Inhalt
Vorwort aus dem Club of Rome
Vorwort aus dem Wuppertal Institut
Kapitel 1Welche Reise unsere Leser*innen erwartet
Transformation ist notwendig und auf demokratischem Wege möglich
Transformation ist mehrheitsfähig
Ständiges Wachstum auf einem begrenzten Planeten ist unmöglich
Von den »Grenzen des Wachstums« zu den »planetaren Grenzen«
Weltgipfel, Meilensteine, Ernüchterung
2015 – das Jahr, das den Lauf der Geschichte ändern könnte
Die Kippmomente im Klimasystem
Turn fear into action: Was den Lauf der Geschichte noch ändern könnte
Game Changer: Positive soziale Kippmomente
Was löst soziale Kippmomente aus?
Earth4All – Rückfall oder großer Sprung?
Kein Giant Leap ohne Klimasozialpolitik
Kapitel 2Etwas stimmt nicht in Deutschland
Das Budgetprinzip: Wie viel muss Deutschland zur Eindämmung des globalen Klimawandels beitragen?
▄ Klimaschutz kann nur global funktionieren – Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen
Dirk Messner
Auch in Deutschland sind Verursachung und Betroffenheit extrem ungleich verteilt
Von der Freiheit für Wölfe und Schafe
Modelle und Szenarien für die Zukunft
Demokratie stärken
Welche Wege stehen uns (noch) offen?
Der nächste Schritt
Kapitel 3Die Armutswende: Gerechtigkeit bei uns und in der Welt
Von Schulden erdrückt
Armut – auch in Deutschland
Energie- und Mobilitätsarmut
Die Rolle und das Dilemma der Kommunen
Too Little Too Late – ist das unser Weg?
Armut verringern – wie geht das?
▄ Globale Armutswende – was Deutschland und Europa tun können
Jayati Ghosh
Gerechtigkeit für alle!
Kapitel 4Die Ungleichheitswende: Wohlstand gerecht verteilen
Was bedeutet Ungleichheit in Deutschland?
Die Ursachen der Ungleichheit
Ungleichheit stärkt populistische Kräfte
Eine gerechtere Gesellschaft ist möglich
Der Kern des Giant Leap
Kapitel 5Die Empowermentwende: Selbstwirksamkeit für alle
Wo steht Deutschland eigentlich?
Zwischen Kinderbetreuung und Pflege
Mehrfachdiskriminierung verschärft die Situation
Selbstbestimmung, Sorgearbeit und Schule
Die soziale Wende ist möglich!
Kapitel 6Die Ernährungswende: Gut für uns und den Planeten
Ernährung ist ein Menschenrecht – hohe Profite nicht
Das System Landwirtschaft
Wird die Zukunft öd und leer?
Also was nun?
Wohin wollen wir gehen?
Kapitel 7Die Energiewende ist auf dem Weg, aber noch lange nicht am Ziel
Der holprige Start der Energiewende
▄ Zu teuer, zu langsam, zu gefährlich, zu blockierend
Claudia Kemfert
Hemmende »mentale Infrastrukturen«
Ein Rückfall in eine Too-Little-Too-Late-Strategie wäre fatal
Über Konsens und Dissens
Technische und soziale Strategien brauchen Balance
Kredite für Zukunftsinvestitionen
Ein gestaltender Staat muss Leitplanken setzen
Kapitel 8Zirkuläre Ökonomie: So könnte genug für alle da sein
Die Nachfrage nach Rohstoffen steigt
Auch die Energiewende und der Klimaschutz brauchen Rohstoffe
Herausforderungen der effizienten Nutzung von Ressourcen
Vom Ressourcenkonflikt zum Ressourcenkrieg
Eine andere Ökonomie ist nötig
Zirkulär wirtschaften innerhalb der planetaren Grenzen
Maßhalten
Eine neue Ökonomie für eine Erde für alle
Kapitel 9Und jetzt?
Der Giant Leap ermöglicht Synergien und Co-Benefits
Viele Rollen im Giant Leap – ein Appell
Weiterdenken!
Das Team hinter dem Buch
Anmerkungen
Kapitel 1
Welche Reise unsere Leser*innen erwartet
Dieses Buch handelt von radikaler Veränderung. Denn eine tiefgehende gesellschaftliche Transformation ist angesichts der Vielzahl der globalen Krisen unumgänglich. Es geht um Möglichkeiten und Chancen, gemeinsam die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Produktions- und Konsumweisen so zu verändern, dass die Ausbeutung von Menschen und Natur gestoppt werden kann. Wir behaupten, dass es genügend wissenschaftliche Belege dafür gibt, dass dies keine unerreichbare Utopie ist, sondern eine Vision, die Realität werden kann. Sicher nicht gleich morgen, aber noch für unsere Kinder und Enkel, wenn wir uns heute energisch auf den Weg machen. Und nicht nur hier in Deutschland, sondern auch anderswo.
Die derzeitigen katastrophalen Veränderungen, die multiplen ökologischen und sozialen Krisen – allen voran die Klimakrise und die Kriege – sind menschengemacht. Daher können Menschen sie auch ändern, wenn sie den Mut und Gestaltungswillen aufbringen, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu ändern, die das lähmende Gefühl von Ohnmacht und Ausgeliefertsein immer wieder hervorrufen. Veränderungsdruck ausgesetzt zu sein, führt bei vielen Menschen zu starken Verunsicherungen, nicht selten verbunden mit Zukunftsängsten und Verzweiflung. Oder er fördert illusionäre, oft genug politisch reaktionäre Rückwärtsgewandtheit. Mut zur Veränderung dagegen kann Mehrheiten beflügeln, wenn das Ziel, eine Wohlergehensgesellschaft für alle, hinreichend klar und akzeptiert ist und die Wege dorthin gangbar und präzise ausgeschildert werden. Unser Buch liefert verschiedene Vorschläge für solche Wege.
Transformation ist notwendig und auf demokratischem Wege möglich
Die Erfahrung zeigt: Widerstände wird es vor allem bei denen geben, die umfassende Privilegien, übermäßigen Ressourcenverbrauch, unermessliches Vermögen, riesigen Reichtum und ein enormes Macht- und Manipulationspotenzial auf sich konzentrieren konnten. Aber statt sich hierdurch entmutigen zu lassen, sollte eine Grundsatzfrage gestellt und beantwortet werden, damit gesellschaftliche Transformation gelingt: Wie könnten eine Politik und ein gesellschaftlicher Dialog aussehen, der die Fürsorge für die weniger Vermögenden gemäß dem Appell Leave no one behind (Lass niemanden zurück) verbindet mit einer Strategie Tax the Rich – Take the Rich on board1 (Besteuere die Reichen – nimm die Reichen mit an Bord)? Können Politik und Zivilgesellschaft zum Beispiel mit der Initiative taxmenow2 neue Allianzen mit dem Ziel eingehen, die sozialökologische Transformation auch gegen den Lobbyismus von Reichtum und Macht durchzusetzen? Antonis Schwarz, Millionär und Vertreter von taxmenow, sagte in einem Interview: »Als Vermögender ist es auch nicht so super, auf einem Planeten zu leben, wo sozial und ökologisch alles aus den Fugen gerät«3. Kann eine solch realistische Einschätzung die Basis für ein Gemeinschaftswerk werden?
Diese scheinbar utopischen Fragen im Sinne von taxmenow zu beantworten, ist mehrheitsfähig und in hohem Maße demokratiefördernd. Die Politik und wir alle müssen uns einfach mehr trauen.
Gesellschaftliche Veränderung braucht Mut, um die Problemlagen offenzulegen, Wahrhaftigkeit, Zuversicht, breite gesellschaftliche Allianzen und harte wissenschaftliche Fakten. Wenn wir mit diesem Buch einige Impulse dazu beisteuern können, wären wir glücklich, denn das ist das Ziel gesellschaftlich relevanter Wissenschaft. Wir wissen, dass wir damit nur einen Stein ins Wasser werfen können, der Wellen schlägt. Aber wir hoffen, dass dadurch eine größere Welle an vertiefter Forschung weiterer wissenschaftlicher Institute und ein breiter gesellschaftlicher Dialog ausgelöst werden. Und wir wissen, dass wir mit der einen oder anderen Idee auch anecken werden. Aber wer, wenn nicht die Wissenschaft soll in einer Welt voller komplexer Problemlagen Diskussionsimpulse setzen, an denen man sich reiben kann, um dann gemeinsam zu besseren Konzepten zu kommen.
Und Problemlagen gibt es mehr als genug: »Der Klimawandel ist sichtbar, fühlbar, messbar.« Das ist die knappste Zusammenfassung eines der größten Rückversicherer der Welt. Einige Länder erleben diesen menschengemachten sogenannten Wandel der Natur bereits heute in Form von Katastrophen mit Tausenden von Opfern und Milliarden von Schäden durch Dürren, Hitzewellen, Überschwemmungen, Mangelernährung und Armut. Die Wissenschaft warnt vor noch weit schlimmeren und weltweiten Katastrophen einer sogenannten Heißzeit, wenn es bei einem »Weiter so« bleibt und der nahezu vollständige Ausstieg aus Kohle, Öl und Erdgas nicht spätestens bis 2050 erfolgt. Wer nicht absichtsvoll verschleiern möchte und wer es wissen will, für den ist zweifelsfrei feststellbar: Wir haben ein Klimawandelproblem, und zwar ein gewaltiges.
Können 150 Jahre Industriegeschichte und Kapitalismus – aufgebaut auf einer exponentiell wachsenden Nutzung von Rohstoffen wie den fossilen Energien – innerhalb der nächsten 25 Jahren überführt werden in einen derart radikalen weltweiten sozialökologischen Transformationsprozess? Ist eine nahezu vollständige weltweite Defossilisierung möglich? Die Wissenschaft sagt: prinzipiell ja.4 Die technischen Hauptstrategien dafür, Effizienz und Konsistenz (erneuerbare Energien), sind in ihrer enormen Vielschichtigkeit mittlerweile nicht nur bekannt, sondern auch längst in der Breite erprobt.
Was dabei zu wenig beachtet wird, ist die Tatsache, dass dieser historisch beispiellose technisch-ökonomische Umbauprozess der Wirtschaft in einer extrem ungleichen Weltgesellschaft und in vielen Ländern mit derzeit noch schroffen Gegensätzen zwischen Reich und Arm stattfinden soll. Wer die Transformation zur Wohlergehensgesellschaft anstrebt, aber die heutige Ungleichheit stillschweigend beibehalten möchte, hofft auf das Unmögliche. Eine gerechte und faire Gestaltung der Transformation erfordert mehr als die Konzentration auf die obigen technischen Hauptstrategien. Sie muss auch in kluger Weise die Frage nach Verantwortung und Begrenzung beantworten. Das gilt vor allem für diejenigen, die auf der Seite des Reichtums stehen und zu viel verbrauchen. Der materielle Fußabdruck reicher Haushalte ist weltweit mehr als 20-mal höher als der einkommensschwacher Haushalte. 10 Prozent der reichsten Weltbevölkerung verursachen fast 50 Prozent der CO2-Emissionen, 50 Prozent der Ärmsten nur knapp 10 Prozent. Insofern wird immer deutlicher: Der Klima-, Arten-, Boden-, Wasser- und generelle Ökosystemschutz ist ohne den drastischen Abbau von Ungleichheit nicht zu lösen. Das ist die Kernaussage, die der Club of Rome 2022, 50 Jahre nach dem Paukenschlag von »Die Grenzen des Wachstums«, mit seiner neuen Studie »Earth4All« mindestens ebenso provozierend wie seinerzeit formuliert hat.
Dieses Zusammendenken von Gerechtigkeit und ökologischen Fragen empfanden wir, das Wissenschaftsteam hinter diesem Buch, so überzeugend belegt und in der derzeitigen politischen Situation zudem so drängend, dass wir die Kernaussagen der Studie für Deutschland mit diesem Buch überprüfen wollten. So wie es auf Initiative des Club of Rome auch in Kenia und Österreich schon erfolgt ist und in anderen Ländern geplant wird.
Transformation ist mehrheitsfähig
Das Wissen über Notwendigkeiten und Möglichkeiten allein reicht nicht aus, um dringend erforderliche Veränderungen in der Gesellschaft anzustoßen und politisch auf den Weg zu bringen. Es gilt auch herauszufinden, welche Maßnahmenpakete und Rahmensetzungen der Politik es gibt, welche Interessen der Wirtschaft, welche Machtverhältnisse, welche Umsetzungshemmnisse und welche breiten Akteursallianzen möglich sind. Gerade auch in Deutschland, wo im Grunde ein ausgeprägtes Problembewusstsein herrscht und aktuelle Befragungen belegen, dass eine breite Mehrheit weiß, dass es so nicht weitergehen kann.
Aber oft hinkt die Realpolitik hinter dem her, was mehrheitlich an Maßnahmen bereits für erforderlich gehalten wird. Eine Ende 2023 durchgeführte Befragung5 zeigte, welche politischen Narrative und Konzepte im aktuell stark polarisierten politischen Diskurs eine möglichst breite und stabile gesellschaftliche Allianz für eine sozial gerechte Klimapolitik erreichen und mobilisieren kann. Die Ergebnisse belegen, dass 76 Prozent wissen, dass der Klimawandel schon heute große Probleme verursacht. Ein sehr großer Anteil davon sieht auch die Notwendigkeit, dass Politik ambitionierte Klimaschutzpolitik betreiben muss. Dabei zeigt die Untersuchung, dass diese Einstellung interessanterweise weitgehend unabhängig vom verfügbaren Einkommen ist.
Aus einem geringen Einkommen folgt keineswegs, dass Menschen gegen Klimaschutz sind. Aber verständlicherweise sind ärmere Haushalte wesentlich empfindlicher, was mögliche finanzielle Belastungen durch Klimaschutzmaßnahmen angeht. Dass Reiche, wie bereits beschrieben, weit überproportional zum Klimawandel beitragen, aber nicht entsprechend zur Schadensbegrenzung herangezogen werden, verstärkt das Gefühl bei vielen: »Beim Klimaschutz geht es nicht gerecht zu – warum soll ich ihn dann unterstützen?« Das gilt nicht nur für den Klimaschutz, sondern auch für andere Umweltbelastungen.
Eine von Earth4All und der Global Commons Alliance6 in Auftrag gegebene und vom Institut Ipsos durchgeführte Umfrage »Earth for All 2024« zeigt eine überwältigende öffentliche Unterstützung für progressive Steuerreformen und umfassendere politische und wirtschaftliche Veränderungen zur Verringerung der Ungleichheit und Steigerung des Wohlergehens.
Die Bekämpfung des katastrophalen Klimawandels und globaler Umweltschäden wird – so viel ist sicher – tatsächlich allen Menschen lebenswichtige Vorteile bringen, wenn diese Vorteile nicht erneut ungleich verteilt werden. So sehen es viele Menschen in Deutschland und mehrheitlich auf der ganzen Welt, wie die Umfrageergebnisse zeigen (siehe Abbildung 1.1).
Abbildung 1.1 Auszug aus der Umfrage »Earth for All 2024«
Interessant ist dabei auch die länderspezifische Verteilung der Zustimmungswerte, denn die »vielen Vorteile« können ganz unterschiedlicher Natur sein: Klimaschutz kann in Indien tausendfaches Massensterben durch Hitzetod verhindern, weil in einer weltweiten Heißzeit mit Werten über 50 Grad Außentemperatur zu rechnen ist (ab 42 Grad droht ungeschützt akute Lebensgefahr). Das erklärt die hohen Zustimmungswerte von 73 Prozent. In Deutschland kann ein umfassender Klimaschutz zwar auch dafür sorgen, dass tödliche Starkregenereignisse wie im Ahrtal im Juli 2021 nicht zur Regel werden. Aber im Vergleich zu den Tragödien, die bei ungebremstem Klimawandel in Afrika, Asien und Südamerika zu erwarten sind, sind das relativ »geringe« Auswirkungen. Dies mag für die relativ geringen Zustimmungsrate von 54 Prozent gesorgt haben und damit für den drittletzten Rang innerhalb der G20-Länder.
Gibt es für die vergleichsweise geringen Zustimmungsraten in Deutschland sowie den relativ hohen Anteil an Menschen, die »weder zustimmen noch nicht zustimmen« (25 Prozent) weitere interessante Erklärungen? Könnte es sein, dass deutsche Durchschnittsbürger*innen den enormen wirtschaftlichen Vorteil des Klimaschutzes gerade für Deutschland noch gar nicht wahrgenommen haben, sondern dass sie Klimaschutzinvestitionen noch eher als Bedrohung empfinden und deshalb zu einer ambivalenten Bewertung kommen? Kann es sein, dass in der politischen und gesellschaftlichen Debatte ökonomische Vorleistungen deswegen abgelehnt werden, weil die Menschen vernachlässigen, dass es natürlich hinsichtlich der Kosten nicht beim Status quo bleibt, sondern dass es künftig zu höheren ökonomischen Schäden und noch höheren Anpassungskosten führt, wenn wir heute nicht investieren?
Unsere Analyse in diesem Buch wird zeigen, dass sehr viel für diese Vermutung spricht. Das führt uns zu unserer Generalthese: Die in diesem Buch vorgeschlagenen radikalen Veränderungen für Deutschland können zu einem enormen Gewinn an Lebensqualität für alle führen – eben zu einer Wohlergehensgesellschaft. Allerdings nur, wenn ein Giant Leap erfolgt, also ein großer Sprung nach vorne. Wir laden unsere Leser*innen ein, uns bei dieser Reise zum »Giant Leap« zu begleiten. Es ist viel besser, wir verändern die Gesellschaft gemeinsam so, wie wir in Zukunft leben wollen, als dass die Verhältnisse uns Veränderungen aufzwingen.
Ständiges Wachstum auf einem begrenzten Planeten ist unmöglich
Eine der einflussreichsten Publikationen des 20. Jahrhunderts zum Thema Nachhaltigkeit begann ausgerechnet in einem Flugzeug. Im Jahr 1970 befand sich Jay Forrester auf dem Rückflug von Rom nach Boston. Er hatte gerade eines der ersten Gründungstreffen des Club of Rome besucht und entwarf nun die Eckpunkte für ein Computermodell, das die Grundlage des Weltbestsellers »Die Grenzen des Wachstums« bilden würde: World3.
Aber von vorne.
Aurelio Peccei, ein italienischer Industrieller, und der Schotte Alexander King, Direktor für Wissenschaft, Technologie und Erziehung bei der Pariser Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), gelten als die Gründungsväter des Club of Rome. Beide verband die tiefe Sorge um die langfristige Zukunft der Menschheit und des Planeten. Dabei ging es ihnen vor allem um die Wechselwirkungen zwischen komplexen Systemen (Wirtschaft, Ökologie, Politik, Psychologie usw.), die in ihrer Gesamtheit und nicht separat untersucht werden sollten. Peccei und King suchten eine weltweit vernetzte Gruppe von Denker*innen, die ihre Sorgen teilten und wissenschaftliche Modelle erweiterten, um die Wechselwirkungen von komplexen Systemen quantitativ abzubilden.
Im Jahr 1968 beriefen King und Peccei daher ein Treffen in Rom ein, um einen Raum für offene Debatten zwischen Persönlichkeiten aus verschiedenen Bereichen der Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft zu schaffen. Persönlichkeiten, die sich gleichermaßen verpflichtet fühlten, die Zukunft der Menschheit mit einem systemischen, langfristigen und globalen Blickwinkel zu betrachten. Obwohl es bei diesem ersten Versuch nicht gelang, eine Einigung zu erzielen, bildete sich eine Kerngruppe gleichgesinnter Denker*innen heraus: Der Club of Rome war geboren.
Beim ersten großen Treffen der Gruppe im Jahr 1970 bot Jay Forrester, Professor für Systemtechnik am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston, an, die von ihm entwickelten Computermodelle zu erweitern, um die komplexen Probleme, die die Gruppe beschäftigten, genauer zu untersuchen. Besagter Flug von Rom zurück in die USA bot ihm die Gelegenheit, über diese Erweiterungen nachzudenken.
Ein internationales Team von Forscher*innen am MIT untersuchte anschließend unter Forresters Leitung die Auswirkungen exponentiellen Wachstums auf einem endlichen Planeten. Darunter die jungen Wissenschaftler*innen Dennis und Donella Meadows sowie Jørgen Randers, später die weltweit einflussreichsten Protagonist*innen der Konzepte von »Grenzen des Wachstums«. Sie analysierten zentrale Treiber, die das Wachstum auf diesem Planeten bestimmen, darunter: Weltbevölkerung, Industrialisierung, Umweltverschmutzung, Nahrungsmittelproduktion und die Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen. Das MIT-Team nutzte World3, um zukünftige Szenarien in Bezug auf Bevölkerungswachstum, Fruchtbarkeit, Sterblichkeit, industrielle Produktion, Nahrungsmittel und Verschmutzung in großem Maßstab zu erforschen. Das Modell erfasste die Komplexität der globalen Dynamik, zum Beispiel die Auswirkungen des Bevölkerungswachstums auf die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, da die Nahrungsmittelproduktion nicht unbegrenzt gesteigert werden kann.
Auf dieser Grundlage wurde im Jahr 1972 schließlich der erste große Bericht des Club of Rome, »Die Grenzen des Wachstums«, veröffentlicht.
Darin warnten die Wissenschaftler*innen vor der Möglichkeit – ja sogar der Wahrscheinlichkeit – eines Überschreitens der ökologischen Kapazitäten unseres Planeten. Wenn die Menschheit weiterhin materielles Wachstum und Konsum ohne Rücksicht auf endliche natürliche Ressourcen oder Umweltkosten verfolgen würde, so warnten sie, würde die Gesellschaft die physischen Grenzen der Erde überschreiten und drastische Rückgänge von Nahrungsmitteln und Energie erleben, begleitet von steigender Verschmutzung, einem Rückgang des Lebensstandards und letztlich einem Rückgang der menschlichen Bevölkerung in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts. Das Buch wurde zu einem unerwarteten Bestseller mit Millionen verkauften Exemplaren weltweit.
Einige der Szenarien in »Die Grenzen des Wachstums« endeten mit dem Zusammenbruch der Zivilisation, weil die Umweltverschmutzung stieg, die Nahrungsmittelproduktion fiel und die Bevölkerung dramatisch zurückging. Doch nicht alle Szenarien folgten diesem Verlauf. Das MIT-Team identifizierte auch eine Reihe von Strategien, die zu Szenarien einer »stabilisierten Welt« führten, in denen der menschliche Wohlstand wuchs und hoch blieb und entscheidende Maßnahmen ergriffen werden konnten, um einen Zusammenbruch zu vermeiden. Die Medien und andere Kommentator*innen ignorierten diese Szenarien weitgehend und konzentrierten sich auf den Partyschocker eines möglichen Zusammenbruchs, ohne diesen aber ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Das erleichterte es Entscheidungsträger*innen in Wirtschaft und Politik, ebenfalls keine Konsequenzen zu ziehen. Trotz der Warnungen vor langfristig möglichen katastrophalen Folgen folgten sie weiterhin neoliberalen Wirtschaftstheorien, die entfesselte Märkte und Wachstum um jeden Preis propagierten.
Von den »Grenzen des Wachstums« zu den »planetaren Grenzen«
So stellt sich über fünfzig Jahre später die Frage: Was sagen uns die »Grenzen des Wachstums« heute? Einerseits triumphierten vor allem Ökonom*innen, weil der unter bestimmten Annahmen projektierte Zusammenbruch bis heute noch nicht eingetreten ist. Manche halten dies sogar für den Beweis dafür, dass freie Märkte, der Anreiz relativer Preise, die Peitsche der Konkurrenz, technische Innovationen und privates Gewinnstreben dauerhaftes Wirtschaftswachstum ermöglichen können. Selbst wenn dies stimmen würde, stellt sich die Frage, zu welchem unbezahlbaren (ökologischen) Preis dies erkauft werden würde! Vor allem Klimaforscher*innen und interdisziplinär denkende Systemwissenschaftler*innen weisen seit 2009 immer dringlicher darauf hin, dass die Weltgemeinschaft inzwischen in sechs von neun Geosystemen die »planetaren Grenzen«, also die Risikolinie im Vergleich zum sicheren menschlichen Handlungsraum, bereits alarmierend weit überschritten hat.7 In Abbildung 1.2 sieht man die planetaren Grenzen inklusive der aktualisierten Daten von 2023. Die dargestellten Ergebnisse vermitteln einen Eindruck davon, dass das derzeitige Ausmaß der Grenzüberschreitungen das Erdsystem bereits außerhalb eines sicheren Bereichs gebracht hat. Das gilt neben dem Klimawandel besonders auch für den dramatischen Verlust an Artenvielfalt sowie Veränderungen in den biogeochemischen Kreisläufen, die auf eine Überbelastung mit Stickstoff- und Phosphoreinträgen in Böden und Gewässer zurückzuführen sind. Natürlich hat es seit Veröffentlichung der Studie »Grenzen des Wachstums« auch Verbesserungen gegeben, in vielen Ländern zum Beispiel eine bessere Luftqualität. Aber machen wir uns nichts vor: Die heute vorherrschenden Produktions- und Lebensstile – vor allem in den Industrieländern – führen immer wieder zu neuen Verwerfungen. Gefährlich ist vor allem eine Überlastung mit neuartigen Stoffen, wie den zuletzt bekannt gewordenen PFAS (per- und polyfluorierten Chemikalien, einer Stoffgruppe, die nach letzten Schätzungen mehr als 10.000 verschiedene Stoffe umfasst), die als Ewigkeitssubstanzen einzuschätzen sind, sich also kumulieren und nicht abbauen lassen.
Abbildung 1.2 Die planetaren Grenzen 50 Jahre nach den »Grenzen des Wachstums«. Die Länge der »Tortenstücke« repräsentieren den aktuellen Zustand in Bezug auf die planetare Grenze (innerer Kreis) und die Hochrisikolinie (äußerer Kreis). Ein weiches Auslaufen der Länge deutet den Unsicherheitsbereich an. Schraffierung bedeutet, dass jenseits der planetaren Grenze keine quantitative Bestimmung des aktuellen Zustands möglich ist.8
Noch eines ist heute genauso wichtig wie damals: die engen Wechselwirkungen zwischen den Problemfeldern. Klimawandel und Biodiversitätsverluste verstärken sich gegenseitig und beschleunigen so die Grenzüberschreitung. Die vielfältigen anthropogenen Einflüsse auf die Erde dürfen also nicht isoliert betrachtet werden, sondern im systemischen Zusammenhang.9 Die Erde ist ein ganzheitliches, komplexes und vernetztes System. Dies ist – auf der Grundlage modernster wissenschaftlicher Erkenntnisse – im Kern eine Bestätigung der Grundaussagen der Studie »Grenzen des Wachstums« von 1972.
Gut fünfzig Jahre nach der Veröffentlichung von »Die Grenzen des Wachstums« und 15 Jahre nach der Erstveröffentlichung der »Planetaren Grenzen« ist der Optimismus des 20. Jahrhunderts, der gesellschaftlichen Fortschritt einfach mit grenzenlosem Wirtschaftswachstum gleichsetzte, deutlich gedämpfter. Heute fragen sich auch Ökonom*innen besorgter, was da schiefgegangen ist. Hat die globalisierte, kapitalistische Marktwirtschaft den 1972 projektierten Zusammenbruch nur um einige Jahrzehnte verschoben, und steht die Katastrophe im 21. Jahrhundert jetzt vor uns? Jay Forrester würde vermutlich antworten: »Ja, wenn die Weltgesellschaft so weitermacht wie bisher.« Jay Forrester ist 2016 gestorben. Vielleicht würde er heute hoffnungsvoller ergänzen: »… aber die Weltgesellschaft muss nicht so weitermachen wie bisher. Wir wissen im Grunde heute viel mehr als in den 1970er-Jahren, und wir wissen vor allem auch, was zu tun ist auf dem Weg zu einer Wohlergehensgesellschaft.«
Dem stimmen wir zu: Im Giant Leap wird dieses Zukunftswissen in den fünf Wenden gebündelt und mithilfe einer neuen Modellierung in einem quantifizierten Zukunftsbild abgebildet, wie das nächste Kapitel zeigen wird. Denn um aktiv auf den Weg zur Veränderung zu kommen, brauchen wir einen Kompass, der uns die Richtung hin zu einer wünsch- und machbaren Zukunft zeigt.
Ist es angesichts der vielen Krisen nicht purer Zweckoptimismus, über einen Giant Leap zu reden? Wenn ein Giant Leap so viele Vorteile bringt, wie die Wissenschaft zeigt – warum hat er dann nicht schon längst stattgefunden? Diese Fragen sind berechtigt. Um sie zu beantworten, müssen wir wieder ein Stück in die Vergangenheit reisen und mit den globalen Konflikten und Hindernissen der Neunzigerjahre beginnen. Werfen wir einen Blick auf den ersten Weltgipfel 1992, 20 Jahre nachdem das Buch »Die Grenzen des Wachstums« zum Weltbestseller wurde.
Weltgipfel, Meilensteine, Ernüchterung
Die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung fand im Juni 1992 im brasilianischen Rio de Janeiro statt. In der Rio-Deklaration wurden erstmalig Grundsätze für ein Recht auf nachhaltige Entwicklung von der Weltgemeinschaft beschlossen, zwei völkerrechtlich verbindliche Konventionen (die Klimarahmenkonvention und die Konvention über die biologische Vielfalt) verabschiedet sowie in der Agenda 21 ein entwicklungs- und umweltpolitisches Aktionsprogramm mit konkreten Handlungsempfehlungen festgelegt. Zu Recht wurden diese Ergebnisse auf Weltebene als Meilensteine gefeiert.
Trotz drei weiterer Erdgipfel in New York (1997), Johannesburg (2002) und Rio de Janeiro (2012) machte sich bald Ernüchterung breit. Die Umsetzung blieb hinter den Hoffnungen zurück. Zwar wurde schon damals betont, dass Umweltschutz und Wohlstandssicherung immer auch mit Gerechtigkeit verbunden sein müssen. Aber Gerechtigkeit bleibt ein frommer Wunsch, wenn der Analyse und Bekämpfung der Ursachen sozialer Ungleichheit nicht höchste Aufmerksamkeit in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft eingeräumt wird. Und zwar nicht nur im Verhältnis zwischen globalem Norden und globalem Süden, sondern auch im Hinblick auf die Kluft zwischen Reich und Arm innerhalb einzelner Länder. Doch dies rangiert in der politischen Prioritätenliste eher am unteren Rand. Um Ungleichheit abzubauen – so das bis heute herrschende, aber irrtümliche Credo –, müssen vor allem die Wirtschaft wachsen und die Unternehmensgewinne sprudeln. Denn Einkommenszuwächse der Reichen »rieseln nach und nach hinunter« zum Einkommens- und Konsumzuwachs der Armen, der sogenannte Trickle-down-Effekt. Nichts dergleichen geschah. Der Reichtum tröpfelte, der Schwerkraft trotzend, eher nach oben als nach unten.
Genauso illusionär wie der Trickle-down-Effekt war das entwicklungspolitische Credo der sogenannten Kuznets-Kurve10 des Wirtschaftswissenschaftlers und Wirtschaftsnobelpreisträgers Simon Kuznets. Die Kuznets-Kurve besagt in ihrer ursprünglichen Form, dass die Einkommensungleichheit mit steigenden Pro-Kopf-Einkommen während der Entwicklung von der Landwirtschaft zur Industriegesellschaft zunächst zunimmt und dann wieder abnimmt. Die These gilt inzwischen als widerlegt. Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty, der Ökonom Branko Milanović sowie mehrere Ökonom*innen des Internationalen Währungsfonds haben seitdem interessante Erklärungen für die Ursachen von Ungleichheit vorgelegt. Aber die änderten leider nichts daran, dass die Ungleichheit weiterwuchs.
Später kam die Umwelt-Kuznets-Kurve in die Diskussion. Sie sollte illustrieren, dass auch Umweltschäden mit wachsendem Wohlstand zunächst zunehmen, dann aber abnehmen, weil Länder mit hohem Wohlstandsniveau die Natur wieder besser schützen würden.11
Beide Varianten der Kuznets-Kurve dienten als scheinbares Beweismittel dafür, dass der parallele Anstieg von Ungleichheit und Naturzerstörung eine vorübergehende Folge der Wachstumssteigerung sei: Die damit verbundenen Probleme würden sich angeblich im Laufe der Entwicklung quasi von selbst wieder erledigen. Aber die Probleme blieben, und sie nehmen zu: Ungleichheit und Naturzerstörung wuchsen. Nichts wirklich Substanzielles wurde dagegen unternommen. Das gilt besonders für die soziale Ungleichheit: Eine weltweite Agenda zu ihrer Bekämpfung fehlt überall.
Insofern wurde auch die Hoffnung enttäuscht, dass sich aus den Weltgipfeln eine weltweite sozialökologische Reformdynamik entwickeln würde. Das lag auch daran, dass es an konkreten und verbindlichen Zielen mangelte und die Frage zu wenig beantwortet wurde, was nachhaltige Entwicklung im globalen Süden auch für den globalen Norden zu bedeuten hatte sowie für die Überwindung der Kluft zwischen Reich und Arm in hoch entwickelten Ländern.
2015 – das Jahr, das den Lauf der Geschichte ändern könnte
Neue Hoffnung ergab sich durch zwei Pariser UN-Konferenzen im Jahr 2015. Auf der einen wurde das Pariser Klimaschutzabkommen beschlossen und auf der anderen die Agenda 30 mit den 17 Nachhaltigkeitszielen (konkretisiert durch 169 weitere Unterziele), den sogenannten Sustainable Development Goals (SDGs), die nun auch für Industrieländer gelten sollten. Bei der Würdigung der beiden richtungsweisenden Beschlüsse sagt Ban Ki-moon, damaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen: »2015 ist nicht einfach nur ein weiteres Jahr, es ist eine Chance, den Lauf der Geschichte zu ändern.«12 Ban Ki-moon hatte recht: Seit 2015 besteht mit beiden Konventionen erstmals eine völkerrechtlich relevante Chance, dass sich die Weltgemeinschaft auf zwei wirklich umfassende, revolutionäre Agenden für eine sozialökologische Weltransformation einigt.
Natürlich gibt es in jeder Gesellschaft und Wirtschaft schier unendlich viele Wechselwirkungen, Hemmnisse, Konfliktursachen, Machtkonstellationen und Akteursinteressen, die der Umsetzung beider Konventionen und einer sozialökologischen Transformation entgegenstehen. Aber aus dem Zusammendenken beider Agenden ergeben sich eine zentrale Einsicht und auch eine notwendige Bedingung für nachhaltige Entwicklung: Die ökologische Frage kann nur gemeinsam mit der sozialen Frage gelöst werden. Wir finden es sehr ermutigend, dass der Club of Rome mit der internationalen Initiative Earth4All dafür eine weitere und differenzierte wissenschaftliche Grundlage geschaffen hat. Deren transformative Kraft wollen wir am Beispiel von Deutschland weiter stärken.
Die Kippmomente im Klimasystem
Wir alle wissen, dass die Chance, von der Ban Ki-moon sprach, noch nicht ergriffen wurde. Schlimmer noch: Sie steht aktuell ernsthaft auf der Kippe, der Abgrund einer dystopischen Weltentwicklung durch Ausweitung des russischen Krieges gegen die Ukraine und des Krieges im Nahen Osten sowie durch die Zuspitzung der Klimakatastrophe ist näher gerückt. Kriege bedeuten für die Menschen in den betroffenen Ländern entsetzliches Leiden. Eine mögliche katastrophale Folge für die gesamte Weltgemeinschaft liegt nicht nur in der latenten Gefahr einer militärischen Ausweitung oder gar nuklearen Zuspitzung, sondern auch darin, dass die globale Handlungsfähigkeit durch Kriege massiv begrenzt wird. Das ist gerade dort besonders tragisch, wo globale Kooperationsbereitschaft und globales Handeln notwendig sind: beim Klimaschutz.
Besonders bedrückend ist vor diesem Hintergrund, dass die Wissenschaft sogenannte Kippmomente (Tipping Points) im Klimasystem identifiziert hat. Übersteigt die globale Temperatur diese Punkte, besteht das Risiko unumkehrbarer Klimaveränderungen.13 Dies kann eine Art Kettenreaktion auslösen, wenn dadurch weitere Kippmomente ausgelöst werden. Dann kann es zu einer unkontrollierbaren Klimaerwärmung kommen. Abbildung 1.3 zeigt, dass bereits bei einem Temperaturanstieg zwischen ein und drei Grad das Risiko solcher unumkehrbarer Tipping Points besteht: etwa Korallenriffe, die absterben, oder Gletscher und Eisschilde an den Polen, die abschmelzen.
Abbildung 1.3 Globale Kippmomente14
Vor diesem Hintergrund flehten die Mitglieder der UN-Klimakonferenz in Glasgow 2021 nahezu, das 1,5-Grad-Ziel in Reichweite zu behalten. Wörtlich heißt es hierzu auf der Website der Vereinten Nationen: »Die Länder bekräftigten das Ziel des Pariser Abkommens, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen und die Bemühungen fortzusetzen, ihn auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen.«15 Die Teilnehmenden der Internationalen Klimakonferenz, die die globale Klimarahmenkonvention repräsentieren, erkannten an, dass die Auswirkungen des Klimawandels bei einem Temperaturanstieg von 1,5 Grad Celsius viel geringer sein werden als bei einem von 2 Grad Celsius.
Aber die Treibhausgase steigen weiter. Die gemittelte globale Temperatur erreichte von Juli 2023 bis Juni 2024 den Höchstwert von 1,68 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau. Es ist ein schwacher Trost, dass El Niño, ein vorübergehend auftretendes Wetterphänomen, zu diesem Höchstwert beigetragen hat und im langjährigen Mittel die 1,5-Grad-Grenze noch nicht überschritten ist. Das alarmierende Warnsignal bleibt trotzdem. Lässt sich der Lauf der Geschichte noch ändern?
Turn fear into action: Was den Lauf der Geschichte noch ändern könnte
Man könnte in Weltuntergangsstimmung geraten und deprimiert aufgeben. Doch davon raten wir dringend ab. Erstens ist Resignation eine denkbar schlechte Ratgeberin und führt mit Sicherheit zu keiner Trendumkehr. Zweitens gibt es durchaus Grund zum Optimismus, nicht durch Schönfärberei, sondern gestützt auf solide Fakten. Eine riesige Vielfalt guter und wissenschaftlich fundierter Beispiele, wie Klimaschutz weltweit gelingen kann, liefert die Website »The Climate Optimist« der Harvard University aus den USA.16
Menschen, die trotz dieser unzähligen Projektfortschritte und guten Beispiele immer noch exzessiv durch negative Onlinenachrichten scrollen (das sogenannte Doomscrolling), sei die Leitidee der Website ans Herz gelegt: Turn Fear into Action (verwandele Angst in Taten). Am besten gelingt das zusammen mit vielen anderen und, wenn möglich, mit skalierbaren, strategisch wichtigen Projekten.
Wichtige Projekte sind zum Beispiel solche, die positive soziale Kippmomente auslösen können. Sie haben eine ermutigende Kraft und funktionieren im Prinzip wie die Kippmomente im Klimasystem: Eine kleine Veränderung in der Gesellschaft kann zu weitreichenden und umfassenden Veränderungen führen. Denn in vielen Bereichen, auch beim Kampf gegen das Artensterben oder die Vermüllung von Meer und Böden, gibt es hoffnungsspendende und skalierbare Aktionen. Wir benutzen im Alltagsleben und in der Wissenschaft für solche potenziell sprunghaften Veränderungen viele anschauliche Bilder: etwa vom Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Oder vom Schmetterlingseffekt, bei dem eine kleine Veränderung wie der Flügelschlag eines Schmetterlings Ursache einer großen Wirkung sein kann, die den Verlauf von Ereignissen erheblich beeinflusst.
Was könnte ein soziales Kippmoment in Bezug auf das Wirtschaftssystem auslösen? Ein fundamentales und wirksames Kippmoment in der Ökonomie wäre ein breiter gesellschaftlicher Diskurs über die Fragen, welchen Zielen Wirtschaft dienen soll, wie gesellschaftlicher Fortschritt und Lebensqualität für alle gemessen werden können und welche Rolle das Wirtschaftswachstum dabei spielt.
Denn wir gehen davon aus, dass immer mehr Menschen erwarten, dass eine wirkliche Wohlergehensökonomie umgesetzt wird – also eine Wirtschaft, die dem Wohlergehen möglichst vieler Menschen jetzt und in Zukunft dient und nicht vorrangig dem Aktienkurs der Konzerne. Eine Ökonomie, deren Maßeinheit das tatsächliche Wohlergehen aller ist – und nicht das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das den Zustand unserer Erde und das Wohlergehen von Menschen und Tieren gar nicht abbildet.
Da das BIP kein Wohlergehen abbildet, ist es auch kein Wunder, dass sich das wachsende BIP seit den 1970er-Jahren in allen Industrieländern immer weiter von der erfragten Lebenszufriedenheit der Menschen abkoppelt. Brauchen wir dieses Wirtschaftswachstum um des Wachstums willen? Wachstum, das nicht zu mehr Lebenszufriedenheit beiträgt, ist letztlich Wachstum auf Kosten von Umwelt, Mitwelt und Nachwelt – wir sind sicher, dass dies nur wenige wollen.
Ob es Wachstum gibt oder nicht, ist auch letztlich nicht die entscheidende Frage zum Beispiel für den Klimaschutz. Das übergeordnete Ziel ist es vielmehr, durch einen zielorientierten, beschleunigten, wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandel die Treibhausgasneutralität Deutschlands zu erreichen. Branchen mit fossilen Risiko- sowie Hochrisikotechnologien (etwa der Atomenergie) müssen schrumpfen. Grüne Zukunftsbranchen (wie erneuerbare Energien, nachhaltige Mobilität, Energie- und Ressourceneffizienz) und sozial wichtige Bereiche (wie Bildung, Gesundheit, Altenpflege oder Kultur) müssen schneller wachsen. Dieser sozialökologische Strukturwandel führt gleichzeitig zu Wachstum und zu Schrumpfungen – und damit letztlich zur Wohlergehensökonomie. Ob sich dieser Prozess in einem wachsenden oder konstanten Bruttoinlandsprodukt (BIP) zusammenfassen lässt, wird sich zeigen. Vielleicht verliert das BIP als Indikator aber auch seine beherrschende Rolle. Vielleicht ersetzt oder ergänzt ihn ja ein Bruttonationalglück (BNG). Ein Glücksindikator? Das reiche Hochtechnologieland Deutschland wird sich doch wohl nicht ein Beispiel an einem Entwicklungsland wie Bhutan nehmen, wo dieser Indikator schon seit Jahren genutzt wird! Aber warum eigentlich nicht? Bundeskanzler Scholz soll jedenfalls schon mal vom Bruttonationalglück fasziniert sein, wie die Tagesschau titelte.17 Wenn das kein Hoffnungsschimmer ist!
Aber zurück zu den Fakten: Es gibt viele positive und tatsächlich »grüne« Wachstumstrends, die Grund zur Hoffnung auf einen sozial-ökologischen Strukturwandel und vielleicht sogar auf das Auslösen von positiven sozialen Kippmomente sind. Eine kleine Auswahl:
• Die Kosten für erneuerbare Energien (Photovoltaik und Wind) und für Stromspeichertechnologien sinken fulminant.
• Weltweit wachsen die Green-Tech-Branchen wie Energie- und Ressourceneffizienz, nachhaltige Mobilität oder nachhaltiges Wassermanagement.
• EU-weit18 und auch in Deutschland19 gibt es ehrliche Bemühungen, Stoffkreisläufe zu schließen und eine Kreislaufwirtschaft (Circular Economy) zu etablieren. Dies hat große Vorteile für den Klimaschutz und die Versorgungssicherheit.
• Die Bereitschaft wächst, Subventionen für fossile Energien abzuschaffen und Informationen zu den Treibhausgasemissionen von Großunternehmen offenzulegen.
• Die dezentrale Energieerzeugung und Modelle der Bürgerenergien werden verstärkt ausgebaut. Außerdem gewinnen Energieeffizienz und die Einschränkung des Energieverbrauchs an Bedeutung.
• Viele Städte weltweit entwickeln Ansätze nachhaltiger Mobilität und neue Konzepte der nachhaltigen Stadtentwicklung.
• Große institutionelle Investoren des Finanzkapitals orientieren sich stärker an Nachhaltigkeit. Weltweit fordert eine Bewegung den Abzug von Investitionen aus Unternehmen, die fossile Brennstoffe fördern, verarbeiten oder damit handeln (Divestment).
• Soziale Bewegungen und unzählige Sozialprojekte setzen sich für einen Systemwechsel ein, insbesondere, um die sozialen Aspekte mit Klimaschutz integriert zu betrachten.
• Unternehmen müssen Umweltkosten zunehmend selbst übernehmen (internalisieren), zum Beispiel mittels eines CO2-Preises in der EU und weltweit.
Viele wissenschaftliche Zukunftsprojektionen und Szenarien zeigen, dass sich Treibhausgasneutralität und wirtschaftliche Entwicklung vereinbaren lassen. Positive Zukunftsbilder so aufzubereiten, dass eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung und positive Narrative für sozialökologische Veränderung daraus entstehen können, ist eine Motivation für dieses Buch.
Obwohl wir unterstellen können, dass politische und wirtschaftliche Entscheidungsträge*innen im Grunde wissen, dass es keine naturverträgliche Alternative zur sozialökologischen Transformation und zur Treibhausgasneutralität gibt, fällt es vielen dennoch schwer, die notwendigen Entscheidungen zu treffen und sich dafür den notwendigen Rückhalt bei Wähler*innen und Shareholder*innen zu verschaffen. Angesichts der zunehmenden Polarisierung in der politischen Auseinandersetzung für eine breite gesellschaftliche Unterstützung und für visionäre Ziele zu kämpfen, ist enorm anstrengend, manchmal sogar gefährlich und erfordert einen Typus mutiger Politiker*innen und Manager*innen, denen hohe gesellschaftliche Anerkennung gebührt. Denn die erforderlichen Kehrtwenden mit ihren Wechselwirkungen führen in der Summe zu komplexen Herausforderungen. Diese zu analysieren und den Menschen zu erklären, braucht Zeit. Doch die wird immer knapper. Daher brauchen wir eine vorausschauende und proaktive Politik, die Maßnahmen entschlossen umsetzt, die in sich stimmig, langfristig gedacht und weitgehend parteiübergreifend akzeptiert sind.
Game Changer: Positive soziale Kippmomente
Soziale Kippmomente hat es in der Vergangenheit immer wieder gegeben. Und es wird sie mit Sicherheit auch in Zukunft geben. Sie können die eben erwähnten Effekte des sozialökologischen Strukturwandels auslösen und beschleunigen. Noch 1993 gingen Unternehmen der deutschen Energiewirtschaft in einer Zeitungsanzeige davon aus: »regenerative Energien wie Sonne, Wasser oder Wind können auch langfristig nicht mehr als 4 Prozent unseres Strombedarfs decken«. Heute liegt der Anteil schon nahe bei 60 Prozent, Tendenz steigend. Die Lichter sind in Deutschland dennoch nicht ausgegangen, die Versorgungssicherheit ist messbar stabil. Das war zwar kein Selbstläufer, doch die technologische Entwicklung und eine geschickte politische Steuerung haben dies ermöglicht.
Die Erfolgsgeschichte des grünen Stroms in Verbindung mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) zeigt, welche Wirkung Kippelemente haben können. Sie können zu einem echten Game Changer werden und soziale Kippmomente herbeiführen: 2020 haben über 80 Staaten das EEG als Erfolgsmodell für Investitionssicherheit, garantierte Einspeisevergütung und Anschlusspflicht übernommen.20
Oft sind es solche Kombinationen aus sozialen und technischen Treibern, die positive soziale Kippmomente auslösen. Letztere sind quasi positive gesellschaftliche Gegenkräfte gegen die fatalen, aber ebenfalls menschengemachten Kippmomente im Klimasystem.
Schaut man in die Wirtschafts- und Politikgeschichte, gibt es viele solcher Beispiele dafür, ohne dass dafür der Begriff »sozialer Kippmoment« benutzt oder dieser als solcher bewusst gefördert wurde. Politische und soziale Bewegungen haben gesellschaftliche Entwicklungssprünge ausgelöst, etwa der gewerkschaftliche Kampf für Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsrechte, die Abschaffung der Sklaverei, die Bürgerrechtsbewegung in den USA oder die Einführung des Frauenwahlrechts und die weltweite Frauenbewegung.
Manche Entwicklungssprünge waren das Ergebnis langer gesellschaftlicher Kämpfe, manche kamen überraschend: Niemand hat die weltweite Jugendbewegung Fridays for Future vorausgesehen. Auch Bewegungen wie Black Lives Matter, #MeToo oder Occupy haben soziale Durchbrüche bewirkt – wenn auch noch keinen Giant Leap.
Kommt es in einem Land zu sozialen Kippmomenten, kann dies eine Lawine der Nachahmung in anderen Ländern auslösen. Ein Beispiel dafür ist das bereits erwähnte EEG. Ökonomisch treibt der weltwirtschaftliche Wettbewerb solche Veränderungen an, politisch sorgen auch internationale Allianzen und Kooperationen dafür.
Insofern besteht durchaus noch immer die Chance, von der Ban Ki-moon 2015 sprach, bedauerlicherweise weniger in der seinerzeit erhofften Form kooperativen Handelns der Weltgemeinschaft. Heute sind es eher globale Vorreiter (Lokomotiven) oder bi- und multilaterale Kooperationen mehrerer Länder, wie etwa der Climate Club – eine internationale Initiative von Ländern, die Klimaschutzmaßnahmen und die industrielle Dekarbonisierung beschleunigen wollen.21
Eine Vorreiterposition einzunehmen, liegt vor allem in der Verantwortung und auch im Eigeninteresse führender Industrieländer wie Deutschland und der Europäischen Union. Wagen wir ein Gedankenexperiment: Was würde geschehen, wenn Deutschland oder ein anderes Industrieland in den nächsten zehn Jahren den Weg hin zu einem nachhaltigen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell einschlagen würde? Wir behaupten: Das könnte weltweit einen positiven sozialen Kippmoment auslösen. Je mutiger und erfolgreicher Deutschland hierbei vorangeht, desto wahrscheinlicher ist es, dass selbst kleine Veränderungen bei uns eine große Wirkung in der ganzen Welt auslösen.
Was löst soziale Kippmomente aus?
Kann die Politik soziale Kippmomente auslösen? Sicherlich geht das nicht per Knopfdruck oder durch eine Regulierung von oben. Aber die Politik kann Bedingungen schaffen, die ermutigen und die richtige Richtung sichern – und zwar dort, wo Kippmomente erwartet werden können. Ganz wichtig ist: Dafür muss Politik Veränderungen in der Breite auch ermöglichen. Es braucht eine Ermöglichungskultur, in der alle Menschen an den Veränderungen teilhaben und sich einbringen können, zum Beispiel durch nachhaltiges Mobilitäts- und Konsumverhalten.