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Trauer ergreift den ganzen Menschen. Nichts ist mehr, wie es war. In dieser großen Krise sind Seele und Körper gleichermaßen erschüttert. Alles scheint aus den Fugen geraten zu sein. Trauernde können selbst nicht immer genau ausmachen, was mit ihnen und in ihnen passiert. Und auch diejenigen, die um sie sind, haben oft Mühe, richtig zu reagieren. Denn Trauer kann sich ganz unterschiedlich ausdrücken, auch wenn bestimmte Phasen in ähnlicher Weise bei fast allen auftauchen. Trauer erscheint den betroffenen Menschen und vor allem den Außenstehenden oft als verlorene Zeit und nicht als Chance, neue Lebenswirklichkeiten zu entdecken. Letztlich geht es darum, die Erinnerung an den geliebten Menschen konstruktiv-kritisch in das eigene Leben einzufügen. Monika Müller und Matthias Schnegg haben langjährige Erfahrung in der Begleitung von Sterbenden und Trauernden und haben dieses Buch sowohl für Trauernde als auch für deren Angehörigen, Freunde, Kollegen, Nachbarn geschrieben.
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Seitenzahl: 256
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Monika Müller/Matthias Schnegg
Unwiederbringlich
Von der Krise und dem Sinn der Trauer
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-647-99794-0
Umschlagabbildung: Edvard Munch, Melancholie, 1906/akg-images
© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Satz: SchwabScantechnik, Göttingen EPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim
Inhalt
Vorwort
Trauer als Teil jeden Lebens
Trauer als Patin des Verlustes
Die »ganz normale« Trauer und die »erschwerte« Trauer
Die ganz normale Trauer
Die erschwerte Trauer
Trauer auslösen statt auflösen
Der Schrei nach schneller Lösung
Trauern ist anstrengend – für die Betroffenen und ihr Umfeld
Trauer durchleben im sozialen Umfeld
Vom Wesen des Trostes
Trost aus Urerfahrungen
Unterschiedliche Tröster
Trauer als persönlicher Werde-Gang
Trauer ist ein Gang, ein Weg, ein Prozess
Der fortschreitende Prozess
Trauer als Entdeckung anderer Lebenswirklichkeiten
Dem Prozess trauen
Schöpferische Kraft als Notventil
Sozial neu lernen
Verschiedene Ebenen der Trauer
Die Trauer um den anderen und das Ideal von ihm
Die Trauer um sich selbst
Trauer(vermeidung) als gesellschaftliches Phänomen
Trauer als fundamentale spirituelle und religiöse Krise
Lebensfrage ist Gottesfrage
Infragestellung von Gottesbildern
Bis zum Gotteshass: Von Gottverlust und Gottessehnsucht
Gemeinschaft der Glaubenden
Geistliche Begleitung
Trauer erleben – Vom ganz normalen Chaos der Trauer
Das ganz normale Chaos der Trauer
Abschied von der Normalität
Isolation und Verlust von Freunden
Das soziale Netz in der Trauer
Besetzung durch die Trauer
Zweifel an der eigenen Lebenskraft im sozialen Umfeld
Verzweiflung
Verzweiflung ist, weil sie da ist
Verzweiflung, weil das Leben entzweit ist
Hilfe in Verzweiflung zwischen Totsein-Wollen und Leben-Wollen
Verzweiflung ist kein Verschulden
Begleitendes in Verzweiflung
Das Werden aus der Verzweiflung heraus
Gottverloren
Verzweiflung – ein großes Trauerereignis und großes Trauergefühl
Schuld
Schuld ist menschlich
Schuld auf dem Trauerweg
Vom Sinn der Frage nach Schuld
Schuld, die ist
Schuld, die objektiv keine ist
Schuld hat eine Aufgabe in der Trauer
Wie damit leben, wenn die Schuld zu meiner Trauer gehört?
Zuschreibungen an andere
Vergebung
Das dunkle Gefühl der Rache
Lebensgeschichte und Trauerwegsgeschichte
Schuld als Verbindung zum Verlorenen
Kinder und Schuldgefühle
Die Kraft der Wut
Die Macht der Ohnmacht
Die Mitspieler Neid und Eifersucht
Vervollständigung des Bildes
Der Wunsch nachzusterben
Umwandlung des Lebens
Wie Menschen einen Umgang mit ihrer Trauer finden
Unwiederbringlich – Von der Schwierigkeit, den Verlust als wirklich wahrzunehmen
Unwiederbringlichkeit als Trauererfahrung
Verleugnen als Schonraum der Seele
Das Schreckliche be-greifen
Was ich gern noch gesagt hätte
Trauer veröffentlichen
Trauer zeigen – Trauerzeichen
Trauerkleidung
Traueranzeige
Kondolenzbesuch
Kondolenzschreiben
Gedenkfeiern
Grabgestaltung
Ist denn das normal? – Von der Schwierigkeit, den Trauerschmerz zu erfahren und zu durchleiden
Seine ureigene Trauer leben
Wie oft willst du das noch erzählen! – Was gut tut und was nicht gut tut
Religion – eine Hilfe in der Trauer?
»Das Leben ist durch und durch anders« – Von der Schwierigkeit, eine Welt anzunehmen, in der der verlorene Mensch so sehr fehlt, und sich ihr anzupassen
Wo finde ich ihn?
Wie hätte sie es gemacht? – Der verstorbene Mensch als innerer Begleiter und Ratgeber
Zurecht-rücken des Bildes (Glorifizierung und Bewertung)
Die »mehrgleisige« Trauer
Was hat der Verstorbene in meinem Leben übernommen, was ich selbst übernehmen kann?
Und immer wieder holt der Schmerz mich ein
Das »Recht« auf Glück? – Was mutet mir dieses Leben nur zu!
Es wird alles wieder gut, aber nie wieder wie vorher – Von der Schwierigkeit, das neue Leben zu gestalten und dem verlorenen Menschen einen anderen Platz darin zu geben und die Bindung an ihn in neuer Weise fortzusetzen
Treuebruch?
Vom Unsinn des Loslassens
Chronischer Schmerz
Meinen wir den Gleichen? – Von der Verschiedensichtlichkeit und Ungleichzeitigkeit der Trauer
Und die Kinder? – Was es gilt, beim Durchleben eines Verlustes im Blick auf Kinder zu beachten
Was bleibt und nicht mit dem Verstorbenen gegangen ist
Abschiedsgeschenk
Adressen
Literatur
Vorwort
Bei unseren Ausführungen geht es nicht um die Vermittlung theoretischen Wissens oder um die Diskussion von Trauerkonzepten oder Trauermodellen. Auch verzichten wir darauf, sogenannte Traueraufgaben zu benennen und den Trauernden zu stellen, weil wir erlebt haben, dass manche diese Aufgaben mit Anstrengung und Leistungen verbinden und ihnen das im Durchleben und Durchleiden der Trauer eine zusätzliche Mühe scheint. Begriffe wie »Symptome« werden vermieden, weil Trauer keine Krankheit ist.
Die jeweiligen Kapitel sind gewachsen aus Erfahrungen, aus unseren Begegnungen mit unmittelbar Betroffenen und aus den Begleitungen trauernder Menschen.
Es ist uns wichtig, diese Erfahrungen nicht nur für sich sprechen zu lassen, sondern sie unter übergeordneten Gesichtspunkten zusammenzufassen. Dies soll dem Leser eine Ordnung an die Hand geben, die zum Verstehen von Trauer, ihrem Wesen, ihrem Ablauf, ihren möglichen Komplikationen und ihrem Wert für das Leben führt. An eine endgültige Verarbeitung von Trauer im Sinne einer Erledigung eines schweren Geschäftes glauben wir nicht, weil die Ursache der Trauer, der Verlust, bleibt; wir vertrauen aber wohl auf die Möglichkeit und Fähigkeit von trauernden Menschen und ihren Begleitern, einen Umgang mit ihr zu finden, der seelisches Gleichgewicht, Lebensqualität und -perspektive, vertieftes Verständnis für sich und andere und Sinnfindung zeitigt.
Als Adressaten dieses Buches haben wir verschiedene Menschen im Blick: zuerst einmal diejenigen, die am meisten leiden, die Trauernden selbst. Sie mögen sich wiedererkennen in den Schilderungen, erleben, dass sie nicht allein auf der Welt diesen Schmerz kennen und Mut fassen; dass sie nicht »verrückt« sind, weil sie das bisher so Ungewöhnliche in der Trauer an sich selbst erleben; dass sie bestimmte Umgangsmöglichkeiten für sich andenken, vielleicht auch ausprobieren können.
Außerdem sind auch Angehörige, Freunde, Kollegen und andere Begleiter angesprochen, die ihrem mangelnden Zugang zum Thema Trauer, ihren Hemmungen und ihrer Hilflosigkeit aufhelfen mögen.
Monika Müller und Matthias Schnegg
Trauer als Teil jeden Lebens
Trauer als Patin des Verlustes
Trauer gibt es in jedem Menschenleben. Viele erschrecken davor, viele fühlen sich in ihr gefangen, viele versuchen sie abzuschütteln. Viele wollen sie verleugnen. Einigen gelingt es, sie ohne größere erkennbare Schäden wegzudrücken. Nicht wenige haben gelernt, mit ihr umzugehen.
Trauer kommt in jedes Leben. Sie ist keine Frage des Alters, keine Frage des Wohlstandes, keine Frage des Geschlechtes, keine Frage der Bildung, keine Frage von Rasse und Religion; sie kommt in jedes Leben.
Gesellschaftlich am ehesten anerkannt ist sie – wenigstens für eine gewisse Zeit –, wenn ein Mensch gestorben ist. Aber nicht nur der Tod löst Trauer aus. Trauer ist die »Patin« jeden Verlustes und Abschiedes. Sie ist da und lässt – obwohl doch Patin des Verlustbegreifens! – den/die Betroffene/n sich oft so unsäglich hilflos erleben. Im Zustand der Trauer greifen viele Schutzmechanismen nicht mehr. Die Flut vieler gescheiter Worte kann sie nicht lösen. Wenn andere von ihrer Trauer berichten, hilft dies auch nur begrenzt. Vermeintlich zur Verfügung stehende Sicherheiten wie Geld und Gott geben nicht selbstverständlich Halt. In trauerlosen Tagen steht uns vieles zur Verfügung, was dem Leben Schwung und Leichtigkeit wie von selbst zu geben vermag – die Kräfte des Verstandes, die Fertigkeiten praktischer Lebenskunst, so großartige Gaben wie Kreativität und Lebenslust. In Zeiten der Trauer verlieren all diese Möglichkeiten an selbstverständlicher Stützkraft. Trauernde fühlen sich oft unentrinnbar eingesperrt, sind hilflos, weil manche Kontrollmechanismen zum Schutz der Seele und zur Aufrechterhaltung der Alltagstauglichkeit nicht mehr greifen. Es gibt Momente, da können keinerlei Anstrengung, kein Willenszwang der Trauer etwas entgegensetzen. Trauernde fühlen sich ausgeliefert und spüren die Angst vor dem Alleinsein in diesem Erdenleben – und gleichzeitig die Bedrohlichkeit der Nähe von Menschen, die dieser Trauer ihre Macht absprechen wollen. Die Trauer schmerzt und besetzt das Leben und quält – und ist dennoch unverzichtbar, »gewollt«, Not wendend, um begreifen zu lernen, wie ungeheuerlich der Verlust das eigene Leben verändert, bedroht, zerbricht.
Die Erfahrung der Trauer bricht in ein Leben ein, lässt neu ordnen, bricht manches Alte ab. Was im Prozess der Trauer oft nur als Vernichtung wahrgenommen wird, als »Leben gegen das Leben«, kann zur Erfahrung neuer Lebensmöglichkeiten kommen, die deutlich anders, jedoch nicht grundsätzlich schlechter sein müssen. Aber es ist unangemessen, diese Perspektive an den Anfang eines Trauerweges zu stellen, denn nichts liegt da ferner, als sich eine neue, bisher noch gar nicht gekannte Lebensmöglichkeit vorzustellen. Die Trauer weint und grämt und leidet dem Verlorenen nach.
Es ist daher vermessen, dem teils bis an den Lebensabgrund führenden Trauerweg die Möglichkeit des neuen Lebensgrundes aufzumalen, so als sei das Trauern nur ein Als-ob; unachtsam ist es, im Wissen um mögliche Lebensreifung durch Krisen die Trauer als zwar schwer, aber letztlich aushaltbar verharmlosend hinzustellen. Es ist aber ebenso unmenschlich, der Trauer absprechen zu wollen, dass in ihr nicht nur Erfahrung des Untergangs, sondern auch des neuen Lebens stecken. Dieses Wissen ist gut aufgehoben bei denen, die nicht selbst in der akuten Trauer stehen und Mitlebende oder Begleitende sind. Sie können als Lebensgrund bewahren – anwaltschaftlich –, was für den Trauernden nicht denkbar, auch zunächst gar nicht gewollt ist. »Wie soll neues Leben ohne den Verlorenen gehen, wenn nicht über das Empfinden des Verrates«, so klingen geläufige Gedanken derer, die in Trauer leben.
Die »ganz normale« Trauer und die »erschwerte« Trauer
Die ganz normale Trauer
Die Trauer kommt in jedes Leben. Sie ist nicht erst da, wenn ein uns naher Mensch gestorben ist. Sie ist immer dann in uns, wenn wir Verluste ertragen: Kinder, die nicht genügend Antwort auf ihre Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit finden, trauern; Jugendliche, die bestimmten Maßstäben der Erwachsenen nicht genügen oder im Trend ihrer Generation nicht mitkommen, trauern; Menschen, die ihre Arbeit verlieren, Menschen, die durch Erreichen der Altersgrenze ausscheiden, trauern; Menschen, die ihre nicht rückgängig zu machende Schuld beklagen müssen, trauern; Kranke, die durch ihre Krankheit bleibend gezeichnet sein werden, die ein Organ verloren haben, die auf Medikamente oder Maschinen dauerhaft angewiesen sind, die auf keine heilende Befreiung aus der Krankheit mehr hoffen dürfen, trauern; Alte, deren Körperschönheit erschlafft, deren Gedächtnis sie im Stich lässt, trauern; Menschen, die plötzlich mit körperlichen oder seelischen Behinderungen leben müssen, trauern; Frauen und Männer, deren Liebe keine Kraft mehr hat, die über Missachtungen, Verletzungen, Demütigungen und Selbstverleugnung sich zum gegenseitigen Verlassen entschieden haben, trauern; Leute, deren Lebenswerk und Zukunftspläne, deren Heimat, Ansehen, Hoffnungen – durch welche Gründe auch immer – aufzugeben sind, trauern; Sterbende und ihre Angehörigen trauern längst vor dem Tod, denn der absehbare Abschied, die Ahnung des Verlustes, bekommt die Trauer als Patin zugestellt.
Vielfältig ist die Trauer – und es leuchtet ein, dass Trauer ein Teil unseres Lebens ist – wie Lust, wie Freude, wie Schuld, wie Enttäuschung, wie Angst. Trauer ist ein sehr starkes Gefühl, weil sie sich nicht einfach wegmachen lässt.
Weil nun aber Trauer in jedem Menschenleben vorkommt, ist sie zunächst etwas ganz Normales. Sie ist nicht der Ausnahmefall von Leben, sie ist nicht die Katastrophe, die grundsätzlich ein bösartiges Schicksal hinter sich hat. Die Trauer ist normal, ein Bestandteil und eine Aufgabe des Lebens. Sie ist in ihrer Macht und Gewalt nicht zu unterschätzen. Die meisten Menschen werden mit dieser ganz normalen Trauer fertig, durchleben sie – nicht selten über mehrere Jahre – und lernen mit ihr neu und gar auch wieder lustvoll zu leben. Da reicht meist ein geringes Maß an Stütze und Begleitung, um diese Herausforderung sinnerneuernd zu meistern.
Die erschwerte Trauer
Anders verhält es sich mit der erschwerten Trauer. Sie ist mehr als ein mühsamer und quälender Weg durch Verlust und Abschied. Sie ist ein Leiden, das besondere Hilfe braucht und sich diese auch suchen soll. Erschwerter Trauerverlauf bedeutet, dass Elemente normaler Trauerreaktionen anhaltend bestehen bleiben, sich intensivieren oder sich anhaltend in körperlichen Beschwerden ausdrücken. Die zeitliche Ausdehnung, die Intensität und die qualitative Ausprägung der Trauer weichen von der normalen Trauer ab. Der Übergang von der normalen zur erschwerten Trauer ist fließend.
Gesellschaftlich ist es selbstverständlich, dass bei körperlichen Leiden der Arzt, die Ärztin zur Hilfe gerufen werden müssen; ja es ist geradezu ein Makel, wenn Kranke nicht rechtzeitig und beständig genug nach Hilfe rufen. Bei Trauernden, deren Leben und Leiden sie krank gemacht hat, ist das Zögern oft häufiger.
Die erschwerte Trauer kann in der verinnerlichten Lebensgeschichte des Trauernden begründet sein. Manchmal haben Trauernde bis kurz vor dem Anlass ihrer Trauer – meist unbewusst – viel Energie aufgewandt, um Angst im und vor dem Leben abzuwehren. Durch die Trauer aber lassen sich solche Angstabwehrmechanismen nicht immer aufrechterhalten. Dann können wie aus vermeintlich heiterem Himmel tiefe Wunden von Liebesentzug, Verlustangst und Lebenszweifel aufbrechen:
Eine heute über 70 Jahre alte Frau kommt durch das Erleben des Todes eines ihr sehr nahe stehenden Familienmitgliedes an über 60 Jahre alte Wunden: an nie angesprochenen Missbrauch in Jugendjahren, an innerfamiliär verordnete Totschweigegebote über mehrere Suizidversuche, an antwortloses Liebeswerben um die Zuwendung des Vaters, der außer Depression ihr nichts als sie verbindendes Lebensgefühl hinterlassen konnte.
Unschwer ist hier zu erkennen, wie durch den Verlust eines geliebten Menschen die ganze Gefährdung des Lebens in der eigenen Geschichte offenbar wird.
Bei vielen Trauernden öffnen sich alte, bisher nicht geheilte Lebenswunden. Das Erschrecken darüber sitzt tief, lässt die Trauer noch undurchstehbarer erscheinen, als es bei der normal schweren Trauer schon der Fall ist. Das Erschrecken stößt neben der Verlusttrauer noch tiefer in das befürchtete schwarze Loch, als da längst abgelegt geglaubte Verletzungen und Ängste und Zweifel wieder wach werden.
Merkmale erschwerter Trauer sind:
1. Von erschwerter Trauer reden wir, wenn sie den Kontakt zur Ursache, zum konkreten Verlust nicht finden kann. Da ist die grundsätzliche Lebenstrauer Thema geworden und drückt auf Dämme, die bisher halten konnten. Der akute Traueranlass ist jetzt Auslöser dieser Grundlebenstraurigkeit.
2. Erschwert ist eine Trauer auch dann, wenn sie sich auf Dauer nicht zulassen kann. Es ist davor zu warnen, einen Menschen – meist guten Willens von eifrigen Angehörigen oder Trauerbegleitenden – zum Kontakt zu seiner Trauer zwingen zu wollen. Es gibt immer wieder Eifrige/Eifernde, die Verdrängungen als Versagen brandmarken – so, als mangle es an Willen und Bereitschaft zur Einsicht. Zum Schutz der Trauernden, die ihre Trauer nicht zulassen (können), sei ein Verständnis für das Verdrängen bekundet. Die Verdrängung hat ihren innerpsychischen Sinn für den, der sie gebraucht. Damit ist nicht gesagt, dass sie sich hilfreich oder gar heilsam auswirkt. Aber die Würdigung der Verdrängung als ein momentanes Mittel, mit sich und dem Leben umgehen zu können, eröffnet weit mehr die Chance, dass der Trauernde sich seinem Trauerschmerz zuzuwenden lernt. Hilfreich, wenn der Schutzmantel der zurückstellenden Verdrängung gehoben werden kann. Denn es ist schon so, dass nicht gelebte Trauer zusätzliche Erschwernis ins Leben tragen kann. Sie wird Wunde in der Seele bleiben, auch wenn sie bewusst nicht offen zugelassen wird. Nicht selten kostet es viel Energie, diese Trauer abzuspalten. Nicht gelebte Trauer kann auch Ursache für später aufkommende körperliche und/oder seelische Krankheiten sein. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie viel Lebensenergie an Leib und Seele ein gelebter Trauerweg braucht, dann ahnen wir, wie vieler – bei aller Würdigung des Sinnes einer Verdrängung – Lebenskraft es bedarf, diesen Druck, diese mögliche Gewalt der Lebensanfrage durch den Verlust abzuwehren und zu unterdrücken. Die Trauer ergreift den ganzen Menschen.
Wenn es jetzt so erscheint, als könne man beliebig mit dem Anschauen der Trauer jonglieren, so ist das ein Irrtum. Viele Menschen, die eine tiefe Trauer in sich tragen, haben keinen Zugang dazu, wissen nicht einmal um diesen Schmerz. Bestenfalls wabert etwas im Untergrund, das sich gelegentlich bemerkbar macht, ohne sich beim Namen nennen zu lassen. Daher ist es hilfreich, die Trauer als Mitursache auftretender, vermeintlich unerklärlicher körperlicher und/oder seelischer Krankheiten mit in den Blick zu nehmen. Manchmal öffnet sich auf diesem Weg die innere Erlaubnis, aber auch die sich zumutende innere Kraft, sich der Katastrophe zu stellen, die der Verlust an Leib und Leben, an Gesundheit und Vertrauen angerichtet hat. Es ist also hilfreich, bei schwer oder gar nicht erklärbaren Erkrankungen (vor allem auch bei chronisch verlaufenden) sich selbst oder aber auch in Diagnose und Therapie die Frage nach Verlusterleben und gelebter Trauer zu stellen und zu berücksichtigen.
3. Erschwert ist auch eine Trauer, die keine Bewegung hat. Es gibt Anteile der Trauer, bei der Trauernde – so widersprüchlich das klingen mag – wie im Selbstschutz der Erstarrung verharren wollten, weil ihnen ihr Verlorener dadurch wenigstens nahe scheint. Als Durchgangsphasen sind derlei Erlebnisse durchaus sinnvoll; wenn sie versteinern, können sie zur Bedrohung des Lebens ausarten. Um keiner Überforderung oder auch vorschnellen Etikettierung der krankhaften Trauer das Wort zu reden, ist wichtig anzumerken, dass Bewegung im Fall der Trauer keine Geschwindigkeit und keinen normierten Zeitplan meint. Es kann sehr wohl sein, dass eine Trauer sich fast unmerklich bewegt, für weniger Erfahrene tatsächlich unmerklich, die Trauer aber dennoch lebendig geblieben ist. Auch die Selbsteinschätzung der Trauernden auf die Bewegung ihres Trauergeschehens hin hält sie oft eher für steinern, festgefahren, weil alles immer nur um das Eine zu kreisen scheint, und das in immer gleichen oder zumindest sehr ähnlichen Drehungen. Darin kann es dennoch fast unmerkliche Abweichungen vom vermeintlich immer Gleichen geben, Abweichungen, die Bewegung beschreiben. Dabei handelt es sich nicht selten um Veränderungen im Kleinstbereich – in allerkleinster Lösung aus dem Immergleichen des Teufelskreises. Eine gewisse Gelassenheit des Umfeldes ist hilfreich, um diese auch kleinsten Bewegungen zu registrieren, für den Trauernden zu benennen und als wissende Wahrnehmung zu bewahren – gegen die Vergeblichkeitsempfindung, dass alles so unendlich schwer geht, sich wie versteinert anfühlt.
Nach einem langen und qualvollen Sterben ihres Mannes hat Frau M. sich dem Leben grundsätzlich verschlossen. Sie lehnte jeden Kontakt außerhalb der Familie ab. Selbst die Angehörigen stöhnten nach ein paar Jahren, dass sie sich völlig in den Zorn gegen den Tod verbissen hatte. Keine Möglichkeit, auch nur über ihre Gemütsverfassung zu sprechen. Alles erstickte sofort in dem Vorwurf, dass dieser Tod nicht habe sein dürfen. Sie ging jeden Tag zum Gottesdienst, fand aber auch da keinen Trost, sondern unausgesprochen ein Forum des Vorwurfes gegen Gott, der ihr das zumutete. Die sozialen Kontakte brachen nach und nach weg, nicht zuletzt, weil – wie frühere Freunde sagten – sie sie weggebissen hat. Als 15 Jahre später Frau M. starb, hat die Tochter gesagt, dass sie es irgendwann aufgegeben habe, die Mutter aus dieser Kummererstarrung herausholen zu wollen. »Das war ihre Art, dem Tod die Macht zu verweigern.«
Wir dürfen davon ausgehen, dass Trauer sich nicht einfach wegschieben lässt. Trauer muss nicht dauerhaft krank machen. Trauer kann sehr wohl ganz neue Lebendigkeit hervorlocken; nicht zugelassene Trauer ist eher ein Lebensverhinderer – somit eine erschwerende Trauer, die zum Problem der erschwerten Trauer werden kann.
4. Erschwerte Trauer wird möglicherweise ebenfalls zu erwarten sein bei besonders belastenden Verlustursachen wie Tod eines Kindes, Unfalltod, Suizidtod, Tod durch Gewalt, nicht gesicherte Tode (ohne Auffinden einer Leiche, verschollene Menschen), auch sehr plötzliche Verläufe und tabuisierte Krankheiten.
Bei erschwerter Trauer kann es hilfreich sein, professionelle Hilfe als Trauerbegleitung durch (darin erfahrene!) Therapeuten, Ärzte, Sozialarbeiter oder Seelsorger in Anspruch zu nehmen. Es ist nicht einfach, »darin erfahrene« Helfende zu finden. Örtliche Hospizdienste oder überregionale Hospizvereinigungen und Therapeutenverbände können vielleicht Wege weisen.
Es bleibt schwierig, eine klare Trennlinie zwischen normal schwerer und erschwerter Trauer zu ziehen. Die hier aufgeführten Merkmale können lediglich Anhaltspunkte geben. Immer gilt es, die eigenen Kraftquellen den schmerzlichen sicht- und spürbaren Reaktionen auf den Verlust gegenüberzustellen. Oftmals sind das Eingebundensein in Familien- und/oder Freundeskreis, die Befriedigung eines Berufslebens, tragende Wert- und Sinnvorstellungen eine große Hilfe, der Trauer trotz heftiger Verlustsituationen den natürlichen Gang und Rhythmus zu belassen. Es wäre ein ungutes Missverständnis, Trauernde glauben zu machen, dass ein plötzlicher oder gewaltsamer Tod oder eine höchst ambivalente Beziehung zum Verstorbenen automatisch einen erschwerten Trauerverlauf nach sich ziehen.
Eine junge Frau hat durch eine Enzephalitis-Epidemie auch ihr zweites Kind innerhalb von wenigen Wochen verloren. Nach Wochen der Starre und Schuldzuweisungen an sich und andere glaubt in ihrem Umfeld niemand daran, dass Frau S. mit diesen Verlusten in den Alltag und ihre frühere positive Lebenseinstellung zurückfindet. Der geliebte Beruf als niedergelassene Psychotherapeutin und ihre Verwurzelung im Buddhismus und einer dort beheimateten Sangha-Gemeinschaft führen zum Erstaunen aller zu einem glaubwürdigen und gleichzeitig starkem Trauertragen und zu einem vertieften und reifen Weltverständnis.
Es ist nicht eindeutig festzulegen, wann unausweichlich eine professionelle Hilfe zum Verlustdurchleben nötig ist. Das gilt es im Einzelfall abzuwägen und entsprechend zu handeln – ob in normal schwerer oder erschwerter Trauer.
Für Menschen, die noch keinen Trauerprozess durchleiden mussten oder miterlebten, wie ein Trauerprozess das Leben mitnehmen kann, ist es sehr hilfreich, fast beruhigend, zu wissen, dass vieles in der Trauer geschieht, was für den Zustand der Trauer ganz normal ist, so ver-rückt es aus dem Blick der Normalität auch erscheint. Viele unnormal erscheinende Ereignisse in der Trauer sind ein Übergang, sind ein Weg, mit dem Verlust leben zu lernen. Dieses als fremd und unnormal Beängstigende verliert in der Regel im Prozess des Trauerweges seine Macht. Wichtig bleibt: Den Trauernden so ernst zu nehmen, wie er sich erlebt, und jedem seiner Gefühle eine Berechtigung zuzugestehen. Dadurch, dass es da ist, ist es und hat – so verrückt und beängstigend es sich zuweilen darstellen mag – für den Trauernden und seinen Weg der Verlustbewältigung einen Sinn. Den gilt es grundsätzlich zu würdigen. Dass das manchmal viel Kraft, Vertrauen, Geduld und Menschenliebe braucht, steht außer Zweifel, wenn wir erleben, wie Trauer ein Chaos ausrichtet. Für den verlustlosen Lebensgang ein zum Teil mehr als grenzwertiges Chaos; für den Zustand der Trauer aber ein ganz normales Chaos.
Trauer auslösen statt auflösen
Der Schrei nach schneller Lösung
Wenn wir uns bereitfinden, an der Trauer nicht vorbeizusehen, dann fragen wir bald nach Weg und Ziel: Was soll mit mir, mit meiner Trauer geschehen? Was werde ich gewonnen haben, wenn ich mich dem Drängen der Trauer unterwerfe? Kann ich, will ich überhaupt neue, tiefere Lebensmöglichkeiten erreichen, von denen die Rede ist? Wo bleibt mein mir auch lieber, oft so unerträglicher Schmerz, wenn ich mein Leben in neuen Perspektiven sehen soll? Wie soll das gehen, wenn jedes Denken an neue Lebensmöglichkeiten wie ein Eingeständnis klingen könnte, dass ich diesen Verlust nicht nur hin-, sondern gar annehme? Ist das nicht Verrat an der Einzigkeit und Unauswechselbarkeit des Verlorenen? Es ist gar nicht ungewöhnlich, dass vielen in der Unaushaltbarkeit dieses schrecklichen Trauererlebens und Trauerweges der Wunsch aufkommt: Lass es schnell wegmachen, dieses so ungemein lebenserschwerende Trauern, wenn denn der eigene Tod als Erlösung schon nicht eintreten mag. Dieses »Gegenleben« glaubt kein Mensch aushalten zu können. Das zerstört Leib und Seele. Manchen ist die Öffnung zum Schmerz der Trauer so unerträglich, dass sie sich auch mit diesen Fragen nach dem Sinn, sich der Trauer hinzugeben, nicht abgeben möchten. Sie äußern vielmehr den Wunsch, möglichst bald befreit zu sein, indem Trauer aufgelöst, aus dem Weg geräumt wird. Es gibt genügend Angebote, die dieses Verdrängen begünstigen. Die Flucht in baldmöglichste neue Partnerschaft ist nur einer der – rein menschlich – auch verständlichen Wünsche, dem Abgrund des Verlustdurchlebens zu entgehen. Dabei ist anzuerkennen, dass es zweifellos Menschen gibt, die auf diesem Weg des Auflösens ihren Weg zum Weiterleben finden. Die meisten Menschen allerdings täuschen sich, wenn sie die Trauer auflösen wollen, um darin den Verlust und seine Wirkung auf das eigene Lebensgefüge zu übersehen, um nicht zu sagen: auf Dauer zu verleugnen.
Trauer ist nicht einfach so wegzumachen; sie folgt nicht eindeutig bestimmten Regeln, Modellen, Phasen- oder Aufgabenlehren, denen man mit gut ausgeklügelten Rezepten zu Leibe rücken kann. Viele Trauernde haben schmerzlich erlernen müssen, dass weder wissenschaftlich fundierte Konzepte noch anzuwendende, sicher wirkende Vorschläge aus Büchern oder Vorträgen oder Lebensschicksalen hilfreich sind, den ureigenen Trauerweg zu beschreiten. Die Trauer ist bei aller Vergleichbarkeit im Prozess der Auseinandersetzung doch ein sehr eigenes, für die Einzelnen einmaliges Ereignis. Ein helfender Trauerweg ist in der Regel kein Wegmachen von einem unangenehmen Gefühl, um dann möglichst schnell wieder einen geregelten Alltag weiterführen zu können, so zu tun, als sei durch den Verlust letztlich nichts Einschneidendes passiert. Es ist nachvollziehbar, dass, wenn denn Trauer nicht zu übersehen ist, wir möglichst einen verlässlichen Verlaufsweg verstehen lernen wollen. Aber die so eigenwillige Trauer lässt sich auch nicht alles erklärend einer Phasen- oder Aufgabenlehre unterordnen. Sie ist eine individuelle, eine körperliche, geistliche und gemeinschaftliche, soziale Aufgabe.
Trauern ist anstrengend – für die Betroffenen und ihr Umfeld
Trauerarbeit – und Trauern ist wirklich hoch konzentrierte Arbeit – ist neben dem Hauptbetroffenen auch von seinem sozialen Umfeld zu leisten, von den Familien, dem Freundeskreis, an der Arbeitsstelle, in den Schulen, in Kindergärten. Wie wir in weiteren Ausführungen dieses Buches noch erfahren werden, kommt die Trauer ganz verschieden an, wird sie selbst in allernächster Nähe zum Trauerfall unterschiedlich gelebt.
Trauer durchleben im sozialen Umfeld
Unsere von der Machbarkeit aller Dinge überzeugte Gesellschaft scheut die Begegnung mit der eigenen Sterblichkeit, mit Verlusten und Grenzen. Daher tut sie sich schwer, unvoreingenommen die Trauer mit aufzunehmen, wo sie angezeigt ist.
Um der Trauer Raum zu gehen, sind schon wenige Dinge hilfreich: Trauer sein und leben zu lassen, sie in Bewegung zu bringen – egal, in welcher unmittelbaren Nähe zum Verlustereignis die Einzelnen stehen. So ist es angezeigt, dass nach dem Tod einer Mutter im Kindergarten des betroffenen Kindes mit den Kindern, mit den Eltern der anderen Kinder darüber gesprochen wird. Ein solcher Todesfall verunsichert nämlich alle, die darin – gewollt oder nicht – verstrickt sind. Kinder fragen instinktiv, was mit den Toten geschieht. Da ist das verschüchtert-stille oder besonders aufsässige, mutterlose Kind; die Eltern erschrecken vor der Tatsache, dass auch sie der Tod treffen kann, auch ihre Kinder von der Verwaisung bedroht werden können. Die Trauer gilt es hier, wie in jedem Trauerweg, nicht aufzulösen – als könne man sie schnell wegmachen, um möglichst ungehindert den Alltag zu leben –, sondern sie auszulösen, ihr einen Platz zu bieten, auf dem sie sich bewegen kann und etwas an Verlustbewältigung bewegen wird. Die Trauer erhält die heilsame Chance, etwas für das Leben neu zu ermöglichen. Dies gilt für die Hauptbetroffenen ebenso wie für alle, die in unterschiedlicher Dichte davon mitbetroffen sind.
Ein Jugendlicher hat im Alter von 13 Jahren seine Mutter verloren. Es drängt ihn, am Tag nach dem Tod in die Schule zu gehen. Er möchte nicht, dass darüber gesprochen wird. Nur der Klassenlehrer weiß Bescheid. Am Tag danach kann er es in der Schule nicht aushalten und geht in einer Pause aus dem Unterricht. Der Lehrer drängt, dass der Klasse etwas gesagt werden müsse. Der Jugendliche lehnt das ab. Er kann es nicht aussprechen. »Dann weiß ich nicht, wohin mit mir.« Er wüsste nicht, wohin mit seiner Verlassenheit, den Gefühlen, deren Bedeutung und der Wucht, die er in diesem Moment noch gar nicht begreifen kann. Er spürt nur, dass sie irgendwie da sind – und er möchte sie nicht vor der Klasse ausbrechen lassen. Der Junge verlässt die Klasse – mit der Erlaubnis an den Lehrer, in seiner Abwesenheit vom Tod seiner Mutter mit den anderen Schülern sprechen zu können.
Wenn wir in unser alltägliches Erleben schauen, dann werden wir erschreckend oft das drängend-krampfige Auflösen der Trauer finden. Da wird am Arbeitsplatz verhohlen über den Tod des Kollegen oder den Tod des Mannes der Kollegin geschwiegen – ein Kranz, eine von allen oder auch nur einer Abordnung unterschriebene Trauerkarte – und der Alltag soll möglichst schnell vergessen helfen. In trügerischer Naivität kommt noch die irrige Auffassung hinzu, das helfe dem Trauernden am schnellsten, den Verlorenen aus dem Gedächtnis zu verlieren.
Da werden seelisch Trauernde in vermeintlicher Fürsorge schnell in Urlaub geschickt, sollen sich krankschreiben lassen, sich mit Medikamenten über das Schlimmste hinweghelfen lassen – auch dies ist in der Regel keine Hilfe, die lebensnotwendende Trauer auszulösen; es kommt eher einer mit Besorgnis ummäntelter Entsorgung gleich, um sich vor der unübersehbaren Macht und Kraft der ausgelösten Trauer zu schützen.
Wir kennen viele Beispiele ängstlich verdrängter gemeinschaftlicher Trauer. Die Sprach-Losigkeit gegenüber Kindern, die ein Geschwister verloren haben, die verschweigende Stille gegenüber der Mutter, die ein Kind im Kindstod hat lassen müssen, das Übersehen der erwachsenen Trauernden, die vermeintlich nur ihren Bruder oder ihre Schwester verloren haben.
Wie berührt und lebensbeschenkt wissen Menschen zu erzählen, wenn sie ihre Trauer auslösen und dabei die heilende Kraft der in Gemeinschaft vollzogenen Trauer erfahren konnten. Trauer ist dann auch die Möglichkeit eines neuen Zugangs zum Leben – für alle, die die Auslösung mit aller vorher nicht absehbaren Gewalt und Erschütterung zugelassen haben.
Vom Wesen des Trostes
Trost aus Urerfahrungen
Es stimmt: Ausgelöste Trauer führt durch Abgründe. Es stimmt aber ebenso, dass da, wo Trauer ausgelöst sein kann, Hilfe in vielfältiger Weise kommt. Der Trost stellt einen alten Weisheitsschatz dar. Trost kann aus der vertrauenden Urerfahrung ermöglicht werden, die ein Mensch in den ersten Lebenswochen durch die Mutter lernt, wenn ihm ein gesundes Aufwachsen ermöglicht werden konnte. Es ist die Kraft der Erfüllung erster, ganz auf andere angewiesener Bedürfnisbefriedigung. Die ist gar nicht als Dauerzustand bleibender Abhängigkeit gewünscht, sondern als tief verwurzelte Grundzusage, dass jemand da ist. Trost ist die Kraft der Lebensermutigung, die Kraft der Weisen, eine Stimme des Herzens. Trost ist kein Vertrösten, kein Halten in Abhängigkeit, sondern ein Mitgehen, ein Mitbangen, ohne darin mit unterzugehen. Der Tröstende geht mit, nimmt die Rolle des Trauernden ein, um darin zu verstehen und doch wieder herauszutreten. Der Tröstende kann Spiegel werden für den Trauernden, wird Verkörperung von Wahrnehmen dessen, was ist, von Aushalten noch so abgründiger Empfindungen, von Hoffnung aus Himmel und Erde und vom Gelingen des Weges, der durch den Verlust ausgelöst wird.
Unterschiedliche Tröster
Alte Weisheiten des Menschheitswissens zum Beispiel in Literatur, Musik und Kunst aus verschiedensten Kulturen und Religionen können Tröster auf dem Trauerweg werden. Menschen, die Trauer in sich auslösten und durchlebten, können Tröster sein, ebenso Menschen, die am Ende des lebensbedrohenden Weges neue Lebensfelder sahen.
Eine Frau, deren Beziehung zum praktizierten kirchlichen Glauben mager war, hat in der Not der todbringenden Krankheit ihres noch jungen Mannes den Psalm 23 entdeckt und ihn immer wieder gelesen, wissend, dass ihr Mann stirbt, aber den Trost aufnehmend: »Der Herr ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen […] Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht […]« (Ps 23,1.4).
Als der Mann gestorben war, war dieser Psalm Leitwort der Begräbnisfeier, wurde der Anfang des Psalms die Inschrift auf dem Grabstein, war es in ihrer Trauerbegleitung ein entscheidender Wendepunkt, als im Traum ihr Mann zu ihr sprach und ihr in lebensbedrohender Not ihrer Trauer und Verzweiflung stärkend sagte: »[…] denn ich bin bei dir […]« (Ps 23,4).
Es ist müßig bestimmen zu wollen, wie denn dieses Wort Trostwort werden konnte. Trost geschieht, durch wen und was im Himmel und auf Erden auch immer.
Es ist bekannt, dass vielen Trauernden unter anderem dieses Psalmwort ein wichtiger Trost geworden ist – und das, obwohl oder gerade weil der Dichter nur zu verstehen gibt, dass er die bedrohende Gewalt der finsteren Schlucht kennt, dann aber voller Vertrauen von der Fülle des Lebens schwärmt: »Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde. Du salbst mein Haupt mit Öl, du füllst mir reichlich den Becher. Lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang, und im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit« (Ps 23,5–6). Gott als Trost, als Verbindung mit dem Urleben, der Schöpfung; Gott und seine Welt, das »himmlische Jerusalem«1