles.

Lugh geht vor, immer, und ich komm dahinter.

Und das ist gut so.

Das ist richtig so.

So soll es sein.

Weil alles schon feststeht. Alles ist vorherbestimmt.

Das Leben aller Menschen, die je geboren worden sind.

Das Leben aller Menschen, die noch geboren werden.

Es steht alles in den Sternen, seit es die Welt gibt. Wann man geboren wird, wann man stirbt. Sogar was für ein Mensch man mal wird, ob gut oder schlecht.

Wenn man die Sterne deuten kann, kennt man auch die Geschichten der Menschen. Die eigene Lebensgeschichte. Was vorbei ist, was jetzt ist und was noch kommt.

Früher, als Pa klein war, hat er einen Reisenden getroffen, einen Mann, der vieles wusste. Der hat Pa beigebracht, wie man die Sterne deutet. Pa sagt uns nie, was er am Nachthimmel sieht, aber man sieht ihm an, dass es auf ihm lastet.

Weil man nicht ändern kann, was in den Sternen steht.

Auch wenn Pa uns sagen würd, was er weiß, auch wenn er uns warnen würd, es würd trotzdem passieren.

Ich seh, wie er Lugh manchmal anguckt. Wie er mich anguckt.

Und ich wünscht, er würd uns sagen, was er weiß.

Ich glaub, Pa wünscht, er hätt den Reisenden da nie getroffen.

Wenn man Lugh und mich zusammen sieht, würd man nicht drauf kommen, dass wir verwandt sind.

Man würd nie drauf kommen, dass wir zusammen im selben Mutterleib gewesen sind.

Er hat goldene Haare. Ich schwarze.

Blaue Augen. Braune Augen.

Stark. Mager.

Schön. Hässlich.

Er ist mein Licht.

Ich bin sein Schatten.

Lugh strahlt hell wie die Sonne.

Das hat es denen bestimmt leichtgemacht, ihn zu finden.

Sie haben nur seinem Licht folgen müssen.

Silverlake

Es ist ein heißer Tag. So heiß und trocken, dass ich nur Staub schmeck. Die Sorte weißglühender Tag, wenn man die Erde aufreißen hören kann.

Seit fast sechs Monaten haben wir jetzt keinen Tropfen Regen mehr gehabt. Sogar die Quelle, die den See speist, trocknet langsam aus. Man muss jetzt ein ganzes Stück laufen, um einen Eimer voll zu kriegen. Wenn das so weitergeht, verdient der See seinen Namen bald nicht mehr.

Silverlake – Silbersee.

Jeden Tag versucht Pa es mit einem anderen Zauberspruch. Und jeden Tag ziehen am Horizont dicke fette Regenwolken auf. Sie kriechen langsam in unsere Richtung, und unsere Herzen klopfen schneller, unsere Hoffnung wächst. Aber lange bevor sie bei uns sind, reißen sie auseinander, werden immer dünner, bis sie ganz verschwinden. Jedes Mal.

Pa sagt nie was dazu. Er starrt nur hoch zum Himmel, zum wolkenlosen grausamen Himmel. Dann nimmt er die Steine oder Zweige oder was er diesmal auf der Erde ausgelegt hat, und verwahrt sie bis zum nächsten Tag.

Heute schiebt er den Hut aus der Stirn. Legt den Kopf in den Nacken und guckt lange hoch zum Himmel.

»Ich glaub, ich versuch’s mal mit einem Kreis«, sagt er. »Doch, ich denk, ein Kreis ist vielleicht genau das Richtige.«

Lugh sagt es schon seit einer ganzen Weile. Mit Pa geht es bergab. Mit jedem Tag ohne Regen scheint wieder ein Stück von Pa zu … ich schätze, verschwinden ist das beste Wort dafür.

Früher haben wir uns drauf verlassen können, dass wir einen Fisch aus dem See ziehen oder irgendein Tier aus unseren Fallen holen. Ansonsten haben wir ein bisschen was angebaut, ein bisschen was aufgestöbert, und alles in allem sind wir ganz gut zurechtgekommen. Aber seit einem Jahr reicht es einfach nicht mehr, egal was wir tun, egal wie sehr wir uns anstrengen. Nicht ohne Regen. Wir können zugucken, wie das Land stirbt, Stückchen für Stückchen.

Und genauso ist es auch mit Pa. Mit jedem Tag vergeht ein bisschen mehr von dem, was am besten an ihm ist. Andererseits: Es geht ihm schon lange nicht mehr gut. Nicht so richtig. Seit Ma tot ist. Aber es stimmt, was Lugh sagt: Genau wie dem Land geht es auch Pa immer schlechter. Er ist mit den Augen immer öfter am Himmel statt bei dem, was gleich hier vor seiner Nase ist.

Ich glaub nicht, dass er uns noch sieht. Nicht richtig.

Emmi ist in letzter Zeit völlig verwahrlost, mit dreckigen Haaren und laufender Nase. Wenn Lugh nicht wär, würd sie sich bestimmt gar nicht mehr waschen.

Bevor Emmi geboren worden ist, als Ma noch am Leben und alles gut gewesen ist, da ist Pa anders gewesen. Ma hat ihn immer zum Lachen gebracht. Er hat Lugh und mich rumgejagt oder uns in die Luft geworfen, bis wir geschrien haben, er soll uns runterlassen. Und er hat uns vor der schlechten Welt jenseits vom Silverlake gewarnt. Damals hab ich mir nicht vorstellen können, dass irgendjemand größer oder stärker oder klüger sein könnte als Pa.

Aus dem Augenwinkel beobachte ich ihn. Lugh und ich reparieren gerade das Hüttendach. Die Hüttenwände sind ziemlich stabil, weil sie aus übereinander gestapelten Reifen bestehen. Aber der tückische Heißwind, der oft übern See gefegt kommt, kriecht in jede Ritze und deckt oft große Dachstücke auf einmal ab. Ständig müssen wir das verdammte Ding ausbessern.

Deswegen sind Lugh und ich nach dem Heißwind letzte Nacht ganz früh morgens auf Beutezug unten zur alten Müllkippe gegangen. Wir haben an einer Stelle gegraben, wo wir es noch nie versucht hatten, und haben doch wirklich astreinen Abwrackerschrott aufgestöbert. Ein schön großes Stück Blech, nicht allzu rostig, und einen Kochtopf, sogar noch mit Griff dran.

Lugh arbeitet auf dem Dach, während ich tu, was ich immer tu, nämlich die Leiter rauf- und runterklettern und ihm anreichen, was er braucht.

Nero tut auch, was er immer tut, nämlich auf meiner Schulter hocken und ganz laut krächzen, mir genau ins Ohr, um mir zu sagen, was er denkt. Er hat zu allem eine Meinung, der gute Nero, und er ist wirklich klug. Ich glaube, wenn wir bloß die Krähensprache verstehen könnten, würden wir merken, dass er uns ein, zwei Sachen darüber erzählen kann, wie man ein Dach richtig repariert.

Er hat bestimmt drüber nachgedacht, das möcht ich wetten. Er sieht uns ja seit fünf Jahren dabei zu. Seit ich ihn gefunden hab, wo er aus dem Nest gefallen ist – und von seiner Ma keine Spur. Pa ist nicht begeistert gewesen, dass ich ein Krähenküken anschlepp. Er hat gesagt, manche Leute glauben, dass Krähen den Tod bringen. Aber ich hatte mir in den Kopf gesetzt, ihn von Hand aufzuziehen, und wenn ich mir einmal was in den Kopf setz, dann bleib ich dabei.

Und dann ist da Emmi. Sie tut auch, was sie immer tut, nämlich Lugh und mir auf die Nerven gehen. Ich lauf zwischen Leiter und Schrotthaufen hin und her, und sie klebt an meinen Fersen.

»Ich will helfen«, sagt sie.

»Dann halt die Leiter fest«, sag ich.

»Nein! Ich will richtig helfen! Du lässt mich immer nur die Leiter festhalten!«

»Tja«, sag ich, »vielleicht bist du ja zu nichts anderem zu gebrauchen. Hast du da schon mal dran gedacht?«

Sie verschränkt die Arme vor der mageren kleinen Brust und guckt mich böse an. »Du bist gemein«, sagt sie.

»Hast du schon mal gesagt«, sag ich.

Ich dreh mich um und will mit einem rostigen Blech in der Hand die Leiter raufklettern. Aber ich hab erst drei Stufen geschafft, da fängt sie an, an der Leiter zu rütteln. Ich muss mich festhalten, damit ich nicht runterfall. Nero kreischt und flattert hastig davon. Ich guck böse runter auf Em.

»Lass das!, sag ich. Willst du, dass ich mir den Hals brech?«

Lughs Kopf taucht überm Dachrand auf.

»Jetzt ist gut, Em«, sagt er, »hör auf damit. Geh Pa helfen.«

Sofort lässt sie los. Emmi tut immer, was Lugh sagt.

»Aber ich will helfen«, sagt sie und zieht ihren Schmollmund.

»Wir brauchen deine Hilfe nicht«, sag ich. »Wir kommen prima ohne dich klar.«

»Du bist die gemeinste Schwester, die es gibt! Ich hasse dich, Saba!«

»Prima! Ich hasse dich nämlich auch!«

»Hört auf!«, sagt Lugh. »Alle beide!«

Emmi streckt mir die Zunge raus und stapft davon. Ich kletter die Leiter rauf aufs Dach, kriech zu Lugh und geb ihm das Blech.

»Ich schwör dir, eines Tages bring ich sie um«, sag ich.

»Sie ist erst neun, Saba«, sagt Lugh. »Versuch doch zur Abwechslung mal, nett zu ihr zu sein.«

Ich stöhn und hock mich neben ihn. Von hier oben auf dem Dach kann ich alles sehen. Emmi, die auf ihrem klapprigen Zweirad rumfährt, das Lugh auf der Müllkippe gefunden hat. Pa bei seinem Beschwörungskreis.

Es ist nur ein Fleckchen Erde, das er mit seinen Stiefeln glattgestampft hat. Wir dürfen nicht mal in die Nähe, außer er erlaubt es. Immerzu fuhrwerkt er da rum und fegt Zweige weg oder Sand, der draufgeweht ist. Bis jetzt hat er die Stöckchen für seinen Regenkreis noch nicht ausgelegt. Ich beobachte, wie er den Besen hinlegt. Dann macht er drei Schritte nach links und drei nach rechts. Dann noch mal. Und noch mal.

»Hast du gesehen, was Pa vorhat?«, frag ich Lugh.

Er guckt nicht mal hoch. Fängt an, das Blech mit dem Hammer auszubeulen.

»Hab ich«, sagt er. »Hat er gestern schon gemacht. Und vorgestern.«

»Was soll das alles?«, frag ich. »Nach rechts gehen, dann nach links, immer wieder.«

»Woher soll ich das wissen?«, fragt er. Er hat die Lippen fest zusammengepresst. Und er hat wieder diesen Gesichtsausdruck. Diesen leeren Gesichtsausdruck, wenn Pa was sagt oder ihn bittet, was zu tun. Den seh ich jetzt immer öfter bei ihm.

»Lugh!« Pa guckt hoch und schirmt die Augen ab. »Ich könnt deine Hilfe gebrauchen, Sohn!«

»Alter Trottel«, murrt Lugh und haut besonders feste mit dem Hammer aufs Blech.

»Sag das nicht. Pa weiß doch immer, was er tut. Er ist ein Sterndeuter.«

Lugh guckt mich an und schüttelt den Kopf. Als ob er nicht glauben könnte, was ich da gerade gesagt hab.

»Hast du’s denn immer noch nicht kapiert? Das ist alles nur in seinem Kopf. Das bildet er sich ein. Da steht nichts in den Sternen. Es gibt keinen großen Plan. Das Leben geht einfach so weiter. Unser Leben geht einfach immer so weiter hier an diesem gottverlassenen Ort. Mehr ist nicht. Bis wir irgendwann sterben. Ich sag dir was, Saba, ich halt das nicht mehr aus.«

Ich starr ihn an.

»Lugh!«, brüllt Pa.

»Ich hab zu tun!«, brüllt Lugh zurück.

»Jetzt sofort, Sohn!«

Lugh flucht leise. Schmeißt den Hammer hin, drängelt sich an mir vorbei und saust die Leiter runter. Er stürmt rüber zu Pa. Reißt ihm die Stöckchen aus der Hand und schmeißt sie auf den Boden. Da liegen sie jetzt überall verstreut.

»Da!«, schreit Lugh. »Da hast du deine Hilfe! Jetzt kommt der gottverdammte Regen bestimmt!« Er tritt nach Pas frisch gefegtem Beschwörungskreis, dass der Staub nur so fliegt. Dann bohrt er Pa den Finger in die Brust. »Wach auf, alter Mann! Du lebst in einem Traum! Der Regen kommt nicht! Der Höllenflecken hier stirbt, und wir sterben auch, wenn wir hierbleiben. Aber weißt du was? Ich mach das nicht mehr mit! Ich hau ab!«

»Ich hab gewusst, dass es so kommt«, sagt Pa. »Die Sterne haben mir gesagt, dass du unglücklich bist, Sohn.« Er legt Lugh die Hand auf den Arm. Lugh schüttelt sie so heftig ab, dass Pa nach hinten stolpert.

»Du bist ja verrückt, weißt du das?« Lugh schreit es ihm mitten ins Gesicht. »Die Sterne haben dir gesagt! Warum hörst du nicht einfach bloß ein Mal auf das, was ich sag?«

Er rennt davon. Ich kletter hastig die Leiter runter. Pa starrt zu Boden, er lässt die Schultern hängen.

»Ich versteh das nicht«, sagt er. »Ich seh Regen kommen … Ich seh’s in den Sternen, aber dann … kommt er nicht. Warum nicht?«

»Schon gut, Pa«, sagt Emmi. »Ich helf dir. Ich leg sie da hin, wo du sie haben willst.« Sie krabbelt auf allen vieren rum und sammelt die Stöckchen ein. Dann guckt sie zu ihm hoch und lächelt bang.

»Lugh hat’s nicht so gemeint, Pa«, sagt sie. »Das weiß ich genau.«

Ich geh einfach an ihnen vorbei.

Ich weiß, wo Lugh hinwill.

Ich find ihn in Mas Steingarten.

Er sitzt auf der Erde, mitten in den verschlungenen Mustern aus Quadraten, Kreisen und kleinen Wegen, jedes aus einer anderen Sorte Stein, jeweils in einer anderen Farbe und Größe. Ma hat jeden einzelnen Stein eigenhändig hingelegt. Keiner hat ihr dabei helfen dürfen.

Bedächtig hat sie den letzten Stein an seinen Platz gelegt. Hat sich hingehockt, zu mir hochgelächelt und ihren großen Babybauch gestreichelt. Die langen goldenen Haare in einem Zopf über einer Schulter.

»Na bitte! Siehst du, Saba? Schönheit kann’s überall geben. Sogar hier. Und wenn nicht, kannst du sie selbst machen.«

Am Tag danach hat sie Emmi geboren. Einen Monat zu früh.

Ma hat zwei Tage lang geblutet, dann ist sie gestorben. Wir haben ihr einen hohen Scheiterhaufen gebaut und ihre Seele zurück zu den Sternen geschickt. Nachdem wir ihre Asche im Wind verstreut hatten, ist uns nur Em geblieben.

Ein hässliches Würmchen mit einem Herzschlag wie ein Flüstern. Eher wie eine neugeborene Maus als wie ein Mensch. Eigentlich hätt sie nicht länger als ein, zwei Tage leben dürfen. Aber irgendwie hat sie durchgehalten, und sie ist immer noch da. Allerdings klein für ihr Alter und mager.

Ich hab es lange nicht mal ertragen können, sie anzusehen. Wenn Lugh sagt, ich soll nicht so streng zu ihr sein, sag ich, wenn Emmi nicht gewesen wär, wär Ma noch am Leben. Darauf weiß er keine Antwort, weil er weiß, dass ich recht hab. Aber er schüttelt immer den Kopf und sagt Sachen wie: »Wird Zeit, dass du drüber wegkommst, Saba.«

Mittlerweile hab ich mich mit Emmi abgefunden. Aber mehr auch nicht.

Jetzt setz ich mich auf die brettharte Erde, so dass ich mit dem Rücken an Lughs Rücken lehn. Ich mag es, wenn wir so sitzen. Dann kann ich seine Stimme dumpf in meinem Körper spüren, wenn er redet. So muss es gewesen sein, als wir noch zusammen in Mas Bauch gewesen sind. Nur dass wir da natürlich noch nicht geredet haben.

So sitzen wir eine Weile da, schweigend. Dann:

»Wir hätten längst von hier weggehen sollen«, sagt er. »Es muss bessere Orte zum Leben geben als den hier. Pa hätt uns wegbringen sollen.«

»Du gehst doch nicht wirklich weg«, sag ich.

»Ach nein? Es gibt keinen Grund hierzubleiben. Ich kann nicht einfach hier rumsitzen und warten, bis ich sterb.«

»Wo willst du denn hin?«

»Das ist mir egal. Irgendwohin, Hauptsache es ist nicht der Silverlake.«

»Aber das kannst du nicht tun. Das ist zu gefährlich.«

»Das will Pa uns weismachen. Dir ist doch wohl klar, dass wir in unserem ganzen Leben noch nicht weiter als einen Tagesmarsch weg gewesen sind. Wir bekommen nie jemanden zu Gesicht außer uns vieren.«

»Das ist nicht wahr«, sag ich. »Was ist mit dieser verrückten Medizinfrau auf ihrem Kamel letztes Jahr? Und … wir sehen Potbelly Pete. Der hat immer ein, zwei Geschichten auf Lager – wo er gewesen ist und wen er gesehen hat.«

»Ich red hier nicht von irgend so einem verlogenen Hausierer, der alle halbe Jahr mal vorbeikommt. Übrigens bin ich immer noch sauer wegen der Hose, die er letztes Mal versucht hat mir anzudrehen.«

»Die hat wirklich übel gestunken. Als ob ihr letzter Besitzer ein Stinktier gewesen wär. Hey, wart mal, du hast Procter John vergessen.«

Unser einziger Nachbar lebt zwölf Meilen von hier weg. Er ist ein Einzelgänger, Procter John heißt er. Er hat sich ungefähr um die Zeit, als Lugh und ich geboren worden sind, da niedergelassen. Einmal im Monat oder so kommt er vorbei. Richtig zu Besuch kommt er aber nicht. Er steigt nicht mal von seinem Pferd Hob ab, sondern hält nur kurz an der Hütte an. Dann sagt er immer das Gleiche, jedes Mal.

»Tag, Willem. Wie geht’s den Kindern? Alles in Ordnung?«

»Denen geht’s gut, Procter«, sagt Pa dann. »Und dir?«

»Gut genug, um noch eine Weile durchzuhalten.«

Dann tippt er sich an den Hut und reitet davon, und wir bekommen ihn für den nächsten Monat nicht zu sehen. Pa mag ihn nicht. Er sagt es nicht, aber man merkt es ihm an. Eigentlich müsst er doch froh sein, wenn er außer uns mal jemand zum Reden hat. Aber er bittet Procter nie auf einen Schluck in unsere Hütte.

Lugh sagt, das ist wegen dem Chaal. Wir wissen nur, dass es so heißt, weil ich Pa mal gefragt hab, worauf Procter da immer rumkaut. Da hat Pa ein ganz verkniffenes Gesicht gemacht. Erst hab ich gedacht, er will es uns nicht sagen. Aber dann hat er gesagt, das heißt Chaal und ist Gift für den Verstand und für die Seele, und falls jemand uns das anbietet, sollen wir nein sagen. Wird uns wohl kaum passieren, wir kriegen hier ja sowieso nie jemanden zu sehen.

Jetzt schüttelt Lugh den Kopf. »Procter John zählt nicht«, sagt er. »Sogar mit Nero kann man sich besser unterhalten als mit dem. Ich schwör dir, Saba, wenn ich hierbleib, werd ich entweder verrückt, oder ich bring Pa irgendwann um. Ich muss hier weg.«

Ich krabbel um ihn rum und knie mich vor ihn hin.

»Ich komm mit«, sag ich.

»Klar«, sagt er. »Und Emmi nehmen wir auch mit.«

»Ich glaub nicht, dass Pa das erlaubt«, sag ich. »Und sie würd sowieso nicht mitkommen. Sie würd lieber hier bei Pa bleiben.«

»Du meinst, dir wär lieber, wenn sie hierbleibt«, sagt er. »Wir müssen sie mitnehmen, Saba. Wir können sie doch nicht zurücklassen.«

»Und was, wenn … wenn du mal mit Pa redest, vielleicht sieht er’s ja doch noch ein«, sag ich. »Dann könnten wir alle zusammen ein neues Zuhause suchen.«

»Wird er nicht«, sagt Lugh. »Er kann Ma nicht verlassen.«

»Wie meinst du das?«, frag ich. »Ma ist doch tot.«

Lugh sagt: »Ich meine … Er und Ma haben das alles hier zusammen aufgebaut, und in seinem Kopf ist sie immer noch hier. Er kann die Erinnerung an sie nicht verlassen, das mein ich.«

»Aber wir sind doch die, die noch leben!«, sag ich. »Du und ich.«

»Und Emmi«, sagt er. »Ich weiß. Aber du siehst doch, wie’s ist. Es ist, als wärn wir gar nicht da. Wir sind ihm völlig schnuppe.«

Er denkt kurz nach. Dann sagt er: »Liebe macht einen schwach. Wenn man jemanden so lieb hat, kann man nicht klar denken. Guck dir Pa doch an. Wer will schon so werden? Ich werd nie jemanden lieben. Das ist besser.«

Dazu sag ich nichts. Mal nur mit dem Finger Kreise in den Staub.

Aber mein Magen krampft sich zusammen. Als würd jemand direkt in mich reingreifen und ganz fies zudrücken.

Dann frag ich doch: »Was ist mit mir?«

»Du bist meine Schwester«, sagt er. »Das ist nicht dasselbe.«

»Aber was, wenn ich sterben würd? Du würdst mich doch vermissen, oder?«

»Pah«, sagt er. »Als ob du sterben und mich einfach so in Ruhe lassen würdst. Du läufst mir doch überallhin nach und machst mich wahnsinnig. Seit wir auf der Welt sind.«

»Ich kann nichts dafür, dass du das höchste Ding hier in der Gegend bist«, sag ich. »Du bist ein prima Sonnenschutz.«

»He!« Er schubst mich, und ich fall auf den Rücken.

Ich schubs ihn mit dem Fuß. »Selber he!« Ich stütz mich auf die Ellbogen. »Also«, sag ich, »würdst du?«

»Was?«

»Mich vermissen.«

»Sei nicht albern«, sagt er.

Ich knie mich vor ihn hin. Er guckt mich an. Lughs Augen sind so blau wie der Sommerhimmel. So blau wie das sauberste Wasser. Ma hat immer gesagt, seine Augen sind so blau, dass man am liebsten auf ihnen davonsegeln würd.

»Ich würd dich vermissen«, sag ich. »Wenn du sterben würdst, würd ich mich umbringen, weil ich dich so sehr vermissen würd.«

»Red keinen Quatsch, Saba.«

»Versprich mir, dass du’s nicht tust«, sag ich.

»Dass ich was nicht tu?«

»Sterben.«

»Sterben muss jeder irgendwann«, sagt er.

Ich berühr seine Geburtsmondtätowierung. Oben auf seinem rechten Wangenknochen. Genau wie bei mir. Sie zeigt, wie der Mond ausgesehen hat in der Nacht, in der wir geboren worden sind. An dem Mittwinter damals ist Vollmond gewesen. Das ist selten. Aber Zwillinge, die bei Vollmond und außerdem an Mittwinter geboren werden, das kommt noch seltener vor. Pa hat die Tätowierungen selbst gemacht, damit man sieht, dass wir was Besonderes sind.

An unserem letzten Geburtstag sind wir achtzehn Jahre alt geworden. Das muss vier Monate her sein, so ungefähr.

»Was meinst du?«, frag ich. »Wenn wir sterben, enden wir dann als Sterne, nebeneinander?«

»Du musst aufhören, so was zu denken«, sagt er. »Ich hab dir doch gesagt, das ist nur Pas Quatsch.«

»Na, wenn du immer alles besser weißt, dann sag mir doch, was passiert, wenn man stirbt?«

»Ich weiß nicht.« Er seufzt, lässt sich zurückplumpsen und guckt zum Himmel hoch. »Man … hört einfach auf. Das Herz schlägt nicht mehr, man atmet nicht mehr, und dann ist man einfach … weg.«

»Und das ist alles«, sag ich.

»Ja.«

»Das ist bescheuert«, sag ich. »Ich mein, wir leben und tun die ganze Zeit alles Mögliche … schlafen und essen und das Dach reparieren, und dann … hört das einfach so auf. Wozu das alles?«

»Tja, so ist es eben«, sagt er.

»Du … hey, Lugh, du würdst doch nicht ohne mich weggehen, oder?«

»Natürlich nicht«, sagt er. »Aber selbst wenn, du würdst mir ja doch hinterherlaufen.«

»Ich werd dir folgen … egal wo du hingehst!«

Dabei verdreh ich die Augen und zieh eine Grimasse, weil er es hasst, wenn ich das mach.

»Bis auf den Grund vom See …«, sag ich, »bis ans Ende der Welt … bis zum Mond … bis zu den Sternen!«

»Halt die Klappe!« Er springt auf. »Ich geh Steine hüpfen lassen. Wetten, dass du mich nicht einholst«, sagt er und rennt los.

»Hey!«, brüll ich. »Wart auf mich!«

Wir rennen ein ganzes Stück über den ausgetrockneten Boden vom See, bevor wir genug Wasser zum Steinehüpfenlassen finden. Wir kommen an dem Boot vorbei, das Lugh und ich als Kinder mit Pas Hilfe gebaut haben. Jetzt liegt es auf dem Trockenen, da wo früher das Seeufer war.

Wir laufen, bis wir die Hütte nicht mehr sehen können, bis wir Pa und Emmi nicht mehr sehen können. Die Mittagssonne brennt gnadenlos auf uns runter, und ich wickel mir das Shemag um den Kopf, damit ich nicht zu sehr verbrenne. Ich wünschte, ich würd nach Ma kommen, wie Lugh, aber ich seh Pa ähnlich. Es ist schon komisch – wir haben schwarze Haare, aber trotzdem verbrennt unsere Haut, wenn wir uns nicht vorsehen.

Lugh trägt nie ein Shemag. Er sagt, damit fühlt er sich eingeengt, und außerdem macht die Sonne ihm nichts aus. Nicht wie mir. Wenn ich ihm sag, es tät ihm recht geschehen, wenn er eines Tages einen Sonnenstich kriegt und tot umfällt, dann sagt er: »Tja, dann kannst du ja sagen, du hast es gewusst.« Werd ich auch.

Ich find gleich einen richtig guten Stein, flach und glatt. Ich reib drüber, fühl sein Gewicht.

»Ich hab hier einen Glücksstein«, sag ich.

Lugh sucht auch nach einem Stein. Ich lauf solange auf Händen. Das ist so ziemlich das Einzige, was ich kann und er nicht. Er tut so, als ob es ihm nichts ausmacht. Tut es aber doch, das weiß ich.

»Du siehst komisch aus so verkehrt rum«, sag ich.

Lughs goldene Haare glänzen in der Sonne. Er trägt sie zu einem langen Zopf geflochten, der ihm fast bis zur Hüfte geht. Ich trag meine genauso, nur sind meine Haare schwarz, wie Neros Federn.

Seine Kette glitzert im Sonnenlicht. Ich hab den kleinen Ring aus glänzendem grünem Glas auf der Müllkippe gefunden und ihn auf einen Lederstreifen gezogen. An unserem achtzehnten Geburtstag hab ich ihn Lugh geschenkt. Seitdem hat er ihn nicht mehr abgenommen.

Was er mir geschenkt hat? Nichts, wie immer.

»Okay, ich hab einen guten«, ruft er.

Ich lauf zu ihm und guck mir den Stein an. »Nicht so gut wie meiner«, sag ich.

»Ich lass ihn heute acht Mal hüpfen«, sagt er. »Hab ich im Gefühl.«

»Im Traum nicht«, sag ich. Ich sag sieben an.

Ich hol aus und lass den Stein übers Wasser fliegen. Er hüpft ein, zwei, drei Mal. Vier, fünf, sechs …

»Sieben!«, ruf ich. »Sieben! Hast du das gesehen?«

Ich kann es kaum glauben. Ich hab noch nie mehr als fünf geschafft.

»Tut mir leid«, sagt Lugh. »Ich hab nicht hingesehen. Du musst es wohl noch mal machen.«

»Was? Mein allerbester Wurf, und du hast nicht … du Ratte! Du hast es wohl gesehen. Du bist nur neidisch.« Ich verschränk die Arme vor der Brust. »Na los. Zeig mir deine acht. Wetten, das kriegst du nicht hin!«

Er schafft sieben. Dann werf ich die üblichen fünf. Er holt gerade aus und will noch mal werfen, da kommt Nero von irgendwo her angeflogen, stürzt auf uns runter und krächzt sich die Kehle aus dem Hals.

»Dämlicher Vogel«, sagt Lugh. »Wegen dem hab ich jetzt meinen Stein fallen lassen.«

Er kniet sich hin, um nach dem Stein zu suchen.

»Geh weg!«, sag ich und wedel mit den Händen, um Nero zu verscheuchen. »Husch, böser Junge! Los, such dir jemand anders zum –«

Am Horizont taucht eine Staubwolke auf. Ein wogender oranger Berg aus Staub, so hoch, dass er an den Wolken kratzt. Und er bewegt sich schnell. Genau auf uns zu.

»Ähm …, Lugh«, sag ich.

Meine Stimme klingt wohl anders als sonst. Er guckt sofort hoch. Lässt den Stein fallen. Steht langsam auf.

»Ach du Scheiße«, sagt er.

Wir stehen einfach da. Stehen und gucken. Wir kriegen hier alle möglichen Wettersorten. Heißwinde, Feuerstürme, Tornados, und ein, zwei Mal haben wir im Hochsommer Schnee gehabt. Ich hab also schon jede Menge Staubstürme gesehen. Aber noch nie einen wie den da.

»Das ist eine verdammt große Wolke«, sag ich.

»Lass uns lieber von hier abhauen«, sagt Lugh.

Langsam weichen wir zurück, aber wir starren immer noch die Wolke an. Dann:

»Renn, Saba!«, brüllt Lugh.

Er packt meine Hand und zerrt an mir, bis meine Füße sich bewegen, und dann rennen wir. Rennen nach Hause, so schnell wie Wolfshunde auf der Jagd.

Ich guck mich um und erschrecke. Die Staubwolke ist schon halb übern See. Ich hab noch nie eine gesehn, die so schnell ist. Wir haben eine Minute, höchstens zwei, bis sie bei uns ist.

»Wir können ihr nicht davonlaufen!«, brüll ich Lugh zu. »Sie ist zu schnell!«

Die Hütte kommt in Sicht, und wir schreien und winken.

Emmi fährt immer noch mit ihrem Zweirad rum.

»Pa!«, kreischen wir. »Pa! Emmi! Staubsturm!«

Pa taucht in der Tür auf. Schirmt die Augen mit der Hand ab. Dann stürzt er zu Emmi, nimmt sie hoch und rennt, so schnell er kann, zum Sturmschutzkeller.

Der Keller ist nicht mehr als fünfzehn Schritt von der Hütte entfernt. Pa reißt die Falltür auf und lässt Emmi runter in den Keller. Dann winkt er uns verzweifelt.

Ich guck mich noch mal um. Und schnapp nach Luft. Der riesige orange Staubberg rast auf uns zu und brüllt dabei. Wie ein Raubtier, das unterwegs den Boden verschlingt.

»Schneller, Saba!«, brüllt Lugh. Er zieht sich das Hemd aus und wickelt es sich um den Kopf.

»Nero!«, sag ich. Ich bleib stehen und guck mich um. »Wo ist Nero?«

»Keine Zeit!« Lugh packt mein Handgelenk und zerrt an mir.

Pa brüllt irgendwas, was ich nicht verstehen kann. Dann klettert er in den Sturmschutzkeller und zieht die Tür zu.

»Ich kann ihn doch nicht da draußen lassen!« Ich reiß mich los. »Nero!«, brüll ich. »Nero!«

»Dafür ist es zu spät!«, sagt Lugh. »Der passt schon auf sich auf. Komm jetzt!«

Eine Blitzgabel fährt unter mächtigem Knallen und Zischen in den Boden.

Einundzwanzig, zweiundzwanzig –

Dann ein dumpfes Donnergrollen.

»Nicht mal drei Meilen!«, sagt Lugh.

Alles wird schwarz. Die Wolke ist über uns. Ich kann nichts mehr sehen.

»Lugh!«, kreisch ich.

»Halt dich fest!«, brüllt er. »Lass nicht los!«

Plötzlich läuft ein Prickeln über meine Haut. Ich keuch auf. Lugh spürt es offenbar auch, weil er nämlich meine Hand loslässt, als ob er sich verbrüht hätt.

»Blitz kommt!«, brüllt er. »Runter!«

Wir kauern uns hin, ein Stückchen auseinander. Wir kauern so dicht überm Boden, wie wir können. Mein Herz klopft wie wild.

Noch einmal, Saba. Wenn der Blitz dich draußen erwischt, was machst du dann?

Hinkauern, Kopf runter, Füße zusammen, Hände auf die Knie. Meine Hände und Knie dürfen den Boden nicht berühren. Das ist doch richtig, oder, Pa?

Und leg dich niemals hin. Vergiss das nicht, Saba, niemals hinlegen.

Laut und deutlich hör ich Pas Stimme in meinem Kopf. Er ist als kleiner Junge mal vom Blitz getroffen worden. Wär fast gestorben, weil er nicht gewusst hat, wie er sich verhalten muss, deshalb geht er verdammt sicher, dass wir alle wissen, wie wir –

Krach! Die Dunkelheit reißt mit einem grellen Blitz und einem mächtigen Knall auf. Ich flieg durch die Luft. Prall mit dem Kopf hart auf den Boden. Versuch mich hochzurappeln, fall aber wieder zurück. Bin benommen. In meinem Kopf dreht sich alles. Ich stöhne.

»Saba!«, ruft Lugh. »Alles in Ordnung?«

Noch ein Blitz zerreißt die Dunkelheit. Ich glaub, das Unwetter entfernt sich von uns, aber sicher bin ich nicht, benommen wie ich bin. Meine Ohren klingeln.

»Saba!«, brüllt Lugh. »Wo bist du?«

»Hier drüben!«, ruf ich. Meine Stimme ist ganz dünn und zittrig. »Hier bin ich!«

Und dann ist Lugh da, kniet sich neben mich und zieht mich hoch, bis ich sitze.

»Bist du verletzt?«, fragt er. »Alles in Ordnung?« Er legt den Arm um mich und hilft mir aufzustehen. Meine Beine sind ganz wackelig.

»Hat er dich getroffen?«

»Ich … ähm … er … hat mich umgeworfen, das ist alles«, sag ich.

Und während wir so dastehen, wälzt die Dunkelheit sich von uns.

Und die Welt ist rot geworden.

Leuchtend rot wie das Herz eines Feuers. Überall. Der Boden, der Himmel, die Hütte, ich, Lugh – alles rot. Die Luft ist voll von feinem rotem Staub, er liegt überall drauf. Eine rote, rote Welt. So was hab ich noch nicht gesehen.

Lugh und ich starren uns an.

»Sieht aus wie das Ende der Welt«, sag ich.

Meine Stimme klingt gedämpft, als ob ich unter einer Decke rede.

Und dann tauchen aus diesem roten Nebel die Männer auf ihren Pferden auf.

Es sind fünf. Auf robusten zottigen Mustangs.

Wir bekommen am Silverlake schon in normalen Zeiten keine Leute zu sehen, deshalb ist es ein Schock, ausgerechnet gleich nach dem schlimmsten Staubsturm seit Jahren Fremde zu sehen. Die Reiter halten in der Nähe von der Hütte an. Steigen aber nicht ab. Wir laufen rüber.

»Überlass das Reden mir«, sagt Lugh.

Vier Reiter tragen lange schwarze Gewänder. Darüber haben sie schwere Lederwesten an und auf dem Kopf Shemags. Sie sind von oben bis unten voll mit rotem Staub. Als wir näher kommen, seh ich, dass der fünfte Mann unser Nachbar Procter John ist. Er reitet sein Pferd Hob.

Als wir in Hörweite sind, ruft Lugh: »Komischer Tag für einen Ausritt, was, Procter John?«

Keiner sagt was. Wegen den Shemags kann man die Gesichter der Männer nicht sehen.

Jetzt sind wir ganz nah bei ihnen.

»Procter.« Lugh nickt ihm zu. »Wer sind deine Freunde?«

Procter sagt immer noch nichts. Starrt bloß auf seine Hände mit den Zügeln.

»Guck mal«, flüster ich Lugh zu.

Unter Procter Johns Hut rinnt Blut runter und schlängelt sich über sein Gesicht.

»Was ist hier los?«, fragt Lugh. »Procter?«

An seiner Stimme hör ich, dass er meint, hier stimmt was nicht. Fürcht ich auch. Mein Herz klopft schneller.

»Ist er das?«, fragt einer von den Männern Procter John. »Der Goldjunge da? Ist das der, der an Mittwinter geboren ist?«

Procter John guckt nicht hoch. Er nickt. »So ist es«, sagt er leise.

»Wie alt bist du, Junge?«, fragt der Mann Lugh.

»Achtzehn«, sagt Lugh. »Was geht’s euch an?«

»Und du bist auch bestimmt an Mittwinter geboren?«

»Ja. Hört mal, was soll das?«

»Ich hab euch doch gesagt, er ist der Richtige«, sagt Procter John. »Ich muss es wissen. Ich hab ihn die ganze Zeit im Auge behalten, wie ihr gewollt habt. Kann ich jetzt gehen?«

Der Mann nickt.

»Tut mir leid, Lugh«, sagt Procter John und guckt uns immer noch nicht an. »Sie haben mir keine Wahl gelassen.«

Er schnalzt Hob zu und will wegreiten. Der Mann zieht einen Bolzenschießer unterm Gewand vor. Ich weiß, er bewegt sich bestimmt sehr schnell, aber es scheint alles ganz langsam zu gehen. Er drückt ab und erschießt Procter. Hob bäumt sich erschreckt auf. Procter rutscht von Hob runter und plumpst auf den Boden. Er bewegt sich nicht mehr.

Ein eisiger Schreck durchfährt mich. Wir sind in Schwierigkeiten. Ich pack Lugh am Arm. Die vier Männer kommen auf uns zu.

»Hol Pa«, sagt Lugh. »Schnell. Ich lock sie vom Haus weg.«

»Nein«, sag ich. »Das ist zu gefährlich.«

»Geh schon, verdammt nochmal!«

Er dreht sich um und rennt zurück zum See. Die Männer geben ihren Pferden die Fersen und reiten ihm hinterher. Ich renn wie der Blitz zum Sturmschutzkeller, so schnell wie meine Füße mich tragen.

»Pa!«, brüll ich. »Pa! Komm schnell!«

Ich guck mich um. Lugh ist schon halb am See. Die vier Reiter schwärmen aus und machen einen großen Kreis. Lugh rennt weiter, aber er ist in der Mitte gefangen. Sie umzingeln ihn, rücken immer näher. Sie schließen ihn ein. Einer nimmt ein Seil von seinem Sattel.

Ich stampf mit dem Fuß auf die Falltür.

»Pa!«, kreisch ich. »Pa! Mach auf!«

Knarrend geht die Tür auf. Pas Kopf taucht auf.

»Sind sie da?«, fragt er. »Sind sie gekommen?«

Du hast das kommen sehen. Du hast es in den Sternen gesehen.

»Vier Männer!«, sag ich. »Schnell! Wir müssen sie aufhalten!«

»Emmi, bleib hier!« Pa klettert aus dem Keller. »Sie sind nicht aufzuhalten, Saba. Es hat begonnen.«

Seine Augen sehen leer aus. Tot.

»Nein!«, sag ich. »Sag das nicht!«

Jetzt ist Lugh ganz umzingelt. Er stürzt auf eine Lücke zu. Sie versperren sie ihm. Er stolpert, fällt hin, rappelt sich wieder hoch. Im staubig roten Dunst sieht das aus, als wär es nur ein böser Traum.

»Steh doch nicht bloß da rum!«, brüll ich Pa an. »Hilf mir!«

Ich hechte in die Hütte. Schnapp mir meine Armbrust, häng mir meinen Köcher um. Schnapp mir Pas Bolzenschießer. Leer. Ich fluch und werf ihn in die Ecke. Schnapp mir Pas Armbrust und den Köcher und renn wieder raus.

»Pa!«, brüll ich. »Sie haben Lugh!« Ich pack ihn an den Armen und schüttel ihn heftig. »Das ist kein Traum! Du musst kämpfen!«

Da wird er wieder lebendig. Er richtet sich auf, seine Augen funkeln, und der Pa, den ich kenn, ist wieder da. Er zieht mich an sich und hält mich so fest, dass ich fast keine Luft mehr krieg.

»Meine Zeit ist fast abgelaufen«, sagt er schnell.

»Nein, Pa!«

»Hör zu. Was danach kommt, weiß ich nicht. Ich hab nur flüchtige Bilder gesehen. Aber sie werden dich brauchen, Saba. Lugh und Emmi. Und da werden noch andere sein. Viele andere. Gib der Angst nicht nach. Sei stark, ich weiß ja, dass du stark bist. Und gib niemals auf, hörst du? Niemals. Egal was passiert.«

Ich starr ihn an.

»Werd ich nicht«, sag ich. »Ich bin kein Schisser, Pa.«

»So ist’s recht.«

Er nimmt seine Armbrust. Hängt sich den Köcher um.

»Fertig?«, fragt er.

»Fertig«, sag ich.

Wir rennen los. Rennen auf Lugh und die berittenen Männer zu.

Einer schlingt sein Seil zu einem Lasso.

»Laden!«, brüllt Pa. Wir nehmen jeder einen Pfeil. Legen ihn ein.

Der Reiter schwingt das Lasso, ein Mal, zwei Mal. Wirft.

»Zielen!«, brüllt Pa.

Das Lasso schlingt sich um Lughs Bein. Der Werfer zieht daran, und Lugh fällt um.

»Feuer!«, brüllt Pa.

Wir schießen. Nicht weit genug.

»Laden!«, brüllt Pa wieder.

Der Lassowerfer und noch ein Reiter springen von ihren Pferden. Sie drehen Lugh auf den Rücken. Einer setzt sich auf ihn drauf. Der andere reißt ihm die Arme über den Kopf und bindet ihm die Hände zusammen, dann auch die Füße.

»Aufhören!«, brüllt Pa. »Lasst ihn gehen!«

Wir rennen immer noch. Wir zielen. Einer von denen, die noch auf dem Pferd sitzen, dreht sich um. Sieht uns auf sie zurennen. Hebt seinen Bolzenschießer. Schießt.

Pa schreit auf. Seine Arme fliegen hoch.

»Pa!«, kreisch ich.

Er taumelt. Fällt hin.

»Pa!« Ich lass mich neben ihm fallen. Der Bolzen ist mitten durch sein Herz gegangen. Ich fass ihn an der Schulter und zieh ihn hoch. Sein Kopf plumpst nach vorn.

»Nein!« Ich schüttel ihn. »Neineineineineinein! Tu das nicht, Pa! Du darfst nicht sterben! Bitte stirb nicht.«

Ich schüttel ihn noch einmal. Sein Kopf fällt schlaff nach hinten.

»Pa«, flüster ich.

Ich bin wie versteinert. Kann mich nicht bewegen.

Er ist tot. Sie haben meinen Pa getötet.

Rasende Wut steigt in mir auf. Rot und heiß. Überschwemmt mich. Schnürt mir die Luft ab. Ich nehm meine Armbrust. Spring auf und renn auf die Männer zu. Im Laufen leg ich einen Pfeil ein.

»Aaaaaah!«, schrei ich. »Aaaaaaaaaah!«

Ich ziel. Schieß. Aber die rote heiße Wut lässt meine Hände so stark zittern, dass ich schlecht ziel. Der Pfeil geht weit daneben.

Ein Schuss pfeift auf mich zu. Ein stechender Schmerz. Rechte Hand. Ich schrei auf. Die Armbrust fällt mir aus der Hand.

Ich renn weiter.

Ich stürz an den Pferden vorbei und werf mich auf den Mann, der Lugh fesselt. Wir rollen über den Boden, um und um. Ich tret nach ihm, box ihn, kreische. Er schiebt mich weg. Steht wieder. Packt meinen Arm, zerrt mich hoch, stößt mich zu Boden. Ich lande auf dem Rücken. Ich schnapp nach Luft. Schnapp nach Luft. Krieg keine Luft. Krieg keine Luft. Krieg einfach keine Luft.

Dann. Dann.

Ich rappel mich hoch und stell mich schwankend vor sie hin.

Die vier Reiter sind jetzt alle abgestiegen. Sie stehen um Lugh rum. Mich gucken sie nicht mal an. Als ob ich gar nicht hier wär. Als ob es mich gar nicht gibt.

Ich drück meine blutende Hand an die Brust. »Lasst ihn gehen«, sag ich.

Sie achten gar nicht auf mich.

Lugh hebt den Kopf. Die Augen weit aufgerissen. Das Gesicht kreideweiß. Er hat schreckliche Angst. So hab ich ihn noch nie erlebt.

Ich geh näher ran. »Nehmt mich mit«, sag ich.

Der, der das Sagen hat, macht eine ruckartige Kopfbewegung. Sie heben Lugh hoch und schmeißen ihn auf ein Pferd.

»Bitte«, sag ich. »Bitte … nehmt mich mit. Ich mach keinen Ärger. Aber lasst mich nicht hier zurück ohne ihn.«

Sie binden ihn auf dem Pferd fest. Der Reiter nimmt die Zügel und springt hinter einem anderen Mann aufs Pferd. In einer roten Staubwolke reiten sie los.

»Lugh!«, schrei ich.

Ich lauf neben ihm her. Ich keuch. Krieg keine Luft.

Lugh hebt den Kopf. Unsere Blicke treffen sich. Lughs Augen. Blau wie der Sommerhimmel. Ich nehm seine Hände.

»Ich find dich«, sag ich. »Egal wo sie dich hinbringen, ich schwör, ich find dich.«

»Nein«, sagt er, »das ist zu gefährlich. Bring dich in Sicherheit. Dich und Emmi. Versprich’s mir.«

Im Vorbeireiten schnappen sie sich Hobs Zügel. Den nehmen sie auch mit.

Jetzt reiten sie schneller.

Ich kann nicht mehr mithalten. Meine Hand rutscht von Lughs ab.

»Versprich’s mir, Saba«, sagt Lugh.

Ich renn immer noch hinterher.

»Ich werd dich finden!«, schrei ich.

Sie verschwinden im roten Nebel.

»Lugh!«, kreisch ich. »Lugh! Komm zurück!«

Meine Beine geben nach. Ich fall auf die Knie.

Emmi klettert aus dem Sturmschutzkeller und kommt angerannt. Sie bleibt stehen. Starrt in die dunstige rote Welt. Auf Procter John, der neben der Hütte liegt. Dann sieht sie Pa.

»Pa!«, kreischt sie und rennt zu ihm.

Ich bring kein Wort raus. Krieg keine Luft.

Lugh ist weg.

Weg.

Mein Herz, meine Sonne ist weg.

Ich knie im Staub.

Tränen laufen mir übers Gesicht.

Und jetzt prasselt ein heftiger roter Regen vom Himmel.

In meinem Bauch ist ein Messer. Es dreht sich und schlitzt mich auf. Mit jedem Herzschlag rutscht es ein bisschen tiefer in mich rein. Es tut so weh, damit kann ich nicht weiterleben. Ich schling mir die Arme um den Oberkörper und krümme mich. Mein Mund öffnet sich zu einem stummen Schrei.

So bleib ich lange knien.

Der Regen lässt nicht nach. Um mich rum verwandelt sich die ausgetrocknete Erde in einen schäumenden See aus Schlamm.

Guck mal, Pa. Es regnet.

Zu spät.

Nero flattert zu mir runter und landet auf meiner Schulter. Zupft an meinen Haaren.

Ich richte mich auf. Ganz langsam. Ich bin benommen. Fühl rein gar nichts.

Steh auf. Du hast was zu erledigen.

Meine Hand. Ich guck sie mir an. Kommt mir vor, als wär sie weit weg. Als würd sie jemand anders gehören. Der Schuss hat einen langen Streifen Haut abgeschürft. Das muss weh tun.

Ich steh auf. Zwing meine Füße, sich zu bewegen. Rechts. Links. So schwer. Ich wate durch den Schlamm zur Hütte. Nero fliegt auf und kauert sich unters Dachsims.

Hand. Mach deine Hand sauber.

Ich gieß Wasser drüber. Mach Feuerkrautblätter drauf und bind ein Stück Stoff drum.

Pa ist tot. Du musst ihn verbrennen. Seine Seele freilassen, damit sie zurück zu den Sternen fliegen kann, wo sie herkommt.

Ich guck in den Holzschuppen. Nicht genug da, um einen richtigen Scheiterhaufen zu bauen. Aber ich muss ihn verbrennen.

Denk nach. Denk nach.

Ich find unseren kleinen Handkarren. Roll ihn Richtung See. Schieb ihn durch den Schlamm bis zu der Stelle, wo Emmi neben Pa steht.

Sie ist barfuß. Nass bis auf die Haut. Die Haare hängen in nassen Strähnen runter. Daraus tropft es ihr ins Gesicht und in den Nacken.

Sie rührt sich nicht. Guckt mich nicht an. Starrt vor sich hin.

Ich pack sie an den Armen und schüttel sie.

»Pa ist tot«, sag ich. »Wir müssen ihn wegbringen.«

Sie beugt sich vor und kotzt in den Schlamm. Ich warte, bis sie fertig ist. Sie sieht mich von der Seite an und wischt sich übern Mund. Ihre Hand zittert, sie weint.

»Geht’s wieder?«, frag ich. Sie nickt. »Nimm seine Beine«, sag ich.

Ich fass ihn unter den Armen und zieh. Emmi nimmt seine Füße. Pa ist in den letzten sechs Monaten dünner geworden. Es hat so lange nicht geregnet, da ist es immer schwerer geworden, was zu essen zu finden, so gut wie unmöglich, was anzubauen.

Du hast dein Abendessen nicht aufgegessen, Pa. Hast du keinen Hunger?

Ach, ich hatte reichlich, mein Kind. Hier. Teilt euch den Rest.

Er hat gewusst, dass wir ihm das nicht abnehmen, aber wir haben trotzdem alle mitgespielt.

So dünn wie Pa ist, ist er doch ein erwachsener Mann. Zu schwer für ein mageres kleines Mädchen und mich. Wir können ihn nicht tragen. Wir müssen ihn hochstemmen, zentimeterweise. Em rutscht ständig aus. Sie hört nicht auf zu weinen. Im Nu ist sie von oben bis unten mit rotem Schlamm beschmiert.

Irgendwann haben wir ihn dann auf dem Karren. Pa ist groß, deshalb passt er nur halb drauf. Die Beine baumeln hinten runter.

»Wo ist Lugh?« Emmi schluchzt. »Ich will Lugh.«

»Er ist nicht da«, sag ich.

»W-w-wo ist er?«

»Weg«, sag ich. »Ein paar Männer haben ihn mitgenommen.«

»Er ist tot«, sagt sie. »Du willst es mir bloß nicht sagen. Er ist tot! Lugh ist tot! Er ist tot, tot, tot, tot, tot, tot, tot –«

»Halt die Klappe!«, sag ich.

Sie fängt an zu kreischen. Schnappt nach Luft und schluchzt und kreischt und kreischt und kreischt.

»Emmi!«, brüll ich sie an. »Hör auf!«

Aber sie kann nicht. Sie ist völlig durch den Wind. Außer Kontrolle.

Also verpass ich ihr eine Ohrfeige.

Da hört sie auf.

Erschrocken schnappt sie nach Luft. Atmet ein paarmal tief und stockend durch, bis sie sich beruhigt hat. Wischt sich die Nase am Ärmel ab. Guckt mich an. Auf ihrer Wange ist ein roter Fleck. Ich hätt das nicht tun sollen. Das weiß ich. Lugh hätt es nicht getan. Sie ist zu klein, um das wegzustecken.

»Tut mir leid«, sag ich. »Aber du hättest das nicht sagen sollen. Lugh ist nicht tot. Sag das nie wieder. Und jetzt halt Pas Füße hoch. Fass an den Schnürsenkeln an. So ist es leichter.«

Sie gehorcht.

Ich dreh mich um und zieh den Karren hinter mir her. Es ist anstrengend bei dem Regen und durch den Schlamm. Wasser läuft mir in die Augen, in den Mund, in die Ohren. Überall an meinen Stiefeln klebt Schlamm, und ich rutsch ständig aus.

Em ist ein hoffnungsloser Fall, wie immer. Sie fällt ständig hin, aber ich helf ihr jedes Mal wieder hoch, und wir gehen weiter. Wenigstens weint sie nicht mehr. Wir kommen zur Hütte, schieben und ziehen den Karren mit Pa, bis wir ihn drin haben.

Die Hüttenwände sind aus Reifen.

Das Zuhause, das Pa mit seinen eigenen Händen gebaut hat, wird sein Scheiterhaufen. Ich wette, das hätt er nicht gedacht.

Emmi hilft mir, unseren großen alten Holztisch auf den Kopf zu stellen, und dann zerren wir Pa vom Karren auf die Tischplatte.

Ich geh zur Truhe, wo wir unser bisschen Wäsche aufbewahren. Als ich den Deckel aufmach, steigt mir der Geruch von getrocknetem Salbei in die Nase. Ich zieh Pas dicken Winterkittel raus und werf ihn Emmi zu.

»Reiß den in Streifen«, sag ich.

Dann hol ich Lughs Winterkittel raus. Vergrab mein Gesicht darin und atme tief ein. Aber wir haben ihn vor dem Wegräumen gewaschen. Er riecht nach sauberem Stoff und nach Salbei. Er riecht nicht nach Lugh.

Ich geb mir einen Ruck und reiß ihn auch in Streifen.

Als wir damit fertig sind, liegt da ein hübscher Haufen. Ich stöber die Kanne Wurzelwhisky auf, den Pa in besseren Zeiten gebrannt hat. Wir tauchen alle Stoffstreifen in den Whisky. Dann sag ich Em, sie soll die Streifen in die Wände stopfen, in die Ritzen zwischen den Reifen. Die Übrigen leg ich um Pas Leiche rum.

Danach steck ich das Nötigste in meinen Rindenbeutel. Das rote Messerdingsda, Feuerstein, Heilkräuter, ein Hemd zum Wechseln.

»Dieselben Männer, die Pa getötet haben, haben auch Lugh mitgenommen«, sag ich. »Ich geh ihnen hinterher. Ich weiß nicht, wo sie ihn hinbringen. Vielleicht weit weg von hier. Kann eine Weile dauern, bis ich ihn find. Aber finden werd ich ihn. Ich hol ihn zurück.«

Ich verstau einen Wasserschlauch, ein Seil aus Nesselschnur und so viel Dörrbeerenstreifen und Wurzelkekse, dass wir ein paar Tage damit auskommen. Wenn uns das Essen ausgeht, muss ich eben jagen.

»Sie haben einen Vorsprung, und sie sind auf vier Beinen unterwegs, nicht auf zweien«, sag ich. Ich muss schnell sein.

Ich such Emmis Wasserschlauch, ihre Jacke und ihren Hundslederumhang zusammen. Dann sag ich, ohne sie dabei anzugucken: »Ich lass dich bei Mercy in Crosscreek.«

»Nein«, sagt Emmi.

Ich steck ihre Sachen in einen anderen Rindenbeutel.

»Pa und Lugh haben mir aufgetragen, dich in Sicherheit zu bringen«, sag ich, »und da bist du in Sicherheit. Mercy und Ma sind Freundinnen gewesen. Sie hat bei Lughs und meiner Geburt geholfen. Zu deiner Geburt ist sie auch gekommen.«

»Ich weiß«, sagt Em.

Wir sprechen nicht aus, was wir beide wissen: dass Mercy zu spät gekommen ist. Emmi ist zu früh gekommen, Ma ist gestorben, und Mercy hätt sich den Dreitagesmarsch genauso gut sparen können.

»Mercy ist eine gute Frau«, sag ich. »Pa hat immer gesagt, wenn ihm irgendwas passiert, sollen wir zu ihr gehen. Er hat Lugh und mir den Weg nach Crosscreek erklärt. Vielleicht hat sie sogar ein Kind, mit dem du spielen kannst.«

»Das ist mir egal«, sagt Emmi. »Ich geh mit dir.«

»Das geht nicht«, sag ich. »Ich weiß nicht, wo ich hingeh oder wie lange das dauert. Außerdem bist du zu klein. Du würdest mich nur aufhalten.«

Emmi verschränkt die Arme und streckt das Kinn vor wie immer, wenn sie stur ist. »Lugh ist auch mein Bruder! Ich hab ein Recht, nach ihm zu suchen, genau wie du.«

»Mach mir keine Scherereien, Emmi.« Ich nehm die kleine Wäscheklammerpuppe, die Pa für sie gemacht hat, und steck sie in den Beutel. »Es ist am besten so. Wenn ich Lugh gefunden hab, kommen wir zurück und holen dich, versprochen.«

»Glaub ich dir nicht«, sagt sie. »Du hasst mich. Du liebst Lugh, und mich hasst du. Ich wünschte, sie hätten dich statt Lugh mitgenommen.«

»Tja, haben sie aber nicht«, sag ich. »Pa und Lugh haben gesagt, dass ich für dich verantwortlich bin, und ich sag, du bleibst bei Mercy. Und damit basta.«

Ich steck Lughs Schleuder in meinen Gürtel. Und Pas Messer in eine Scheide in meinem Stiefel. Häng mir Köcher und Armbrust um.

Diesiges rotes Licht sickert durchs kleine Fenster. Es fällt genau auf Pas Gesicht.

Ich knie mich neben ihn hin, nehm seine Hand. Emmi kniet gegenüber und nimmt seine andere Hand.

»Er ist immer noch warm«, flüstert sie. Nach einer Weile sagt sie: »Du musst jetzt die Worte sagen.«

Sie hat recht. Man sagt immer ein paar besondere Worte, um einen Toten auf den Weg zu schicken.

Pa hat welche für Ma gesagt, bevor er damals ihren Scheiterhaufen angezündet hat. Aber ich kann mich nicht daran erinnern. Ich war wohl zu klein, um richtig drauf zu achten. Jetzt ist er an der Reihe, dass jemand was für ihn sagt, aber mir will einfach nichts einfallen.

»Na los«, sagt Emmi.

Dann: »Tut mir leid, Pa«, sag ich.

Das hab ich gar nicht sagen wollen, aber mein Mund hat sich bewegt, und das sind die Worte, die rausgekommen sind. Aber ich merk, dass mir so einiges leidtut. Wirklich.

»Tut mir leid, dass du tot bist«, sag ich. »Tut mir leid, dass du es hier so schwer gehabt hast, besonders in der letzten Zeit. Vor allem tut mir leid, dass du Ma verloren hast, wo du sie doch so geliebt hast. Ich weiß, du hast nicht viel Freude gehabt, seit sie nicht mehr da ist. Tja … jetzt bist du bestimmt glücklich. Ihr seid wieder zusammen. Zwei Sterne, nebeneinander.«

Ich mach eine Pause. Dann: »Ich geh Lugh hinterher. Ich hol ihn zurück, Pa. Ich geb keine Ruhe, bis ich ihn find. Versprochen.«

Ich guck Em an. »Willst du … ihn zum Abschied küssen?«

Sie küsst ihn auf die Wange. Dann schlag ich Funken mit meinem Feuerstein und zünd die Wollstreifen um Pa an.

»Willem vom Silverlake«, sag ich, »ich lass deine Seele frei, damit sie nach Hause zu den Sternen zurückkehren kann.«

Die ersten Flammen züngeln am Tisch.

»Wiedersehen, Pa«, flüstert Emmi. »Ich werd dich vermissen.«

Wir stehen auf, und ich geb ihr die Rindenbeutel.

»Geh schon mal nach draußen«, sag ich.

Ich zünd die Wollstreifen in den Wänden an. Warte, bis die Reifen Feuer fangen, bis die Flammen anfangen, an den Wänden langzulaufen.

»Wiedersehen, Pa«, sag ich.

Dann geh ich raus und mach die Tür hinter mir zu.

Der Regen hört auf. Ein heißer Südwind weht. Die Nachmittagssonne brennt auf uns runter.

Nero hängt über uns in der Luft und segelt in trägen Kreisen auf dem Aufwind. Er ist vor dem Sturm geflohen und hat sich in Sicherheit gebracht, genau wie Lugh gesagt hat. Wenn wir das nur auch geschafft hätten.

Sieht aus, als wär’s ein Tag wie jeder andere. Könnte gestern sein, letzte Woche, vor einem Monat. Aber das ist es nicht. Es ist kein Tag wie jeder andere.

Das hab ich nicht gewusst. Hab nicht geahnt, dass in einem Augenblick alles in Ordnung sein kann und im nächsten so schlimm, dass einem die Zeit davor vorkommt wie ein Traum.

Oder vielleicht ist das hier ja der Traum. Ein langer, schrecklicher Traum mit einem Sturm und Männern in Schwarz, die Pa getötet und Lugh mitgenommen haben. Vielleicht wach ich ja gleich auf. Ich werd allen davon erzählen, und dann schütteln wir den Kopf darüber, wie albern Träume sein können.

In meiner rechten Hand pocht es dumpf. Ich halt sie hoch. Da ist ein Stück Stoff drum, ganz dreckig und zerrissen. Ich drück drauf. Ein stechender Schmerz schießt mir den Arm rauf. Fühlt sich ziemlich echt an.

Jemand sagt was.

»Saba?« Emmis Stimme. »Saba?«

»Häh?«

»Was ist mit Procter John?«

Ich guck zu Boden. Seine Leiche liegt ausgestreckt da, das Gesicht ist vor Schmerz verzerrt. Er war wohl nicht sofort tot.

Ich hab euch doch gesagt, er ist der Richtige. Ich muss es wissen. Ich hab ihn die ganze Zeit im Auge behalten, wie ihr gewollt habt.

»Überlass ihn den Geiern«, sag ich.

Der Wind stinkt nach brennenden Reifen. Riecht ziemlich echt. Meine Kopfhaut kribbelt.

Ich häng mir den Rindenbeutel über die Schulter. Dann geh ich los. Ich guck nicht zurück. Ich komm nie mehr hierher zurück.

Toter See. Totes Land. Totes Leben.

Der Pfad

Bloß ein schmaler Pfad führt zum Silverlake und wieder von da weg. Ansonsten gibt es hier in der Gegend nur offenes Land. Niedriges Gestrüpp, Felsblöcke und Ruinen von ein, zwei Abwrackergebäuden. Der Pfad führt nach Nordosten. Zufällig liegt auch Crosscreek, wo ich Emmi bei Mercy lassen werd, von hier aus drei Tage Richtung Nordosten. Allerdings nach Pas Rechnung. Bei Emmis kurzen Beinen werden drei Tage nicht reichen. Und sie ist schrecklich langsam zu Fuß.

»Na komm, Emmi«, sag ich, »zeig mal, wie flott du bist.«

Mit großen Schritten geh ich los. Nach etwa zehn Schritten dreh ich mich um und seh nach, ob sie mithält.

Sie ist stehen geblieben. Steht mitten auf dem Pfad. Hat die Arme vor der mageren Vogelbrust verschränkt. Den Rindenbeutel hat sie neben sich in den Matsch geworfen.

»Komm schon!«, ruf ich.

Sie schüttelt den Kopf. Ich fluch und geh zu ihr zurück. Als ich bei ihr bin, frag ich: »Was?«

»Wir dürfen nicht weggehen«, sagt sie.

Sie reckt ihr stures kleines spitzes Kinn vor. O nein, diesen Blick kenn ich. Sie ist auf Krawall gebürstet.

»Warum nicht?«

»Wir müssen hierbleiben«, sagt sie. »Wenn Lugh zurückkommt, und wir sind nicht hier, dann macht er sich Sorgen.«

»Er kommt nicht zurück«, sag ich.

»Er kann bestimmt fliehen«, sagt sie, »bestimmt. Und dann kommt er zurück, und wir sind nicht mehr hier, und dann weiß er nicht, wo er anfangen soll, nach uns zu suchen und so.«

»Hör zu«, sag ich. »Du hast sie nicht gesehen. Ich aber. Vier Männer haben ihn mitgenommen. Haben ihm Hände und Füße gefesselt und ihn auf ein Pferd gebunden. Er kann nicht ohne Hilfe fliehen. Deshalb geh ich ja hinterher. Allein. Ich hab ihm versprochen, dass ich ihn find, und das werd ich auch.«

»Wenn du ihn gefunden hast«, sagt sie, »kommen wir wieder hierher zurück. Oder?«

Ich seh ihr an, dass sie weiß, wir kommen niemals hierher zurück. Aber sie will mich zwingen, es auszusprechen.

»Hier kann man nicht leben«, sag ich. »Das weißt du. Wir suchen uns ein neues Zuhause. Ein besseres. Lugh und ich und … du.«

Jetzt hat sie Tränen in den Augen.

»Aber wir leben doch hier«, sagt sie. »Das ist unser Zuhause.«

Ich schüttel den Kopf. »Jetzt nicht mehr. Es geht nicht mehr.«

Nach einer Weile sagt sie: »Saba?«

»Was?«

»Ich hab kein gutes Gefühl dabei. Ich finde, wir dürfen nicht weggehen. Ich hab … Angst.«

Ich will ihr schon sagen, sie soll nicht so albern sein. Aber ich brems mich, bevor ich es ausspreche. Ich bin jetzt für sie verantwortlich, und ich will nicht, dass sie jedes Mal auf stur schaltet, wenn ich ihr irgendwas sag. Ich überleg, was Lugh tun würde, wenn er hier wär. Wahrscheinlich würd er sie necken, ihr schmeicheln.

»Wie meinst du das, du hast Angst?« Ich tu überrascht. »Wie kannst du Angst haben, wo ich mich um dich kümmer?«

Sie lächelt zaghaft. »Hast du denn keine Angst?«

Sie sagt es fast so, als ob ich sie einschüchter.

»Ich?«, sag ich. »Nee. Ich hab vor nichts Angst. Ich hab vor niemand Angst.«

»Echt?«, fragt sie.

»Echt«, sag ich. Ich zöger. Dann streck ich die Hand aus. Sie gibt mir ihre. »Na komm«, sag ich. »Gehen wir.«

Wir sind erst eine gute Meile gegangen, da stoßen wir auf Hufabdrücke im getrockneten Schlamm. Fünf Pferde. Die Reiter sind mit Lugh hier lang gekommen.

Ich knie mich hin und fahr mit dem Finger den Rand von einem Abdruck nach. Mir ist ganz schwindelig vor Erleichterung. Ich hab Angst gehabt, sie würden vom Silverlake aus querfeldein reiten. Dann würd ich viel Zeit verlieren. Müsst erst Emmi nach Crosscreek bringen und danach zum Silverlake zurückwandern, um ihre Spur aufzunehmen.

»Na komm«, sag ich zu Em. »Wir müssen uns beeilen.«

Ich schon sie kein bisschen. Ich geh schnell, mit ruckartigen Schritten. Bloß keine Zeit verlieren.

Sie muss traben, um mitzuhalten. Der Rindenbeutel schlägt ihr gegen den Rücken. Nero fliegt voraus.

Lugh war hier. Er ist hier vorbeigekommen.

Lugh geht vor, immer, und ich komm dahinter. Ich werd ihn einholen. Ich hol ihn immer ein. Immer.

Ich find dich. Egal wo sie dich hinbringen, ich schwör, ich find dich.

Ich geh schneller.

Nachmittag. Zweiter Tag unterwegs.

Ich muss mich zwingen, nicht laut zu schreien. Nicht so schnell zu gehen. Nicht vorauszulaufen.

Emmi.

Wir könnten kaum noch langsamer gehen, und das ist nur ihre Schuld.

Am liebsten würd ich sie am Wegesrand sitzen lassen und vergessen, dass sie je geboren worden ist. Ich wünschte, der Erdboden würd sie verschlucken. Aber das kann ich mir nicht wünschen. Das darf ich mir nicht wünschen. Das ist zu gemein. Sie ist mein eigen Fleisch und Blut, genau wie Lugh.

Nicht genau wie Lugh.

Keiner ist genau wie Lugh.

Niemals genau wie Lugh.

Wir lassen ein kleines Wäldchen mit fast toten Kiefern hinter uns.

Hier biegen die Hufabdrücke vom Pfad ab. Ab jetzt verlaufen sie nach Norden.

»Warte hier«, sag ich zu Emmi.

Ich geh den Hufabdrücken nach, bis die brettharte Erde zu kümmerlichem Grasland wird. Die Hufabdrücke verlieren sich. Ich schirm die Augen ab. Guck in die Ferne. Das Grasland ist bloß ein schmaler Streifen. Dahinter kann ich nur offenes Land sehen. Flaches Land. Wüste. Ich bin noch nie hier gewesen, aber ich weiß, was das ist.

Das Sandmeer.

Eine scheußliche, tödlich trockene Gegend, nur Wind und Wanderdünen. Eine raue Gegend. Eine Gegend voller Geheimnisse.

Vor Emmi, als Ma noch am Leben und alles gut gewesen ist, hat Pa Lugh und mir immer Geschichten aus der Zeit der Abwracker erzählt. Ein paar davon sind übers Sandmeer. Er hat uns von ganzen Siedlungen voller Leute erzählt, die von Wanderdünen begraben worden sind. Und dann dreht sich eines Tages der Wind, und die Düne wandert weiter, und alles, was übrig ist, sind die Hütten. Keine Menschen. Alle weg. Keine Spur von denen übrig, nicht mal Knochen. Nur die toten Seelen. Die sind zu Sandgeistern geworden. Nachts heulen die und weinen um ihr verlorenes Leben. Pa hat immer gesagt, er würd uns da aussetzen, wenn wir nicht brav sind.

Ich häuf ein paar Steine auf. Damit ich die Stelle hinterher wiederfind.

Dann geh ich zurück zum Pfad.

Em sitzt auf der Erde und lässt den Kopf hängen. Sie hat die Stiefel ausgezogen.

»Wir müssen weiter«, sag ich.

Ich seh auf sie runter. Auf ihre kurzen feinen braunen Haare, die in Wirbeln wachsen. Mit ihrem dünnen kleinen Hals und den wuscheligen Haaren sieht Emmi eher wie ein Vogelküken aus als wie ein Mädchen.

Ein Wunder, dass ich ihr mit meiner Ohrfeige nicht den Hals gebrochen hab. Bei dem Gedanken wird mir übel, also versuch ich, nicht daran zu denken. Ich weiß genau, dass Em noch nie in ihrem Leben geschlagen worden ist, bevor ich die Hand erhoben hab. Lugh hätt das nie getan, egal was los ist. Nie. Er würd schäumen vor Wut, wenn er wüsste, was ich getan hab.

Ich hock mich neben sie. »Was ist los?«, frag ich.

Dann seh ich ihre Fersen. Sie sind blutig gescheuert. Sie ist es nicht gewöhnt, so weit zu laufen. Muss fies weh tun, aber sie hat keinen Mucks von sich gegeben.

»Warum hast du mir nichts gesagt?«, frag ich.

»Ich hab Angst gehabt, dass du mich wieder anbrüllst.«

Ich guck sie an, ihr Gesicht ist so klein und schmal. In meinem Kopf hör ich Lughs Stimme.