Dynasty of Hunters, Band 2 - Von dir gezeichnet - P. J. Ried - E-Book

Dynasty of Hunters, Band 2 - Von dir gezeichnet E-Book

P.J. Ried

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Beschreibung

Fünf Adelshäuser. Fünf Farben. Ein Königreich, in dem eine einzige Berührung dir alles nehmen kann. Nach den Jagdspielen ist alles anders, als Laelia es sich erträumt hat. Sie wird gegen ihren Willen festgehalten und gezwungen, einen Mann zu lieben, den sie hasst. Dabei gehört ihr Herz einem anderen, von dem sie nicht einmal weiß, ob er noch am Leben ist. Als schließlich sogar die Verlobung bekannt gegeben wird, erkennt Laelia, dass es höchste Zeit ist, die Fassade der braven Adeligen fallen zu lassen. Doch ihre Rache hat einen Preis: Sie ist wie ein Funken, der ganz Prismeïa in Brand steckt. Tauche ein in die Welt der "Dynasty of Hunters" - voller Bälle, Intrigen, Verrat und einem gefährlichen Wettstreit: Band 1: Von dir verraten Band 2: Von dir gezeichnet

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Seitenzahl: 690

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Triggerwarnung

Liebe*r Leser*in,

dieser Roman enthält Themen, die potenziell emotional belasten oder triggern können. Auf dieser Seite befindet sich ein Hinweis zu den Themen.

ACHTUNG: Dieser enthält Spoiler für die gesamte Handlung.

Als Ravensburger E-Book erschienen 2025 Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg

© 2024 Ravensburger Verlag GmbH Text © 2025 P. J. Ried Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover. Covergestaltung und -illustration: Isabelle Hirtz, Hamburg Lektorat: Sarah Heidelberger (www.sarah-heidelberger.de) Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-473-51257-7

ravensburger.com/service

Für Tobi

Heute, morgen und für alle Zeit.

Kapitel 1

Irina

Schwer und süß hängt der Geruch des Blütenstaubs von Arc-en-ciel in meinen Haaren, vermischt sich mit dem des Ozeans und verbrannter Kohle, als ich das Boot betrete, das uns zurück nach Hause bringen soll.

Das Metalldeck gleißt in der Sonne, und ich muss die Augen zusammenkneifen, um nicht geblendet zu werden. Bunte Wimpel flattern im Wind und sollen vermutlich einen feierlichen Eindruck erwecken. Von irgendwo dringt der Klang eines Grammofons an meine Ohren, ein völlig anderer Takt als die leicht schlurfenden Schritte meiner Gezeichneten hinter mir, gefolgt von dem Geräusch von Laurents und Laelias Stiefeln.

Ich will mich gerade zu meinem Bruder umdrehen, als Henry de Vert, eine Wache der Force d’élite aus einer der niedrigsten Nebenfamilien, auf uns zuhastet und sich im Laufen die Handschuhe am grünen Gehrock abwischt. Sie sind mit irgendeiner rosafarbenen Creme verschmiert, und ich würde meine Fingerklingen darauf verwetten, dass sie von einer Sahnetorte stammt. Sein braunes Haar ist am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden, und Schweißperlen glänzen über seiner nervös zuckenden Oberlippe, als er kurz vor uns zum Stehen kommt und ein Klemmbrett zückt – verkehrt herum. »Mademoiselle Irina, Monsieur Laurent, willkommen an Bord!«

Mehr sagt er nicht, sondern schaut uns bloß an, ein hoffnungsvolles, angespanntes Lächeln im Gesicht.

Sekunden verstreichen, in denen ich ihn einfach nur anstarre, bis ihm auffällt, dass er seine Liste auf dem Kopf hält, und eilig das Klemmbrett wendet.

»Das ist alles? Keine Fanfaren? Kein Konfetti? Nicht einmal Champagner? Enttäuschend.«

»In der Kabine erwarten Euch Tee und Gebäck«, entgegnet Henry. »Sobald ich überprüft habe, ob Ihr auch wirklich die Vorschriften erfüllt.«

Ich verdrehe die Augen. »Klar, und die beiden hinter uns sind einfach nur zum Spaß hier.«

»Es tut mir leid, Mademoiselle, aber so sind die Vorschriften«, erklärt er und baut sich vor mir auf.

Wortlos hebe ich eine Augenbraue und mustere ihn einige Sekunden lang ausdruckslos, bis er unter meinem Blick zusammenschrumpft. Offenbar hat er gerade endlich begriffen, dass er die nun offiziellen Thronerben der de Verts vor sich stehen hat.

»Verzeihung«, murmelt er, »aber ich muss meine Arbeit machen.«

»Wir sind verdammt müde und noch dazu verwundet«, erklärt Laurent grimmig und deutet mit dem Kinn auf seinen notdürftig mit ein paar Stoffstreifen verbundenen Oberschenkel. Die Hände hat er dabei tief in den Hosentaschen seiner Uniformhose vergraben.

Henrys Blick folgt seiner Geste, dann wandert er weiter in Richtung meiner Gezeichneten und zu Laelia. »Sicher«, erwidert er. Als er das Blut an den provisorischen Verbänden sieht, weicht ihm sämtliche Farbe aus dem Gesicht. Erst als hinter ihm weitere Wachen mit Erfrischungsgetränken und Gebäck aus der Wächterkajüte treten, fängt er sich wieder, strafft die Schultern und geht um uns herum zur Rückseite der Kajütenwand, wo er eine Schraube aufdreht und ein schmales Pult hochklappt.

Mit einem leisen Klacken platziert er das Klemmbrett darauf, bevor er ein Fläschchen mit Tinte und eine zerknickte Schreibfeder aus seiner Jackentasche hervorzieht und sich erwartungsvoll zu uns herumdreht. »Es geht schnell. Zeigt mir Eure Finger und die Zeichnungen, dann könnt Ihr gehen.«

Ich tausche einen flüchtigen Blick mit Laurent, der mir kaum merklich zunickt, ehe ich ihm meine Finger entgegenstrecke, die bis zum untersten Gelenk grün verfärbt sind. Dabei beobachte ich die anderen Wachen, die sich inzwischen über das Deck verteilen und sich auffällig unauffällig bemühen, nicht zu neugierig in unsere Richtung zu schauen.

»Die Gezeichnete?«, fragt Henry und hebt den Kopf.

»Komm«, sage ich an sie gewandt, und wie mechanisch tritt sie vor.

»Sie heißt Amber«, zischt Laelia hinter mir wütend. Es sind die ersten Worte, die sie von sich gibt, seit wir von der Klippe zum Strand aufgebrochen sind.

»Ist mir egal«, antworte ich kühl, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entspricht.

Es ärgert mich, dass Laelia mir das ungefragt an den Kopf wirft. Denn das Letzte, was ich im Moment will, ist, etwas über meine Gezeichnete zu erfahren. Darüber nachdenken zu müssen, dass sie zuvor einmal ein anderes Leben geführt hat. Eines mit eigenen Hoffnungen und Träumen, die jetzt durch Erinnerungen an ihre Treue zu mir ersetzt wurden. Ihr Name ist ein Echo dieser Vergangenheit. Etwas, das sie zu mehr macht als zu meiner Gezeichneten, obwohl sie nie zu etwas anderem bestimmt war. Meine Zeichnung hat dieses Schicksal nur besiegelt.

Du wurdest dazu geboren, Irina treu zu sein.

»In Ordnung«, fährt Henry ungerührt fort, während er die notierten Nummern abgleicht, setzt einen Haken auf der Liste und seine Unterschrift daneben. In ein leeres Feld notiert er Ambers Zeichnung und nickt anschließend meinem Bruder zu. »Monsieur Laurent?«

Dieser gibt ein scheinbar genervtes Schnaufen von sich und zieht die Hände aus den Hosentaschen, um sie ihm hinzuhalten. Henry betrachtet seine Fingerspitzen, verharrt dabei einen Moment zu lange bei seinen Knöcheln, ehe er ebenfalls einen Haken auf dem Klemmbrett setzt. So leise, dass ich Mühe habe, ihn zu verstehen, murmelt er irgendetwas vor sich hin, das entfernt wie »ordentlich ausgetobt, der junge Thronfolger« klingt.

Mein Bruder und ich tauschen einen Blick. Als ich danach seine Finger in Augenschein nehme, möchte ich ihn am liebsten schütteln.

Auf dem Weg von der Klippe zum Strand habe ich ihm eine Tinktur aus Chlorophyll gegeben, mit der er seine Finger vorübergehend grün färben und Laelia einen provisorischen Schriftzug verpassen sollte, bevor wir das Boot erreichen. Die Farbe wird nicht dauerhaft auf seiner Haut halten, jedoch ausreichen, um die Kontrollen und die Ehrung zu überstehen. Ich hatte gedacht, er würde lediglich seine Fingerspitzen darin einweichen, kaum höher als das Nagelbett. Doch stattdessen hat er die Farbe bis zu seinen mittleren Knöcheln aufgetragen, wo der Rand bei genauerer Betrachtung ein wenig ausgefranst und blasser aussieht statt gleichmäßig wie bei echter Farbe. Natürlich hatte er mich übertrumpfen müssen, ohne daran zu denken, welchen Eindruck das erwecken würde – und dass es nur eine falsche Frage bräuchte, um ihn in Erklärungsnot zu bringen. Doch in seinen Augen liegt bloß ein herausforderndes Funkeln.

»In Ordnung«, sagt Henry jetzt laut, den Blick immer noch auf Laurents chlorophyllgrüne Finger gerichtet, und grinst Laurent wissend an. »Dann fehlt nur noch Eure Gez…«

Laute Rufe ertönen vom Strand, gefolgt von einem dumpfen Geräusch, als würde etwas Hartes mit aller Kraft gegen den Schiffsrumpf geworfen. Ein faustgroßer Stein fliegt haarscharf an mir und Henry vorbei, zersprengt das Kajütenfenster und schlittert durch den Raum dahinter.

»Was zum …«, ruft Henry erschrocken und springt auf, zieht sein Schwert und stürzt an uns vorbei zur Reling. Es grenzt an ein Wunder, dass er in seiner Eile nicht die gesamte Tinte über der Liste verschüttet, die achtlos auf dem Tischchen zurückbleibt. Auch die übrigen Mitglieder der Force d’élite verlassen ihren Posten und stürzen aus allen Richtungen an die Reling, um nachzusehen, was am Strand vor sich geht.

»Die Gejagten wollen das Boot stürmen!«, schreit Ilona de Vert und stürzt hinüber zur Gangway, um einen Jungen in brauner Uniform zurückzustoßen.

Doch bevor sie ihn erreicht, erkenne ich für einen Moment sein Gesicht – zerzauste helle Locken, die in eine sonnenverbrannte Stirn fallen, und eine wilde, beinahe verzweifelte Entschlossenheit in den Augen. In den Händen hält er einen massiven Ast wie eine Keule, und seine Finger sind mit schwarzer Rußfarbe verschmiert.

Unsere Blicke treffen sich, prallen mit Gewalt gegeneinander, und instinktiv taste ich nach meinem Dolch. Ein Schauder jagt mir über den Körper, als ich begreife, dass er einer von ihnen sein muss. Ein Arc oder zumindest ein von ihnen befreiter Gejagter. Denn an seiner Halskuhle erkenne ich einen feinen goldenen Schriftzug, aber von seinem Urheber fehlt jede Spur.

Kein Wunder. Höchstwahrscheinlich liegt er irgendwo auf der Insel, getötet von einer Gruppe radikaler bürgerlicher Aufständischer, die sich den lächerlichen Namen Archchasseurs gegeben haben. Als könnten sie es allen Ernstes mit uns Jägern aufnehmen.

Getötet, um den Gejagten von seinem Bann zu befreien.

Getötet, weil er zu schwach war, um auf seinen Gezeichneten aufzupassen und die Jagdspiele final zu gewinnen.

»Ergebt euch und kehrt friedlich in eure Heimat zurück!«, ruft Anne de Vert und tritt hinter Ilona. »Einen Schritt weiter, und das war es für euch und eure Familien.«

»Verarschen könnt ihr euch allein. Ergebt ihr euch lieber und überlasst uns das Boot!«, zischt der Gezeichnete und funkelt uns weiterhin an. »Ihr könnt uns sowieso nicht mehr aufhalten!«

»Das ist die letzte War–«

Sein Ast trifft Ilona gegen die Schläfe. Blut spritzt, sie taumelt zurück und sackt an der Kajütenwand zu Boden, während die umstehenden Wachen einen Moment lang zu geschockt sind, um zu reagieren. Einzig eine brünette Frau beugt sich zu Ilona hinab, um ihre Wunde zu versorgen.

»A cœur vaillant, rien d’impossible!«, brüllt er so laut, dass sein Ruf mit Sicherheit über die gesamte Insel schallt. Blattrochen stieben aus den Baumkronen, irgendwo ertönt das gedämpfte Brüllen eines Monsters, bevor sein Ruf ein Echo in den Kehlen von gut zwölf anderen jägerlosen Gejagten findet, die sich am Strand versammelt haben.

Der Leitspruch der de Noirs.

Mein Blick zuckt zu Laelia, die erschrocken den Kopf emporreißt und den Mund öffnet, als wollte sie etwas erwidern. Ihre Hand zuckt in die Höhe, in Richtung ihres Dreizacks, während die Wachen den Jungen und seine Verbündeten gewaltsam auf den Strand zurückdrängen. Fort von den Schiffen, die sie kapern wollen, um zu entkommen, ohne von den Adelshäusern verhaftet zu werden. Denn sobald sie eines ohne ihren Jäger betreten würden, wären sie automatisch für sein Verschwinden verantwortlich – und somit zum Tode verurteilt. Die Wachen treiben die Gejagten direkt in die Arme der Wachen anderer Häuser, die ebenfalls den Strand stürmen, um die Bedrohung gemeinsam zu bekämpfen.

»Wag es ja nicht«, zische ich. Lange vor Laurent habe ich begriffen, welche Gefahr von Laelia ausgeht. Hastig trete ich auf sie zu und richte die Spitze meines Dolches auf ihre Kehle.

»Na los«, zischt sie herausfordernd und packt mit festem Griff mein Handgelenk, wobei die Mischung aus Kalkstein, Lehm und Wasser, mit der wir notdürftig die Farbe an ihren Fingerspitzen verborgen haben, feine Risse bekommt. Ihre Augen funkeln gefährlich, während sich ihr Blick mit der Schärfe von gesplittertem Glas in meinen bohrt. Darin erkenne ich die Wut eines Menschen, dem alles genommen wurde. Den Zorn einer Frau, die nichts mehr zu verlieren hat außer ihrem Stolz.

Aber ich weiß nur zu gut, dass es doch noch etwas gibt, das sie zu verlieren hat. Also wechsele ich die Strategie und rucke mit dem Kopf in Ambers Richtung. »Ein falsches Wort oder eine falsche Bewegung, und es wirst nicht du sein, die darunter leidet.«

Das zeigt Wirkung. Ihre Augen färben sich dunkel vor Zorn, und sie beißt die Zähne fest aufeinander.

»Lass gut sein, Irina«, mischt sich Laurent ein und tritt an mir vorbei auf die unbewachte Liste zu. Er greift nach der Feder und tunkt sie in die Tinte, um Laelias Namen und Zeichnung einzutragen und einen Haken zu setzen. »Gehen wir lieber rein. Sie sind bestimmt gleich fertig mit denen.«

Ich verkneife mir den Hinweis, dass er Laelia auch einfach befehlen könnte, still zu sein und hierzubleiben. Vermutlich muss er sich erst einmal an den Gedanken gewöhnen, dass er nicht mehr den fürsorglichen Geliebten spielen muss. Und sooft er mir auch geschworen hat, keinerlei Gefühle mehr für sie zu hegen – ich weiß, dass jedes einzelne Wort gelogen war. Vielleicht belügt er nur mich, vielleicht auch sich selbst, aber ich bin nicht umsonst seine Zwillingsschwester. Ich kann ihn so deutlich lesen, wie ich Fährten lesen kann. Und seine Gefühle für Laelia haben kratertiefe Spuren in ihm hinterlassen.

»Bist du sicher, dass es reicht, sie in die Liste einzutragen?«, frage ich stattdessen. »Was machen wir, falls Henry später noch ihre Zeichnung sehen will?«

Laurent zuckt mit den Schultern. »Fürs Erste sind die Wachen beschäftigt, bis heute Abend alle an Bord sind. Und bis dahin werden wir das Problem behoben haben – wobei ich sowieso nicht glaube, dass Henry zugeben will, seine Pflicht vernachlässigt zu haben.«

Mir entgeht nicht, wie Laelia bei seinen Worten zusammenzuckt und einen verzweifelten Blick auf den Strand wirft. Inzwischen scheinen sich auch zwei ungezeichnete Gejagte unter die Angreifenden gemischt zu haben, die im Verborgenen auf das Auftauchen ihrer gescheiterten – oder verstorbenen – Jagenden gewartet haben, um nach ihnen an Bord zu gehen. Ihre Finger zucken, als wollte sie nichts lieber tun, als ihren Dreizack zu ziehen. Aber dann schaut sie hinüber zu meiner Gezeichneten, die mit glasigen Augen neben ihr steht, und ihre Arme sacken kraftlos hinab.

»Nach dir«, sagt Laurent mit einem gönnerhaften Lächeln und deutet auf die Treppe. Sie führt zur kleineren Kajüte auf dem Dach der Wächterkabine, die den Thronerben vorbehalten ist.

Ich zwinge mir ein Grinsen auf die Lippen, während der Junge und seine Verbündeten immer weiter an Grund verlieren und sich in Richtung Wald zurückziehen. »Auf nach Hause.«

Kapitel 2

Laelia

Ich gehöre unauslöschlich Laurent de Vert, solange ich lebe.

Obsidianschwarz prangt dieser Schriftzug auf meinem rechten Handgelenk, sicher vor Blicken verborgen unter grünen Seidenhandschuhen, die Laurent an Bord des Schiffes aus dem Repertoire für die Jagenden für mich bereitgelegt hat. Der Stoff ist so zart, so dünn, dass nichts auf die Rohheit hindeutet, die darunter schlummert. Das Grasgrün beißt sich mit dem Holzbraun der Uniform, die ich noch immer trage. Die Uniform einer Gejagten. Oder, besser gesagt, einer Erjagten, einer Gezeichneten. Der feine Stoff juckt auf meiner Haut, und ein Teil von mir hofft, dass er diesen Satz, der mich an meinen schlimmsten Albtraum kettet, herunterkratzt, ihn auslöscht und mich von meiner Fessel erlöst. Doch ich weiß nur zu gut, dass das unmöglich ist, weil ich ihn selbst dort hingeschrieben habe. In einer Farbe, die es eigentlich nicht mehr geben dürfte. Einer Farbe, die niemals getilgt werden kann. Der Farbe des Hauses de Noir.

Meiner Farbe.

Sie hätte mir die Macht geben sollen, andere oder wenigstens mich selbst zu beherrschen. Sie hätte meine Kraft sein sollen, nicht seine. Aber statt meine Stärke zu sein, wurde sie zu meiner Schwäche. Ich habe sie gegen mich selbst gerichtet, um diejenigen zu schützen, die ich liebe.

Und ich würde es jederzeit wieder tun. Für Ray und für Astoria.

Langsam strecke ich die Hand nach den zugezogenen Brokatvorhängen aus, die die private Kajüte des Dampfschiffes der de Verts abschotten.

Der Tumult, den die Gruppe jägerloser Gejagter ausgelöst hat, ist längst verklungen, und ich wünschte, ich wüsste, was mit den Angreifenden geschehen ist. Ob Melvin unter ihnen war. Ob es ihm gut geht. Ob er weiß, was mit Astoria und Ray geschehen ist. Aber alles, was ich erkennen konnte, bevor Laurent mich die Treppen hinauf und in die Kajüte bugsiert hat, war der Blick des Jungen, der sich voller verzweifelter Wut in meinen gebohrt hat.

Er war ein Spiegelbild meiner eigenen Zerrissenheit, weil auch der Junge auf der Insel alles verloren hat, was ihn ausgemacht hat. Weil auch er unvorstellbare Opfer bringen musste.

Doch so sehr ich mich in ihm wiedererkannt habe, so sehr hat sein Blick mich auch abgeschreckt. Denn es war der Blick von jemandem, der vor nichts und niemandem mehr zurückschreckt. Nicht vor Jägern, nicht vor Monstern, nicht vor dem Tod.

Ein Teil von mir wünscht sich, ich hätte helfen, irgendetwas für die Gejagten tun können, die das Schiff angegriffen haben. Dabei weiß ich selbst, wie sinnlos das gewesen wäre. Denn der Junge war ein Arc, dessen bin ich mir sicher. Einer jener Gejagten, die während der letzten zehn Tage gezielt Jagd auf Jäger gemacht haben, um sie mit schwarzer Rußfarbe zu zeichnen und zu töten. Die Fingerspitzen des Jungen waren noch immer schwarz verfärbt.

Schwarz wie die meinen, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Aus blutigeren.

Noch immer liegen wir vor Arc-en-ciel vor Anker und warten auf die letzten Jagdteilnehmer: künftige Liberés – sofern ihre Jäger das Boot noch vorm Ablegen betreten – und die Adeligen, die nach ihrem Scheitern als Ausgestoßene die Insel verlassen wollen. Seit knapp einer halben Stunde sind wir an Bord, bekommen Tee, kandierte Früchte und feines Gebäck auf zerbrechlichem Porzellan mit grünem Olivenblattmuster serviert, das nach den zehn Tagen auf der Insel lächerlich deplatziert wirkt. Bisher habe ich nichts davon angerührt.

Mit bebenden Fingern klammere ich mich fester an den schweren grünen, mit Goldfäden durchwirktem Stoff, mit dem die de Vert-Zwillinge die Außenwelt ausgesperrt haben. Behutsam, um kein Geräusch zu verursachen, ziehe ich ihn ein winziges Stück zur Seite, in der Hoffnung, einen Blick auf den Strand und vielleicht auch auf Ray und Astoria zu erhaschen. Mich zu vergewissern, dass sie noch leben. Dass sie es irgendwie zum Schiff der de Bleus geschafft haben, ihren Verletzungen und dem Nervengift von Irina zum Trotz, bevor ein Suchtrupp losgeschickt werden muss. Denn wer weiß, ob dieser sich tatsächlich für eine Verstoßene und ihren Liberé auf die Suche machen wird – sofern sie überhaupt noch am Leben sind.

Bei diesem Gedanken krampft sich mein Magen heftig zusammen.

Sie haben überlebt, sage ich mir. Sie müssen überlebt haben. Denn andernfalls wüsste ich nicht, wie ich überleben soll.

»Lass bitte den Vorhang zu«, sagt Laurent. Er klingt ruhig, geradezu gelassen, das komplette Gegenteil zu dem wütenden, verbissenen Jäger, der er auf der Lichtung war. Doch seine Worte wirken eigenartig zittrig, sind weder ein Befehl noch die freundliche Bitte, nach der sie sich anhören. Als wüsste er nicht, auf welche Art er sie aussprechen soll. Wie er mit mir umgehen soll, nachdem alle Karten offen zwischen uns auf dem Tisch liegen.

Kurz klammere ich mich an den Brokat, spüre das Spannen der Seidenhandschuhe über meinen Knöcheln. Beinahe hoffe ich, dass sie aufplatzen und mich aus diesem Käfig befreien. Seinem Käfig.

Ich wende den Kopf und sehe Laurent über den schmalen Olivenholztisch und das Spitzendeckchen hinweg an. Seine weizenblonden Haare sind inzwischen wieder zu einem ordentlichen, wenn auch strohigen Zopf in seinem Nacken gebunden, und in seinen blassgrünen Augen liegt ein unsicherer Ausdruck. Wenn ich nicht wüsste, was für ein Ungeheuer in ihm steckt, könnte ich ihn glatt für den Jungen von früher halten, der halb verlegen, halb fordernd meine Antwort auf die Frage abgewartet hat, ob ich nach der Jagd mein Leben mit ihm verbringen will.

Aber ich weiß es besser. Unsere Leben sind jetzt untrennbar miteinander verbunden, jedoch auf eine schreckliche, grausame Weise, die ich nie für möglich gehalten hätte.

Also leiste ich den einzigen Widerstand, der mir im Moment noch bleibt: Ich schweige, zwinge ihn dazu, sich unbehaglich unter meinem Blick zu winden.

Sekunden verstreichen, ziehen sich in die Länge. Während Laurent angespannt die Kiefer aufeinanderpresst, starre ich ihn unverwandt an. Nun scheint er an meiner Stelle mit einer Antwort zu ringen, sie im Kopf hin- und herzuwenden, bis er schließlich die Augen niederschlägt und leise die Luft ausstößt. »Ich kann diese vermaledeite Insel nicht mehr sehen. Bitte, lass ihn zu.«

Meine Finger zittern. Er hat es höflich formuliert, aber es war genug, um den Bann zu aktivieren, den er mir auferlegt hat. Jetzt lerne ich die Macht der Zeichnungen, die Macht von uns Adeligen, zum ersten Mal am eigenen Leib kennen.

Jeder meiner Muskeln kämpft gegen den Drang an, Laurents Befehl Folge zu leisten, ringt um die Kontrolle über den Vorhang und die Hoffnung, Ray und Astoria dahinter zu sehen. Doch allmählich, Millimeter um Millimeter, verliere ich die Beherrschung über meine Muskeln und meinen Willen. Schweißperlen benetzen meine Stirn, und ich beiße mir von innen auf die Wange, während ich vergeblich gegen die Fremdbestimmung ankämpfe. Die Haut an meinem Handgelenk brennt, als würde die Schrift darauf mich in Flammen setzen, bis ich den Arm mit einem Keuchen sinken lasse und auf dem Holztisch ablege.

»Geht es dir nicht gut, étoile de ma vie?«, fragt Laurent leise, und eine schmale Falte bildet sich auf seiner Stirn. Wie aus alter Gewohnheit zucken seine Finger in Richtung meiner Hand, die ich jedoch schnell zurückziehe. Er zögert nur einen Sekundenbruchteil, ehe er stattdessen nach einer Etagere voller winziger Kuchen greift.

Mich hingegen kostet es meine gesamte Energie, meine Gefühle zu verbergen. Diesen Kosenamen so selbstverständlich aus seinem Mund zu hören, fühlt sich an, als hätte er mir eine Ohrfeige verpasst. Fünf Silben, die mehr Dolche sind als Worte, die er mir tief zwischen die Rippen treibt. Mit denen er die Flammen beflügelt, die in meinen Gliedern gegen seinen Willen anbrennen.

Vier Worte, deren Klang ich einst geliebt habe und nun mit jeder Faser meines Seins verabscheue. Denn er hat kein Recht mehr, mich so zu nennen.

Ich hole tief Luft und widerstehe nur mit Mühe dem Drang, die Etagere vom Tisch zu reißen und sie an die Wand in seinem Rücken zu donnern. Das Geräusch und die Scherben auf dem Boden wären mit Sicherheit befriedigend, aber das Gefühl könnte nicht die Demütigung aufwiegen, die ich empfände, wenn er meinen Ausbruch bemerkte. Wenn er sähe, wie tief er mich verletzt, wie sehr er mich gebrochen hat.

Also mache ich gute Miene zum bösen Spiel und erwidere sein Lächeln, obwohl es sich eher wie eine Maske anfühlt, die nicht auf mein Gesicht zu passen scheint. Richte die Splitter meines Herzens auf, die er hinterlassen hat, und forme eine Waffe aus ihnen, die mich und ihn gleichermaßen zu durchbohren vermag. »Mir geht es ausgezeichnet.«

Seine Augen verengen sich kaum merklich, ehe er sich wieder um eine freundliche Miene bemüht und mir mit der Gebäckzange ein Orangen-Cremetörtchen mit Karamellhaube hinhält. »Hier, die magst du doch so gern.«

»Danke, aber ich fürchte, ich habe mir auf der Insel den Magen verdorben«, erwidere ich kühl, und nun sacken auch seine Mundwinkel herab.

Wir mustern einander über den Tisch hinweg. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich mir einbilden, einen sehnsüchtigen Glanz in seinen Augen zu erkennen, gemischt mit einem Anflug von Reue. Er legt das Törtchen wieder auf der Etagere ab.

Zwischen uns dehnt sich eisige Distanz aus.

Gut so, denke ich grimmig. Ich werde dich brechen, wie du mich gebrochen hast. Stück für Stück, Tag für Tag, Wort für Wort.

»Brr«, macht Irina neben mir und reißt uns damit aus der Starre. Ihre Metallkrallen, die sie an Zeige-, Mittel- und Ringfinger beider Hände trägt, klimpern gegen das durchscheinende Porzellan ihrer Tasse. »Bis zur Ehrung solltet ihr euch besser noch ein bisschen locker machen.«

Am liebsten würde ich mich zu ihr herüberlehnen, ihre Tasse nehmen und ihr den heißen Inhalt ins Gesicht schütten. Amber, die reglos neben ihr auf der anderen Seite des Tisches steht, am Arm packen und fliehen, mich mit ihr irgendwie an Bord eines der anderen Schiffe schleichen, egal welches, nur nicht dieses.

Aber das geht nicht. Nicht nur, weil ein einziger Befehl von Laurent und Irina ausreichen würde, um uns an Ort und Stelle stehen bleiben zu lassen, sondern auch, weil Amber zu einer leeren Hülle geworden zu sein scheint, seit wir das Boot betreten haben. Still lehnt sie an der Wand, den Kopf mit der notdürftig versorgten Platzwunde so tief gesenkt, dass die braunen Haare ihr Gesicht verbergen. Obwohl sie die nicht verheilte und vermutlich noch immer entzündete Verletzung an ihrem Bein belastet, gibt sie keinen Ton von sich. Seitdem wir nach dem beschwerlichen Abstieg von der Klippe und dem Weg zum Strand das Schiff betreten haben, ist sie kaum ansprechbar, als müsste sie sich erst an die noch frische Zeichnung von Irina gewöhnen, die ihre Erinnerungen nun trübt.

Als müsste ihre Identität sich erst wieder neu zusammensetzen, in Einklang bringen, was wirklich geschehen ist und was die Zeichnung sie glauben lässt.

Sie wirkt, als hätte ihr Geist ihren Körper verlassen, solange er noch konnte. Und beinahe wünschte ich, es wäre so. Aber er ist noch da, das weiß ich. Er ist mitsamt ihrem Körper an Irina gebunden worden, unwiderruflich, mit einem leuchtend grünen Schriftzug an der Seite ihres Halses.

Und ohne Amber gehe ich nirgendwohin. Nach all den Verlusten, die ich bereits habe hinnehmen müssen, und denen, die noch kommen werden, kann ich sie nicht auch noch verlieren.

»Vielleicht solltest du lieber tun, was wir vereinbart hatten, statt dich einzumischen«, entgegnet Laurent sichtlich verärgert darüber, dass seine Schwester seinen wunden Punkt getroffen hat.

Irina hebt die Brauen, versenkt ihre Gabel in einem Zitronen-Baiser-Törtchen, ohne sich zuvor die Mühe zu machen, es auf ihren Teller zu befördern, und hebt es an ihren Mund. »Jetzt schon?«

Laurent nickt und weicht meinem Blick aus. »Je früher, desto besser. Ich kann niemanden gebrauchen, der Fragen stellt.«

Seine Hand zuckt in Richtung seines Schwertes, das er noch immer am Gürtel trägt. Bilder drängen sich in mein Bewusstsein, Bilder von seinem angstverzerrten Gesicht, während er sich über Emeric beugt und ihm die Klinge in die Brust stößt. Bilder von Emeric, der sein Leben lassen musste, weil er Laurents Geheimnis durchschaut hat, niemanden zeichnen zu können.

Irina zuckt mit den Schultern, bevor sie an ihrem Tee nippt, kurz das Gesicht verzieht und das Getränk missbilligend anschaut. »Immer mit der Ruhe.« Als Laurent genervt aufseufzt, verdreht sie die Augen und stellt die Tasse geräuschvoll auf die mit Blattgold umrandete Untertasse. »Ist ja schon gut. Der Tee ist mir ohnehin zu bitter.«

»Steh auf«, befiehlt Laurent mir, ohne mich anzusehen. Seine Stimme ist leise und rau, aber es liegt auch etwas Rohes darin. Etwas Lauerndes und zugleich Verletzliches, das mir eine Gänsehaut bereitet.

Ich erhebe mich von der am Boden festgenieteten Bank, steige wie von selbst über sie hinweg. Mein Blick zuckt zu Laurent, doch er weicht mir noch immer aus, starrt stattdessen angestrengt auf die Gebäckstücke. Einzig das leichte Flattern einer Haarsträhne vor seiner Nase, die sich aus seinem Zopf gelöst hat, verrät, wie sehr sich sein Atem beschleunigt.

Was hat er vor?

Irina steht ebenfalls auf, steuert auf die geschlossene Kajütentür zu und schiebt den Riegel vor. Das Klicken sendet einen eisigen Schauer mein Rückgrat hinab, und sofort pulsiert eine entsetzliche Angst durch meinen Körper, die mir den Brustkorb zusammenschnürt. Instinktiv spüre ich, dass ich etwas tun muss. Fliehen, kämpfen, schreien! Irgendetwas!

Aber ich kann nicht. Meine Kehle ist trocken, und meine Zunge fühlt sich an wie Sandpapier, während die Schrift an meinem Handgelenk mit jedem zittrigen Herzschlag heftiger glüht. Ich kann mich nicht einmal bewegen, als Irinas grüne Augen sich direkt in meine bohren.

Langsam kommt sie auf mich zu und nimmt im Gehen erst die Metallkrallen ab, lässt sie in die Hosentasche gleiten und knöpft anschließend den rechten Handschuh auf, den sie nun wieder trägt. Dabei entblößt sie ihre Finger, die inzwischen bis zum mittleren Knöchel grün verfärbt sind.

Grün für Ray und Astoria. Noch mehr Grün für Amber.

Und bald noch mehr Grün für mich, wie ich nun mit Entsetzen begreife.

Der Schock darüber löst meine Gliedmaßen endlich aus ihrer Starre. Unwillkürlich weiche ich zurück, bis ich die kühle Metallwand in meinem Rücken spüre. Meine Hand zuckt hinauf an meine Schulter, wo die letzten zehn Tage lang mein Dreizack befestigt gewesen war, aber ich greife ins Leere. Denn meine Waffe hängt mit einem Lederband befestigt an zwei hervorstehenden Haken an der Wand der Kajüte, wo ich sie nicht erreichen kann. Direkt neben Ambers Ahle.

Ich schlucke schwer. »Was soll das werden?«

Irina antwortet nicht. Inzwischen steht sie so nah vor mir, dass ich das Baiser-Törtchen in ihrem Atem riechen kann. Sie greift in den Kragen meiner offenen Uniformjacke, packt den Träger des ärmellosen Oberteils an meiner linken Schulter und zerrt ihn ein Stück zur Seite.

»Was soll das?«, wiederhole ich mit Nachdruck und reiße mich los. Ich umklammere ihr nacktes Handgelenk so fest, dass meine Nägel trotz der Seide, die sie umhüllt, Abdrücke hinterlassen.

Entschlossen begegne ich Irinas Blick, lege all den Zorn hinein, den ich Laurent zuvor nicht habe spüren lassen können.

Dabei ahne ich längst, was sie vorhat. Was Laurent vorhat. Denn bisher bin ich zwar durch die Zeichnung, die ich mir in seinem Namen selbst geben musste, dazu verdammt, ihm zu gehorchen, ihm sogar zu gehören. Aber ich trage seine Schrift nicht auf meinem Körper, abgesehen von ein paar Tropfen in einer grünen Tinktur. Oder, besser gesagt, keine Zeichnung, die während der Ehrung als die seine durchgehen könnte.

Wutentbrannt schaue ich zurück zu Laurent. »Sag ihr, sie soll aufhören«, verlange ich. »Du hast, was du wolltest. Ich kann nicht mehr weglaufen. Ich …« Widerwillig stolpere ich über meine nächsten Worte, muss mich zwingen, sie hervorzuwürgen. »Ich gehöre dir. Reicht dir das immer noch nicht?«

Stille. Nur seine Haarsträhne zittert in der Luft. Im gleichen schnellen Takt, in dem mein Herz rast.

»Sieh mich wenigstens an, verdammt!«

Laurents Adamsapfel ruckt auf und ab, und plötzlich bewegt sich seine Haarsträhne nicht mehr. »Halt still«, sagt er leise, beinahe flehentlich.

Doch seine Stimme durchschneidet den Raum, als hätte er gebrüllt, und mein Körper und meine Seele gehorchen, wie es ihnen auferlegt wurde. Erneut wird mir klar, dass alles, was ich von Laurent zu wissen glaubte, bedeutungslos war. Dass ich nie auch nur einen Funken seiner Seele besessen habe, während er alles von mir besaß. Ich gab ihm alles, und er nahm sich noch mehr.

Und wahrscheinlich wird er nie wieder damit aufhören.

Ich stehe mit dem Rücken an der kalten Wand, das Kinn trotzig erhoben und fest entschlossen, die Zwillinge meine Furcht und meinen Zorn nicht sehen zu lassen. Keine Regung, kein Laut, keine Reaktion. Die letzte Mauer, die ich um mich herum errichten kann, ist die der Stille.

Irinas Finger senken sich kühl auf die empfindliche Haut unterhalb meines Schlüsselbeins. Ihre Finger beginnen, grün zu leuchten, und ihr Mundwinkel zuckt. Auch sie genießt es, die Kontrolle über mich zu haben. Sie weidet sich an dem Gefühl, meinen Willen zu brechen und Macht über mich zu erlangen, Herrin über mein Schicksal und meine Sinne zu werden.

Und ich hasse sie dafür, dass sie das kann.

Für einen Moment nehme ich nichts anderes wahr als die Kälte der Wand in meinem Rücken und die sengende Hitze ihrer Finger. Meinen Atem, der zittrig kommt und geht, obwohl ich ihn zur Regelmäßigkeit zwinge. Meinen Herzschlag, der sich mit jeder verstreichenden Sekunde mehr beschleunigt. Laurent, der sich unter meinem bohrenden Blick zu winden beginnt.

Dann schreibt Irina mit der Fingerspitze die Wörter – und meine Welt verwandelt sich in Feuer. Flammen lodern über mein Schlüsselbein und dringen tief in meinen Brustkorb ein, als grüne Farbe wie Glut aus ihren Fingern strömt, jeder Buchstabe ein Funke, der sich tief in mein Fleisch und meine Seele brennt. Der Schmerz zerteilt meinen Geist wie eine Klinge, verbrennt etwas in mir und schmiedet zugleich etwas Neues, Fremdes. Ich spüre, wie meine Knie unter mir nachgeben, als er Zentimeter um Zentimeter erst meine Haut, dann meine Knochen und schließlich mein Herz und mein Gehirn durchdringt. Schicht für Schicht macht er mich zu seinem Eigentum. In meiner Kehle schwelt ein Schrei, bettelt förmlich darum, freigelassen zu werden. Aber ich presse die Lippen aufeinander, um ihn zurückzuhalten. Mit aller Macht klammere ich mich an diesen letzten Hauch Kontrolle, den ich noch habe, fest entschlossen, ihn nicht ebenfalls zu verlieren.

Ich dachte, mich selbst in Laurents Namen zu zeichnen, mein gesamtes Wesen mit meiner eigenen unauslöschlichen Farbe für immer an ihn zu binden, wäre schrecklich gewesen. Dass ich das Schlimmste überstanden hätte, nachdem das Obsidianschwarz sich von meinen Fingern auf mein Handgelenk ergossen hat. Aber all das ist nichts im Vergleich zu der Macht, mit der Irina meine Existenz entzweiteilt, meine Ketten mit fremden Worten noch fester an Laurent schmiedet, als ich es vermochte. Bis meine Welt weder blau noch schwarz ist, sondern unwiderruflich grün.

Als sie mich endlich loslässt und ich kraftlos auf alle viere sinke, hebe ich matt den Kopf, um Halt an Amber zu finden. Doch ihr Blick ist nach wie vor starr auf die Tischplatte gerichtet, wirkt so leer, wie ich mich fühle, als das Brennen an meinem Schlüsselbein allmählich abebbt.

Ich brauche die Schrift nicht zu sehen, um zu wissen, was dort steht, denn die Buchstaben haben sich zusammen mit Irinas Farbe in mein Bewusstsein gebrannt. Die Zeichnung, mit der sie mich an Laurents Stelle für immer unumstößlich als die Seine gekennzeichnet hat. Ein grünes Mal, das meinen ewigen Albtraum besiegelt und das ich niemals werde auslöschen können, während Laurent selbst nichts für die Szenerie übrig hat außer seinen Fingern, die er zitternd ineinander verschränkt.

In Liebe, Laurent.

Kapitel 3

Laelia

Als das Schiff einige Stunden später im Reich der de Verts anlegt, brennt die Haut über meinem Schlüsselbein noch immer, und ich fürchte, dieses Gefühl nie wieder loszuwerden. Ein Brand, der ebenso wenig gelöscht werden kann wie der Schmerz in meinem Inneren.

Eine der Wachen vor der inzwischen wieder entriegelten Tür klopft von außen gegen das Metall. »Mademoiselle? Monsieur? Wir sind da. Willkommen zu Hause.«

Während Irina und Laurent ein zaghaftes Lächeln tauschen, könnte in meinen Ohren kaum ein Satz falscher klingen. Für mich bedeuten diese Worte die Ankunft in einer Fremde, die mir einst vertraut war. Den Schlussstrich unter dem Leben, das ich bisher gekannt habe.

Denn am Fuß des Laufgangs werden mich keine Mitglieder des Hauses de Bleu in Empfang nehmen, um mich zur Ehrung zu begleiten, die uns am Hafen erwartet. Keine Freiheit erwartet mich, keine vertrauten Gesichter. Es werden nicht meine Liebsten sein, nicht mein Land, nicht mein Zuhause. Sobald ich den Steg betrete, werde ich ein für alle Mal eine Dienerin im Reich der de Verts sein. Laurents Dienerin.

»Komm«, sagt er in diesem Moment, lächelt mich an und streckt mir die Hand entgegen. »Zeigen wir der Welt, dass wir zurückgekehrt sind. Zusammen.«

Ich erhebe mich wie eine Marionette, gesteuert von Farbe anstelle von Fäden, doch genauso machtlos. Und so wird es von nun an wohl für immer sein. Aber ich werde jeden Widerstand leisten, den ich zustande bringe, so winzig und hoffnungslos er auch sein mag.

Laurents Hand greift ins Leere, meine in den zerfetzten Stoff meiner Uniformhose, während ich hoch erhobenen Hauptes an ihm vorbeisehe.

Er stößt kaum merklich den Atem aus und geht um den Tisch herum. Plötzlich spüre ich seine Berührung an meiner Taille. Ich zucke zusammen und will zurückweichen, so viel Abstand wie möglich zwischen uns bringen, obwohl seine Hände, seine farblosen Finger mir nichts anhaben können. Doch sie bohren sich beinahe schmerzhaft fest in meine Seite, und sein Griff ist so eisern, dass ich mich nicht rühren kann.

Alles in mir sträubt sich gegen die Erinnerung daran, dass es eine Zeit gab, in der ich diese Form von Nähe genossen, sie geradezu herbeigesehnt habe, weil ich glaubte, wir teilten ein Schicksal. Nie hätte ich gedacht, dass mir seine Berührung eines Tages so zuwider sein könnte. Oder wie eng unsere Schicksale tatsächlich miteinander verstrickt sein würden.

»Bitte, Laelia«, murmelt er in mein Ohr, und ich erschauere, als sein Atem meine Haut streift. »Zwing mich nicht, es dir befehlen zu müssen.«

Er will die Finger seiner freien Hand an meine Wange legen, aber ich reiße den Kopf zurück, bevor er mich berühren kann, und presse fest die Zähne zusammen. Mein Herz pocht, verstärkt das Brennen des Banns auf meiner Haut mit jedem verzweifelten Schlag, mit dem es dagegen ankämpft.

»Fass mich nicht an.«

Laurents Miene versteinert, ehe er seine Hand sinken lässt. Für einen Moment glaube ich, so etwas wie Bedauern über seine Züge zucken zu sehen, einen Anflug von Angst. Wie ein kleiner Junge, der fürchtet, er hätte sein Lieblingsspielzeug kaputt gemacht.

Doch ebenso schnell ist diese Regung wieder verschwunden, und ich bin mir nicht sicher, ob sie nicht bloß Wunschdenken war. Die letzte Hoffnung, dass noch etwas anderes in ihm steckt als ein Monster, das mich besitzen, nicht lieben will.

Aber es ist genau dieses Ungeheuer, das nun vor mir steht, meinen Arm in seinen zieht und mich nach draußen auf das Deck führt. Vor die Augen unzähliger Zuschauender, die sich an der gefallenen Jägerin ergötzen werden, über die ihr Thronfolger triumphiert.

Sonnenlicht blendet mich, als wir ins Freie treten, weshalb ich meine Augen mit der freien Hand beschatte. Vor mir erhebt sich die Hauptstadt Aventurine in all ihrer Pracht. Häuser aus hellem Kalkstein, in die Gischt und Wind wellenartige Muster geschält haben, drängen sich dicht an dicht, unterbrochen nur von schmalen Plätzen zwischen den Pflasterstraßen. Viele der Fenster sind mit bunten Laken und luftigen Tüchern verhangen, die sich in einer leichten Brise blähen. Die salzige, schwüle Luft legt sich schwer auf meine Haut, sodass mir bereits nach wenigen Schritten der Schweiß ausbricht.

In der Ferne erheben sich weiße Marmorsäulen mit muschel- und perlenbesetzten Sockeln über die Dächer, auf denen Statuen grün gefärbte Fingerspitzen in die Höhe recken, entweder mit goldenen Muschelhörnern in den Händen oder in eine Denkerpose vertieft. Sie werfen die einzigen Schatten auf die Stadt, die seltsam menschenleer wirkt. Die einzige Ausnahme bildet der Hafen, in dem sich die Menschen versammelt haben. Sie blockieren beinahe den gesamten Steg und den angrenzenden Platz, drängen sich selbst in den Gassen zwischen den Häusern dahinter aneinander. Es sind Bürgerliche, die lautstark durcheinanderrufen und die provisorische Absperrung und die grün uniformierten Mitglieder der Force d’élite dahinter an ihre Grenzen bringen. Gewaltsam drängen diese die Menge zurück, hindern sie daran, nach ihren verlorenen Kindern, Freunden und Nachbarn Ausschau zu halten.

Sobald sie uns entdecken, bahnen sie eine breite Gasse auf dem Steg, durch die die adeligen Passagiere des Schiffes bequem an Land gehen können. Auf die eilig errichtete Tribüne in der Mitte des Hafenplatzes zu, vor der die versammelten Familien der de Vert-Jägerinnen und -Jäger erwartungsvoll in unsere Richtung schauen. Ein Schwarm aus grünen Seidenkleidern und Korsettwesten, der nur darauf zu warten scheint, die Zurückkehrenden zu beurteilen.

Bei ihrem Anblick dreht sich mir der Magen um.

Ich bin noch nicht bereit, mich den de Verts zu stellen, die uns in Empfang nehmen wollen. Das alles sind Menschen, die mir fremd sind. Vor allem aber sind sie nicht diejenigen, die sie sein sollten.

Aus einer verzweifelten Hoffnung heraus versuche ich, in der Menge ein mir vertrautes Gesicht zu finden, das ich öfter gesehen habe als nur auf ein paar Bällen. Natürlich weiß ich, dass es vergebens ist.

Doch dann sticht mir ein silbriges Blitzen ins Auge – und die Person, von deren Hals es ausgeht –, und mein Herz setzt einen Schlag aus. Ein leises Keuchen entfährt mir, als ich ein Paar graue Augen in einem schreckensblassen Gesicht entdecke, schmale Lippen und Brauen, die zu einer sorgenvollen Miene verzerrt sind. Einen atemlosen Moment lang verhaken sich unsere Blicke ineinander. Mit einem Mal scheint mein Schmerz sich zu verdoppeln, sein Gewicht mir beinahe den Atem zu rauben, und gleichzeitig jubelt mein Herz, weil sie hier ist.

Amélie.

Ich gäbe alles darum, mich von Laurent loszureißen, quer über den Hafen zu rennen und mich in ihre Arme zu werfen. Mich von ihr halten zu lassen wie ein Kind. Mich von ihr trösten und mir sagen zu lassen, dass alles wieder gut wird.

Aber das wird es nicht.

Das wissen wir beide. Und genau deshalb legen wir alles, was wir einander sagen könnten, in diesen winzigen, zerrissenen Blick. Es ist zu viel und nicht genug.

Vor allem aber ist es alles, was wir haben, ehe Laurent uns unterbricht, indem er mich mit sich auf die Gangway zieht und zischt: »Reiß dich zusammen!«

Irina tritt dicht neben uns ins Freie, gefolgt von Amber, die den Kopf noch immer gesenkt hält, die Hände so fest zu Fäusten geballt, dass sich ihre Nägel in die nackte Haut bohren. Zu gern würde ich eine von ihnen ergreifen, sie dazu bringen, sich zu lockern. Aber im Moment kann ich nichts für sie tun. Nichts, außer sie in Ruhe zu lassen, ihr die Trance zu gönnen, in der ihr Geist Zuflucht sucht, an einem Ort irgendwo zwischen Realität und Erinnerungen. Sie hat meinetwegen schon mehr als genug gelitten.

Langsam lasse ich die freie Hand sinken und kralle die Finger in den Saum meines Ärmels. Was immer geschieht, ich werde nicht zulassen, dass jemand sieht, wie sehr die Zeit auf der Insel mich gebrochen hat. Wie sehr Laurent mich gebrochen hat.

Sobald wir vom Laufgang auf den Steg treten, dringen von allen Seiten Stimmen an meine Ohren, vermischen sich mit dem Geräusch von Schritten, als die anderen Absolventinnen und Absolventen hinter uns die Gangway betreten. Erwartungsvolle Blicke heften sich an uns, doch kurz darauf flackert Verwirrung über die Gesichter der wartenden Adeligen. Und als sie bemerken, wie wenige im Vergleich zu den letzten Jahren zurückgekehrt sind, breitet sich Bestürzung aus. Von den zehn Jagenden, die an der Ziehungszeremonie teilgenommen haben, sind gerade einmal sechs zurückgekehrt, zwei gescheiterte eingeschlossen, die von heute an Rejetés, Ausgestoßene, sein werden. Vier sind auf der Insel zurückgeblieben, höchstwahrscheinlich tot. Eine absurd hohe Zahl, die normalerweise in allen Ländern zusammen auftritt statt lediglich in einem.

Die Erkenntnis lässt einige der Anwesenden entsetzt nach Luft schnappen, während ein paar de Verts sich verstohlen Tränen aus den Augenwinkeln wischen, weil ihre Kinder nicht zurückgekehrt sind.

Die Bürgerlichen in ihrem Rücken hingegen toben beim Anblick der Gezeichneten, weil jeder Einzelne einer zu viel ist. Doch ich versuche, sie auszublenden, konzentriere mich auf das Rauschen der Wellen um mich herum, die sich am Bug des Dampfschiffs brechen.

Wellen, die Ray kennt. Die er als Fischer tagein, tagaus befahren hat. Ein Stück seiner Heimat, ein Stück von ihm, an dem ich mich festklammern kann.

Ray …

Diesen Teil von mir wird Laurent niemals bekommen, schwöre ich mir und straffe die Schultern, während ich neben ihm auf die Tribüne zusteuere. Seine Hand liegt dabei schwer auf meiner. Als wäre es nicht genug, dass er meine Finger so fest in seiner Ellenbeuge einklemmt, dass ich allmählich das Gefühl in ihnen verliere. Als wäre sein bloßer Befehl nicht genug, um mich an seine Seite zu zwingen, wann immer ihm danach ist.

Der gedämpfte Applaus behandschuhter Hände, der Laurent, Irina und den restlichen de Vert-Jugendlichen hinter uns entgegenbrandet, ist dröhnend laut, als wollten die Anwesenden die Leere der verlorenen Jagenden wettmachen.

Laurent winkt der Menge zu, und Irina hebt in einer lässigen Geste die Hand, wobei die aufgesteckten Fingerklingen im gleißenden Sonnenlicht blitzen. Sie wirkt beinahe wie eine der marmornen Statuen, stolz und triumphierend. Nicht einmal das sichtliche und hörbare Missfallen der Bürgerlichen scheint ihr Hochgefühl zu trüben.

Ich hingegen fühle den Schmerz am eigenen Leib, auf meiner eigenen Haut, und weiß gleichzeitig doch nichts davon, wie es ist, in ihren Schuhen zu stecken. Wie es ist, tagein, tagaus mit der Furcht vor der Jagd konfrontiert zu sein. Von heute auf morgen jederzeit alles verlieren zu können.

Ihre Schreie brennen sich unwiderruflich tief in mein Bewusstsein. Die Rufe nach den Namen ihrer Angehörigen, die unbeantwortet bleiben. Ihr Schluchzen. Ihr Wehklagen. Ihre Hilflosigkeit. Und ihre unbändige Wut.

Laurent dagegen scheint all das nicht einmal wahrzunehmen, als er mich hoch erhobenen Hauptes auf die Tribüne zuzieht, wobei er sich nach Kräften bemüht, die Schmerzen zu überspielen, die sein verletztes Bein verursacht. Obwohl sich hin und wieder der Anflug eines triumphierenden Lächelns auf sein Gesicht stiehlt, präsentiert er sich im Gegensatz zu seiner Schwester nach außen hin bescheiden.

Trotz all der Eindrücke, die auf mich einprasseln, entgehen mir die Blicke der Adeligen nicht. Blicke, die unheilvoll auf meiner Haut prickeln wie Brennnesseln, während ich nicht wie eine Dienerin mit gesenktem Kopf hinter Laurent hertrotte, sondern mit trotzig erhobenem Kinn an seiner Seite schreite.

Die adligen Zuschauer scheinen geradezu verzweifelt zu versuchen, das letzte Bild, das sie von mir im Salon Bleu im Kopf haben, mit dem jetzigen in Einklang zu bringen – und gnadenlos daran zu scheitern.

Statt Seide und Tüll schmücken mich nun Baumwolle und Dreck, statt Blautönen das Tarnbraun der Uniform und das Grau des Zielscheiben-Symbols einer Gejagten. Anstelle von seidigem, langem Haar streifen nun verfilzte Fransen an meinem Unterkiefer entlang, und jede meiner Fasern glüht vor Wut. Wut auf Laurent, Wut auf Irina, Wut auf mich und meine Torheit. Es ist ein alles verschlingender, heißer Zorn, und am deutlichsten spüre ich ihn in meinen Fingerspitzen. Die Macht der de Noirs will aus mir herausbrechen, will auf die Monster um mich herum losgehen. Ein Pier voller Monster – und doch schlummert das größte von allen in meiner Brust.

Nur könnte ich es nicht freilassen, selbst wenn ich wollte. Denn von jetzt an bin ich eine Gezeichnete. Laurents Gezeichnete, wenn auch durch meine eigene Hand. Unauslöschlich.

Über mein klopfendes Herz hinweg dringt ein leises Geräusch an meine Ohren. Erst jetzt richte ich meine Aufmerksamkeit auf die beiden Menschen, die von der Tribüne auf uns herabsehen. Eine blonde Frau mit kühlem Blick und strengem Haarknoten in einem smaragdbesetzten Kleid sowie ein brünetter Mann in Korsettweste und dunkler Stoffhose, die uns kritisch mustern. Die Stirn des Mannes ist in tiefe Falten gelegt, und seine Augenbrauen sind sorgenvoll zusammengezogen. Es sind Agnes und Nicolas, Laurents und Irinas Eltern und Oberhäupter des Hauses de Vert. Ein kurzer, überraschter Zug huscht über Agnes’ Gesicht, als ihr Blick auf meine Hand an Laurents Ellenbogen fällt. Er streift die grüne Schrift, die der Kragen meiner halb offenen Jacke frei lässt, danach Laurent, und ihr Erstaunen weicht einem breiten Lächeln. Dann schaut sie zu Irina, und das Lächeln verliert an Strahlkraft.

Unbehaglich zupfe ich meine Jacke zurecht, um die Schrift zu verbergen, als Nicolas seine Züge glättet, einen Schritt vortritt und seine Arme ausbreitet. »Jägerinnen und Jäger – willkommen zu Hause! Ihr habt unserem Reich eine große Ehre erwiesen, indem ihr wie so viele unserer Vorfahrinnen und Vorfahren die Jagdspiele absolviert habt. Ihr habt gelernt, welche Opfer sie bringen mussten, um unsere Dynastie zu errichten – und welche ihr erbringen müsst, um sie aufrechtzuerhalten. Ich bin mir sicher, dass wir von den erfolgreichen Absolventen auch in Zukunft noch viel erwarten können.« Sein Blick findet erst mich und landet anschließend auf Laurent. »Lasst uns mit der Ehrung beginnen.«

Innerlich versteife ich mich. Es ist gerade einmal zwölf Tage her, dass ich dachte, ich würde heute im Reich der de Bleus an dieser Stelle stehen. Gemeinsam mit Astoria und meinem Gejagten die Stufen zu einer Tribüne erklimmen, um der Welt meine blauen Fingerspitzen zu offenbaren und die Ehrenzeichnung von meinem Vater zu bekommen. Ich war darauf vorbereitet, als erfolgreiche Jägerin gefeiert zu werden – und hoffentlich Frieden mit dem Monster in meiner Brust schließen zu können.

Und es ist gerade mal elf Tage her, dass meine Welt vollkommen auf den Kopf gestellt wurde. So sehr, dass ich nun als Gezeichnete neben meinem Jäger stehe. Meinem Jäger, den ich einst über alles geliebt habe.

Aber diese Zeit ist vorbei.

Ein Diener in einer schlichten grünen Livree tritt vor und reicht Nicolas ein goldenes Buch, ähnlich dem, in das Pascal im Palast meiner Eltern die zugeteilten Lose notiert hat. An seinem Handgelenk erkenne ich einen grünen Schimmer, kann den Wortlaut der Zeichnung aber nicht ausmachen.

Nicolas schlägt die Liste auf und platziert sie auf einem metallenen Ständer, der am Rand der Bühne aufgestellt wurde. Er tut so, als müsste er sämtliche Namen studieren, mustert dabei jedoch immer wieder nervös die kümmerliche Anzahl Jagender vor ihm. Ich sehe ihm an, wie verzweifelt er sich bemüht, die Fassade des stolzen Oberhaupts aufrechtzuerhalten.

»Laurent de Vert«, ruft er schließlich, und gemeinsam erklimmen wir die Stufen.

Noch immer lässt Laurent mich nicht los, verstärkt vielmehr den Druck auf meine Finger, eine stille Ermahnung, das unübersehbare Schwarz sicher unter den Handschuhen verborgen zu lassen. Er gibt vor, mir galant die Stufen hinaufzuhelfen, und beugt sich dabei zu mir, damit ich ihn anschaue.

Der Ausdruck in seinen Augen trifft mich wie eine Ohrfeige. Jäh muss ich an den Moment vor der Los-Ziehung denken, als ich Laurent geküsst habe, um seine Nervosität zu vertreiben. Jetzt sieht er mich mit genau dem gleichen Blick an.

Heute aber küsse ich ihn nicht, sondern nehme mir vor, zur Quelle seiner Angst zu werden. Ihn sein Leben lang bereuen zu lassen, was er mir, nein, was er uns allen angetan hat.

Doch ich weiß auch, dass ich dafür geduldig sein muss. Ein einziges Wort von ihm wäre genug, und ich müsste mich seinem Befehl beugen – ein ohnmächtiges Gefühl, das ich nicht noch einmal empfinden möchte. Schon gar nicht vor so vielen Personen, die uns begierig betrachten, weil sie es kaum erwarten können, ein Zeichen der Schwäche von mir zu sehen – oder eines der Stärke von Laurent.

Oben angekommen, drehen wir uns zur Menge um, und ich schließe die Lider, blende die Gesichter um mich herum aus und spüre meinem Herzschlag nach, der unter meinen Rippen tobt. Ich will nicht sehen, wie die Menschen reagieren, wenn sie Zeugen der Farce werden, die Irina mir auf die Haut geschrieben hat. Wenn sie begreifen, dass ich wirklich unwiderruflich Laurent de Verts Dienerin bin, weil er vermeintlich das Undenkbare getan und eine Adelige gezeichnet hat. Dass ich nicht länger Laelia de Bleu bin, eine Jägerin, die zur Gejagten wurde, sondern nur noch Laelia, die von Laurent als die Seine gebrandmarkt wurde.

Die Worte, die Laurent und sein Vater vor der Menge wechseln, verschwimmen zu einem dumpfen Rauschen in meinen Ohren, während ich in Gedanken die Sekunden zähle.

Als ich bei dreiunddreißig Laurents feinen Lederhandschuh an meinem Schlüsselbein spüre, den Zug am Stoff von Jacke und Oberteil und kurz darauf Luft, die kühl über die wunde Haut streift, versteife ich mich. Ich straffe die Schultern, recke das Kinn und stelle mir vor, ich bestünde ebenso aus Marmor wie die Skulptur des Mädchens auf dem Anwesen meiner Eltern, unter der Astoria und ich so oft gemeinsam trainiert haben. Stelle mir vor, wie die erschrockenen Ausrufe und der zögerliche Applaus einfach an mir abprallen, an der Haut aus Stein, die ich so gerne hätte, damit keine Zeichnung der Welt mir etwas anhaben kann. Wie mein Gesicht zu einer ausdruckslosen Maske erstarrt, die meinen Schmerz nicht durchscheinen lässt. Wie die leuchtend grünen Buchstaben von einer Schicht aus Marmor verdeckt werden, damit niemand sie je wieder zu sehen bekommt.

Nur dass meine Finger niemals blau sein werden wie die ihren.

»Darf ich bitte etwas sagen, Papa?«, fragt Laurent leise, wartet die Antwort aber nicht ab, ehe er sich an die Zuschauenden wendet. »Ich möchte, dass ihr eines wisst: Laelia de Bleu ist meine Geliebte. Das war sie vor der Jagd, und das wird sie auch immer sein.«

Hohle Worte, die an meiner Steinhaut abprallen sollten – doch sie schlagen feine Risse hinein. Winzige Kratzer, die zu Kratern werden, durch die meine Wut und meine Verzweiflung nach außen drängen. Gemeinsam mit der Wahrheit über Laurent, die ich ihnen allen am liebsten entgegenschreien würde.

»Ich habe sie nicht mit einem Befehl gezeichnet, weil ich will, dass sie freiwillig an meiner Seite steht, wie sie es auch zuvor getan hat. Weil ich sie liebe. Die Gesetze der Jagd mögen uns zwar in die Rollen von Jäger und Gejagter gezwungen haben, aber das waren wir nie. Wir waren eins. Und das werden wir immer sein.«

Wir waren eins. Und das werden wir immer sein.

Meine steinerne Hülle zerbricht.

Denn diese Sätze gelten allein mir. Sie sind ein Versprechen, eine Drohung, die über mein gesamtes restliches Leben bestimmen wird. Darüber, wer ich war, wer ich bin, wer ich sein werde. Seine Geliebte, l’étoile de sa vie.Sa fille des ombres, sein Mädchen mit den nachtschwarzen Fingern.

Und niemand der Anwesenden ahnt, was für ein Monster Laurent geradewegs in ihre Mitte führt.

Ein Monster, angeleint und nutzlos, weil es sich selbst verletzt hat und alle, die ihm nahestehen. Ein Monster, das nun in Laurents Käfig haust, nach Laurents Peitsche tanzt. Weil hinter seiner galanten Maske er das gefährlichste Ungeheuer von allen ist.

Und ich bin ihm bereitwillig in die Falle getappt.

Kapitel 4

Laelia

Gemurmel wird laut, dringt wie aus weiter Ferne an meine Ohren und vermischt sich mit dem Klang zögerlichen, gedämpften Beifalls zu einem undurchdringlichen Rauschen. Es ist leiser, als es sein sollte, denn Laurents Worte haben jeglichen Protest der Bürgerlichen im Keim erstickt.

Ich blinzele heftig, während sich Laurents Griff um meine Finger abermals verstärkt, und versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Erst als der Applaus allmählich abklingt, wendet Laurent sich halb von mir ab und lässt mich los, um seinem Vater zuzuzischen: »Papa, wir müssen eine Notfallbesprechung des Rates einberufen. Es gab Morde auf der Insel. Gejagte haben Jäger getötet und mit schwarzer Farbe gezeichnet. Ich vermute, insgesamt ist knapp die Hälfte aller Anwärterinnen und Anwärter nicht zurückgekehrt.«

Nicolas starrt seinen Sohn an, und für einen Sekundenbruchteil entgleiten ihm seine Züge. Seine Augen weiten sich, er öffnet die Lippen und stößt die Luft aus. Dann besinnt er sich, setzt die gleichmütige Maske des Hausoberhaupts auf und nickt Laurent zu. »Verstehe. Ich sage den anderen, dass wir die Zeichnung in diesem Jahr anpassen müssen, und schicke sofort Boten zu den anderen Häusern. Aber jetzt reich mir erst mal deine Hand.«

Vorsichtig, Millimeter für Millimeter, streift Laurent seinen Lederhandschuh ab, beobachtet dabei das Gesicht seines Vaters.

Dieser senkt den Blick auf die Hand seines Sohnes. Auf die blasse Haut, die unter dem Stoff zum Vorschein kommt, unter der die Adern bläulich schimmern. Auf das Grün seiner Fingerspitzen, die nun sichtbar werden.

Auf das falsche Grün, das so täuschend echt aussieht.

Trotz der aufwühlenden Nachricht tritt ein stolzer Glanz in Nicolas’ Augen, und ich muss gegen den Drang ankämpfen, ihm meine Verzweiflung ins Gesicht zu schreien. Ihm zu sagen, dass sein Sohn ein verdammter Hochstapler ist. Dass Laurents Fingerkuppen unter der falschen Farbe ebenso weiß sind wie der Rest seiner Haut, hell und nackt. Ohne jede Spur von Macht oder Gefahr, aber dafür voller Verrat.

Ich öffne die Lippen, und als hätte er diese winzige Bewegung gespürt, fährt sein Kopf zu mir herum. Seine Augen bohren sich in meine, scharf wie Dolche. Ein stechender Schmerz jagt durch mein Handgelenk, breitet sich rasend schnell in meinem Körper aus. Wie ein fremder Puls wird er durch mich hindurchkatapultiert, erfüllt mich mit dem Rhythmus eines fremden Herzens, seines Herzens, bis meines seinen eigenen Takt nicht mehr erkennt.

Mit jedem Schlag frisst sich Laurents Wille wie Gift durch meine Adern, sodass ich kaum noch atmen kann, und etwas Fremdes drängt sich mit Gewalt in meinen Kopf. Schweiß tritt mir auf die Stirn, als eine Stimme durch meine Gedanken hallt und sie wie eine Lawine unter sich begräbt. Es ist nur ein einziges Wort, doch es schneidet durch mich hindurch und brennt sich tief in mein Wesen ein: Nein.

Laurents Stimme.

Mir entfährt ein Keuchen, als jede Mauer meines Geistes erbarmungslos eingerissen wird, bis nur noch eine nackte, brennende Leere zurückbleibt. Eine Leere, die er geschaffen hat.

Aber der gleiche Befehl, der mich innerlich in die Knie zwingt, hält mich aufrecht und sorgt dafür, dass ich ein entschuldigendes Lächeln aufsetze, mir die Hand auf den Magen presse und murmele: »Verzeihung, die Bootsfahrt …«

Nicolas reagiert nicht, sondern streift wortlos seinen eigenen Handschuh ab und offenbart die grüne Farbe, die bis zu seinen Fingergrundgelenken reicht. Er streckt die andere, noch immer von Seide verhüllte Hand nach Laurents nackter aus und ergreift sie. Mustert sie scharf, ehe er plötzlich innehält. Dann sieht er mich mit einem eigenartigen Ausdruck in den Augen an, den ich nicht recht deuten kann. Sein Blick gleitet zu meinem Schlüsselbein und zurück in mein Gesicht. Kurz bilde ich mir ein, Bedauern darin zu erkennen. Als würde er zögern, offiziell zu bestätigen, zu was ich geworden bin.

Mein Herz macht einen Satz, setzt entgegen aller Vernunft alle Hoffnung auf Nicolas. Ahnt er etwas? Sieht er die letzten Reste der Chlorophyllfarbe auf meiner Haut, die Irina abzuwaschen versucht hat? Oder erkennt er, dass es nicht Laurents Schrift ist? Ist Irinas Imitation vielleicht nicht überzeugend?

Und falls er etwas bemerkt – wird er mir helfen?

Dann jedoch senkt er den Kopf und verleiht seinem Sohn das traditionelle Ehrenzeichen, das Symbol der Jäger: ein skizzierter Regenbogen, der Arc-en-ciel symbolisieren soll. Allerdings nicht den traditionellen Schriftzug Ehre die Stille, der normalerweise verhindern soll, dass über die Insel gesprochen wird.

Seine Finger und Laurents Hand leuchten auf, und die Luft um uns herum knistert vor Macht. Farbe fließt aus seinen Fingerspitzen auf Laurents Haut und wandert gleichzeitig ein winziges Stück näher in Richtung seines Handgelenks.

Die Enttäuschung ätzt sich bitter durch meine Kehle.

Denn mit dieser Zeichnung erkennt er an, dass Laurent ein erfolgreicher Jäger und somit ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft der de Verts ist – und ich seine Gezeichnete.

Ergeben schließe ich die Lider. Ein weiteres Mal wurde mein Schicksal besiegelt. Ein weiteres Mal hält es etwas vollkommen anderes bereit, als es sollte. Als es dürfte.

Als das grüne Leuchten von Nicolas’ Fingerspitzen versiegt, dreht Laurent sich erneut zu den Adeligen um. Scheinbar einem Impuls folgend, greift er nach meiner Hand, verschränkt seine Finger mit meinen und reckt sie als Zeichen der Einheit für alle sichtbar in die Höhe.

Am liebsten würde ich mich losreißen, ihn von der Bühne stoßen, die Welt anschreien, dass er nicht der Meine ist und ich nicht die Seine, doch ich bringe keinen Laut heraus. Der Bann ist zu stark, um mich einem direkten Befehl zu widersetzen, und der fremde Puls hämmert noch immer in einem falschen Rhythmus in meinen Ohren.

Die versammelten de Verts jubeln, und beim Anblick ihrer begeisterten Mienen wird mir speiübel. Vergangen ist die Zeit, in der uns skeptische Blicke zugeworfen wurden, weil wir so jung bereits ein Paar aus verschiedenen Adelsfamilien waren. Plötzlich scheinen auch die Momente vergessen, in denen Laurent sich nicht zugehörig fühlte, in denen er die Jagd und den Druck gehasst hat, der auf ihm lastete. Denn mit einem Mal gehört er dazu, mehr noch, er scheint etwas geschafft zu haben, das niemand vor ihm erreicht hat. Plötzlich ist er nicht mehr der Junge, der im Training schlechter ist als seine Schwester, sondern der Mann, der eine Adelige bezwungen und die scheinbar schwierigste Jagd von allen gemeistert hat.

In diesem Augenblick ist er allen Gesetzen zum Trotz ihr Held, denn für sie hat er das Unmögliche erreicht – während ich meinen Status und jegliche Freiheit verloren habe.

Nach ein paar Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlen, senkt Laurent unsere Hände und zieht mich beiseite, um den nachfolgenden Jagenden Platz zu machen.

Als Nächstes wird Irina aufgerufen, die Ambers Zeichnung offenbart. Niemand hier kennt Amber, die aus dem Reich der de Rouges stammt. Trotzdem wüten die Bürgerlichen hinter den Balustraden und schreien lautstark durcheinander. Mitgefühl und Zorn liegen in ihren Mienen, und seltsamerweise fühle ich mich davon ein wenig getröstet, während Irina ebenfalls von ihrem Vater mit dem Schriftzug und dem Symbol anerkannt wird. Anschließend stellt sie sich neben mich und Laurent, und ich höre, wie sie ihm zuzischt: »Noch ein bisschen mehr Ego, und ich hätte dir vor die Füße gekotzt.«

Statt einer Antwort breitet sich ein schmales Grinsen auf Laurents Gesicht aus, das aussieht wie eine Maske. Er verzieht keine Miene beim Anblick von Alain und Amable und ihren Gezeichneten, die einzigen anderen erfolgreichen Jagenden aus den Nebenfamilien, die nacheinander mit einem Elternteil vortreten, um das Ehrungssymbol entgegenzunehmen. Lediglich für Alain hat Laurent ein mattes Nicken übrig, während Irina Amable breit anlächelt.

Dann senkt sich betretene Stille über die Adeligen. Die Bürgerlichen dagegen johlen und klatschen, obwohl es in diesem Jahr keine Liberés bei den de Verts gibt. Aber sie feiern nicht den eigenen Sieg, sondern die Niederlage des Adels. Einige stoßen sogar laute Pfiffe aus, woraufhin die Wachen an der Balustrade sie zur Ordnung rufen.

Doch der Jubel wird nur noch ausgelassener, als die letzten zwei Jagenden von je zwei Wachen flankiert zur Tribüne geführt werden. Es sind Coline de Vert, an deren Oberschenkel ein durchgebluteter Verband prangt, und Callix. Er nimmt die Treppe mit hoch erhobenem Haupt und einem Blick, der sich in Laurent hineinzubohren scheint. Seine langen braunen Haare sind im Nacken zu einem zerzausten Knoten zusammengebunden und die muskulösen Schultern gestrafft, die Kiefermuskeln treten vor Anspannung hervor. Laurent hingegen zuckt nicht einmal mit der Wimper. Erst bei genauerem Hinsehen erkenne ich, wie sich seine Miene kaum merklich verhärtet, und auch ich richte mich auf, als Callix mich anschaut.