Dyslexie, Dyskalkulie - Monika Müller - E-Book

Dyslexie, Dyskalkulie E-Book

Monika Müller

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  • Herausgeber: hep verlag
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Wie können Betroffene trotz ihrer Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwäche ihr Potenzial nutzen? Wie können sie weiterführende Ausbildungen absolvieren und ihre beruflichen Ziele verfolgen? Das vorliegende Fach- und Praxisbuch thematisiert die chancengleiche Integration von Jugendlichen und Erwachsenen mit Dyslexie und Dyskalkulie in Berufsbildung, Mittelschule und Hochschule. Es diskutiert neuropsychologische, pädagogische und rechtliche Aspekte und unterstreicht die Notwendigkeit von methodisch-didaktischen und organisatorischen Massnahmen in den Bildungsgängen und -institutionen. Instrumente zur Verbesserung von Chancengleichheit wie der Einsatz von Hilfsmitteln und Prüfungserleichterungen in Form von Nachteilsausgleich und Notenschutz werden vorgestellt, und Fachleute finden Anregungen und Hinweise für die Praxis. Die Leserinnen und Leser werden ausserdem eingeladen, sich auf die Innensicht der Betroffenen einzulassen und neben den Schwierigkeiten auch deren Potenzial zu erkennen. Betroffene erfahren, dass sie von erfolgreichen Erwachsenen mit Dyslexie und Dyskalkulie lernen können, mit Lern- und Bewältigungsstrategien ihren Erfolg zu beeinflussen. 'Dyslexie, Dyskalkulie: Chancengleichheit in Berufsbildung, Mittelschule und Hochschule' gibt einen umfassenden Einblick in ein kaum erörtertes, aber wichtiges Thema. Das Werk richtet sich an Berufsbildnerinnen, Lehrpersonen und Dozenten, an Verantwortliche für Prüfungen, Beratungspersonen, Eltern und Betroffene sowie Arbeitgeber und informiert über Rechte und Chancen für eine gleichberechtigte Teilnahme am Ausbildungs- und Berufsleben.

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Seitenzahl: 305

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Wir danken dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von ­Menschen mit Behinderungen für die Unterstützung dieses Projekts.

Monika Lichtsteiner Müller (Hrsg.)

Beiträge von Judith Hollenweger, Stephan Hördegen, Hennric Jokeit, Michaela Krempl, Monika Lichtsteiner Müller, Elisabeth Moser, Leila Müller, Paul Richli und Rahel Weisshaupt

Dyslexie, Dyskalkulie

Chancengleichheit in Berufsbildung, Mittelschule und Hochschule

ISBN Print: 978-3-03905-924-9

ISBN E-Book: 978-3-03905-954-6

Fotos: Sylvia Müller-Montiel, Belp

Cartoon: Arnold Götz, Lützelflüh-Goldbach

2., aktualisierte Auflage 2013

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.ch

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur zweiten Auflage und Dank

Einführung (Monika Lichtsteiner Müller)

Im Schatten des Erfolgs (Elisabeth Moser)

1 Recht auf Bildung und Entfaltung der Persönlichkeit (Judith Hollenweger)

1.1 Sicherung von Bildungschancen

1.2 Unterstützungssysteme auf Sekundarstufe II und Tertiärstufe

1.3 Zuweisungs- und Selektionssysteme auf Sekundarstufe II und Tertiärstufe

1.4 Sind Dyslexie und Dyskalkulie Behinderungen?

1.5 Beziehung zwischen Störungen und Kompetenzen

1.6 Behindert sein und behindert werden

Lena will etwas ­erreichen (Elisabeth Moser)

2 Zur Neuropsychologievon Dyslexie undDyskalkulie (Rahel Weisshaupt, Hennric Jokeit)

2.1 Prozesse im Gehirn: Die Entwicklung schriftsprach- und ­zahlenverarbeitender Hirnfunktionen

2.1.1 Was muss das Gehirn beim Lesen und Schreiben leisten?

2.1.2 Wie kommen Zahlen in den Kopf, und wie werden sie verarbeitet?

2.2 Wann spricht man von einer Dyslexie oder Dyskalkulie?

2.2.1 Dyslexie – Klassifikation nach ICD-10: F81.0

2.2.2 Dyskalkulie – Klassifikation nach ICD-10: F81.2

2.2.3 Niedrigere Intelligenz – keine Diagnose?

2.3 Was sind die Symptome von Dyslexie und Dyskalkulie?

2.3.1 Dyslexie

Dyslexie und Fremdsprachen

2.3.2 Dyskalkulie

2.4 Prävalenz und Verlauf

2.4.1 Dyslexie

2.4.2 Dyskalkulie

2.5 Begleiterscheinungen und weitere Entwicklungen

2.5.1 Dyslexie

2.5.2 Dyskalkulie

2.6 Was sind die Ursachen?

2.6.1 Ursachen von Dyslexie

Genetische Untersuchungen

Neuropsychologische Untersuchungen

Neurobiologische Untersuchungen

2.6.2 Ursachen von Dyskalkulie

Genetische Untersuchungen

Neurobiologische Untersuchungen

Neuropsychologischer Ansatz

2.6.3 Ursachen – ein Resümee

2.7 Wie diagnostiziert man Dyslexie und Dyskalkulie?

2.7.1 Intelligenzdiagnostik

2.7.2 Diagnostik von Dyslexie im Jugend- und Erwachsenenalter

2.7.3 Diagnostik von Dyskalkulie im Jugend- und Erwachsenenalter

2.7.4 Diagnostik bei Fremdsprachigkeit

2.8 Fördermassnahmen (Therapie) im Jugend- und Erwachsenenalter

2.9 Zusammenfassende Beurteilung

Muss ein Gärtner gut rechnen können? (Elisabeth Moser)

3 Rechtliche Aspekte der Bildungschancengleichheit für Lernende mit Dyslexie oder Dyskalkulie im Mittelschul-, Berufsbildungs- und Hochschulbereich

3.1 Bildungschancengleichheit und Diskriminierungsverbot

3.1.1 Rechtlicher Begriff und Bezugsrahmen der Bildungschancengleichheit im Allgemeinen

Formale und materiale Bildungschancengleichheit

Verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte und Bedeutung der Bildungschancengleichheit

3.1.2 Behindertendiskriminierungsverbot und Förderungsauftrag zugunsten von Behinderten

Dyslexie und Dyskalkulie als Behinderung im Rechtssinne

Bedeutung des Diskriminierungsverbots und des Förderungsauftrags zugunsten von Behinderten

Diskriminierungs- und Benachteiligungsverbot im Behindertengleichstellungsgesetz

Bildungschancengleichheit und Benachteiligungsverbot im Berufsbildungsgesetz

Nachteilsausgleich und Privilegierung

Bildungschancengleichheit unter Lernenden mit unterschiedlichen Behinderungen

3.2 Prüfungsanpassungen für Lernende mit Behinderungen

3.2.1 Allgemeines zu Prüfungen, Prüfungsanforderungen und zur Sonderbehandlung von behinderten Lernenden

3.2.2 Formale Prüfungsanpassungen

Rechtsprechung

Gesetzliche Grundlagen und Verwaltungspraxis

Rechtslehre

3.2.3 Materiale Prüfungsanpassungen

Unterschiedliche Prüfungsinhalte bei gleichbleibendem Anforderungsniveau

Befreiung von allgemeinen Leistungsanforderungen

3.2.4 Verfahren und Rechtsschutz im Zusammenhang mit behinderungsbedingten Prüfungsanpassungen

3.3 Die wichtigsten rechtlichen Überlegungen im Überblick

3.3.1 Rechtliche Grundlagen für die Bildungschancengleichheit von Lernenden mit Dyslexie und Dyskalkulie

3.3.2 Nachteilsausgleich und Privilegierungen

3.3.3 Formale und materiale Prüfungsanpassungen für behinderte Kandidatinnen und Kandidaten

3.3.4 Unterschiedliche Schutzbedürfnisse je nach Behinderungsart

3.3.5 Bildungschancengleichheit unter Prüflingen mit verschiedenen Behinderungen

3.3.6 Gesetzliche Grundlage für Prüfungsanpassungen

3.3.7 Verfahren und Rechtsschutz im Zusammenhang mit Prüfungsanpassungen

3.3.8 Von privaten und staatlichen Anbietern durchgeführte Eignungstests

Es ist immer eine Art von Entblössung (Elisabeth Moser)

4 Bildungserfolgfür Lernende und Studierende mit Dyslexie oder Dyskalkulie (Monika ­Lichtsteiner Müller)

4.1 Auswirkungen in der Bildung

4.1.1 Lesen

4.1.2 Schreiben

4.1.3 Rechtschreibung

4.1.4 Auswirkungen der Lese- und Schreibschwäche in der Bildung und im Alltag

4.1.5 Fremdsprachen lernen

4.1.6 Mathematik

4.1.7 Einfluss der exekutiven Funktionen

Arbeitsspeicher

Zeitmanagement und Zeitgefühl

Organisation und Planung von Aktivitäten

4.2 Benachteiligung von Lernenden mit Dyslexie und Dyskalkulie in der Bildung

4.3 Bildungsumwelt auf Lernende anpassen

4.3.1 Anpassungen

Integrative Bildungsinstitutionen

4.3.2 Prüfungsanpassungen in Form von Nachteilsausgleich und Notenschutz

4.3.3 Mögliche Anpassungen und Nachteilsausgleiche

Geeignete Rahmenbedingungen für Unterricht / Vorlesung

Geeignete Rahmenbedingungen für Betrieb /Praktikumsplatz

Geeignete Rahmenbedingungen für Prüfungen und Qualifikationsverfahren

Weitere Anpassungen

Kaufmännische Grund- und Weiterbildung

4.3.4 Hilfsmittel

4.3.5 Finanzierung von Hilfsmitteln

4.4 Abklärung, Beratung, Förderung

4.4.1 Abklärung

4.4.2 Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung

4.4.3 Lernberatung

4.4.4 Fördermassnahmen – Therapie

4.5 Betroffene managen ihr Leben

4.5.1 Bewältigungsstrategien

Stärken und Schwächen kennen

Umgang mit dem Lesen und Schreiben in der Ausbildung

Umgang mit Dyskalkulie im Alltag

Proaktiv statt passiv

Ausdauer, Beharrlichkeit

Ziele setzen

Vorhandensein und Nutzen von sozialen Unterstützungssystemen

Emotionale Stabilität trotz Stress

4.5.2 Dyslexie oder Dyskalkulie offenlegen

Für sich selbst einstehen

4.6 Zusammenfassung

Trotz Dyslexie ­Lehrer werden (Elisabeth Moser)

5 Dyslexie im Berufsleben kommunizieren (Elisabeth Moser)

5.1 Ängstliche Zurückhaltung

5.2 Fehlende Regelungen

5.3 Transparenz bewährt sich

5.4 Positive Einstellung

5.5 Sozialkompetenz wichtiger

Legasthenie ist kein schweres Schicksal (Elisabeth Moser)

6 Erleben Sie meine Welt (Leila Müller)

6.1 Dyskalkulie

Eine Meile

6.2 Dyslexie

6.2.1 Wie ich lese

6.2.2 Simulation

Auflösung

7 Fazit und Ausblick (Michaela Krempl)

7.1 Sind Menschen mit Dyslexie oder Dyskalkulie behindert?

7.2 Identifizieren von behindernden Faktoren in der Umwelt

7.3 Der Einfluss des sozialen und familiären Umfelds

7.4 Das Recht auf Chancengleichheit, das Diskriminierungs- und Benachteiligungsverbot

7.5 Tauglichkeit von Eignungstests

7.6 Förder- und Stützmassnahmen

7.7 Hürdenfreier Unterricht für Menschen mit Dyslexie und Dyskalkulie

7.8 Auffälliges Sozialverhalten und psychische Symptome

7.9 Bildungsstatistik

7.10 Diagnostik, Förderung und Unterstützung im Jugend- und Erwachsenenalter

7.11 Ausblick

Adressen

Vorwort zur zweiten Auflage und Dank

Frauen und Männer, die mit Dyslexie oder Dyskalkulie leben, haben mich durch ihre Fragen angeregt, mich vermehrt mit Chancengleichheit in der nachobligatorischen Bildung auseinanderzusetzen. Daraus ist die Idee für das vorliegende Fachbuch entstanden.

Verschiedene Personen haben dazu beigetragen, dass das Buch realisiert werden konnte: Die Autorinnen und Autoren, die Interviewpartner, die Fotografin und der Cartoonist beleuchten das Thema aus wissenschaftlicher Sicht, aus der Praxis, bildhaft und aus der persönlichen Erfahrung.

Der Verband Dyslexie Schweiz hat die Trägerschaft des Buchprojektes übernommen und das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB hat es mitfinanziert.

Die Zusammenarbeit mit dem hep verlag war unkompliziert und professionell.

Ich danke allen herzlich, die zum Entstehen des Buches beigetragen haben. Es hat so grossen Anklang gefunden, dass es bereits neu aufgelegt wird. Folgende Anpassungen wurden für diese 2. Auflage vorgenommen:

Links und Quellenangaben sind aktualisiert. Das Kapitel 3 ist zusätzlich inhaltlich überarbeitet und ergänzt; im Kapitel 4 sind einzelne Inhalte präzisiert.

In der ersten Auflage wurde der Begriff «Prüfungserleichterungen» verwendet, wenn es darum geht, die Massnahmen zum Ausgleich von Benachteiligungen bei Dyslexie und Dyskalkulie zu beschreiben. Für die zweite Auflage wurde dieser Begriff weitgehend mit «Prüfungsanpassungen» ersetzt, weil der Begriff «Prüfungserleichterungen» oft fälschlicherweise als Bevorzugung verstanden wird.

Eine anregende und informative, eine lehr- und lernreiche Lektüre wünscht

Monika Lichtsteiner Müller

Einführung

Monika Lichtsteiner Müller

Bildung ist in der Schweiz ein wichtiger Rohstoff. Sie wird verstanden als eine Investition mit einem langen «Return on Investment». Unter diesem Gesichtspunkt müsste eigentlich alles unternommen werden, um allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen einen möglichst guten Zugang zu Bildung und zu Erfolg zu verschaffen. Menschen mit Dyslexie und Dyskalkulie werden jedoch immer wieder von Ausbildungen, insbesondere von schulisch anspruchsvollen, ausgeschlossen, auch wenn sie die nötigen intellektuellen Voraussetzungen mitbringen. Zu vielen gelingt es nicht, einen Abschluss zu erlangen. Es muss daher bekannt sein, wie sich eine Lese-Rechtschreib-Störung oder eine Rechenstörung im Jugend- und Erwachsenenalter in der Bildung auswirken kann, wo die Chancen liegen und wo die Stolpersteine sind, die zu Erfolg oder Misserfolg führen. Die notwendigen Massnahmen müssen konkretisiert werden, und es ist dafür zu sorgen, dass sie bekannt sind und umgesetzt werden. Auch Menschen mit einer Dyslexie oder Dyskalkulie sollen sich im Rahmen der formellen Ausbildungsgänge entwickeln können, sodass sie sich ihren Fähigkeiten entsprechend im Arbeitsleben einbringen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und teilhaben können.

Das vorliegende Fachbuch für die Praxis richtet sich an die Unterrichtenden der Berufsfachschulen, der Berufsbildung, der Mittelschulen und der Hochschulen und an diejenigen, die eine leitende Funktion wahrnehmen, an Berufsbildnerinnen und Berufsbildner, an Fachleute, die für Selektion und Aufnahmeverfahren oder Abschlussprüfungen und Qualifikationsverfahren zuständig sind, an Verantwortliche, die Gesuche um Prüfungsanpassungen beantworten oder Rekurse bearbeiten. Es soll jedoch ebenso Fachleute in der Logopädie und der Heilpädagogik, in der Bildungsadministration und den Organisationen der Arbeitswelt ansprechen sowie Lehrpersonen der Volksschulstufe und Dozierende in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften.

Zur Zielgruppe dieses Fachbuches gehören auch Fachleute von Informations-, Abklärungs- und Beratungsstellen. Angesprochen sind zudem die von Dyslexie und Dyskalkulie betroffenen Lernenden und Studierenden und ihre Familien.

Als Begriffe werden «Dyslexie» und «Dyskalkulie» verwendet. Dyslexie ist der international gebräuchliche Begriff für eine Lese-Rechtschreib-Störung (LRS), die in der Schweiz häufig auch als «Legasthenie» bezeichnet wird. Deshalb erscheint der Begriff «Legasthenie» ebenfalls, meistens in Zitaten oder in den Porträts von Betroffenen.

Dyskalkulie ist der international gebräuchliche Begriff für eine Rechenstörung (RS). Zur Dyskalkulie existieren noch wesentlich weniger Grundlagen als zur Dyslexie. Darum wird im Buch die Rechenschwäche weniger ausführlich behandelt.

Auch die Begriffe «Leseschwäche» oder «Rechtschreibeschwäche» werden als Synonyme für ­«Dyslexie» und der Begriff «Rechenschwäche» für «Dyskalkulie» verwendet.

Wenn auf den folgenden Seiten Dyslexie und Dyskalkulie als Behinderungen bezeichnet werden, ist damit gemeint, dass Dyslexie und Dyskalkulie im juristischen Sinne als Behinderungen gelten. Im Zusammenhang mit Bildung ist das relevant, da spezielle Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen nur bei Vorliegen einer Behinderung gewährt werden können (nachteils Kapitel 3.1.2, S. 71). Wenn es um die Integration in die Bildungsgänge und die Arbeitwelt geht, darf das Individuum nicht isoliert betrachtet werden. Wie Hollenweger in Kapitel 1.4, S. 23, ausführt, sind Behinderungen immer auch als Ergebnis einer komplexen Interaktion zwischen der Funktionsfähigkeit einer Person und ihrer Umwelt zu verstehen.

Im Rahmen dieses Fachbuches ist es selbstverständlich nicht möglich, die ganze Komplexität, mit der die Fachleute in der Praxis konfrontiert sind, zu berücksichtigen. Eine Reduktion der Komplexität drängt sich auf.

Chancengleichheit in der Bildung ist auch für viele andere Menschen mit einer Behinderung ein Thema. Die in diesem Buch dargestellten rechtlichen Grundlagen und die Prüfungsanpassungen in Form von Nachteilsausgleichen und Notenschutz können auch bei anderen Behinderungen relevant sein, die konkreten Massnahmen müssen der Behinderung entsprechend angepasst werden.

Eine weiterer Punkt ist der Fokus auf die deutschsprachige Schweiz. Die Frage der Chancengleichheit für Lernende und Studierende mit Dyslexie und Dyskalkulie betrifft ebenfalls Menschen in den anderen Sprachregionen der Schweiz sowie in anderen Ländern.

Das Umsetzen von Chancengleichheit in der Bildung ist auch ein Anliegen im Zusammenhang mit den Geschlechtern und bei Menschen mit Migrationshintergrund. Männer und Frauen können von Dyslexie oder Dyskalkulie betroffen sein, wie Weisshaupt und Jokeit im Kapitel «Genetische Untersuchungen», S. 46, erläutern. Ebenso treten diese Störungen unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität auf. Auf die Dimensionen Geschlecht oder Migrationshintergrund wird nicht vertieft eingegangen.

Zusätzlich können bei Betroffenen weitere Beeinträchtigungen oder Behinderungen vorliegen, die in diesem Buch nicht behandelt werden, die aber in der Praxis zu berücksichtigen sind.

Schliesslich besteht bei der Auseinandersetzung mit einer Störung oder Behinderung immer die Gefahr, dass deren Auswirkungen einseitig Beachtung finden, die Fähigkeiten und Kompetenzen der Person hingegen zu wenig wahrgenommen und einbezogen werden, obwohl gerade diese Ressourcen für eine erfolgreiche Integration besonders wichtig sind.

Dieses Buch will die Fachleute in Unterricht, Beratung und Bildungsadministration anregen, Barrieren zu erkennen, zu beseitigen und den betroffenen Jugendlichen und Erwachsenen die erfolgreiche Integration in den Bildungsgängen der Sekundarstufe II und der Tertiärstufe zu ermöglichen (vgl. Abb. 1).

Die berufliche Grundbildung inklusive Berufsmaturität und die Mittelschulbildung mit den Fachmittelschulen und den Gymnasien bilden in der Schweiz die Sekundarstufe II. Der Tertiärstufe sind die höhere Berufsbildung, die Fachhochschulen, die pädagogischen Hochschulen und die universitären Hochschulen zugeordnet. Die höhere Berufsbildung umfasst die eidgenössischen Berufsprüfungen (BP), die eidgenössischen höheren Fachprüfungen (HFP) und die höheren Fachschulen (HF). Der Begriff «Berufsbildung» meint sowohl die berufliche Grundbildung als auch die höhere Berufsbildung.

Brückenangebote im Übergang von der Volksschule in die Sekundarstufe II, die Weiterbildung oder die Berufsabschlüsse für Erwachsene werden in diesem Buch nicht speziell thematisiert. Viele Aussagen des Buches sind aber auch auf diese Bildungsbereiche übertragbar.

Nicht berücksichtigt sind die Vorschule, die Primarstufe und die Sekundarstufe I, weil bereits viele Publikationen über Dyslexie und Dyskalkulie bei Schulkindern vorhanden sind. Das Jugend- und Erwachsenenalter hingegen wurde bisher im Zusammenhang mit Dyslexie und Dyskalkulie im deutschsprachigen Raum wenig beachtet. Das vorliegende Fachbuch soll darum eine Lücke schliessen für Fachleute in der Praxis und für die Betroffenen selbst.

Bei der Erarbeitung des Buches wurde Wert darauf gelegt, mit unterschiedlichen Fachleuten, die mit der Thematik vertraut sind, in Kontakt zu treten. So wurden Informationen eingeholt beispielsweise durch eine nicht standardisierte Umfrage bei Berufsfachschulen, Mittelschulen, höheren Fachschulen und Beratungsstellen, die bestätigte, dass Dyslexie und Dyskalkulie als Themen wahrgenommen werden. Daraus entstanden Kontakte zu einzelnen Fachleuten, die sich an ihren Schulen oder in ihren Beratungsstellen mit Fragen der Integration von Lernenden mit Dyslexie oder Dyskalkulie befassen. Kontaktpersonen für Studierende mit Behinderungen an den Hochschulen wurden via Mail angesprochen. Die Rückmeldungen zeigten, dass die Hochschulen ganz unterschiedlich mit dem Thema «Studium und Behinderung» umgehen. Die meisten gehen noch kaum proaktiv vor und reagieren vorwiegend auf Anfragen in Einzelfällen.

Fragen, die sich bei der Erarbeitung ergaben, beispielsweise die Frage, ob Dyslexie in der Fremdsprachendidaktik thematisiert wird oder ob bei den zentral durchgeführten Selektionstests Dyslexie und Dyskalkulie berücksichtigt werden, wurden den entsprechenden Fachleuten unterbreitet. Die Antworten zeigen, dass diese Fragen bisher noch kaum diskutiert wurden und ein grosser Handlungsbedarf besteht.

Die Ergebnisse der Umfrage und die Diskussionen mit Fachleuten beeinflussten vorwiegend die Bearbeitung der Thematik im vierten Kapitel, «Bildungserfolg für Lernende und Studierende mit Dyslexie oder Dyskalkulie», S. 98 ff.

Das Buch «Dyslexie, Dyskalkulie – Chancengleichheit in Berufsbildung, Mittelschule und Hochschule» beleuchtet das Thema für Lernende und Studierende aus verschiedenen Perspektiven.

In Kapitel 1, «Recht auf Bildung und Entfaltung der Persönlichkeit», erläutert Prof. Judith Hollenweger die gesellschaftlichen Aspekte von Bildung und Bildungssystemen. Sie unterstreicht den Einfluss, den das Verständnis von Behinderung auf den Umgang mit Chancengleichheit in der Bildung ausübt. Gefordert wird ein Verständnis von Behinderung, das eine komplexe Interaktion zwischen der Funktionsfähigkeit einer Person und ihrer Umwelt einschliesst. Neben der individuellen Förderung und Unterstützung werden so auch die optimale Gestaltung der Umwelt und das Entfernen von Barrieren berücksichtigt.

In Kapitel 2, «Zur Neuropsychologie von Dyslexie und Dyskalkulie», fassen Rahel Weisshaupt und Prof. Hennric Jokeit aus neuropsychologischer Sicht das aktuelle Wissen zu Dyslexie und Dyskalkulie zusammen. Verschiedene verbreitete Annahmen über Dyslexie und Dyskalkulie werden relativiert oder korrigiert, und die Notwendigkeit einer sorgfältigen fachkundigen Abklärung der betroffenen Jugendlichen und Erwachsenen als Beitrag zu einer chancengleichen Bildungslaufbahn wird betont.

In Kapitel 3, «Rechtliche Aspekte der Bildungschancengleichheit für Lernende mit Dyslexie oder Dyskalkulie im Mittelschul-, Berufsbildungs- und Hochschulbereich», stellen Dr. Stephan Hördegen und Prof. Paul Richli Chancengleichheit für Lernende mit Dyslexie und Dyskalkulie in der Berufsbildung, den Mittel- und Hochschulen in einem wissenschaftlichen Beitrag aus juristischer Sicht dar. Diese Thematik ist bisher noch nicht in dieser Form behandelt und diskutiert worden. Die Autoren haben diesen Beitrag speziell für dieses Buch erarbeitet. Eilige Leserinnen und Leser finden am Ende des Kapitels eine Zusammenstellung der wichtigsten Aussagen.

In Kapitel 4, «Bildungserfolg für Lernende und Studierende mit Dyslexie oder Dyskalkulie», zeigt ­Monika Lichtsteiner Müller auf, wie sich eine Lese-Rechtschreib-Schwäche oder eine Rechenschwäche im Rahmen der Bildung auf der Sekundarstufe II und auf der Tertiärstufe konkret auswirken kann und welche Massnahmen dazu beitragen, Barrieren zu beseitigen. Leserinnen und Leser erfahren unter anderem, wie Nachteilsausgleiche inklusive Hilfsmittel und Notenschutz eingesetzt werden können, welche Bewältigungsstrategien zum Bildungserfolg beitragen können, was für und was gegen ein Offenlegen der Dyslexie oder Dyskalkulie spricht und wie eine «dyslexie-dyskalkulie-freundliche» Bildungsumgebung aussieht.

In Kapitel 5, «Dyslexie im Berufsleben kommunizieren», wirft Elisabeth Moser einen Blick in die Arbeitswelt. Sie berichtet, wie ausgewählte Vertreterinnen und Vertreter von Arbeitgeberseite die Beschäftigung von Personen mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche und einer Rechenschwäche beurteilen und wie es Betroffenen gelingt, sich im Arbeitsmarkt zu integrieren. Zitate von Betroffenen konkretisieren die Aussagen im Text.

Im von Leila Müller verfassten Kapitel 6, «Erleben Sie meine Welt», begleiten die Leserinnen und Leser eine fiktive Person mit Dyskalkulie durch einen Tag und erleben, wie es sich anfühlen kann, mit einer Leseschwäche lesen zu lernen, Texte zu lesen und Fehler zu korrigieren.

Zwischen den einzelnen Kapiteln gewähren Jugendliche und Erwachsene, die mit einer Dyslexie oder Dyskalkulie leben, Einblick in ihre Schul- und Bildungslaufbahn. Sie berichten davon, wie eine Dyslexie oder Dyskalkulie bisweilen zu einer Last wird und wie sie als Betroffene für sich nach Wegen suchen, mit ihren Beeinträchtigungen umzugehen, aber auch, wie es ihnen gelingt, Ziele zu erreichen.

Es gehört zum Konzept des Buches, verschiedene Fachbereiche einzubeziehen und neben den Fachleuten auch die von Dyslexie und Dyskalkulie Betroffenen zu Wort kommen zu lassen. Da Betroffene immer wieder die Erfahrung machen, dass ihre Schwächen nicht verstanden werden, haben wir, um sie vor möglichen negativen Auswirkungen zu schützen, nicht ihre richtigen Namen verwendet. Die Fotos sind so aufgenommen, dass die Porträtierten nicht erkannt werden können.

Bei den Zitaten aus Büchern oder aus dem Internet haben wir hingegen die ohnehin bereits veröffentlichten Namen verwendet.

Das Fachbuch informiert über Dyslexie und Dyskalkulie bei Jugendlichen und Erwachsenen in Ausbildung. Es diskutiert pädagogische und rechtliche Aspekte. Es weist darauf hin, was Betroffene selbst zu ihrem Erfolg beitragen können, und es zeigt auf, was in den Bildungsinstitutionen, Abklärungs- und Beratungsstellen unternommen werden muss, damit Bildungsziele, die den Fähigkeiten entsprechen, besser realisierbar werden.

Unser Ziel ist es, die Leserinnen und Leser einzuladen, sich mit den Fragen und Problemen von Lernenden und Studierenden mit Dyslexie und Dyskalkulie auseinanderzusetzen und wahrzunehmen, dass sie neben Problemen auch Kompetenzen mitbringen. Es soll sie anregen, institutionelle Barrieren abzubauen, die Betroffenen zu fördern und ihnen zu ermöglichen, dass sie ihre Fähigkeiten entfalten und ausschöpfen können. Diejenigen Fachleute, die sich bereits für Chancengleichheit einsetzen, soll es bestätigen und motivieren, auf ihrem Weg weiterzugehen.

Im Schatten des Erfolgs

Luca wirkt zurückhaltend, er ist jedoch nicht schüchtern. Ein Draufgänger ist der junge Mann nicht, die dunklen Augen blicken ernst in die Welt, aber er scheint zu wissen, was für ihn richtig und wichtig ist, wie er seinen Weg gehen will. Seit zwei Jahren besucht der 20-jährige in Lausanne eine technische Berufsschule für Polymechaniker. Hin und wieder stolpere er noch über ein Wort, mehrheitlich gehöre seine Legasthenie der Vergangenheit an, erklärt er. Wir sitzen im väterlichen Büro mit Blick auf den Genfersee, der in der Ferne schimmert und glitzert. Der Aussicht widmet der junge Waadtländer wenig Aufmerksamkeit, sie ist eher nach innen gerichtet oder auf das Mobiltelefon. «Die Legasthenie hat Lucas Kindheit schwierig gemacht, freudlos zuweilen», bestätigen Vater und Sohn. Sie hätte weit unbeschwerter sein können, weil es an entsprechender Unterstützung oder einem hilfs­bereiten familiären Hintergrund nicht fehlte. Der Vater hat sich oft Zeit genommen, mit dem Sohn zu üben, die Hausaufgaben gewissenhaft zu machen, sozusagen nochmals zusätzlicher Schulunterricht zu Hause. Die Mutter arbeitet als Sportlehrerin, und auch sie hat ihm beim Schulstoff geholfen. Anders als Eltern, die keine Zeit oder Möglichkeit haben, den Kindern mit Schulproblemen die entsprechende Hilfe zu gewähren, so wie es der Vater aus seiner Berufspraxis kennt. Etwas unerwartet waren wohl Lucas schulische Schwierigkeiten für die ganze Familie. Man wurde ins kalte Wasser geworfen, vererbt sei das wohl gar nicht, niemand habe je unter Legasthenie gelitten. Und auch die kleine Schwester, die als Eiskunstsportlerin glänzt, ist davon nicht betroffen.

Was Luca mitbrachte, nämlich seine Intelligenz, sagt sein Vater, die hätte ihm ein lockeres Lernen ermöglichen sollen. Trotzdem war der Sohn in der Primarschule nicht glücklich, so viel mögen alle beide zugeben. Luca mochte zwar seine Lehrerin in der ersten Klasse, weil sie viel Verständnis für ihn und seine Leseschwierigkeiten gehabt hatte. «Sicherlich, weil sie selbst einen behinderten Sohn zu Hause hatte», ergänzt Luca. Offensichtlich sieht Luca im Rückblick ihr Einfühlungsvermögen darin begründet, dass sie Erfahrung hatte mit Behinderungen und es sich auch bei ihm, bei seinem Unvermögen, gut und fehlerfrei zu schreiben und zu lesen, um eine solche handelte. Zwar war und ist im Zusammenhang mit seiner Dyslexie von einer Behinderung in Lucas Elternhaus keine Rede. Jedoch ohne nachhaltige Blessuren scheint seine Schulzeit nicht vorübergegangen zu sein, sonst hätte er wohl diesen Zusammenhang gar nicht hergestellt.

Luca wirkt ein bisschen verhalten, auch wenn heute keine Zweifel an seinen Fähigkeiten bestehen. Natürlich gehören Fremdsprachen, wie etwa Deutsch und Englisch, nicht zu seinen Lieblingsaktivitäten. Und Auskunft zu geben über etwas, was für ihn weit zurückliegt, scheint ihm nicht sonderlich zu gefallen.

Vater und Sohn erinnern sich an früher und dass es zuweilen der Beziehung nicht förderlich war, wenn zu Hause nochmals schulmässig alles das repetiert werden musste, was untertags nicht funktionierte. Das hat den Eltern keinen Spass gemacht, dem ungestümen Schüler natürlich auch nicht. Es galt, Ventile zu finden für Frustrationen und Sich-nicht-verstanden-Fühlen. Man fühle sich dabei sehr einsam, sowohl als betroffenes Kind als auch als Eltern, erinnern sich beide. Es sei manchmal wirklich eine Art Teufelskreis, erklärt der Vater, man möchte dem Kind helfen, aber es bewegt sich im Kreis. Vielleicht muss man manchmal mit einem legasthenen Familienmitglied die Sache auf sich beruhen lassen und dem jungen Menschen Zeit lassen, seine wahren Interessen und Fähigkeiten selbst zu entdecken?

Momentan ist Lucas Wochenprogramm sehr voll, er ist in ganz verschiedenen Gebieten engagiert. «Er scheint beliebt zu sein und ist immer irgendwo unterwegs», erklärt sein Vater. Er betont, dass man eigentlich unterdessen das Thema Legasthenie nicht mehr gross beachte. Illusionen habe er keine, grinst Luca, eine akademische Karriere ziehe er nicht in Betracht, und er träumt auch nicht davon, Astronaut zu werden. Ingenieur vielleicht? Dass es mit einem Studium an der Fachhochschule noch klappen kann, dafür ist sicher eine ihm eigene Beharrlichkeit verantwortlich. Luca erklärt, dass er erst mal im Militär weitermachen werde, aber sicher nicht so weit wie sein Vater, der Oberst geworden sei, sondern höchstens bis zum Hauptmann. Jetzt lächelt er, Sport ist ihm wichtig, er schwimmt jede Woche zwei bis drei Mal. Betrachtet er sich selbst als zu wenig ehrgeizig in einer Familie, in der es alle weit brachten? Nein, er geht seine berufliche Zukunft in seinem eigenen Tempo an, Schritt für Schritt, und pflegt seine Hobbys.

Luca ist seit acht Jahren in einem Improvisationstheater engagiert. Ausgerechnet Theater, bei dem es so sehr auf die Sprache ankommt und die Schnelligkeit. Doch da fühlt sich Luca wohl, und er widmet sich dem Theater mit viel Herzblut. Er fühle sich nicht mehr gehindert, habe gelernt, mit Sprache umzugehen, erklärt er, das Theater bedeute ihm viel. Offensichtlich braucht er diese Herausforderung, einem Hobby nachzugehen, das zur Passion geworden ist und das mit Sprache zu tun hat. Nach dem Gespräch schlendert Luca, Kappe auf den dunklen Haaren, sichtlich erleichtert seinem Feierabend entgegen, wo ihn niemand fragt, was es mit seiner Legasthenie auf sich hat, wo er seine Kreativität und die körperliche Kraft ausleben kann: im Schwimmbad und auf der Bühne.

1

Recht auf Bildung und Entfaltung der Persönlichkeit

Prof. Dr. Judith Hollenweger, Pädagogische Hochschule Zürich

1.1 Sicherung von Bildungschancen

Bereits seit mehr als zwanzig Jahren ist das Recht auf Bildung für alle Kinder und Jugendliche in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen verankert. Die in der Schweiz noch nicht ratifizierte Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen fordert, dass die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen gewährleisten mit dem Ziel, «Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen»1 (Artikel 24, Abschnitt 1). Die Bildungssysteme mit ihren Gelegenheitsstrukturen und Regelsystemen eröffnen den Schülerinnen und Schülern Bildungschancen – können diese aber auch verschliessen.2

Bildungssysteme haben aber auch dafür zu sorgen, dass die nächste Generation auf die Teilhabe an allen gesellschaftlichen Subsystemen vorbereitet ist. Hier von besonderer Bedeutung ist die Aufgabe der Qualifikation respektive die Entwicklung von berufsrelevanten Fähigkeiten (Subsystem Wirtschaft). Bildungssysteme qualifizieren und befähigen junge Erwachsene immer auch abgestimmt auf die Anforderungsprofile des Beschäftigungssystems. Dieses verlangt heute immer mehr nach gut qualifizierten Fachleuten, die sich in unserer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft leicht orientieren können.3 Ins Zentrum rücken Schlüsselkompetenzen,4 welche weniger auf eine spezifische berufliche Tätigkeit vorbereiten, sondern sichern sollen, dass die Schulabgängerinnen und -abgänger fähig sind, sich in einer flexibilisierten Berufswelt zurechtzufinden und ihr Leben lang weiterzulernen. Gemäss dem DeSeCo-Projekt der OECD können solche Schlüsselkompetenzen in drei Kategorien gefasst werden: (1) Fähigkeit, verschiedene Medien, Hilfsmittel und Werkzeuge sowie die Sprache wirksam einzusetzen, (2) Fähigkeit, mit Menschen aus verschiedenen Kulturen in einer vernetzten Welt umzugehen und in sozial heterogenen Gruppen zu interagieren, sowie (3) Fähigkeit, Verantwortung für die eigene ­Lebensgestaltung zu übernehmen und eigenes Leben in grösseren Kontext zu situieren und eigenständig zu handeln.5

Bildungssysteme dienen jedoch auch der Reproduktion respektive der Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Sozialstruktur, die sich auch in den verschiedenen beruflichen Positionen mit unterschiedlichem Anforderungsniveau widerspiegelt. Anders ausgedrückt: Bildungssysteme verteilen die Bildungs- und Berufschancen ungleich an die nächste Generation. Die Schule begrenzt diese mittels Prüfungen und Zulassungsbedingungen und nimmt so aktiv Einfluss auf die schulischen und beruflichen Laufbahnen. Fend (2008, S. 50 ff.) spricht hier von der Allokationsfunktion des Bildungswesens und fordert eine offene und leistungsgerechte Praxis. Zugang zu höheren Ausbildungsgängen soll somit aufgrund der Leistungen respektive der Leistungsfähigkeit erfolgen und nicht zum Beispiel aufgrund der sozialen Herkunft. Dass diese Forderung noch nicht in die Praxis umgesetzt ist, zeigen etwa Studien aus Deutschland. Dort müssen Kinder aus bildungsfernen Familien vergleichsweise höhere Kompetenzen und eine höhere Motivation aufweisen als Kinder aus bildungsnahen Familien, um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten.6 Heutige Bildungssysteme müssen zudem für Durchlässigkeit und Anschlussfähigkeit sorgen, sodass frühe Bildungsentscheide revidiert werden können. Auf Sekundarstufe II (Kopenhagen-Prozess) und Tertiärstufe (Bologna-Prozess) werden in Europa gegenwärtig ­grosse Anstrengungen unternommen, um die Durchlässigkeit und Vergleichbarkeit von Abschlüssen und/oder Qualifikationen zu verbessern.7 Ebenfalls bemühen sich viele europäische Länder darum, informell erworbene Kompetenzen bei der weiteren Qualifikation zu erfassen und anzuerkennen. Das deutsche Jugendinstitut hat hierzu zusammen mit weiteren Partnern einen Interviewleitfaden entwickelt.8 Die Flexibilisierung der Berufsbildung birgt gemäss Biermann (2005) neben Chancen auch einige Risiken.

Wie Fend (2008) ausführt, hat das Bildungswesen sowohl eine gesellschaftlich-kulturelle Reproduktions- und Innovationsaufgabe als auch die Funktion, individuelle Handlungsfähigkeit herzustellen, «die sich in Qualifikationserwerb, Lebensplanung, sozialer Orientierung und Identitätsbildung entfaltet» (ebd., S. 23). Für die Sicherung der Bildungschancen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Dyslexie oder Dyskalkulie in allgemeinbildenden oder berufsbildenden Ausbildungsgängen auf der Sekundarstufe II und der Tertiärstufe stellen sich primär Fragen zu adäquaten Qualifizierungsmöglichkeiten und zu gerechten Zulassungsmechanismen. Welche Gelegenheitsstrukturen (Angebote, Unterstützungsmöglichkeiten) sind erforderlich, damit notwendige Kompetenzen und erforderliche Fähigkeiten ­erworben werden können? Welche Regelsysteme (Zulassungen, Berechtigungen) braucht es, um den ­Zugang zu höheren Ausbildungsgängen zu erhalten und diese erfolgreich abzuschliessen? Zur Sicherung der Bildungschancen der betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind sowohl besondere Überlegungen zur Förderung und Unterstützung als auch zur Vermeidung von Diskriminierungen und Benachteiligungen notwendig. Im Folgenden soll kurz geschildert werden, welche Entwicklungen gegenwärtig in diesen Bereichen im europäischen Raum und in der Schweiz zu beobachten sind.

1.2 Unterstützungssysteme auf Sekundarstufe II und Tertiärstufe

Die schulische Sonderpädagogik ist fast ausschliesslich auf die Volksschule ausgerichtet und hat sich bisher kaum mit der postobligatorischen Bildung auseinandergesetzt. Bereits auf Sekundarstufe I werden seitens des Bildungssystems nur noch wenige Stütz- und Fördermassnahmen angeboten. So erhielten etwa im Kanton Zürich im Schuljahr 2008/2009 auf der Unterstufe von 100 Lernenden 1,4 ­Kinder eine Legasthenie- und ein Kind eine Dyskalkulietherapie, während im gleichen Schuljahr nur 0,3 respektive 0,1 Lernende der Sekundarstufe I diese Massnahmen besuchten.9 Die Sekundarstufe I ist in der Schweiz nach Leistungsniveaus gegliedert, und generell wird davon ausgegangen, dass man damit den unterschiedlichen Lernbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler gerecht werden kann. Kinder und Jugendliche mit schweren Behinderungen werden auch heute noch mehrheitlich in Sonderschulen unterrichtet, trotz internationalem Druck zur Umsetzung integrativer respektive inklusiver Schulangebote. Wegen dieser starken Ausrichtung auf die Volksschulzeit besteht heute in den Mittelschulen des Kantons Zürich nach der Vollendung der obligatorischen Schulzeit kein vergleichbarer Rechtsanspruch mehr auf staatliche Beiträge für Stütz- und Fördermassnahmen. Auch die neue interkantonale Vereinbarung im Bereich der Sonderpädagogik orientiert sich an der obligatorischen Schulzeit, obwohl die Berechtigten zwischen 0 und 20 Jahre alt sein können. In den kommenden Jahren wird sich zeigen, wie die Kantone diese neuen Vorgaben umsetzen werden. Berufsfachschulen hingegen können bereits heute aufgrund des Berufsbildungsgesetzes (Art. 21 Abs. b und c) besondere Angebote zur Verfügung stellen, etwa mittels Stützkurse. Insbesondere im Berufsbildungsbereich wurden in den letzten Jahren viele Initiativen gestartet, um die Situation von Jugendlichen mit Behinderungen oder Lernschwierigkeiten zu verbessern. Allerdings muss festgestellt werden, dass dabei spezifische Massnahmen (z.B. Nachteilsausgleich, Hilfsmittelangebote) bei Dyslexie und Dyskalkulie nicht genügend berücksichtigt wurden.

Auf der Tertiärstufe lässt sich heute eine sehr heterogene Praxis beobachten; einige Hochschulen führen bereits seit vielen Jahren Beratungsstellen für Studierende mit Behinderungen – zum Beispiel die Universität Zürich –, andere verfügen über keine institutionell verankerte Praxis und sind kaum sensibilisiert. Aufgrund der Ergebnisse einer Studie zur Situation von Menschen mit Behinderungen an Schweizer Hochschulen10 besteht weiterhin grosser Handlungsbedarf bezüglich der fehlenden Dienstleistungen und Hilfsmittel sowie bei der Vermeidung von Benachteiligungen. Heute lässt sich beobachten, dass Hochschulen vermehrt Fragen zum Umgang mit Behinderungen unter dem Stichwort «Diversity Management» diskutieren.11 Gemeint ist damit die Entwicklung einer umfassenden Strategie, welche auf die gesamte Diversität an Hochschulen – ob bezüglich Geschlecht, Herkunft, Sprache, Kultur oder Behinderung – ausgerichtet ist.

Neben den Ausbildungsstätten und den für sie verantwortlichen Stellen bei Bund und Kantonen spielt die Invalidenversicherung eine wichtige Rolle bei der Bereitstellung von Unterstützungsangeboten und Hilfsmitteln. Gemäss der Verordnung über die Invalidenversicherung (IV) haben Jugendliche und junge Erwachsene mit Eintritt in die erstmalige berufliche Ausbildung Anspruch auf Unterstützungsleistungen der IV – vorausgesetzt, sie werden gemäss den Vorgaben der IV als «invalid» und somit anspruchsberechtigt erachtet. Als erstmalige berufliche Ausbildung gelten neben Berufslehren auch der Besuch einer Mittel-, Fach- oder Hochschule. Entschädigt werden Mehrkosten, die durch die Invalidität entstehen. Dazu gehören: Aufwendungen für die Vermittlung der erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten, die Kosten für persönliche Werkzeuge und Berufskleider sowie die Transportkosten. Die Invalidenversicherung geht davon aus, dass solche Einzelmassnahmen adäquat sind; Fragen zu Bildungschancen, lebenslangem Lernen oder Recht auf Bildung können unter der Perspektive von Versicherungsleistungen nicht bearbeitet werden.

Von grosser Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Art und Weise, wie eine Bedarfsabklärung durchgeführt wird. Nur wenn Behinderung als das Ergebnis der Interaktion zwischen bestimmten Charakteristiken der Umwelt und der Person verstanden wird, fliessen Überlegungen zu Anpassungen der Umwelt in die Bedarfsfeststellung ein. Wie im nächsten Kapitel dargelegt werden soll, ist ein adäquates Verständnis von «Behinderung» eine wichtige Voraussetzung, um diese Analyse vornehmen zu können. Der Bedarf für Massnahmen oder Anpassungen kann sowohl beim Auszubildenden als auch bei den Ausbildenden – respektive den Schulen – liegen. Liegt der Bedarf bei der auszubildenden Person, ist es zudem wichtig, zwischen einem eigentlichen Förderbedarf und einem Bedarf an Beratung oder Assistenz zu unterscheiden. Gerade im Jugendalter kann das Vermitteln von Copingstrategien oder Beratungsangeboten sinnvoller sein als das Absolvieren von Förderprogrammen.

1.3 Zuweisungs- und Selektionssysteme auf Sekundarstufe II und Tertiärstufe

Mit dem Abschluss der Volksschule treffen Entscheidungen zur weiteren Ausbildung mit Fragen zur Berufswahl zusammen. Die Allokationsfunktion des Bildungssystems konkretisiert sich beim Übergang von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II und hinterlässt Spuren für das ganze Leben. Mit der Berufswahl und dem Suchen einer Lehrstelle oder dem Übertritt in eine Mittelschule werden wichtige Weichen gestellt für die spätere Berufsausübung. Da die berufliche Stellung heute zentral ist für die Lebensführung, ist sie gleichzeitig auch ein wichtiges Instrument für die Lebensplanung.12 Es ist wenig darüber bekannt, welche Faktoren genau bewirken, dass junge Menschen mit Behinderungen häufiger bei diesen Übergängen scheitern. Die verfügbaren Daten im europäischen Vergleich13 weisen auf tiefere Abschlussquoten auf der Sekundarstufe II und eine Überrepräsentation in berufsbildenden Angeboten mit tiefen Qualifikationsansprüchen aus. Auf der Grundlage verfügbarer Daten ist es aber nicht möglich, generalisierte Aussagen zur Bedeutung bestimmter Störungsbilder, wie etwa Dyslexie oder Dyskalkulie, auf die schulische und berufliche Laufbahn zu machen.

In der Schweiz wächst erst langsam das Bewusstsein, dass das Regelsystem des Bildungswesens Jugendliche und junge Erwachsene aufgrund ihrer Behinderung systematisch benachteiligen könnte. Bisher hat sich der Diskurs eher auf Fragen der sozialen Selektivität des Bildungssystems konzentriert.14 Die Sonderpädagogik konzentriert sich vorwiegend auf Fragen zur besonderen Unterstützung und Förderung und beschäftigt sich gemäss eher gesellschaftskritischen Autoren15 zu wenig mit Diskriminierungsprozessen der Schule. Da Förderentscheide immer Folgen einer Identifikation aufgrund eines Defizits sind und Betroffene gesonderten Massnahmen zuführen, können auch diese benachteiligend wirken. Es gibt Hinweise darauf, dass eine Identifizierung als «behindert» dazu führt, dass Lehrpersonen tiefere Leistungserwartungen haben,16 was sich insbesondere bei Laufbahnentscheiden negativ auswirken kann. Förderentscheide zugunsten einer Sonderschulung sind gleichzeitig Laufbahnentscheide, die oft den Zugang zu höheren Ausbildungsgängen verbauen.17

Bedingt durch die lange Tradition der gesonderten Förderung, die aus dem Regelunterricht ausgelagert wird, ist das reguläre Bildungssystem ungeübt im Umgang mit Behinderungen. Ohne gute Koordination verschiedener Dienstleistungen und ohne eine Begleitung im Übergang zur Berufsausbildung oder zu weiterführenden Schulen kann es so leicht zu Überforderungssituationen kommen. Welche Unterstützungen und Anpassungen wie angeboten werden, hängt dann oft von einzelnen Personen ab. Eine fehlende rechtliche Absicherung und somit eine grosse Abhängigkeit vom Wohlwollen der Entscheidungsträger muss als problematisch eingeschätzt werden.18 In den letzten Jahren wurden durch das in der Bundesverfassung verankerte Gleichbehandlungsgebot und den gesetzlichen Auftrag zur Beseitigung der Benachteiligung von Behinderten zwar die erforderlichen rechtlichen Grundlagen geschaffen, doch fehlt es noch an einer breiten Umsetzung durch eine entsprechende Rechtsprechung. Der Beitrag von Hördegen und Richli im dritten Kapitel dieses Buches ist unter dieser Perspektive von grosser Bedeutung. Es bleibt zu hoffen, dass die Rechte von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in den kommenden Jahren vermehrt in der schulischen Zuweisungs- und Prüfungspraxis berücksichtigt werden.

Der Umgang mit Behinderungen ist in Bildungssystemen auch deshalb so schwierig, weil sich je nach Schädigung und deren Ausprägung andere Fragen stellen – sowohl bezüglich Förderung als auch bei Entscheidungen zur schulischen und beruflichen Laufbahn. Obwohl die Wissensbestände sowohl zu Förder- und Unterstützungsmassnahmen als auch zu Nachteilsausgleich und Gleichstellungsmassnahmen heute gross sind, muss sich auf diesen Grundlagen erst eine gemeinsame Praxis entwickeln, bevor sich die Situation der betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen tatsächlich verbessert.

Professionell durchgeführte Bedarfsabklärungen und «Massnahmen am Individuum» genügen hier nicht, um diskriminierende Bildungsentscheide zu vermeiden. Die Anforderungen, welche Ausbildungsgänge der Sekundarstufe II und der Tertiärstufe an Jugendliche und junge Erwachsene stellen, müssen systematisch mit ihren behinderungsbedingten Lernvoraussetzungen verglichen werden können. Erst auf dieser Grundlage kann abgeschätzt werden, wo Unterstützung des Betroffenen und wo Adaptationen bei den Vorgaben oder Angeboten des Ausbildungsgangs angesagt sind. Damit diese Analyse gelingen kann, gilt es als Erstes zu sichern, dass ein gemeinsames, für Bildungssysteme nützliches Verständnis von Behinderungen aufgebaut werden kann, das sowohl für die Betroffenen selbst, für Personen in den Ausbildungsgängen als auch für Spezialistinnen und Spezialisten relevant ist. Dies ist eine wichtige Grundlage für die Etablierung eines konstruktiven Diskurses über Aufgaben, Verantwortung und Entwicklungsbedarf des Bildungssystems. Im nächsten Abschnitt soll deshalb der Frage nach einem adäquaten Verständnis von «Behinderungen» nachgegangen werden.

1.4 Sind Dyslexie und Dyskalkulie Behinderungen?

Wenn in Bildungssystemen das Wort «Behinderung» verwendet wird, denkt man meist an Kinder mit Downsyndrom, Körperbehinderungen oder an blinde und gehörlose Kinder. Auch sogenannte Lernbehinderte oder Verhaltensauffällige werden zumindest im Kontext Schule als behindert erachtet. Aber sind Dyslexie und Dyskalkulie oder Depression und Diabetes auch Behinderungen? Wie im Beitrag von Weisshaupt und Jokeit im zweiten Kapitel dieses Buches näher ausgeführt wird, gehören ­Dyslexie (respektive Lese- und Rechtschreibstörung) und Dyskalkulie (respektive Rechenstörung) gemäss ­ICD-1019 zu den umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. Aber auch Depression und Diabetes sind in der ICD-10 erfasste Krankheiten oder Störungen. Das Besondere an Dyslexie und Dyskalkulie ist, dass diese Störungen direkt die in der Schule zu erwerbenden Fähigkeiten betreffen und deshalb fast unausweichlich zu Schwierigkeiten führen, etwa beim Schriftspracherwerb oder beim Erwerb mathematischer Fertigkeiten.

Dennoch ist es wichtig, zwischen der Störung und deren Auswirkungen zu unterscheiden. Während Dyslexie oder Dyskalkulie stabile Syndrome sind, sind die damit assoziierten Behinderungen von den spezifischen Anforderungen und den verfügbaren Hilfsmitteln und möglichen Anpassungen abhängig. Zu einer Behinderung gehört sowohl das «Behindertsein» als auch das «Behindertwerden». Ob es einer betroffenen Person gelingt, trotz dieser Störung eine Ausbildung erfolgreich abzuschliessen, hängt davon ab, wieweit sie selbst fähig ist, die vorliegende Störung zu kompensieren und damit umzugehen. Aber auch die schulische Umwelt ist von grosser Bedeutung; sie kann fördernd oder hemmend wirken. Wenn es um Bildung geht, müssen im Fall einer Behinderung zahlreiche Menschen eng zusammenarbeiten: Lehrperson, Eltern, schulische Heilpädagoginnen, Therapeuten, Ärztinnen und vermehrt auch Personen in der Schul- oder Bildungsverwaltung. Da kann es leicht passieren, dass Begriffe unterschiedlich verstanden, Phänomene verschieden eingeschätzt und falsche Schlüsse gezogen werden. Ein zentrales Problem in der Realisierung der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen ist, dass in den Schulen keine gemeinsame und kohärente Sprache etabliert ist, die das Behindertsein und Behindertwerden thematisieren kann.

Ergänzend zur ICD-10 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Klassifikation entwickelt, welche die Folgen von Störungen oder Krankheiten auf die Funktionsfähigkeit erfassen kann. Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit20 versteht «Behinderung» als das Ergebnis einer komplexen Interaktion zwischen der Funktionsfähigkeit einer Person und ihrer Umwelt. Die Funktionsfähigkeit wird auf der Ebene der Körperfunktionen und -strukturen (biologische Perspektive), der Aktivitäten (psychologische Perspektive) und der Partizipation (soziale Perspektive) erfasst. Das ICF-Modell erlaubt es, eine Störung gemäss ICD-10 zu definieren, die Folgen für die Funktionsfähigkeit zu beschreiben und gleichzeitig auch weitere Einschränkungen der Funktionsfähigkeit zu berücksichtigen – im jeweiligen Kontext der spezifischen Umweltbedingungen (Berufsschule, Ausbildungsbetrieb, Hochschule) und der personenbezogenen Faktoren (Geschlecht, Herkunft, Alter). Das komplexe Zusammenspiel dieser verschiedenen Komponenten wird wie folgt dargestellt: