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Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! E-Book 1: Wer bist du, Elena? E-Book 2: Bist du ein Don Juan? E-Book 3: Das Findelkind E-Book 4: Der rettende Engel E-Book 5: Nur ein bisschen Glück E-Book 6: Verlass mich nicht! E-Book 7: Das Geheimnis der Braut E-Book 8: Du hast die Wahl, Erik! E-Book 9: Heirat verboten! E-Book 10: Lilly Parker, du bist wundervoll!
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Seitenzahl: 1106
Wer bist du, Elena?
Bist du ein Don Juan?
Das Findelkind
Der rettende Engel
Nur ein bisschen Glück
Verlass mich nicht!
Das Geheimnis der Braut
Du hast die Wahl, Erik!
Heirat verboten!
Lilly Parker, du bist wundervoll!
Jakob Köhler verabschiedete sich wie jeden Morgen mit einem flüchtigen Kuss auf die Stirn von seiner Ehefrau Elena. Später – sehr viel später – glaubte sie sich daran zu erinnern, dass er sie dabei ein paar Sekunden länger als sonst im Arm gehalten hatte und sie bereute es – später - zutiefst, ihm nicht noch einmal tief in die Augen geschaut zu haben und ihn nicht gefragt zu haben, wie es ihm gehe. Ein paar zärtliche Worte, eine liebevolle Geste … es wäre möglich gewesen ... stattdessen ließ sie sich nicht bei ihrer Morgenroutine stören. »Tschüss«, sagte sie nahezu abwesend zu ihm und wartete, bis er sie losließ, damit sie sich weiter schminken konnte. Sie hörte die Haustüre ins Schloss fallen. Kurz darauf heulte der Motor des nagelneuen Porsche auf. Sie musste sich beeilen, wenn sie zum Frühstücksdate mit ihrer besten Freundin Monika pünktlich sein sollte. In Gedanken war sie schon bei dem Café, das vor zwei Wochen in der Münchner Innenstadt eröffnet hatte und mit einem fantastischen Frühstücksbuffet Werbung machte. In allen wichtigen Regionalzeitungen standen Berichte über die neue Location und Elena hoffte, dass sich auch heute Reporter im Café Stiller Winkel einfinden würden. Vielleicht schaffte sie es zusammen mit ihrer Freundin sogar aufs Titelblatt des Anzeigenblattes, das an den Wochenenden kostenlos in allen Briefkästen der Stadt zu finden war.
»Hallo! Guten Morgen Frau Köhler.« Die fröhliche Stimme ihrer Haushaltshilfe Gisela drang in ihr Ohr. Sie hatte einen Schlüssel und war, wie jeden Morgen, pünktlich zu ihrem Arbeitsbeginn um acht Uhr erschienen.
»Guten Morgen, Gisela«, rief Elena, ohne sich zu bemühen, ihrer treuen Hilfe in die Augen zu schauen. »Sie wissen genau, was zu tun ist, ich bin in Eile, eigentlich bin ich schon gar nicht mehr da.«
»Kein Problem Frau Köhler, ich weiß Bescheid.« Das Klappern von Geschirr zeugte davon, dass Gisela bereits mit ihrer Arbeit begonnen hatte.
Elenas neues Designerkostüm hing schon außen an der Schranktür. Die dazu passenden Schuhe und selbstverständlich auch die passende Handtasche standen ebenfalls bereit. Schnell noch einen Hauch ihres kostspieligen Lieblingsduftes aufgetragen, ein letzter prüfender Blick in den Spiegel, das lange blonde Haar zurechtgezupft und sie war startklar.
Ihr Auto befand sich schon seit zwei Wochen in der Werkstatt, deshalb wurde sie von Monika abgeholt.
»Ist deine Rennsemmel immer noch nicht fertig?«, fragte Monika mit einem schnellen Seitenblick, als Elena zu ihr ins Auto stieg.
»Ja, es ist mir ein Rätsel. Jakob meint, die haben keine Leute dort und deshalb würde es so lange dauern. Ich frage mich, warum er den Alfa nicht längst woanders hingebracht hat. Er weiß doch, wie sehr ich auf ihn angewiesen bin.«
»Naja, wenn du ehrlich bist, könntest du überall dort hin, wo du hin willst, auch mit den Öffentlichen fahren, aber ich versteh schon … Madame fährt lieber mit dem feuerroten Flitzer vor.« Monika hatte bei ihren Worten gelacht und Elena war ihr nicht böse. Die beiden Frauen waren seit ihrer Schulzeit miteinander befreundet und hatten einiges, was sie verband. Eine dieser Gemeinsamkeiten war ein gut situiertes Elternhaus und die andere lag darin, dass sie sich beide wohlhabende und beruflich erfolgreiche Ehemänner gesucht hatten. Demzufolge mussten sie ihren Lebensunterhalt nicht selbst verdienen, sondern führten ein angenehmes und bisweilen luxuriöses Leben, ohne sich Sorgen machen zu müssen.
»Dann mal los«, schlug Elena gut gelaunt vor. »Ich habe wenig damenhaft einfach einen Bärenhunger.«
»Ich frage mich sowieso, wo du das alles hin isst«, antwortete Monika, dann startete sie ihren Wagen. »Manchmal beneide ich dich darum. Du kannst essen, was du willst und bleibst immer superschlank. Ich dagegen … naja, Schwamm drüber. Wie geht es eigentlich deinem Mann?«
»Gut, wie immer. Er ist vorhin ein bisschen später als sonst aus dem Haus und wir hätten uns beinahe ums Badezimmer gestritten. Wahrscheinlich hat er heute den ersten Termin etwas später.«
»Was heißt ›wahrscheinlich‹? Hast du ihn nicht gefragt?«, wollte Monika wissen. Sie steuerte ihren Wagen umsichtig durch den Verkehr.
»Nein, ich frage ihn nichts mehr, was die Firma betrifft. Er sagt immer, ich solle mir meinen hübschen Kopf nicht zerbrechen, fürs Geldverdienen sei er zuständig.«
»Naja, ich weiß ja nicht. Aber das müsst ihr wissen. Was ist denn dort vorne schon wieder los«, murmelte sie.
»Scheint ein Unfall zu sein. Alles da, was Blaulicht hat. Polizei, Notarzt … am besten fährst du hier gleich links, dann kannst du die Stelle umfahren.«
»Mach ich. Aber ich frage mich, wie es hier überhaupt zu einem Unfall kommen kann. Keine Kreuzung weit und breit. Wird wahrscheinlich wieder so ein Sonntagsfahrer gewesen sein.« Sie war bereits abgebogen und konzentrierte sich nun darauf, die nächste und übernächste Abbiegung zu nehmen, um wieder in die beabsichtigte Richtung fahren zu können. Die beiden Frauen vergaßen den Vorfall schnell und freuten sich auf einen gemütlichen Vormittag in dem Café, das vielleicht bald zu den angesagten Lokalen der Stadt gehören könnte.
*
Bei Chefarzt Dr. Norden und seiner Ehefrau Dr. Felicitas Norden verlief das gemeinsame Frühstück wie immer. Daniel las Zeitung und hörte gleichzeitig zu, was Fee, wie sie von ihm und Freunden genannt wurde, zu erzählen hatte. Manchmal überhörte er dabei wichtige Informationen, aber Fee wusste, wie sie seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte.
»Und dann habe ich zu den Kindern gesagt, sie sollen uns doch am Freitagabend alle miteinander besuchen. Ich mache Lasagne, wie immer. Oder du wirfst den Grill an? Was sagst du dazu?«
»Was? Grill? Wann?« Daniel ließ die Zeitung sinken, schaute in die tiefblauen Augen seiner geliebten Frau und wusste sofort, dass sie ihn auf den Arm genommen hatte.
Schelmisch strahlte sie ihn an und gab sich keine Mühe, ihren kleinen Triumph zu verbergen. »Keine Sorge«, beruhigte sie ihn. »So schön es immer ist, wenn alle da sind, aber in diesem Fall habe ich geflunkert. Ich wollte nur, dass du mir mal kurz zuhörst, denn …« Den restlichen Satz konnte sie nicht zu Ende bringen, weil das Telefon klingelte.
»So früh?«, murmelte Daniel.
»Ich geh schon«, meinte Fee. »Bestimmt ist es die Klinik.«
Wenige Minuten später kam sie zurück an den Frühstückstisch. Sie setzte sich nicht, sondern begann, den Tisch abzuräumen, nachdem sie einen letzten Schluck aus ihrer Kaffeetasse genommen hatte. »Ich habe richtig vermutet. Berger bittet dich, zu kommen. Jetzt gleich. Es gab einen schweren Verkehrsunfall.«
Daniel reagierte sofort. Ohne nachzufragen faltete er die Zeitung zusammen, trank seinen Kaffee aus, griff nach seiner Arzttasche und seiner Jacke. »Bist du fertig?«, fragte er überflüssigerweise, denn Fee stand bereits an der Haustür.
»Natürlich, es kann losgehen. Es ist gar nicht mal so schlecht, wenn wir früher als sonst losfahren, denn auf meinem Schreibtisch liegt auch einiges, das dringend meine Aufmerksamkeit braucht.« Als Leiterin der Pädiatrie in derselben Klinik, in der ihr Mann Daniel Chefarzt war, hatte sie stets viel zu tun und so kam es ihr ganz gelegen, vor ihrem eigentlichen Dienstbeginn vielleicht noch ein paar Patientenakten durcharbeiten zu können.
»Hat Berger noch etwas gesagt, was wichtig ist?«, wollte Daniel wissen, während er die kürzeste Fahrstrecke zur Behnisch-Klinik nahm.
»Es scheint nur einen Verletzten zu geben, über einen Unfallgegner ist nichts bekannt. Berger hat was von einem Aufprall an einer Hauswand gesagt. Es handelt sich wohl um einen Mann, der nicht ansprechbar ist. Mehr hat ihm die Leitstelle nicht gesagt, als der Patient angekündigt wurde«, berichtete Fee.
»Ich verstehe nur nicht, warum Berger mich braucht«, überlegte Daniel.
»Da hast du recht, das ist seltsam. Aber ich nehme an, dass viel Betrieb ist in der Notaufnahme und jede Hand gebraucht wird«, meinte Fee.
»Wir sind gleich da, dann werde ich erfahren, was los ist.«
Kurze Zeit später stand er dem Leiter der Notaufnahme, Dr. Erik Berger im Flur der Notaufnahme gegenüber und ließ sich einen Lagebericht geben.
»Der Patient hatte Glück im Unglück«, fasste Berger zusammen. »Der Wagen prallte frontal gegen eine Hauswand. Wahrscheinlich ungebremst. Den Porsche hat es zusammengefaltet wie ein Blatt Papier. Normalerweise hätte der Fahrer den Aufprall nicht überlebt, denn … der Airbag ging nicht auf und unser Patient war vermutlich nicht angeschnallt.«
»Wieso ›vermutlich‹?«, hakte Daniel nach.
»So genau kann man es nicht sagen, Chef, ob der Gurt sich beim Aufprall gelöst hat, was ziemlich unwahrscheinlich ist, oder ob er erst gar nicht angelegt war. Kann uns auch egal sein, was letztendlich im Polizeibericht steht.«
»Welche Verletzungen hat der Patient?«, wollte Daniel wissen.
»Jakob Köhler, so steht es in seinen Papieren, ist 35 Jahre alt.«
Daniel blieb geduldig, auch wenn das nicht die Antwort auf seine Frage war.
»Er ist ohne Bewusstsein«, fuhr Berger fort, »vermutlich mehrere Knochenbrüche, Genaueres wird das MRT zeigen, das ich bereits angeordnet habe. Vermutlich hat er innere Blutungen davongetragen. Der Patient ist schon in der Warteschleife, ich habe ihn als Notfall angemeldet. Außerdem habe ich einen OP blocken lassen, denn wenn er nicht operiert werden müsste, würde ich mich schon sehr wundern. Es sei denn …« Er sprach den Satz nicht zu Ende, aber Daniel hatte auch so verstanden.
»Und ich soll operieren, oder warum haben Sie mich holen lassen?«
»Genau. Wenn es Ihnen möglich ist, Chef. Sie sehen ja, was hier los ist und in der Chirurgie ist sowieso der Teufel los, wie immer. Ich habe auf dem OP-Plan gesehen, dass Sie heute Vormittag nicht eingeteilt sind. Außerdem …«
»Ja?«
»Der Junge hat es verdient, den besten von uns zu bekommen.«
Daniel war erstaunt. So emotional kannte er den Leiter der Notaufnahme gar nicht. »Jeder Patient sollte die beste Versorgung bekommen, das haben wir uns in der Behnisch-Klinik auf die Fahne geschrieben, Berger. Was ist los?«
Erik Berger druckste herum. Es war ihm anzusehen, dass es ihm am liebsten gewesen wäre, wenn er durch den Notfallpiepser in seiner Jackentasche vom Flur in den nächsten Behandlungsraum geholt worden wäre. Aber der Piepser blieb stumm. »Naja … überlegen Sie mal, Chef … Porsche, Hauswand, kein Airbag, kein Gurt …«
»Sie meinen, dass es kein Unfall in dem Sinne war?« Daniel sprach aus, was er ohnehin schon geahnt hatte.
»Möglich. Oder auch nicht. Jedenfalls wäre es doch jammerschade um einen jungen Kerl wie ihn.« Endlich ertönte das schrille Geräusch, auf das Berger gewartet hatte und das es ihm ermöglichte, sich schnell zu verdrücken. »Sie kümmern sich, Chef?«, rief er beim Weggehen und wartete die Antwort seines Chefarztes gar nicht erst ab. In der Behnisch-Klinik konnte man sich blind aufeinander verlassen, und auf den Chefarzt erst recht.
»Natürlich«, murmelte Daniel vor sich hin. »Ich kümmere mich. Wie immer.« Er seufzte tief und machte sich auf den Weg in sein Büro. Vorher gab er noch im Stationszimmer Bescheid, man möge ihn sofort benachrichtigen, wenn das MRT fertig war.
Seine fleißige Assistentin Katja Baumann saß schon an ihrem Schreibtisch im Vorzimmer zum Chefarztbüro. Es kam öfter vor, dass Dr. Daniel Norden früher als nötig seinen Dienst antrat. Deshalb wunderte sie sich nicht. Mit einem freundlichen »Guten Morgen« und einem herzlichen Lächeln auf den Lippen sprang sie auf, als er eintrat und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen.
Als sie ihm wenig später seinen zweiten Kaffee an diesem Morgen an den Schreibtisch brachte, starrte er konzentriert auf den Bildschirm seines Computers und nahm kaum Notiz von ihr. Ein freundliches »Dankeschön« vergaß er trotzdem nicht.
›Jakob Köhler‹ hatte er in die Zeile des Suchprogramms eingegeben. Schnell merkte er, dass er seine Suche eingrenzen musste, denn alleine mit dem Namen zu suchen, hatte zu viele Ergebnisse gebracht. ›Jakob Köhler München‹ tippte er mit beiden Zeigefingern umständlich in die Tastatur.
»Köhler und Hübner Consulting, München«, las er laut vor.
»Haben Sie etwas gesagt, Chef?«, klang es aus dem Vorzimmer.
»Nein, Katja, zumindest nicht zu Ihnen«, rief er durch die offene Tür. »Ich denke nur laut.«
»Kann ich was helfen?«, kam zurück. Katja wusste, dass ihr Chef nicht gerade ein Spezialist in Sachen PC war. Am Operationstisch oder am Bett eines kranken Menschen und bei der Auswertung von wissenschaftlichen Publikationen war er unübertroffen, aber am Computer gab er kein besonders gutes Bild ab.
»Äh … nein … oder … wie komme ich auf einer Webseite ins Menü?«, rief er zurück.
»Sie brauchen nicht so zu schreien«, sagte Katja, die schon längst neben ihm stand. »Lassen Sie mich mal ran«, forderte sie ihn auf. Er rückte seinen Stuhl zur Seite und machte Platz. »Was wollen Sie denn wissen?«
»Diese Unternehmensberaterfirma Köhler und Hübner Consulting … kann man da irgendwie mehr über die beiden Inhaber erfahren?«, fragte er.
»Klar, über welchen von den beiden wollen Sie denn was nachlesen?«
»Köhler. Ich weiß aber nicht, ob er der Mann ist, den ich suche. Er müsste 35 Jahre alt sein, mehr weiß ich leider nicht.«
»Treffer!«, rief Katja nur Sekunden später. »Schauen Sie, Chef. Hier steht es schwarz auf weiß. Er ist Jahrgang 1987. Ein Foto ist auch dabei. Ist er das?«
»Wie haben Sie das denn gefunden?«, wunderte sich Daniel. Ihre Antwort nahm er nicht mehr zur Kenntnis, denn eigentlich hatte er keine Lust, sich mit den Tiefen des World Wide Webs zu befassen. Katja hatte ihm hervorragend assistiert und wenn er zuhause etwas aus dem Internet brauchte, ließ er sich von einem seiner beiden jüngsten Kinder, Janni oder Dési helfen. Die Zwillinge waren zwar schon erwachsen, lebten aber beide noch im Elternhaus.
Aufmerksam las er den langen Text, mit dem sich einer der beiden Inhaber des Unternehmens vorstellte. Jakob Köhler hatte in München studiert, zahlreiche Zusatzqualifikationen erworben, ein Jahr Auslandserfahrung in USA und ein weiteres in London hinter sich gebracht. Zusammen mit seinem Studienkollegen Bernd Hübner war er als Junior Consultant in die Firma eines renommierten Unternehmensberaters eingestiegen, der sich zwischenzeitlich jedoch in den Ruhestand verabschiedet hatte. Köhler und Hübner hatten die Firma übernommen und bezeichneten sich nun als Senior Consultant, worunter sich Daniel nicht viel vorstellen konnte.
»Katja, können Sie feststellen, was ein Senior Consultant ist?«, fragte er seine Assistentin.
Mit geschickten Fingern tippte Katja den Suchbegriff in den Computer und konnte ihrem Chef sofort die Lösung präsentieren. Leicht amüsiert las Daniel, dass sich ein Unternehmensberater mit 5 bis 7 Jahren Berufserfahrung als ›Senior Consultant‹ bezeichnen durfte. Bei der Angabe eines durchschnittlichen Jahresgehalts von 100.000 Euro zuckten seine Mundwinkel anerkennend nach oben. ›Sapperlot‹, dachte er. ›Nicht schlecht für einen Mann Mitte dreißig.‹
Mit dem Foto auf der Webseite von Köhler und Hübner Consulting kam er nicht so recht weiter, da er seinen Patienten noch nicht persönlich gesehen hatte. Bergers Schilderungen nach konnte es aber auch durchaus möglich sein, dass aufgrund von massiven Verletzungen im Kopf- und Gesichtsbereich eine Ähnlichkeit schlecht festzustellen war.
»Danke Katja, machen Sie das Ding bitte aus, Sie können das schneller als ich«, bat er seine Assistentin. Es blieb ihm nichts anderes übrig, er musste einfach warten, bis er die Ergebnisse von der Untersuchung hatte. Ob die Kollegen in der Notaufnahme schon versucht hatten, Angehörige zu erreichen, zweifelte er an. Dort hatte man sicherlich dringlichere Aufgaben zu erfüllen.
Er musste nicht lange warten, bis Bergers Anruf kam. Sofort machte sich Daniel auf den Weg in die Notaufnahme. Was er dort vorfand, ließ sogar ihm, als erfahrenen Arzt, einen Moment den Atem stocken. Auf den ersten Blick erkannte er, noch bevor er von Berger auf den neuesten Stand gebracht wurde, dass der Patient in einem lebensbedrohlichen Zustand war.
»Wenn Sie oben anfangen zu operieren, sind Sie bis heute Abend noch immer nicht unten angekommen«, bemerkte Berger in seiner flapsigen Art.
»Geht es etwas genauer?«, fragte Daniel nach.
»Rippenserienbruch, das ist noch der harmlose Teil. Milzruptur, Lungenriss, Beckenbruch, rechter Oberschenkel gebrochen, massive innere Blutungen. Sie sollten sofort operieren. Die Schnittverletzungen im Gesicht sehen schlimmer aus als sie sind. Sollte der Junge das überleben, werden die Narben im Gesicht sein geringstes Problem sein.«
»Gut, dann fangen wir mal an. Sie assistieren mir«, ordnete Daniel an. Er brauchte jetzt einen erfahrenen Operateur an seiner Seite, der in jeder Situation die Nerven bewahrte. Erik Berger war bestens für diese Aufgabe geeignet.
»Hat man schon Angehörige verständigt?«, fragte er seinen Kollegen, nachdem sie sich wenig später gründlich die Hände bis zu den Ellbogen gewaschen hatten und nun mithilfe der Assistentin für die bevorstehende Operation fertig eingekleidet wurden.
»Soweit ich weiß, ist die Verwaltung noch dran. Ich habe jedenfalls den Personalausweis dort hinbringen lassen. Das ist nun deren Aufgabe«, lautete die Antwort. Dann nickten sich die beiden Ärzte zu, atmeten noch einmal tief durch, bevor sie nacheinander den Operationssaal betraten. Der Narkosearzt und sein Anästhesiepfleger waren bereits beim Patienten und zwei Operationsschwestern standen ebenfalls schon bereit. Jakob Köhler lag mit einer Atemmaske über dem Gesicht im Tiefschlaf.
»Dann wollen wir mal«, sagte Daniel. »Lunge- und Milzrupturen sowie die inneren Blutungen haben Priorität.«
*
Elena und ihre Freundin Monika verbrachten einen vergnügten Vormittag im Café Stiller Winkel. Das Frühstücksbuffet war so hervorragend, wie die Werbung es versprochen hatte. Zum Glück waren die beiden schon frühzeitig da gewesen und konnten sich einen der schönsten Tische aussuchen. Von dort aus hatten sie alles im Blick und – was ihnen noch wichtiger war – sie waren ebenfalls nicht zu übersehen. Die Presse samt Fotografen war zwar nicht anwesend, dafür aber erblickten sie in der Menge der anderen Gäste das eine oder andere bekannte Gesicht. Die Freundinnen waren sehr zufrieden und grüßten lächelnd nach links und rechts, auch wenn ihre Blicke dabei manchmal ins Leere liefen.
»Huch, schon gleich Mittag«, rief Monika erschrocken nach einem Blick auf ihre Luxusarmbanduhr.
»Hast du noch was vor?«, wollte Elena wissen.
»Nein, nicht wirklich, aber ich denke, wir sollten uns langsam auf den Weg machen. Wollen wir noch in der City ein bisschen shoppen gehen?«
»Prima«, stimmte Elena begeistert zu. Für einen ausgiebigen Stadtbummel mit Zwischenstopps in den Läden der bekannten Modelabels war sie immer zu haben. »Ich lade dich ein, lass deinen Geldbeutel stecken«, kündigte sie großzügig an. Es war nichts Besonderes, denn Elena und Monika luden sich häufig gegenseitig ein, wenn sie in noblen Lokalen zu Gast waren.
Allerdings klappte es diesmal nicht. Mit Bedauern brachte der Kellner Elenas Bankkarte an den Tisch zurück. »Sie funktioniert leider nicht«, sagte er so diskret wie möglich.
»Was? Das kann doch gar nicht sein. Es muss an Ihrem Kartenlesegerät liegen«, vermutete Elena. »Ich habe leider kein Bargeld dabei.«
»Kein Problem.« Monika hatte die Situation sofort überblickt und reichte dem Kellner ihre Kreditkarte.
»Wenn das Gerät meine Karte nicht nimmt, wird sie deine auch nicht nehmen«, vermutete Elena. Aber sie täuschte sich. Nur kurze Zeit später brachte der Kellner den Ausdruck und die Karte zurück, bedankte sich und verabschiedete die beiden Damen.
»Na sowas«, meinte Elena. »Da bin ich ja gespannt, was da wieder los ist. Man hat doch nichts als Ärger mit der Technik.«
Schon bald hatte sie den Vorfall vergessen. Spätestens im Shop ihres Lieblingsdesigners zwischen Handtaschen, Schals und anderen Accessoires dachte sie nicht mehr daran. Auch dann nicht, als sie eine sündhaft teure Haarspange entdeckte. Ein Traum aus funkelnden Strass-Steinchen. Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen zückte sie an der Kasse ihre Karte und war wie vom Donner gerührt, als die Verkäuferin sie ihr kopfschüttelnd zurückgab. Wieder half Monika aus.
»Ich ruf am besten mal gleich bei der Bank an und frage, was das soll«, meinte Elena beim Verlassen des Geschäfts.
»Ja, mach das«, stimmte Monika ihr zu. »Am Ende haben sie die Karte gesperrt, weil Missbrauch getrieben wurde. Komm ein bisschen zur Seite«, sagte sie und zog Elena draußen auf dem Gehweg in einen Hauseingang. »Hier kannst du telefonieren, hast du die Nummer deiner Bank?«
»Nein, aber die finde ich im Internet«, murmelte Elena, während sie in ihrer Tasche nach ihrem Smartphone kramte, bis sie es fand.
»Was ist denn das?«, fragte sie erschrocken. »Fünf Anrufe in Abwesenheit.«
»Wer will dich denn so dringend erreichen, und vor allem, warum hast du es nicht gehört?«, fragte Monika besorgt.
»Ich stelle das Handy immer auf leise, vor allem wenn wir zusammen in einem Lokal sind«, antwortete Elena. »Das ist unsere eigene Festnetznummer!«, rief sie erstaunt. »Entweder ist Jakob zu Hause oder Gisela wollte mich erreichen.« Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Beide Möglichkeiten versprachen nichts Gutes!
»Nun ruf doch schon zurück«, drängte Monika. »Die Bank kannst du auch noch später anrufen.«
»Klar«, meinte Elena. Dann drückte sie auf die Rückruftaste. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie die aufgeregte Stimme ihrer Haushaltshilfe Gisela hörte.
»Endlich, Frau Köhler. Ich versuche, Sie schon dauernd zu erreichen. Sie sollen schnell in die Behnisch-Klinik kommen. Ihr Mann hatte einen Unfall.«
»Was … aber …«, stammelte Elena. Sie war leichenblass geworden und dankbar, als sie Monikas stützende Hand an ihrem Arm spürte.
»Die Klinik hat vorhin angerufen, ich bin rangegangen, entschuldigen Sie, Frau Köhler.« Gisela klang weinerlich.
»Ist es denn so schlimm?«, fragte Elena angsterfüllt.
»Die Dame klang sehr ernst. Ich glaube, Ihr Mann wird gerade operiert und sie meinte, es wäre gut, wenn Sie so schnell wie Sie können in die Klinik fahren«, wiederholte Gisela.
*
Elena war Monika dankbar, dass sie von ihr zur Behnisch-Klinik gefahren wurde. Dort allerdings verabschiedete sich ihre Freundin schneller, als es Elena lieb war.
»Kommst du nicht mit rein?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Ach weißt du, Krankenhäuser sind nichts für mich, ich fahre lieber gleich weiter, heute Nachmittag habe ich noch einen Friseurtermin, da will ich nicht zu spät kommen.«
Elena wunderte sich noch, denn von einem Friseurtermin war bisher noch keine Rede gewesen, aber sie lenkte ihre Gedanken schnell wieder auf das, was sie jetzt gleich wohl erwarten würde. Zaghaft betrat sie die Klinik. Ihr Magen rebellierte und ihre Beine fühlten sich weich wie Gummi an. Zum Glück entdeckte sie ohne langes Suchen die Information, an der bereits zwei Personen warteten. Sie stellte sich als dritte in die Reihe und nutzte die Zeit, um sich zur Ruhe zu zwingen. Als sie dran war, stellte sie überrascht fest, dass die freundliche Dame hinter der dicken Trennscheibe aus Plexiglas offensichtlich sofort Bescheid wusste, nachdem sie ihren Namen gesagt hatte. Ihr wurde ein handgeschriebener Zettel gereicht, mit der Aufforderung, am angegebenen Zimmer nach dem Chefarzt Dr. Norden zu fragen. Am liebsten hätte sich Elena bei der Mitarbeiterin nach Jakob erkundigt, aber sie wusste, dass sie hier mit Sicherheit keine Auskünfte über das Befinden ihres Mannes bekommen würde.
Sie fühlte sich wie ein ferngesteuerter Roboter, der mechanisch einen Fuß vor den anderen setzte, um zuerst zum Aufzug zu gelangen und dann in der genannten Etage wieder auszusteigen. Das Büro des Chefarztes fand sie schnell. Zögerlich klopfte sie an. Auf das freundliche herein einer hellen Frauenstimme war sie nicht vorbereitet. Katja Baumann stellte sich ihr als Assistentin des Chefarztes vor und bedauerte, dass Dr. Norden noch nicht für sie zu sprechen sei.
»Ihr Mann ist noch im OP, unser Chef operiert Ihren Ehemann selbst. Ich gehe davon aus, dass Sie sich noch etwas gedulden müssen, Sie können aber gern hier warten, Frau Köhler. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
Elena konnte nichts dagegen tun. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie hätte sich gern für den angebotenen Stuhl und den Kaffee bedankt, aber ihr Hals war wie zugeschnürt.
»Ich weiß, das ist für Sie jetzt eine ganz schwere Situation«, sagte Katja. »Solange Sie nicht wissen, was mit Ihrem Mann ist, quält Sie diese Ungewissheit bestimmt am meisten.«
›So ist es‹, wollte Elena sagen, aber sie brachte immer noch kein Wort heraus.
»Ihr Mann ist beim Chef in den besten Händen.« Es gab kaum Worte, die in einer solchen Situation wirklich helfen konnten, aber Katja versuchte es trotzdem. »Bis Sie Nachricht erhalten, könnten Sie mir vielleicht einige Auskünfte geben? Die Bürokratie darf in einem Krankenhaus nicht zu kurz kommen.«
Elena spürte genau, dass Katja Baumann sie nur ablenken wollte und sie war dankbar dafür. So geduldig wie möglich beantwortete sie Fragen nach Namen, Geburtsdatum, Adresse und ob Jakob einer Religionsgemeinschaft angehöre. Ohne zu wissen, wofür sie unterschrieb, setzte sie ihren Namen auf mehrere Formulare dorthin, wo Katja mit einem grellgrünen Stift ein großes Kreuz gemalt hatte.
»Ihr Mann ist also privat versichert«, fasste Katja zusammen. »Dann werden wir als Krankenhaus mit der Versicherung gleich Kontakt aufnehmen.« Bevor sie Elena das weitere Vorgehen erklären konnte, kam Daniel zurück aus dem Operationssaal. Es war ein anstrengender Eingriff gewesen und er brauchte erst ein paar Minuten Ruhe, bevor er Elena zu sich in sein Büro bat. Was er der blassen jungen Frau zu sagen hatte, fiel ihm schwer.
»Frau Köhler, ich kann und will Ihnen nichts vormachen. Daher kann ich Ihnen nicht versprechen, ob Ihr Mann die Verletzungen überleben wird. Momentan müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen, aber genauso gut kann es sein, dass er sich erholt.« Daniel wollte noch mehr zum Zustand des Patienten sagen, den er soeben operiert hatte, aber er unterbrach, denn er hatte erkannt, dass Elena am Ende ihrer Kräfte war.
»Was ist denn überhaupt passiert?«, presste sie mühsam hervor. »Es hieß, Jakob habe einen Unfall gehabt?«
»Ja, so hat es uns die Polizei mitgeteilt, mehr weiß ich leider auch nicht – außer, dass es keinen Unfallgegner gibt. Das Fahrzeug ist wohl ungebremst gegen eine Hauswand gekracht, der Airbag ging nicht auf und ihr Mann war nicht angeschnallt.«
»Das kann doch gar nicht sein«, widersprach Elena in der trügerischen Hoffnung, den Unfall damit irgendwie ungeschehen machen zu können, wenn sie nur genügend logische Argumente vorbringen könnte, die dagegen sprachen. »Jakob hat den Porsche erst kürzlich gekauft, es ist ein Neuwagen, der ist doch technisch in Ordnung. Und er selbst fährt immer umsichtig. Ohne Gurt fährt er keinen Meter.«
»Es war aber so«, lenkte Daniel geduldig ein. »Sicherlich kann man zu einem späteren Zeitpunkt mehr dazu sagen, jetzt kommt es erst einmal auf die nächsten Tage an.« Dann erklärte er ihr, dass er den Patienten in ein künstliches Koma versetzt hatte, damit der Körper die Chance hatte, sich zu erholen. Er riet ihr, nach Hause zu gehen und sich auszuruhen. »Ich lasse Sie sofort anrufen, wenn sich bei Ihrem Man etwas verändert, Frau Köhler«, versprach er. »Sie dürfen natürlich jederzeit auch selbst bei uns anrufen, nur besuchen können Sie ihn im Moment noch nicht.« Er war ihrer Frage zuvorgekommen und sah nun die Enttäuschung in ihren Augen.
Elena spürte bis in alle Fasern ihres Körpers, wie erschöpft sie auf einmal war. Ihre Glieder waren bleischwer. Sie fühlte sich hilflos, ohnmächtig, zerfressen von Ängsten und Sorgen. Gleichzeitig weigerte sich ihr Verstand, die gesamte Tragweite zu erfassen. Sie nahm deshalb Daniels Angebot an, ihr ein Taxi nach Hause zu rufen.
›Taxi – kostet Geld‹, hallte es aus ihrem Unterbewusstsein und sie bemerkte erst dann, als Dr. Norden ihr einen 50 Euro Schein in die Hand drückte, dass sie ihren Gedanken laut ausgesprochen hatte. Sie hatte keine Kraft für Höflichkeiten oder gar für Scham. Dankbar nahm sie das Geld, versprach, bei ihrem nächsten Besuch die Schuld zu begleichen und ging traumwandlerisch an seiner Seite hinunter in die Halle, durchquerte sie und ließ seinen Arm erst los, als sie auf der Rückbank des Taxis Platz genommen hatte.
Zu Hause ließ sie sich mit einem tiefen Seufzer auf das Sofa fallen. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Sie schloss die Augen und hoffte, das alles nur geträumt zu haben. ›Gleich werde ich wach und alles ist wieder in Ordnung‹, dachte sie, aber sie konnte noch so oft mit den Augen blinzeln, mit beiden Händen über ihr Gesicht reiben und mehrmals tief ein- und ausatmen – dieses schreckliche Gefühl der Angst verschwand einfach nicht.
»Frau Köhler?«
»Gisela, Sie sind ja noch da!«, stellte Elena überrascht fest.
»Ja, ich wollte wissen, was mit Ihrem Mann ist und außerdem …«
»… was, außerdem?«, fragte Elena.
»Bitte erzählen Sie erst, ob es stimmt, dass Herr Köhler einen Unfall hatte.«
Elena fasste zusammen, was sie wusste. Gisela arbeitete schon ein paar Jahre für sie. Das Verhältnis zwischen ihr und dem Ehepaar Köhler war immer distanziert geblieben und umso mehr wunderte sich Elena jetzt über die Reaktion ihrer fünfzigjährigen Angestellten. »Gisela, nicht weinen bitte«, sagte sie mit genervtem Unterton. Elena hatte kaum Kraft für sich selbst, da war eine weinende Hausangestellte etwas, was sie jetzt überhaupt nicht brauchen konnte.
Gisela zog ein zerknülltes Taschentuch aus ihrer Hosentasche und wischte damit über ihre Augen. »Natürlich, Frau Köhler, es ist nur … entschuldigen Sie, das ist jetzt ganz bestimmt der falsche Augenblick, aber ich kann nicht länger warten.«
»Warten? Wieso? Ich verstehe nicht«, stotterte Elena. Ihre Ungeduld steigerte sich. Am liebsten hätte sie Gisela gebeten, sofort zu gehen. Sie brauchte dringend Ruhe, um über alles nachzudenken.
»Naja, mein Gehalt…«, begann Gisela zögerlich.
Elena war fassungslos. »Wollen Sie mit mir etwa ausgerechnet jetzt über eine Gehaltserhöhung verhandeln?«
»Nein, natürlich nicht. Aber ich habe seit zwei Monaten kein Gehalt von Ihnen bekommen und nun muss ich doch sehr bitten, mir den ausstehenden Betrag und den laufenden Lohn zu überweisen. Ich habe schließlich auch meine Ausgaben und Verpflichtungen. Sie wissen ja, dass ich mit meiner kleinen Witwenrente nicht sehr weit komme.«
Elena hörte gar nicht mehr richtig hin. Die wortreiche Begründung ihrer Haushaltshilfe, weswegen sie auf eine sofortige Zahlung bestand, nahm sie nicht wahr. Ihre Gedanken waren reflexartig auf die Ablehnung ihrer Bankkarte am heutigen Vormittag gerichtet. Gab es da etwa einen Zusammenhang?
»Gisela«, unterbrach sie den Redeschwall ihrer Haushaltshilfe. »Mein Mann hat doch einen Dauerauftrag eingerichtet, das hat er mir jedenfalls gesagt. Wieso soll denn auf einmal nichts überwiesen worden sein? Haben Sie auf Ihrem Konto auch gründlich genug nachgeschaut?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Gisela trocken. »Ich habe auch mit Ihrem Mann schon geredet, gleich, als die erste Zahlung ausblieb. Er bat mich um Geduld. Aber nun ist ja schon der zweite Lohn offen und ich arbeite schon das dritte Monat sozusagen umsonst.«
»Ich kümmere mich darum, Gisela«, brachte Elena gerade noch mühselig heraus. »Bitte gehen Sie jetzt. Wenn Sie morgen kommen, werde ich Ihnen schon Näheres sagen können.« Elena hoffte, das Thema beendet zu haben, wenigstens für den Moment. Sie war überzeugt davon, dass dieser Tag der Schlimmste in ihrem bisherigen Leben war. Der Schock über den Unfall saß tief. Die Tatsache, dass Jakobs Leben an einem seidenen Faden hing, überstieg ihre Kraft. Erst jetzt, wo sie alleine war, spürte sie, wie sie innerlich bebte. Ihr Herz raste und ihr war schwindlig vor Angst.
›Reiß dich zusammen‹, befahl sie sich. Die Antwort ihres Körpers und ihrer Seele war ein Schwall Tränen, der sich endlich Bahn brach.
Es dauerte lange, bis ihre Augen brannten und trocken blieben, obwohl ihr Körper immer noch von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Ausgelaugt und leer, mit zentnerschweren Beinen und dröhnenden Kopfschmerzen schleppte sie sich die Treppe nach oben in den ersten Stock. Sie trug noch immer ihr elegantes Kostüm. Nur die Schuhe zog sie aus, dann ließ sie sich auf ihr Bett sinken, ohne die Tagesdecke zurückzuschlagen. Schlafen war alles, was sie jetzt noch wollte.
Irgendwann in der Nacht schreckte sie auf. Hatte das Telefon geklingelt? Nein, es war alles ruhig und friedlich – was für eine trügerische Stille! Mit schmerzenden Gliedern quälte sie sich aus dem Bett, zog endlich ihr Kostüm aus und legte ihren flauschigen Morgenmantel um die Schultern. An Weiterschlafen war nicht zu denken. Stattdessen war sie mit ihren Gedanken bei Jakob. Es machte sie wahnsinnig, nicht bei ihm sein zu können. Morgen würde sie darauf bestehen, wenigstens kurz an sein Bett treten zu dürfen. Sie musste ihn sehen. Vielleicht wäre ihr Verstand dann in der Lage, die Geschehnisse zu verarbeiten.
Ihr Körper verlangte sein Recht – sie hatte Hunger. Elena ging hinunter in die Küche, machte sich eine Tasse Tee und nahm ein paar Kekse aus der Dose. Das musste reichen. Zum Kochen hatte sie keinen Nerv.
Mit der Teetasse in der Hand setzte sie sich in den großen Ohrensessel im Wohnzimmer. Wie gespenstisch leer das Haus doch auf einmal schien. Zum ersten Mal in ihrer Ehe war sie über Nacht alleine. Ihre Angst verstärkte sich. Was, wenn Jakob … Nein! Sie verbot es sich, darüber nachzudenken! »Du stirbst nicht, hörst du?!« Ihr Schrei ging in heftiges Schluchzen über. Sie musste die Tasse auf den kleinen Beistelltisch abstellen, um den Tee nicht zu verschütten, so stark zitterte ihre Hand. Nach und nach verließen sie die Kräfte erneut und nach einer Weile konnte sie nur noch vor sich hin wimmern. Sie fror entsetzlich, ihre Finger fühlten sich steif und klamm an und innerlich fühlte sie sich wie ein weidwundes Tier.
*
Elena ließ den Telefonhörer sinken. Wenn sie bis zum heutigen Morgen beim Aufwachen noch geglaubt hatte, es könne nicht mehr schlimmer kommen, so wurde sie in der vergangenen Stunde eines Besseren belehrt.
Noch vor ihrem ersten Kaffee an diesem Tag hatte sie in der Behnisch-Klinik angerufen. Die Auskunft war deprimierend. Jakob liege noch im künstlichen Koma, die Nacht habe er überstanden und ansonsten könne man noch nichts Genaues sagen. Sie könne am Nachmittag wieder anrufen, ein Besuch habe keinen Sinn, sagte die Intensivschwester am Telefon. Elena beschloss, den Vormittag zu nutzen, um die ungeklärten Fragen von gestern zu klären. Was war mit ihrer Bankkarte und wieso ging die Abbuchung für Giselas Gehalt nicht vom Konto weg? Außerdem musste sie heute unbedingt Jakobs Compagnon in der Firma, Bernd Hübner, Bescheid geben. In all der Hektik am gestrigen Tag war das ganz untergegangen, aber wieso eigentlich hatte sich Bernd nicht bei ihr gemeldet und gefragt, wo Jakob denn bliebe? Seltsam. Bernd und Jakob waren nicht unbedingt die dicksten Freunde, das wusste sie, aber es hätte ihm doch auffallen müssen, dass Jakob nicht im gemeinsamen Büro erschien! Die beiden Männer arbeiteten zwar gut zusammen, privat gab es jedoch kaum noch Kontakt. Das war einmal anders gewesen, aber vor ungefähr drei Jahren musste etwas vorgefallen sein, wovon Elena allerdings nichts wusste. Wenn sie ehrlich war, interessierte es sie auch nicht besonders. Was Jakob beruflich machte und alles, was damit zusammenhing, ging sie nichts an. Das waren immer seine Worte gewesen und sie nahm die Regel gerne an. Sie kümmerte sich sowieso lieber um ihr eigenes Leben, das zum größten Teil aus Shoppen, Kosmetik und Treffen mit Freundinnen bestand. Ab und zu besuchte sie eine Ausstellung oder sie nahm an einer Wohltätigkeitsveranstaltung teil. Dort traf man wichtige Leute und hatte die Chance, Kontakte zu knüpfen und gesellschaftlich ein weiteres Stück nach oben zu kommen.
Sie war gerade dabei, sich mit Kaffee und einem altbackenen Croissant von gestern in das Arbeitszimmer ihres Mannes zu begeben, als das Telefon klingelte. Ein zweites Mal hatte sie die Behnisch-Klinik in der Leitung. Katja Baumann versuchte ihr in vorsichtigen Worten zu erklären, dass die private Krankenversicherung die Kostenübernahme abgelehnt habe. Es gebe Beitragsrückstände, die müssten zuerst beglichen werden. Elena wusste später nicht, wie es ihr gelang, ruhig zu bleiben. Eine Katastrophe schien sich an die andere zu reihen und ihr blieb für den Moment nichts anderes übrig, als zu versuchen, den Überblick nicht zu verlieren. Sie bedankte sich für die Information, versprach, sich zu kümmern und versicherte, es könne sich nur um ein Missverständnis handeln. Am Ende des Gesprächs ließ sie den Hörer sinken und kämpfte um ihre Fassung. Was kam noch alles?
Das Klingeln an der Haustür holte sie aus ihren düsteren Gedanken. Gisela hatte einen Schlüssel. Überhaupt – warum war die treue Haushaltshilfe noch nicht da? Gerade heute kam sie zu spät!
Nicht Gisela, sondern der Postbote stand vor der Tür. Mürrisch hielt er ihr einen Brief entgegen und forderte eine Unterschrift. Ein Einschreiben – von wem? Mit zitternden Fingern riss sie den Umschlag auf und sackte wenige Minuten später in sich zusammen. Sie musste die wenigen Zeilen später immer und immer wieder lesen, um zu verstehen, was dort stand:
»Meine geliebte Elena,
wenn du diese Zeilen liest, ist alles überstanden – hoffe ich. Bitte verzeihe mir, aber ich konnte nicht mehr weitermachen. Durch mein Verschulden sind wir in eine Situation geraten, aus der es keinen Ausweg mehr gibt. Jedenfalls nicht für mich und dass ich dich mit hineingezogen habe, hätte ich mir niemals verzeihen können. Du wirst alles nach und nach herausfinden, deshalb erspare ich mir hier die Einzelheiten. Du weißt, dass ich dich unendlich liebe. Trotzdem bin ich nicht mutig genug, mit dir zusammen weiterzuleben. Ich habe versagt und das kann ich niemals wieder gut machen.
Die Jahre mit dir waren die schönsten in meinem Leben. Mit dir an meiner Seite war ich glücklich. Ich dachte, mir könne niemals etwas geschehen. Aber ich habe keine Superkräfte, wie ich es dir und meiner gesamten Umwelt immer vorgegaukelt habe. Ich bin ein ganz normaler Mann, der über seine Kräfte gelebt hat. Bitte, glaube mir, dass du das Wichtigste in meinem Leben warst. Ich liebe dich unendlich und ich verzweifle darüber, dass ich dich jetzt alleine lassen muss. Aber ich weiß ganz genau, dass du alles schaffen wirst, was jetzt nötig ist.
Du hast jetzt tausend Fragen. Eine davon betrifft bestimmt diesen Brief. Ich habe dich vorhin ein letztes Mal geküsst, dann fahre ich zum Postamt und gebe den Brief als Einschreiben auf. Die vergangene Nacht, unsere letzte an deiner Seite in unserem Ehebett hat mir Kraft gegeben, für das, was mir nun bevorsteht.
Du bist stark, Elena! Ich war es nicht.
Ich liebe Dich
Dein Jakob.
P.S.: Wichtige Unterlagen sind in meinem Schreibtisch, oberste Schublade. Wende dich an Bernd Hübner.«
»Frau Köhler?« Die zaghafte Stimme der treuen Haushaltshilfe riss Elena aus ihrer Schockstarre. »Was ist mit Ihnen?«
»Sie sind zu spät«, rutschte es Elena reflexartig heraus. Sie hätte sich bei Gisela besser bedanken müssen, dass sie trotz des ausstehenden Lohnes überhaupt gekommen war. Sofort bereute sie ihren Satz. »Tut mir leid, Gisela. Danke, dass Sie da sind. Es ist nur … ich habe soeben begriffen, dass sich mein Mann das Leben nehmen wollte.«
Gisela schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Die erschütternde Aussage ihrer Arbeitgeberin stand im Raum wie ein ungebetener Gast, der trotz mehrfacher Aufforderung nicht gehen wollte. Die Haushaltshilfe brauchte einige Momente, bis sie zu ihrer Fassung zurückfand. »Wissen Sie schon, wie es ihm heute geht? Haben Sie im Krankenhaus schon angerufen?«
»Ja, unverändert«, sagte Elena tonlos.
»Dann besteht ja Hoffnung, Frau Köhler. Denken Sie bitte positiv.«
Elenas leerer Blick war Antwort genug. Phrasen halfen jetzt nicht weiter. Entschlossen nahm Gisela den Brief aus Elenas Hand und legte ihn auf den Wohnzimmertisch. »Jetzt brauchen wir einen Plan«, sagte sie energisch. »Was tun wir zuerst?«
»Wir?« Elena war perplex. »Apropos: ich konnte mich leider noch nicht um ihr Gehalt kümmern, ich …«
»Das ist jetzt nicht so wichtig«, unterbrach Gisela sie, obwohl das ausstehende Geld sehr wohl ein Problem für sie darstellte. »Darüber können wir auch später reden«, schlug sie vor.
»Ich rufe Monika an«, sagte Elena. »Wenn Sie erst einmal nicht weiter arbeiten wollen, hätte ich Verständnis dafür.«
»Ach was, ich fange in der Küche an, wie jeden Tag«, verkündete Gisela tatkräftig. »Wenn Sie mich brauchen, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.« Damit verschwand sie in der Küche und kurz darauf hörte Elena die vertrauten Geräusche des Alltags.
»Monika, kannst du sofort zu mir kommen?«, fragte Elena ihre Freundin ohne Umschweife, nachdem die Verbindung zustande gekommen war.
»Ach, Liebes, sonst gern, das weißt du. Aber …« Dann folgte eine Aufzählung von Terminen und anderen Gründen, warum Monika letztendlich nicht kommen konnte. Oder wollte? In Elenas Augen waren die Argumente allesamt vorgeschoben, und das, obwohl sie gar nicht dazu gekommen war, den Grund für ihre Bitte zu nennen. Sie konnte Monika nichts von dem Brief sagen und auch nichts von allen anderen Problemen, die sich vor ihr auftürmten. Sie hatte zwar noch keinen Überblick über das, was auf sie zukam, aber sie wusste, sie müsse sich auf alles gefasst machen. Es wäre alles viel leichter gewesen, ihre Freundin bei sich zu haben, aber Monika schob erneut einen Friseurtermin vor. Es war ihr scheinbar entfallen, dass er ihr bereits gestern als Ausrede gedient hatte. Danach müsse sie sich mit der Präsidentin des örtlichen Wohltätigkeitsvereins treffen, das sei sehr wichtig, das müsse Elena doch verstehen. Anschließend könne sie leider auch nicht kommen, denn sie müsse ganz dringend ihre Korrespondenz erledigen. »Lass dir mit der Rückzahlung des Geldes gerne Zeit, Liebes. Du weißt schon, was ich dir gestern im Restaurant und im Laden geliehen habe. Und für deinen Mann alles Gute.« Dann hatte sie aufgelegt.
Elena wäre unter anderen Umständen sehr traurig gewesen. Jetzt aber war diese unerwartete Abfuhr nur ein weiteres Puzzlestück zur Katastrophe, die sich nach und nach in ihrem gesamten Umfang abzeichnete.
»Gut«, sagte sie halblaut vor sich hin. »Dann ziehe ich mich jetzt erst einmal an, dann suche in Jakobs Arbeitszimmer nach der Telefonnummer von Bernd Hübner.« Sie hatte ihn ja ohnehin anrufen wollen. Nach dem rätselhaften Satz am Ende des Briefes hatte sie jetzt einen Grund mehr, sich mit Jakobs Geschäftspartner auseinanderzusetzen.
Kurze Zeit später saß sie am verwaisten Schreibtisch ihres Mannes. Sie war bisher äußerst selten hier gewesen, höchstens mal kurz, um ihm Bescheid zu geben, dass das Abendessen fertig sei. Die schwere Mahagoniplatte war beinahe komplett leer. Lediglich ein zugeklappter Laptop lag auf der hochglanzpolierten Oberfläche. Elena dachte kurz daran, dass Gisela in der Vergangenheit öfter hier gewesen war als sie. Schließlich war sie die gute Fee im gesamten Haus, vom Keller bis zum Dachboden.
Nichts deutete darauf hin, dass hier in letzter Zeit gearbeitet worden wäre. Jakob ging jeden Morgen in die Firma. Sicherlich hatte er dort alles, was er für seine Tätigkeit als Unternehmensberater brauchte. Seltsam kam es ihr trotzdem vor.
»Wichtige Unterlagen sind in meinem Schreibtisch, oberste Schublade«, wiederholte sie. Das waren die letzten Worte seines Briefes gewesen. Ihr Bewusstsein weigerte sich, ihn als Abschiedsbrief zu begreifen. Sie musste sich mehrmals mit der flachen Hand über die Stirn reiben, als wenn sie damit die schlimmen Gedanken aus ihrem Kopf verbannen könnte.
»Was mache ich zuerst? Bernd Hübner anrufen oder in die Schublade schauen?«, fragte sie sich. Wer konnte schon wissen, was sie erwartete, wenn sie die ›wichtigen Unterlagen‹ sichtete. Die Entscheidung war gefallen. Erst das Telefongespräch.
Wieso hatte sie eigentlich die Nummer der Firma ihres Mannes nicht in ihrem eigenen Smartphone gespeichert? Ein schmerzlicher Gedanke flackerte auf – hatte sie ihn eigentlich immer ausreichend unterstützt? Es gelang ihr, auch diese Frage beiseite zu schieben. Nach der Telefonnummer musste sie trotzdem nicht suchen. Sie stand auf dem pastellgelben Haftnotizzettel, der auf den Bildschirm des Laptops geklebt war. Jakob hatte offensichtlich an alles gedacht. Er hatte genau gewusst, dass Elena nach der Telefonnummer im Internet suchen würde.
Bernd Hübner war nach dem dritten Freizeichen zu hören. »Hübner Consulting, was darf ich für Sie tun?«
›Wieso nannte er nur seinen Namen und nicht auch Jakobs?‹, fragte sich Elena, aber sie hatte keine Gelegenheit, darüber nachzudenken.
»Elena hier«, sagte sie. »Ich wollte nur Bescheid sagen, dass Jakob im Krankenhaus liegt. Seit gestern. Er kann deshalb nicht ins Büro kommen.«
»Elena, lange nichts voneinander gehört!«, rief Bernd. »Was sagst du da? Jakob liegt im Krankenhaus? Was um Himmels willen ist denn passiert?«
Elena fasste den spontanen Entschluss, lediglich von einem Unfall zu sprechen. Über die möglichen Hintergründe, vor allem über den Suizidversuch, ließ sie keine einzige Andeutung fallen.
»Das ist ja furchtbar. Und jetzt?«
»Wie – und jetzt? Was meinst du? Ich dachte, ich sage dir Bescheid, damit du weißt, dass du vorläufig alleine die Geschäfte betreiben musst. Jakob hat bestimmt Termine, die du übernehmen wirst.« Noch während Elena sprach, spürte sie, dass etwas nicht stimmte.
Bernd gönnte sich eine lange Pause, bevor er antwortete. »Elena, du weißt es offenbar nicht. Jakob ist schon seit ein paar Monaten nicht mehr Teilhaber der Firma. Aber danke, dass du mich informiert hast. Halte mich bitte auf dem Laufenden.« Dann wünschte er ihr noch viel Kraft und ließ einige weitere nichtssagende Phrasen hören, bevor er auflegte.
Elena war sprachlos. Damit hatte sie nicht gerechnet. Jakob war kein Teilhaber mehr der Consulting Firma, die er selbst gegründet hatte? Warum um alles in der Welt, hatte er ihr nichts davon gesagt? Sollte sie sich deshalb an Bernd Hübner wenden, damit sie jetzt davon erfahren solle? Oder hatte seine Aufforderung in seinem Brief noch einen anderen Hintergrund?
Der Tee, den ihr Gisela wortlos brachte, kam gerade zur rechten Zeit. Sie brauchte einen Moment Pause, bevor sie sich den Realitäten stellte, die noch auf sie warteten.
Zögerlich umfasste sie den elfenbeinfarbenen Knauf und zog die Schublade auf. Starr blickte sie auf ein unsortiertes Durcheinander von ungeöffneten Briefen in grellgelben Umschlägen. Sie wusste, dass solche gelben Briefe meistens vom Amtsgericht stammten und sie wusste auch, dass sie viel Mut brauchen würde, sie zu öffnen. Später. Jetzt fehlte ihr die Kraft. Erst zog ein anderer Briefumschlag ihre Aufmerksamkeit auf sich. »Elena« stand in Handschrift im Adressfeld. Sie erkannte die Schrift ihres Mannes und öffnete mit zitternden Fingern den Brief. Statt einer Nachricht fand sie einen Schlüssel und einen Zettel, auf dem lediglich die Nummer 57 stand, zusammen mit dem Vermerk »Schließfach Hauptbahnhof.«
Was sollte das? Wieso hatte Jakob ein Schließfach angemietet? Wenn er Wertsachen in Sicherheit hätte bringen wollen, wäre doch sicherlich ein Bankschließfach angebracht? Dann aber fiel ihr ein, dass sie zu einem solchen Schließfach bei einer Bank ohne Vollmacht oder Erbschein keinen Zugriff hätte – sie schauderte bei diesem Gedanken und verbot sich sofort, ihn weiter zu verfolgen. Aber mit dem Schlüssel aus dem Umschlag konnte sie das Schließfach am Bahnhof ohne weitere Formalitäten öffnen.
Sie beschloss, sich als Erstes genau darum zu kümmern. Wer weiß, wann die Mietdauer abläuft, dachte sie und außerdem spürte sie, dass der Inhalt wichtig für sie sein könnte – oder warum sonst hätte Jakob für sie diese Fährte gelegt?
Sie ließ die verdutzte Gisela grußlos zurück, stürmte aus dem Haus – und stand vor der leeren Garage. Sie hatte ganz vergessen, dass sie ja derzeit ohne Auto war und für ein Taxi nicht genügend Geld hatte. Für eine Fahrkarte mit dem Bus reichte das Geld noch, das nach dem Bezahlen der Taxirechnung am gestrigen Tag vom 50 Euroschein noch übrig war, den ihr Dr. Norden zugesteckt hatte.
Am Bahnhof achtete sie nicht auf die vorbeihastenden Menschen, auf das Gedränge und auch nicht auf die Durchsagen aus den Lautsprechern. Die Schließfächer fand sie schnell und auch die Nummer 57 konnte sie problemlos ausfindig machen. Es war eines der kleineren Fächer. Mit vor Aufregung steifen Fingern drehte sie den Schlüssel im Schloss und fand einen weiteren Briefumschlag vor. Was sollte das? Wollte Jakob für sie eine Art Schnitzeljagd organisieren? Sie schluckte ihren aufkommenden Ärger hinunter, holte den Umschlag aus seinem Versteck und riss ihn vorsichtig auf. Was sie fand, machte sie erneut sprachlos. Jakob hatte in diesem Umschlag mehrere Tausend Euro in kleinen und großen Scheinen hinterlegt. Dazu einen Zettel mit der Aufschrift »Für meine Beerdigung«.
*
Bernd Hübner saß wie versteinert an seinem Schreibtisch. Gedankenverloren starrte er auf das Telefon. An die Geschichte mit dem Unfall glaubte er keine Sekunde. Dieser Trottel hatte sich tatsächlich das Leben nehmen wollen und dann hatte er es wahrscheinlich so dumm angestellt, dass er den Suizidversuch überlebte! Und Elena? Die musste sich jetzt um das Chaos kümmern, das Jakob hinterließ – oder besser, hinterlassen wollte. Ein bösartiges Grinsen schlich sich in sein Gesicht. Er stellte sich amüsiert ihre Reaktion vor, als sie durch ihn vom Ausscheiden ihres Mannes aus der Firma erfuhr. Er hatte es ihm ja gleich gesagt! »Sag es deiner Frau«, hatte er geraten. »Alles andere bringt nichts.«
Aber Jakob hatte ja unbedingt darauf bestanden, das Schmierentheater aufrecht zu erhalten, mindestens so lange, bis er wieder einen Job hatte. Bewerbungen hatte er genug geschrieben, aber in der Branche der Unternehmensberatung war er untragbar geworden. Wie sollte denn jemand, dessen Schufa so umfangreich wie ein mehrbändiges Lexikon war, als Berater für Firmen tätig sein? Als Angestellter einer Consulting-Firma konnte er keinen Fuß mehr auf den Boden bringen, jede seiner zahlreichen Bewerbungen war genau aus diesem Grund abgelehnt worden. Letztendlich waren seine vielfältigen Schulden auch der Anlass, weshalb ihm Bernd nahegelegt hatte, sich aus der Firma zurückzuziehen. Eigentlich hätte er ihm eine größere Summe auszahlen müssen, denn Jakob hatte als Teilhaber damals einen Batzen Geld als Einlage in das Unternehmen gesteckt. Aber Bernd hatte ihm schließlich klarmachen können, dass Jakob immer noch in seiner Schuld stand. Diese Schuld war noch lange nicht abgetragen, fand Bernd und er beglückwünschte sich immer wieder für seine Geistesgegenwart. Damals, als Jakob zum ersten Mal eine größere Summe im Spielcasino verloren hatte, war Bernd bereit gewesen, ihm aus der Patsche zu helfen. Es war ein hoher Betrag, den er ihm sofort übergab, nachdem sich ihm Jakob anvertraut hatte. Es ging damals um viel mehr als nur um Spielschulden. Jakob hatte gerade mit Elena zusammen ein Haus gekauft. Dafür war ein Bankkredit notwendig gewesen, der nur gewährt wurde, weil Jakob eine hohe Summe Eigenkapital vorweisen konnte. Dass es sich damals schon um Geld gehandelt hatte, das er im Casino gewonnen hatte, wusste niemand außer Bernd. Einige Spielcasinobesuche später war das Geld weg und die Finanzierung der hübschen Villa hätte sich damals erledigt. Bernd lieh ihm das Geld und verschaffte sich damals nicht nur Jakobs Dankbarkeit, sondern vor allem schaffte er die Grundlage für ein Abhängigkeitsverhältnis, das er immer wieder ausnützte.
Wieder grinste Bernd. Jakob war so besessen davon, Elena ein schönes Leben zu bieten. Er kam dadurch auf dumme Gedanken, indem er die Chance aufs große Geld am Spieltisch suchte. Immer wieder zog es ihn hin, zur vermeintlich einzigartigen Chance, ein Vermögen zu gewinnen. Manchmal hatte es geklappt, manchmal verlor er und unterm Strich waren die Verluste immer höher als die Gewinne. Immer wieder lieh Bernd dem Mann Geld, der ihn für einen Freund gehalten hatte. Aber für Bernd gab es so etwas wie Freundschaft nicht. Alles, was er tat und was ihn antrieb, war das Streben nach seinem eigenen Vorteil. Knallhart kalkuliert. Jakobs Abhängigkeit von Bernd war immer größer geworden, die Schulden immer höher. Es war vereinbart, dass Bernd einen Teil von Jakobs Beraterhonoraren als Rückzahlung der Schulden bei ihm erhalten sollte. Mit der Zeit wurden die Beträge, die Jakob selbst behalten konnte, immer weniger. Sie reichten nicht mehr, um die Raten für das Haus zu begleichen geschweige denn, die restlichen Verpflichtungen zu erfüllen. Wie Jakob es geschafft hatte, einen Porsche zu leasen – bei der schlechten Bonität, die er hatte – war Bernd ein Rätsel. Er hatte ihm auch davon abgeraten, aber Jakob meinte, dass er künftige Kunden besser beeindrucken konnte, wenn er mit einem derartig teuren Schlitten vorfuhr. Schließlich müsse er sich eine neue Existenz aufbauen, jetzt, wo Bernd ihn quasi aus der gemeinsamen Firma rausgeworfen hatte.
Die Villa der Köhlers würde sehr bald zwangsversteigert werden und darauf hatte Bernd nur gewartet. Im Stillen rieb er sich die Hände. Das Haus, auf das er schon lange ein Auge geworfen hatte, würde er für einen Apfel und ein Ei bekommen, wie man so schön sagt. Wenn es gut lief, bekam er Elena vielleicht noch als Bonus obendrauf. Sie hatte ihm schon immer gefallen, aber sie interessierte sich nur für Jakob. Er konnte es sich nicht erklären, was eine so schöne Frau wie Elena an einem Loser wie Jakob Köhler finden konnte. Wieso hatte sie nicht damals schon bemerkt, dass er, Bernd, der bessere Mann für sie gewesen wäre. Aber naja, die Dinge waren ja gerade im Begriff, sich zu ändern und seine Chancen stiegen wieder.
Tja, was war er nur für ein Fuchs! Nur schade, dass Jakob jetzt nicht mehr als Melkkuh zur Verfügung stand. Er hätte schon noch etwas aus ihm herauspressen können, wenn der Dummkopf mit seinem Leasingfahrzeug nicht gegen eine Mauer geprallt wäre. Dabei war es völlig unerheblich, ob er es überlebte oder nicht. Fakt war, dass die schöne Elena jetzt alles erfuhr und damit hatte Bernd kein Druckmittel mehr gegen Jakob in der Hand. Denn Jakob wollte seine Frau glücklich machen und sonst nichts. Dafür nahm er alles in Kauf, hatte Geheimnisse und verstrickte sich immer mehr in ein Konstrukt aus Lügen. Aber jetzt, wo sie alles nach und nach erfahren würde, hatte sich das Blatt gewendet.
Apropos: Was würde die schöne Elena wohl sagen, wenn sie herausfand, dass Jakob Vater einer dreijährigen Tochter war?
Sein teuflisches Grinsen verschwand mit einem Schlag, denn ein anderer Gedanken hatte sich in sein Hirn geschlichen. In seinem Safe fehlte ein Bargeldbetrag. Genauer gesagt, fehlten zehntausend Euro in unterschiedlichen Scheinen. Bernd war nicht von einem Einbruch mit Diebstahl ausgegangen, denn der Safe war nicht aufgebrochen. Jetzt wurde ihm alles klar! Jakob! Dieser Hund musste kurz vor seinem geplanten Selbstmord das Geld aus dem Safe genommen haben! Wieso nur war er, Bernd, so nachlässig gewesen und hatte die Zahlenkombination nicht geändert, nachdem Jakob aus der Firma ausgeschieden war? Verdammt, dachte er, ich hätte ihm den Schlüssel zum Büro abnehmen sollen. Wieso nur hatte er daran nicht gedacht?
Das Geld stammte von einem Kunden, für den er ohne Rechnung gearbeitet hatte. Böse Zungen würden behaupten, es handle sich um Schwarzgeld. Eine Anzeige bei der Polizei kam deshalb nicht infrage und Jakob war diese Konstellation sicherlich bewusst gewesen.
Bernds geballte Faust knallte auf den Schreibtisch. Seine Lippen, die eben noch gehässig gelächelt hatten, waren vor Wut zusammengepresst. »Das wirst du mir büßen«, brach es aus ihm heraus. »Cent für Cent hole ich mir zurück, was mir gehört!«
*
Elena hielt es nicht mehr aus. Sie musste Jakob sehen. Anstatt sich an den Vorschlag zu halten, nur anzurufen, fuhr sie mit dem prall gefüllten Geldumschlag in ihrer Handtasche mit dem Bus zur Behnisch-Klinik und nahm sich vor, sich nicht abwimmeln zu lassen. Sie hatte Fragen, wie Jakob vorhergesagt und geschrieben hatte und sie wusste, dass er diese Fragen jetzt nicht beantworten konnte – vielleicht nie mehr beantworten konnte.
Wie zu befürchten war, wurde sie am Eingang zur Intensivstation abgewimmelt. Sie solle sich an den Chefarzt wenden, die Vorgabe, dass sie ihn nicht besuchen dürfe, war von ihm erteilt und konnte nur durch ihn selbst zurückgenommen werden.
Sie brauchte den Weg zum Büro von Dr. Norden erst gar nicht antreten, denn sie begegnete ihm schon nach ein paar wenigen Schritten im Flur.
»Nein, glauben Sie mir, es macht keinen Sinn, wenn Sie Ihren Mann besuchen«, versuchte Daniel, zu erklären. Aber er erkannte schnell, dass die Ehefrau seines Patienten ihren ersten Schock überwunden hatte und nun energisch danach verlangte, ans Bett ihres Mannes gelassen zu werden. »Na gut«, lenkte er ein, »aber ich begleite Sie. Der Anblick wird Sie vielleicht erschrecken«.
Elena war auf alles vorbereitet, aber was sie vorfand, übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen. Jakob lag im Bett, als sei er Teil der gesamten Maschinerie, die um ihn herum aufgebaut war. Mehrere Schläuche führten von etlichen Apparaten zu ihm, andere schienen förmlich aus ihm herauszuwachsen und die Verbindung zu den lebenserhaltenden Maschinen zu sein. Die Farbe seiner Haut erschien seltsam durchsichtig. Zum ersten Mal seit sie von dem Unfall erfahren hatte, verstand sie endlich, dass Jakob zwischen Leben und Tod hing.
Es gab keinen Stuhl auf der ITS, den sie sich hätte holen können. Sie musste stehen und dafür brauchte sie volle Konzentration. Ihre Knie zitterten, ihre Oberschenkel waren weich wie Butter und sie musste sich auf den einzigen Halt konzentrieren, den ihr Körper hatte: Ihre Wirbelsäule.
»Kann ich Sie alleine lassen, Frau Köhler?«, hörte sie die leise Stimme des Chefarztes. »Ich hole Sie in fünfzehn Minuten wieder ab und bringe Sie raus. Ist das in Ordnung?«
Elena nickte. Es war gut, mit Jakob alleine zu sein. Die Trennwand zum nächsten Bett schützte sie vor fremden Blicken und wenn sie sich Mühe gab, konnte sie die Geräusche ausblenden, die an ihr Ohr drangen. Kam das ständige Piepsen von Jakobs Geräten oder von denen der anderen Patienten? Sie hörte Pfleger sprechen, Schwestern antworten, Ärzte gaben Anweisungen, dazwischen stöhnte ein Patient. Das alles versuchte sie, zu verdrängen. Jetzt war nur Jakob wichtig. Zögernd und sehr vorsichtig legte sie ihre Hand auf eine freie Stelle Haut an seinem rechten Oberarm. ›Was hast du dir nur dabei gedacht, mein Liebster?‹, dachte sie. ›Warum hast du nie mit mir geredet? Vertraust du mir nicht genug? Liebst du mich am Ende nicht?‹ Während ihrer stummen Zwiesprache mit Jakob rannen ihr die Tränen übers Gesicht. Sie spürte es nicht.
›Was erwartet mich, wenn ich die Schublade ausleere und alle Briefe geöffnet habe und woher stammt das viele Geld im Umschlag? Für deine Beerdigung!‹ Ihr Kummer wandelte sich in Zorn. ›Du stirbst gefälligst nicht, hörst du?‹ Am liebsten hätte sie ihn an den Schultern gepackt und ihn wachgerüttelt. Was fiel ihm ein, sie in einem solchen Chaos zurücklassen zu wollen?
Aber dann kämpfte sich in ihrem Inneren ein anderes Gefühl an die Oberfläche. Zorn, Trauer und Angst gerieten in den Hintergrund. Es war die Liebe, die sich wie eine warme, weiche Decke über den Aufruhr in ihrem Inneren legte und ihr neue Kräfte verlieh. Ja, sie liebte ihn, egal, was passiert war oder noch passieren wird und genau das musste sie ihm jetzt unbedingt sagen.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie kaum hörbar, aber sie war sicher, dass der Sinn dieser Worte ihren Weg zu ihm, in sein Herz finden würde. »Bitte kämpfe, Jakob! Wenn du das hier überstehst, schaffen wir auch alles andere!«
»Kommen Sie«, sagte Daniel leise. Er stand schon einige Minuten hinter ihr, ohne von ihr bemerkt worden zu sein. Er verstand, dass sie noch einige Momente brauchte und ließ ihr die Zeit. Dann nahm er sie sanft am Ellbogen und führte sie, nach einem langen Blick auf ihren Mann, hinaus auf den Flur. Sie steuerte sofort den Warteraum an und konnte sich dort endlich hinsetzen. Daniel nahm auf dem Stuhl neben ihr Platz und schwieg, bis sie von selbst die Kraft fand, mit ihm zu sprechen.
»Herr Doktor, ich muss Ihnen etwas sagen«, begann sie zögerlich. Dann erzählte sie ihm von dem Brief, der als Abschiedsbrief gedacht war.
»Damit ist die Unfallursache vermutlich geklärt«, sagte Daniel. Dann schwieg er erneut und hörte aufmerksam zu, was sie ihm sonst noch zu berichten hatte.
»Es kommt nicht selten vor, dass ein Suizidversuch unternommen wird, wenn die Menschen keinen Ausweg mehr sehen«, sagte er. »Es ist nur schade, dass die Betroffenen keine professionelle Hilfe suchen oder viel zu spät mit einem Psychologen oder einem Arzt Kontakt aufnehmen. Bei ihrem Mann scheint es ja so gewesen zu sein.«
»Er hat immer alles mit sich selbst ausgemacht, Herr Doktor. Das war schon so, als wir uns kennenlernten und das ist bis heute so geblieben. Aber ich hätte trotzdem merken müssen, dass etwas nicht stimmte. Was bin ich nur für eine Ehefrau, die nicht spürt, wenn ihr Mann Sorgen und Probleme hat!! Und vor allem frage ich mich, warum er mir nicht zutraut, mich mit ihm zusammen, an seiner Seite, unseren gemeinsamen Problemen zu stellen. Traut er mir denn nichts zu oder kann ich wirklich nichts? Bin ich denn wirklich nichts weiter als ein verwöhntes, nichtsnutziges Weibchen, das nur sein Geld ausgeben kann?«
»Jetzt mal langsam«, lenkte Daniel ein. »Diesen Gedanken denken Sie gar nicht erst zu Ende. Die meisten Angehörigen suchen in solchen Fällen die Schuld bei sich. Aber die Wahrheit ist, dass es alleine in der Verantwortung der Betroffenen liegt, ob und wo sie sich Hilfe holen – oder eben auch nicht.«
»Tja, aber es sind dann ja auch die Angehörigen, die mit den Folgen zurechtkommen müssen. In diesem Fall bin ich es, die sich jetzt mit all dem auseinandersetzen muss, vor dem mein Mann davongelaufen ist.«
»Sie klingen jetzt sehr verbittert.« Daniel wollte ihr eine Brücke bauen, ihren Gedanken weiter ihren Lauf zu lassen.
»Verbittert bin ich nicht. Aber enttäuscht bin ich. Das nützt jetzt allerdings nichts. Ich muss mich zusammenreißen, denn egal, wie das hier ausgeht …«, sie wies mit einer Kopfbewegung Richtung Eingangstür zur ITS, »… ich muss jetzt handeln. Für uns, verstehen Sie? Falls Jakob überlebt, soll er eine Situation vorfinden, in der alles besser ist. Damit er wieder neuen Lebensmut fassen kann.«
»Das klingt nach einem guten Plan, Frau Köhler. Ich bewundere Ihre Tatkraft! Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, lassen Sie mich das bitte wissen.«
»Ach, das war das Stichwort, Herr Doktor. Moment bitte.« Sie kramte umständlich in ihrer Handtasche nach dem Geldumschlag, suchte unter den vielen Scheinen einen 50 Euroschein heraus und reichte ihn an Daniel weiter. »Vielen Dank noch mal«, sagte sie.
Daniel fragte nicht nach dem Umschlag. Weder, woher sie ihn habe, geschweige denn, woher das viele Geld stamme. Stattdessen steckte er das Geld ein und klopfte ihr beim Abschied väterlich auf die Schulter.
Elena hatte durch den Besuch bei Jakob neue Kraft geschöpft. Sie hatte zwar noch lange keine Antworten, aber sie wusste jetzt, wofür sie kämpfte.