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Lucas und Asha haben die nahezu vollständige Auslöschung der Menschheit durch die Alien-Invasoren, die Xalaner, überlebt. Sie haben die Erde verlassen und Zuflucht bei den Soranern gesucht, die einen ewig scheinenden Krieg gegen die Xalaner führen.
Lucas und Asha werden die Erdgeborenen - "Earthborn" - genannt und wie Helden, ja fast wie Götter, willkommen geheißen. Vor Millionen Zuschauern legen sie einen Eid ab: Rache für die Zerstörung der Erde zu nehmen und an der Seite der Soraner in den Krieg zu ziehen ...
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Seitenzahl: 647
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Über den Autor
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Impressum
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Über den Autor
Nach Jahren des Konsums von SF beschloss Paul Tassi, seine eigenen Geschichten zu verfassen. Zu diesem Zeitpunkt konnte er sich noch nicht vorstellen, jemals ein Buch fertig zu bekommen, geschweige denn einen Verlag dafür zu finden. Inzwischen will er nie wieder mit dem Schreiben aufhören. Er ist zudem als Journalist für Forbes und andere Magazine tätig und lebt mit seiner Frau in New York City.
PAUL TASSI
EARTHBORN
DER EWIGE KRIEG
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Thomas Schichtel
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:Copyright © 2015 by Paul TassiTitel der amerikanischen Originalausgabe: »The Exiled Earthborn: The Earthborn Trilogy Book 2«Originalverlag: Talos Press, New YorkTalos Press is a registered trademark of Skyhorse Publishing, Inc., a Delaware corporation.
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Dr. Frank Weinreich, BochumTitelillustration: Arndt Drechsler, Regensburg (nach Vorlagen von Paul Tassi)Umschlaggestaltung: Guter Punkt, MünchenE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-3028-1
www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de
Der Krieg war nicht vorbei. Noch nicht.
Lucas zitterte. Er konnte es nicht verhindern. Er hatte sich in den zurückliegenden Jahren mit einem Gefecht nach dem anderen konfrontiert gesehen, aber etwas wie das hier war noch nie dabei gewesen. Nichts hatte ihn auf eine solche Szene vorbereitet.
Vor wie vielen dort draußen sollten sie gleich sprechen? Eine Million? Zwei? Und die schwebenden Linsen ringsherum sendeten alles an einhundert Milliarden weitere.
Er saß auf einer gewaltigen Bühne am Ende einer langen Promenade. Man hatte ihm erzählt, dass hier in alter Zeit Könige gekrönt worden waren – damals, als die Monarchie als Herrschaftsform noch akzeptiert wurde. Einige wenige Dutzend Kolossalstatuen von Kriegern aus jener Zeit, so hoch wie Bäume, erstreckten sich etliche Meilen weit vor ihm. In der Ferne ragten die glänzenden, gigantischen Bauten auf, die das Zentrum der weitläufigen Stadt Elyria bildeten, der bei Weitem größten Stadt des Planeten. Es herrschte mildes Wetter, das sich wie ein Juni in Portland anfühlte; natürlich vor dem Ende der Welt.
Man hatte ihnen gesagt, dass es hier immer so war, einer der vielen Gründe, warum man Elyria als Hauptstadt des Planeten gewählt hatte. Weiße Wolken trieben in großer Höhe über den Himmel, aber die Sonne leuchtete hell und war fast doppelt so groß wie ihr Gegenstück über der Erde. Zum Glück war es nur halb so heiß. Es war Nachmittag, aber man sah nach wie vor die Sicheln zweier Monde am Himmel. Die drei übrigen Monde waren schon lange untergegangen.
Lucas blickte zu Boden, wo man ein archaisches Kopfsteinpflaster mit großer Sorgfalt restauriert und für genau diesen Anlass neu verlegt hatte. Seine schwarzen Schuhe wiesen keine Schnürsenkel auf, die dunkle Hose und die Jacke mit dem hohen Kragen keine Knöpfe. Er kratzte sich den Nacken, der Stunden nach einem Haarschnitt immer noch juckte. Seine ursprünglich kurz geschnittenen Haare waren gewachsen, und ein Team von Stylisten hatte eine Ewigkeit lang dafür gebraucht, bis jedes einzelne sandbraune Haar perfekt lag. Und das, nachdem er einen halben Tag in der Ankleide verbracht hatte, wo das Outfit zusammengestellt wurde, in dem man ihn der Welt vorstellen wollte.
Neben ihm saß Asha, die doppelt so viel Zeit mit ihren Ausstattern verbracht hatte, obwohl sie das gar nicht nötig hatte. Die dunklen Haare waren zu einer Reihe kunstvoller Zöpfe geflochten, ineinander verwoben wie kämpfende Schlangen. Dunkles braun-goldenes Make-up brachte den Glanz ihrer grünen Augen noch deutlicher zur Geltung als jemals zuvor. Sie sah für Lucas hinreißender aus denn je, was jedoch nicht allzu viel hieß, wenn man bedachte, dass sie den größten Teil der Zeit, die er sie kannte, mit Blut und Dreck bedeckt gewesen war. Sie trug ein durchgängig weißes Ensemble als Kontrast zu seinem dunklen Anzug. Das Kleid umschlang sie wie ein Puzzle aus Stoff, und man konnte nur schwer durchschauen, wie es genäht war. Als sie bemerkte, wie sein Bein zappelte, legte sie ihm eine Hand aufs Knie, um ihn zu beruhigen. Er fing ihren Blick auf, und sie lächelte.
Hinter ihnen stand Alpha und zog unbehagliche Blicke der Pressevertreter in den ersten paar Reihen auf sich, wie sicher auch von Milliarden weiterer Leute überall auf dem Planeten. Er hatte jeden Versuch abgelehnt, ihn in maßgeschneiderte Sachen zu stecken; solche Körperbedeckungen galten in der xalanischen Kultur als albern, abgesehen von Gefechtspanzerungen. Und ihm eine solche anzupassen, hätte auf jeden Fall die falsche Botschaft übermittelt. Die Stylisten hatten sich also damit begnügen müssen, seine natürlichen grauen Panzerplatten so gut wie möglich zu polieren, ehe er sie mit gereiztem Knurren verscheuchte.
Rechts von Lucas saß Admiral Tannon Vale, der Soldat mit dem stählernen Blick, der sie eingefangen hatte, als sie in diesem Sonnensystem aufgetaucht waren. In der Zwischenzeit hatte er sich einen hellen silbernen Bart stehen lassen und trug auf der Brust ein paar neue Auszeichnungen, die er seit ihrer ersten Begegnung erworben hatte. Ein Dutzend weitere Plätze ringsherum waren von militärischen und politischen Würdenträgern besetzt. Lucas hatte gehört, dass sich viele von ihnen seit Monaten um einen Platz auf der Bühne beworben und dabei alle möglichen Zahlungen und Vergünstigungen versprochen hatten, um an vorderster Front am bedeutsamsten Weltereignis ihrer Lebenszeit teilzunehmen.
Hochkanzlerin Talis Vale, die Herrscherin des ganzen Planeten Sora, saß neben ihrem jüngeren Bruder. Sie erhob sich, sobald ihr Staatssekretär damit fertig geworden war, sie den Massen vorzustellen. Ihre blauen Augen funkelten, als sie über Lucas glitten, und sie fasste unterwegs zum Rednerpult kurz an seine und Ashas Schulter. Sie trug ein fließendes Kleid von blasser Smaragdfarbe, das hinter ihr im Wind flatterte, als sie das Zentrum der Bühne erreichte. Stille breitete sich wie eine Meereswoge in der Menge aus, und selbst jene, die meilenweit entfernt waren, wurden tödlich still und schauten zu, wie ihre Anführerin in schwebende Mikrofone sprach.
»Grüße, Volk von Sora«, leitete sie ihre Worte ein. »Der heutige Tag markiert einen Wendepunkt nicht nur im Großen Krieg, sondern in der gesamten Geschichte unserer Zivilisation. Heute erfahren wir, dass wir nicht allein sind in diesem Kampf oder in diesem Universum. Heute werden wir Zeugen des Beginns einer neuen Epoche.«
Sechs Monate. So lange lag die schicksalhafte Schlacht an Bord der Arche zurück. Nun ja, sechs soranische Monate, von denen jeder zwanzig Tage von je siebenunddreißig Stunden Dauer umfasste.
Ungeachtet der ersten Feststellungen von Tannon Vales Wissenschaftlerteam hatte es außergewöhnlich lange gedauert, bis man den Reisenden ihre unmögliche Story abnahm; ein toter Planet, eine ausgestorbene Lebensform und eine Reise von Billionen Meilen wirkten einfach zu weit hergeholt, egal was die anfänglichen Daten aussagen mochten. Am weitesten verbreitet war die Theorie, dass sie eine Art xalanisches Wissenschaftsprojekt darstellten – ein verdecktes Experiment, der Versuch, die ursprünglichen Vorfahren der Kreaturen wiederherzustellen, nämlich die Soraner. Lucas, Asha und Noah wurden jeder auf Monate hinaus in Isolation gehalten und endlosen Tests ihrer Physiologie unterzogen. Man entnahm ihnen Rückenmarksflüssigkeit, Gehirnzellen, Muskelgewebe und alle möglichen anderen Teile, um ihre Behauptungen zu überprüfen. Zum Glück war das ein schmerzloser Vorgang, aber Lucas fürchtete um die Verfassung seiner Reisegefährten, da er für eine Zeitspanne, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, keinerlei Informationen über sie erhielt und auch keinen Kontakt mit ihnen aufnehmen durfte.
Man fragte sie nach der Erde, und Lucas sah sich gezwungen, ein so klares Bild vom Planeten und seiner Geschichte zu zeichnen, wie er es aus dem Gedächtnis nur hinbekam. Seine anschauliche Schilderung der xalanischen Invasion passte zur eigenen Kriegsgeschichte der Soraner, aber erst, als die genetischen Testergebnisse zwanzigfach verifiziert waren, wurde ihm allmählich Glauben geschenkt. Alpha lieferte den Soranern die exakten Koordinaten der Erde, und so konnten ihre Wissenschaftler mit Hilfe der eigenen astronomischen Technologie einen Eindruck von Lucas’ ehemaliger Welt erhaschen, wenn auch den einer viel brauneren und graueren Welt, als sie in den Unterlagen gespeichert war. Ihnen mangelte es an der Fähigkeit, dorthin zu reisen, da die einzigen weißen Nullkerne auf dem Planeten, die dieser Aufgabe gewachsen gewesen wären, nach wie vor fest in zwei immer noch gefährliche xalanische Schiffe eingebaut waren. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die beiden Menschen reichten jedoch, dass die Neuankömmlige entspannter behandelt wurden und Lucas im dritten Monat der Gefangenschaft zu erlauben, dass er seine Gefährten besuchte.
Als ersten seiner alten Mannschaftsgefährten sah er Alpha, den man seiner mechanischen Hand beraubt, aber den Translatorkragen gelassen hatte, um ihn befragen zu können. Er empfing Lucas herzlich und machte sich daran, in einem Tempo, dem Lucas nicht folgen konnte, von den drei zurückliegenden Monaten zu erzählen.
Als Nächstes besuchte Lucas Asha, die ihn heftig drückte, als sie ihn erblickte. Vertraute Gefühle meldeten sich zurück. Was sie zu erzählen hatte, sprach von einer nahezu identischen Behandlung durch die Soraner, die entschieden und erschöpfend war, aber ohne Grausamkeiten auskam. Sofort war jedoch zu sehen, dass sie nicht mehr schwanger war wie beim letzten Mal, als sie zusammen gewesen waren. Ehe Lucas den Mund zu einer Frage aufbekam, wurde eine neue Tür geöffnet.
Noah, den sie als Baby aus einem Kannibalenlager im ehemaligen Norwegen gerettet hatten, war für seinen Aufenthalt in der geheimen Einrichtung einem Betreuerteam zugewiesen worden. Lucas reagierte benommen auf den Anblick des Jungen, den eine Pflegerin an der Hand führte. Das inzwischen kräftig gewachsene Kind tapste auf ihn zu und schlang ihm die Ärmchen ums Knie, während im strahlenden Gesicht ein breites Lächeln prangte. Noah, der jetzt älter als ein Jahr war, hatte ohne Asha und Lucas in der Gefangenschaft laufen gelernt.
Später wurden sie alle zu einer weiteren Sicherheitszone im unterirdischen Komplex geführt. Als sich die Schiebetür öffnete und Lucas sah, was darin zu finden war, ging ihm das Herz auf. Asha erkannte die Freude und Erleichterung in seinem Gesicht und lächelte. In einem Tank vor ihnen schwebte ein kleines Kind. Na ja, die Gestalt eines Kindes. Es war ein drei Monate alter Fötus, der in künstlichem Fruchtwasser an Schläuchen und Kabeln hing. Das war sein Kind. Ihr gemeinsames Kind.
Natürliche Geburten waren schon seit Jahrhunderten verboten auf Sora. Befruchtete Eizellen wurden den Müttern kurz nach der Empfängnis entnommen, und die Kinder kamen dann in Geräten wie dem zur Welt, das sie hier vor sich sahen. Die Sterblichkeit von Müttern und Neugeborenen war dadurch fast auf null gesunken. In den Tanks erfolgten genetische Eingriffe an den Kindern, die alle möglichen künftigen Krankheiten und Schwächen verhinderten. Tränen stiegen Lucas in die Augen, während er vor der winzigen Gestalt stand; sie rannen ihm die Wangen hinab, als Asha ihm erklärte, dass es ein Junge war.
Es existierte eine Sekte, die den dreien nicht traute, und allen fiel es schwer zu glauben, dass Alpha der erste Xalaner seit Jahrhunderten war, der wirklich zum Verräter wurde. Aber eine Welle wissenschaftlicher und taktischer Kenntnisse nach der anderen, die er den Soranern vermittelte, ließen sie allmählich ihre Haltung ihm gegenüber überdenken. So beschrieb er ihnen ausführlich das Verfahren, wie man die weißen Nullkerne für Langstrecken herstellte, und obwohl es mindestens zehn Jahre dauern würde, das nötige Element zu synthetisieren, machte sich ein Wissenschaftlerteam unter seiner Leitung fast sofort an die Arbeit, um diese Entwicklung einzuleiten. Die Information, dass die Xalaner Welten wie die Erde erobert hatten und dort ihre Ressourcen auffüllten, schloss zahlreiche Wissenslücken des Militärs. Lange hatte man darüber gerätselt, wie die Xalaner mit einem an Ressourcen so armen Planeten wie Xala den Krieg über Jahrtausende hinweg hatten in Gang halten können.
Endlich wurde den Soranern klar, dass sie keine weiteren Einwände gegen die wissenschaftlichen Resultate vorbringen konnten: Die unterschwelligen genetischen Unterschiede, das Bild der Erde, die umfangreichen Erkenntnisse über die Kolonialplaneten und Xala selbst ließen keinen Raum für weitere Zweifel an den Erzählungen der Menschen und des Xalaners. Entweder hatten sie es hier mit dem ausgeklügeltsten und intelligentesten Infiltrationsprojekt der xalanischen Geschichte zu tun – einer Historie grausamer Kreaturen, die berühmt waren für ihren brachialen Ansatz in der Kriegsführung –, oder diese seltsamen Besucher sagten die Wahrheit. Ihre Zellen wurden bequemer, die Mahlzeiten genießbarer (es war wunderbar, wieder feste Nahrung einzunehmen, selbst wenn Lucas nichts auf dem Teller wiedererkannte), und eine gefährliche Entscheidung wurde getroffen. Man würde ihren Wunsch erfüllen.
Sie würden Talis Vale begegnen.
Die Hochkanzlerin behielt sie seit Monaten durch zentimeterdickes unzerstörbares Glas im Auge, aber schließlich erteilte sie ihren besorgten Sicherheitsleuten den Befehl, ihr eine Begegnung mit den Reisenden zu ermöglichen. Ohne irgendeine Behinderung. Ohne Wachleute. Die Idee erschien allen außer ihr verrückt, aber Talis erklärte, es wäre die einzige echte Prüfung, um aller Welt die Sorgen ein für allemal zu nehmen.
Lucas, Asha und Alpha verließen endlich ihren unterirdischen Bunker und wurden in Schwebefahrzeugen mit geschwärzten Fenstern in den eigentlichen Palast gebracht, wobei sie selbst innerhalb der Fahrzeuge noch zusätzlich geschwärzte Brillen tragen mussten.
Das Licht erreichte sie schließlich in einem außergewöhnlich prunkvollen Raum wieder, vollgestellt mit seltsam aussehenden Möbeln und Wänden, die von epischen Schlachtengemälden verziert wurden. Die meisten davon wirkten alt und zeigten soranische Krieger, bewaffnet mit Schwertern und Speeren. Schließlich gingen die Kunstwerke zur Darstellung modernerer Kriege über. Zentralstück war ein riesiges dreidimensionales Hologramm mit der Beschriftung »Die Schlacht von Golgath«. Darin lieferten sich Xalaner und Soraner eine Schlacht bis in den tausendfachen Tod. Lucas hatte keinerlei Vorstellung von der Zeitspanne, die nötig gewesen war, um etwas so Detailliertes anzufertigen. Bei näherem Hinsehen entdeckte er sogar individuelle Spuren von Wut und Grauen in den soranischen Gesichtern.
Talis Vale betrat den Raum lautlos, und sobald die drei bemerkten, dass sie eingetroffen war, rissen sie sich von den Gemälden los und wandten sich ihr zu. Die Hochkanzlerin trug ein schlichtes blaues Kleid und hatte die silbernen Haare zu zwei vertikal angeordneten Knoten ganz oben am Schädel hochgesteckt. Sie war eindeutig älter, als sie auf den Bildern wirkte, die sie von ihr gesehen hatten, aber ihre Haut war glatt und das Gesicht von nur wenigen Falten gezeichnet. Da waren keinerlei Wachleute mit ihnen in diesem Raum, und die drei konnten sich völlig ungehindert bewegen. Das war die Prüfung. Wenn sie wirklich Meuchelmörder waren, erhielten sie hier die Chance, die mächtigste Person des Planeten mühelos umzubringen. Das Arrangement verriet, in welchem Ausmaß Talis ihnen und ihrer Geschichte Glauben schenkte.
Offensichtlich kam es zu keinem Blutvergießen, denn die Gruppe hegte keinerlei mörderische Absichten gegenüber einer Frau, die zu finden sie die halbe Galaxis durchquert hatten. Sie plauderten mit ihr über die Erde vor dem Krieg, über die Fürsorge für Noah auf einem Raumschiff und andere nette Dinge. Als Talis nach einer Weile davon überzeugt war, dass die Außenweltler, die vor ihr saßen, sie nicht umbringen würden, verriet sie ihnen ihre eigentliche Absicht.
»Ihre Geschichte ist unglaublich, und sie wird von überwältigenden Beweisen gestützt. Ihr heutiges Handeln demonstriert, dass Sie keine Gefahr für mich oder mein Volk darstellen. Ich frage Sie: Werden Sie unsere Bundesgenossen in diesem Krieg gegen Xala sein?«
Lucas beugte sich auf dem Plüschsofa vor, auf dem er saß.
»Natürlich. Unser Volk existiert jedoch nicht mehr. Nur wir sind übrig.«
Talis lächelte.
»Ja, aber Sie haben überlebt. Ich streite seit vielen Wochen mit meinen Ratgebern über dieses Thema, aber ich möchte Sie der Welt vorstellen. Ich möchte Milliarden zeigen, dass Soraner, Menschen, überall in der Galaxis verstreut leben und unter der Faust der Xalaner nicht weniger gelitten haben als wir.«
»Eher mehr«, sagte Asha barsch.
Talis fuhr fort: »Sie sind ganz schlicht die größte Entdeckung in der Geschichte unseres Planeten. Seit unzähligen Generationen suchen wir nach Leben in der Galaxis, und endlich kommen Sie zu uns. Und Sie gleichen uns auch noch so sehr. Das ist unglaublich, finden Sie nicht auch?«
»Ich erinnere mich noch, wie mein Volk zum ersten Mal von der Existenz der vielen soranischen Planeten erfuhr«, sagte Alpha, dessen Kragenkommunikator die metallische Stimme projizierte. »Es war unmöglich, außergewöhnlich.«
»Ich überlasse es den Wissenschaftlern zu ergründen, wie es dazu gekommen ist. Bis dahin stehen wir jedoch vor einem dringlicheren Problem. Im Gegensatz zu dem Eindruck, den dieser Raum vielleicht erweckt, finden wir keinen Gefallen am Krieg, und wir tragen schon zu lange einen Kampf gegen die Xalaner aus, der anscheinend niemals endet. Durch die Inspiration, die Sie für unseren ganzen Planeten verkörpern werden, und auf Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnisse, die wir von Ihnen erhalten können, Alpha, kann dieser Konflikt vielleicht endlich beigelegt werden.«
»Aber auf welche Weise?«, fragte Alpha. »Sie erreichen die Kolonialplaneten noch auf Jahre hinaus nicht. Selbst wenn Sie es könnten, wären Sie mit einer Übermacht konfrontiert.«
Talis schüttelte den Kopf.
»Nein, Gewalt allein funktioniert seit Jahrtausenden nicht, und darin liegt auch nicht die abschließende Lösung, um die wir bemüht sind. Der wichtigste Aspekt der von Ihnen gelieferten Informationen besteht darin, dass die Xalaner ihren tatsächlichen Ursprung nicht kennen und vergessen haben, dass wir ihre Schöpfer sind.«
»Wir haben es nicht vergessen. Wir werden einfach belogen«, sagte Alpha. Talis nickte beifällig.
»Eine monströse Lüge, ganz sicher. Falls Ihre Erkenntnisse über die Instabilität in den planetaren Kolonien zutreffen, können wir die Wahrheit aufdecken, die Ihr Vater herausgefunden hat. Das wird es Ihrem Volk ermöglichen, die eigene grausame Führungsspitze zu stürzen. Ich könnte mir vorstellen, dass diese Offenbarung zu einer derartigen Entwicklung führen würde, oder?«
»Das ist möglich«, sagte Alpha. »Der Rat wahrt das Geheimnis aber schon seit einer Ewigkeit und hat alle zum Schweigen gebracht, die es aufdecken wollten. Welche Hoffnung haben wir, ein anderes Ergebnis zu erzielen?«
Talis beugte sich über den Tisch vor ihnen und steckte sich eine kleine runde blaue Frucht in den Mund.
»Das ist Gesprächsthema für einen späteren Zeitpunkt. Vorläufig muss ich wissen, ob Sie auf meiner Seite stehen. Sind Sie bereit, einhundert Milliarden Soranern Ihre Geschichte zu erzählen?«
Lucas kehrte auf der Bühne ruckartig in die Gegenwart zurück. Talis rühmte schon seit einigen Minuten die Tapferkeit und Kühnheit der drei, und die Menge war unter der erschütternden Erkenntnis verstummt, dass fremde Wesen nicht nur existierten, sondern auch noch genauso aussahen wie sie. Hinter ihnen war eine Riesenschale in den Boden eingelassen, und aus ihr sprangen jetzt zwei riesige holografische Porträts von Lucas und Asha hervor, damit alle Welt sie ansehen konnte.
Talis kam inzwischen zum Abschluss. Es war ohnehin geplant, dass das Hauptaugenmerk auf ihnen beiden ruhte, aber Lucas fuhr doch zusammen, als er seinen Namen hörte und sah, wie Talis den Arm nach ihm und Asha ausstreckte und sie einlud vorzutreten.
»Ich stelle Ihnen die Erdgeborenen vor, Lucas und Asha!«
Er stand auf, Asha ebenso. Sie packte seine Hand mit festem Griff, und er spürte, dass sie ebenso von Schweiß bedeckt war wie seine. Wie es schien, fürchtete die unerschrockene Kriegerin doch das eine oder andere.
Dabei war dieser Empfang so gut, wie sie es sich nur hatten wünschen können. Alpha hatte in jeder Hinsicht recht behalten, was die Reaktion der Soraner auf ihre Ankunft anbetraf. Nachdem das Misstrauen und der Argwohn des ersten Augenblicks vorbei war, begrüßte man sie als Helden. Praktisch als Götter.
Lucas’ Beine hörten lange genug auf zu zittern, um es Hand in Hand mit Asha zum Rednerpult zu schaffen. Nichts hier erinnerte an ein Mikrofon, aber Kamerabots wirbelten um sie herum und sendeten jeden möglichen Blickwinkel auf das Paar in sämtliche Ecken des Planeten. Hinter ihnen zeigte das Riesenhologramm jetzt den gigantischen Globus einer blauen und grünen Erde, der fünfzehn Meter hoch aufragte.
Lucas räusperte sich.
»Hallo«, sagte er zu den Massen und erstarrte, als ihm bewusst wurde, dass er das Wort auf Englisch gesprochen hatte. Nach all seinen Lektionen an Bord der Arche und weiterer Schulungen, die er für diesen Tag durch soranische Sprachausbilder erhalten hatte, hatte er sich gleich vom Start weg verhaspelt. Asha mischte sich ein und rettete ihn.
»Grüße«, sagte sie in perfektem Soranisch, wandte sich wieder Lucas zu und schenkte ihm ein listiges Lächeln.
»Ich bin Lucas, und das ist Asha«, fuhr er in der richtigen Sprache fort. »Und wir kommen von einem Planeten namens Erde.«
Er konnte die Augen in den vordersten Reihen sehen, und sie waren vor Staunen weit aufgerissen. Ein paar Menschen waren sogar auf die Knie gesunken – ob in Ehrfurcht oder vor Entsetzen, das war für ihn nicht zu erkennen.
»Wie Sie fühlten wir uns wie betäubt, als wir erfuhren, dass wir Brüder und Schwestern zwischen den Sternen haben. Es ist schade, dass sich unsere beiden Zivilisationen nicht schon in einer friedlichen Zeit begegnet sind, denn wegen der Xalaner ist unser Planet nur noch eine Erinnerung. Geblieben sind lediglich Unterlagen und Geschichten, die Sie über die kommenden Tage, Monate und Jahre hören werden.«
Sämtliche Informationen über die Erde, sowohl aus ihren eigenen Aussagen als auch Alphas Aufzeichnungen, sollten in das freigegeben werden, was die Soraner schlicht den »Strom« nannten. Dieser war ein konstanter Fluss von Informationen, von Kommunikation und Unterhaltung, der so etwas wie eine Kombination aus sämtlichen Medien der Erde darstellte. Nach der Rede sollte das Archiv live zugänglich werden, sodass jeder Soraner alles kennenlernen konnte, was es vom verlorenen Planeten Erde noch zu erzählen gab.
»Wir haben erfahren, dass unsere Welt nur eine von vielen voller Menschen …« – Ups! – »… Soraner war«, korrigierte er sich. »Eine von vielen Welten, die der xalanischen Kriegsmaschine geopfert wurden. Diese anderen Planeten wurden ebenso verwüstet wie die Erde, aber wir waren die einzige Welt, die sich wehren konnte.«
Das Hologramm hinter ihnen zeigte jetzt die verschiedenen Schlachtenszenen der Überfälle auf fremde soranische Welten, die Alpha ihnen an Bord der Arche gezeigt hatte. Die Zivilisationen reichten bezüglich ihrer Entwicklung von Höhlenmenschen bis zu so etwas wie Städten aus der Zeit der industriellen Revolution, wie es sie einst auch auf der Erde gegeben hatte. Keiner dieser Planeten verfügte jedoch über die Fähigkeit, die Angreifer auf die Art und Weise abzuwehren, wie es die Erde getan hatte. Deren Technik war gerade ausreichend weit entwickelt, um die Zerstörung der angehenden Eroberer in die Wege zu leiten, wobei allerdings auch der eigene Planet allen Lebens beraubt worden war.
Die Menge schnappte immer wieder nach Luft, während sich die Verwüstung ausbreitete, und einige wenige Leute schrien sogar. Das Hologramm wechselte zu einer Schlacht auf der Erde, bei der gerade ein xalanisches Mutterschiff von einer Atombombe zerfetzt wurde, die direkt in ihm einschlug.
»Wir haben sie abgewehrt, aber unser Planet war vergiftet und starb. Wir erfuhren wenig später von der fernen Welt ›Sora‹, voller Lebewesen wie wir, und wussten, dass nur dort Rettung zu finden sein würde.«
Lucas drehte sich zu Asha um, deren Haare leicht in der warmen Brise wehten. Sie nickte und übernahm die Ansprache, wie sie es zuvor vereinbart hatten.
»Wir entkamen unserer Welt im letzten einsatzfähigen Raumschiff und mit der Hilfe eines Freundes – eines exilierten Xalaners namens Alpha«, sagte sie.
Das Hologramm zeigte nun Alpha, der hinter ihnen saß und eine stoische Miene an den Tag legte. Zahllose Augenpaare weiteten sich vor ihnen.
»Wir lernten, dass nicht alle Xalaner blutrünstig sind; viele wünschen sich Frieden. Da er sich geweigert hatte, die grausamen Befehle seiner Vorgesetzten auszuführen, brandmarkte man Alpha als Verräter, und Oberkommandant Kurotos jagte ihn persönlich durch die Galaxis.«
Kurotos nannten die Soraner Omikron, der in ihrer Geschichte als Schreckensgestalt präsent war, berüchtigt für seine Brutalität während der Jahrhunderte des galaktischen Krieges.
»Der Schatten brachte Alphas Familie auf Xala wegen dieses sogenannten Verrats um; einen Clan von herausragenden Wissenschaftlern. Alphas herausragende Intelligenz wollte er sich für die Kriegsanstrengungen durch Zwang sichern. Doch Alpha weigerte sich, und wir halfen ihm. Nachdem er uns von der Erde aus verfolgt hatte, enterte Kommandant Kurotos unser Schiff, sobald wir soranischen Raum erreicht hatten. Es war der letzte Fehler, den er jemals machen sollte.«
Das Hologramm zeigte Bilder der Autopsie des blauäugigen, schwarzhäutigen Xalaners, der tot in einer soranischen Zelle lag. Die Menge war zu benommen von dem, was sie gehört hatte, um auch nur zu jubeln. Die Stille einer Million Menschen wirkte verstörend auf Asha und Lucas.
»Wir wurden von Ihren Führungspersonen freundlich empfangen, und es wurde die Entscheidung getroffen, unsere Geschichte der Öffentlichkeit zu erzählen. Sie sollen wissen, dass Sie in diesem Kampf nicht allein sind. In diesem Krieg geht es nicht nur um das Schicksal Ihres Planeten, denn von den Xalanern geht eine Gefahr für jedes Sonnensystem und jeden bevölkerten Planeten aus, den bekannten wie den unbekannten.«
Viele Punkte durften sie in dieser Rede nicht ansprechen. Untersagt war ihnen jeder Hinweis darauf, dass man Omikrons Schiff erbeutet hatte, das inzwischen einige Meilen tief unter der Erde in einem geheimen Labor lag. Man hatte ihnen geraten, nicht von der anfänglichen Skepsis der Regierung gegenüber ihren Behauptungen zu sprechen oder davon, dass die Xalaner den Krieg aufgrund der falschen Annahmen führten, die Alphas Vater aufgedeckt hatte. Bestimmte Einzelheiten der letzten Jahre auf der Erde waren als zu grauenhaft eingestuft worden, um sie zu verbreiten. Ebenso wenig durften sie von den elf anderen Menschen sprechen, die Alpha eingesammelt hatte, ehe er ihnen begegnet war. Diese waren inzwischen aus der Arche geborgen worden und wurden in hirntoter Stasis aufbewahrt. Derlei Dinge »braucht die Öffentlichkeit nicht zu wissen«, und was sie bisher berichtet hatten, reichte als Stoff, den die Welt erst einmal verarbeiten musste, auch vollkommen aus. Lucas konnte sich nicht vorstellen, dass zwei Soraner, die auf der Erde aufgetaucht wären, eine ähnliche Botschaft von der Treppe des Weißen Hauses aus hätten verbreiten dürfen.
»Wir sind nun sicher hier eingetroffen, aber wir sind nicht allein gekommen. Wir haben den letzten Sohn der Erde mitgebracht, Noah …«
Das Hologramm zeigte einen strahlenden Noah, der mit seinem geliebten Holoball spielte. Er tapste gänzlich ohne Grazie durch sein Zimmer. Die blonden Locken waren inzwischen länger und wellig.
»… und bald begrüßen wir auch unseren ersten Sohn auf Sora.«
Das Bild wechselte zu dem Tank, in dem das inzwischen sechs Monate alte Kind heranwuchs. Lucas sah eine ganze Menge Leute in den vordersten Reihen lächeln. Er führte die Ansprache jetzt wieder anstelle Ashas fort.
»Wir danken Ihnen dafür, dass Sie uns auf Ihrer Welt willkommen heißen. So sicher wir hier auch sind und so hart unsere Reise war, werden wir uns nicht damit zufriedengeben auszuruhen, solange die xalanische Gefahr besteht. Daher haben Asha und ich uns der Soranischen Verteidigungsinitiative verpflichtet, wo wir einen Beitrag zur endgültigen Beendigung des Krieges zu leisten hoffen. Mit Hilfe eines der führenden xalanischen Wissenschaftler, der inzwischen auf unserer Seite steht, und Ihrer standhaften Unterstützung werden wir diesen Konflikt für immer beilegen. Danke, dass Sie uns in Ihrer Heimat aufnehmen.«
Stille trat ein, während Lucas und Asha unbehaglich am Rednerpult standen. Summende Generatoren erzeugten vor ihnen ein nahezu unsichtbares Kraftfeld, das sie vor dem Mob abschirmen würde, falls die Lage unerfreulich werden sollte. Lucas’ Blick wanderte forschend über die Gesichter der Menge und suchte nach einem Hinweis auf das, was jetzt geschehen würde.
Jemand schrie. Dann noch jemand und eine weitere Person. Wie eine Welle rissen die Menschen nacheinander die rechten Fäuste in die Luft und jubelten. Das war in der soranischen Kultur ein Zeichen des Respekts, und bald ragten vor ihnen eine Million Arme auf, während das Tosen der Menge zu ohrenbetäubender Intensität anstieg. Lucas strahlte, während sich Asha auf die Lippe biss und ein zunächst zögerliches, dann aber strahlendes Lächeln zeigte.
Hatten sie ein neues Zuhause gefunden? In diesem Augenblick fühlte es sich ganz gewiss so an.
Die Rede trug Lucas viel freundliches Lächeln und eine Menge Glückwünsche von der Art Notabeln und Offiziere ein, die ihn in den vergangenen sechs Monaten durch Spiegelglas hindurch beobachtet hatten. Der Nachrichten-Stream zeigte Szenen von Jubelfeiern in vielen größeren Städten des Planeten, auch wenn schon hier und da Leute auftraten, die behaupteten, das ganze Ereignis wäre reine Kriegspropaganda. Eine politische Gruppierung, genannt das Vierte Gebot, behauptete, die Neuankömmlinge entstammten keinerlei fremdem Planeten, sondern wären einfach genetisch manipulierte soranische Konstrukte, die für die Unterstützung des Krieges trommeln sollten. Dazu kamen Leute, die von einer xalanischen Verschwörung unter Leitung des Doppelagenten Alpha ausgingen, wobei die genetischen Monstrositäten Lucas und Asha die Aufgabe hatten, das Ende Soras einzuleiten, indem sie die Regierung von innen stürzten. Das Team, das Lucas begleitete, versuchte ihn von den Bildschirmen wegzuführen, wann immer solche Anschuldigungen vorgebracht wurden.
Lucas war jedoch weiter in Hochstimmung, ausgelöst durch den donnernden Jubel von Millionen Soranern, und nichts konnte ihm die Stimmung verderben. Er und Asha wurden voneinander getrennt und einer weiteren Ansammlung von Stylisten zugeführt, die sie für den nächsten großen Auftritt vorbereiten sollten: die Erdgala.
Dabei handelte es sich um eine vor Wochen angekündigte Versammlung, deren zentrales Thema man jedoch geheim gehalten hatte. Der jetzt verkündete Zweck der Feier bestand darin, die Neuankömmlinge der soranischen Elite persönlich vorzustellen; von Industriekapitänen bis hin zu mächtigen Politikern und Militärs. Talis versicherte den beiden, dass sie sich über die meisten Leute, denen sie dort begegneten, gründlich ärgern würden, dass sie selbst aber keine Ruhe mehr haben würde, wenn sie die beiden Menschen vor ihren eigenen Bundesgenossen überall auf Sora abschirmte – nachdem die Nachricht von ihnen erst einmal an die Öffentlichkeit gelangt war. Würdenträger planten seit Wochen für das Ereignis, ungeachtet aller Geheimhaltung. Diese Leute waren nicht nur aus allen Winkeln der Welt angereist, sondern auch von einigen Kolonien auf den spärlich besiedelten nahen Planeten innerhalb dieses Sonnensystems.
Die Stylisten ließen Lucas’ Haare dieses Mal zum Glück in Ruhe, aber sie steckten ihn in einen neuen Anzug, der für ganz besonders förmliche Anlässe gedacht war. Er ähnelte seinem Vorgänger, dunkel mit einem hohen Kragen, zeichnete sich aber durch eingearbeitete Muster aus kobaltblauem Stoff aus, die als Indikatoren hochklassiger Bekleidung galten.
»Sie sollten sich geehrt fühlen«, sagte eine Stylistin. Es war eine ältere Dame, deren Haare zu einer Art Wirbelsturm hochgesteckt und in verschiedenen Rottönen gefärbt waren. »Diesen Anzug hat Jolo Houzan persönlich für Sie genäht. Allein seine Entwürfe kosten mindestens hunderttausend Mark, selbst wenn sie nicht maßgefertigt sind.«
Lucas kannte weder Jolo Houzan, noch wusste er, ob hunderttausend Mark ein großer Betrag waren. Er lächelte einfach, nickte und fragte sich, wie viele Mark wohl gerade nebenan in Ashas Erscheinung gesteckt wurden.
Nach so langer Abgeschiedenheit war es für Lucas ein komisches Gefühl, den ganzen Tag lang wie ein König behandelt zu werden. Während man ihn ausstattete, schneite ein attraktives junges Mädchen mit kurzen rotbraunen Haaren und meergrünen Augen herein, um seine Präparty-Essensbestellung aufzunehmen. Soraner verzehrten gewöhnlich fünf Mahlzeiten am Tag. Das einzige Lebensmittel im Angebot, das er beschreiben konnte, war ein Stück mehr oder weniger orangefarbenes Fleisch, das er schon einmal gekostet hatte; der Rest des holografischen Menüs, das vor ihm in der Luft schwebte, ergab nicht den geringsten Sinn. Das bloße Erlernen der Sprache hatte ihm noch nicht viel über die Besonderheiten des Lebens auf Sora verraten können. Er wusste jedoch, dass das orangene Fleisch köstlich schmeckte, was sich erneut bestätigte, als es ihm wenig später aufgetischt wurde, von dem Mädchen selbst geliefert und von einem anhaltenden Lächeln begleitet. »Versengtes Charo« hieß das Gericht. Er fragte sich, wie wohl das Tier aussah, von dem es stammte. Obwohl Menschen genauso aussahen wie Soraner, unterschied sich die Fauna dieses Planeten deutlich von der auf der Erde.
Endlich verließen ihn all die Dienstboten und Stylisten, sodass er sich friedlich hinsetzen und die letzten Bissen seiner Mahlzeit genießen konnte. Er starrte in den Spiegel und erkannte den Mann kaum, der seinen Blick erwiderte. Er unterschied sich stark von dem abgezehrten Überlebenskünstler, der über eine verwüstete Erde gestreift war, und auch von dem blutbespritzten Soldaten, der allein im vergangenen Jahr mehr Außerirdische und Menschen umgebracht hatte, als er zählen konnte. Vor sich sah er einen Mann von nobler Erscheinung mit Sturmfrisur, durchdringenden grauen Augen und einer gesunden Gesichtsfarbe. Außerdem steckte der Typ in einem Hunderttausend-Mark-Anzug. Lucas war jedoch klar, dass dieser Mann wieder verschwinden würde, sobald er sein Versprechen erfüllt hatte, sich der soranischen Verteidigungsinitiative anzuschließen.
Es hatte Wochen gedauert, Talis dafür zu gewinnen, dass sie dem Militär beitreten durften. Letztlich überzeugte ihr Bruder Tannon sie, die Neuen offiziell aufzunehmen und als Bannerträger des Krieges zu präsentieren. Die Tapferkeit dieser Neuankömmlinge, die so viel durchgemacht hatten und trotzdem noch immer kampfbereit waren, würde ganz Sora inspirieren, meinte er. Und wenn man nach der bisherigen Reaktion der Öffentlichkeit ging, hatte Tannon damit recht behalten.
Lucas und Asha hatten unter vier Augen darüber diskutiert. Sie entschieden, dass sie nicht mit sich selbst würden leben können, wenn sie einfach gar nichts taten, während ringsherum der Krieg tobte. Die xalanischen Kreaturen hatten ihnen alles genommen, was ihnen lieb war, ihre ganze Welt, und wer konnte schon sagen, ob sie nicht noch einen Planet voller Unschuldiger fanden und mit denen sie das Gleiche anstellten? Selbst wenn der Krieg nicht sofort gewonnen werden konnte, mussten die Erdgeborenen ihren Beitrag leisten. »Erdgeborene« war als Bezeichnung haften geblieben, und wie Lucas dem Stream an der Wand gegenüber entnehmen konnte, wurde sie in Schlagzeilen auf dem ganzen Globus verwendet.
Er blickte zum Fenster hinaus, das die Wand links von ihm bildete, und sah zu, wie die große Sonne hinter die spiegelnden Gebäude von Elyria in wenigen Meilen Entfernung sank. Er hielt sich in einem der obersten Stockwerke des Großen Palastes auf, so hoch oben, dass er die Gärten in der Tiefe kaum erkennen konnte. Dahinter breitete sich die Promenade aus, wo Asha und er sich an die Welt gewandt hatten, und die riesigen steinernen Wächter ragten beiderseits auf und wachten stumm über den Weg in die glitzernde Stadt.
Der Himmel färbte sich orange, dann rot und schließlich dunkelviolett, als die Sonne schließlich ganz unterging. Über der Stelle, wo sie verschwunden war, hingen jetzt drei runde Monde unterschiedlicher Größe am Himmel. Zwei weitere lauerten sicherlich irgendwo hinter Lucas. Sterne schimmerten trotz der hellen Lichter der Stadt allmählich in der Dunkelheit der Nacht. Soras Sonnensystem lag dem Zentrum der Galaxis viel näher als die Erde, und die Milchstraße leuchtete hier mindestens dreimal heller, tanzte als Schnur aus Lichtern diagonal über die Schwärze des Zenits. Hier nannte man sie den »Leuchtenden Fluss«, was als Spitzname passender erschien. Lucas wurde sich darüber klar, dass seine Sonne irgendwo da draußen schien, umkreist von einer toten Erde voller Ruinen einer alten Zivilisation, der er einmal angehört hatte.
Hinter ihm glitt die Tür auf, und jemand klopfte an den Metallrahmen. Lucas wirbelte mit seinem Stuhl herum und sah Asha vor sich stehen.
Bei ihrem Anblick lief ihm ein Schauer über den Rücken. Sie trug ein langes kirschrotes Kleid aus einem schimmernden Stoff, der das Licht zu streuen schien. Die Träger verliefen über die Schultern, und Make-up sowie ein Halsband aus riesigen Edelsteinen verdeckten die Gefechtsnarben an ihrem Schlüsselbein. Als sie auf Lucas zuging, legte ein Schlitz das Bein bis zum Oberschenkel frei, und das Dekolleté war nicht minder gewagt. Sie trug die Haare inzwischen lose, sodass sie ihr über die Schultern flossen. Auf ihren Lippen trug sie ein Lächeln, als sich ihre Blicke begegneten. Das hier war ein weit sanfteres Geschöpf als jenes, in dessen Gesellschaft er im zurückliegenden Jahr gereist war.
»Ich habe dich heute kaum wiedererkannt«, sagte sie und musterte seine neue Garderobe.
»Ich kenne das Gefühl.«
Es war entspannend, Englisch zu sprechen, nachdem sie sich über den größten Teil der vergangenen Monate hinweg nonstop auf Soranisch hatten verständigen müssen. Lucas dachte allmählich sogar in der fremden Sprache.
»Die Leute hier sind netter, als meine Stylisten zu Hause es waren, aber von ihrem Geschmack bin ich nicht so ganz überzeugt.« Sie blickte an ihrem Kleid hinab und ließ den Stoff wie Wasser durch die Finger gleiten. Lucas hatte vergessen, dass Asha als Schauspielerin früher in relativem Luxus gelebt hatte, aber mit dem hier konnte man es vermutlich nicht vergleichen.
»Du siehst …«, begann Lucas, dem dann aber die Worte ausgingen, seien es die englischen oder soranischen, um ihren Glanz zu beschreiben.
»So schlimm, wie?«
»Nein … ich …«
Da war einfach kein Adjektiv. Asha fingerte an den großen funkelnden Edelsteinen an ihrem Halsband herum.
»Sie haben mir erzählt, das hier hätte einer Königin von einst gehört. Seit Jahrtausenden hätte es niemand mehr getragen.«
»Sind das Diamanten?«, fragte Lucas.
»Wenn das welche sind, dann die größten, die mir jemals untergekommen sind. Auf der Erde wären um einen solchen Schatz Kriege geführt worden.«
»Dann ist es ja eine beachtliche Geste. Ich habe nur diesen Designeranzug von einem Jolo irgendwas bekommen.«
»Okay, aber du siehst blendend aus. Und ich denke nicht, dass Diamanten deinem Outfit in irgendeiner Form helfen würden«, sagte sie schmunzelnd, während sie aufstand und zum Fenster ging.
»Eine tolle Aussicht«, kommentierte er, stand vom Stuhl auf und stellte sich neben sie. Er sah, wie ihre Augen von einem Mond zum nächsten huschten. »Es ist eine Schande, dass wir die einzigen Menschen sind, die das zu sehen kriegen.«
»Ja«, sagte Asha. »Aber wir sind die, die es verdient haben.«
»Trotzdem«, wandte er ein, »halte ich uns nicht für die edelsten Vertreter der Erde. Wenn die Leute hier wüssten, was wir getan haben, um hierherzukommen …«
»Die meisten hätten das Gleiche getan, wären sie an unserer Stelle gewesen, und wer nicht, der wäre tot.« Sie drehte sich zu ihm um. »Wieso, wen hättest du denn ausgewählt, um die menschliche Rasse zu repräsentieren?«
Vielleicht war sie doch nicht weicher geworden. Lucas lehnte sich ans Fenster.
»Jemanden, der eindrucksvoller ist als ich.«
»Du warst toll heute. Hast du den Stream nicht gesehen?« Sie deutete auf die holografischen Bilder an der Wand gegenüber.
Lucas lachte.
»Ja doch, Leute denken, dass wir Lügner oder Spione sind.«
»Die meisten nicht.«
Sie trat ans Display und ging das Navigationssystem der Nachrichtenfeeds durch, bis sie die Story gefunden hatte, nach der sie suchte. Soranisch lesen war ihnen in den zurückliegenden sechs Monaten so zur zweiten Natur geworden wie das Sprechen, und die geometrischen Symbole arrangierten sich in Lucas Gedanken sofort zu Worten. Asha deutete auf den Bildschirm, der ein schreiendes Baby als Begleitbild zum Text zeigte.
»49.054 Kinder, die heute geboren wurden, erhielten den Namen Lucas. 18.324 wurden Noah genannt.«
Er lächelte.
»Was ist mit Asha?«
»… 85.941.«
»Schätze mal, du bist der Liebling der Massen.«
»Na ja, ich bin das einzige Mädchen von der Erde, das es hierher geschafft hat.«
Lucas sah sich die Story an. »Ha, sogar nach Alpha wurden 3200 kleine Soraner benannt.«
»Ich bin sicher, er wird begeistert sein.«
Noch jemand klopfte an den Rahmen der offenen Tür. Es war ein alter Mann, zumindest aus irdischer Sicht. Auf Sora musste er um die 150 oder 160 sein. Die Lebensspanne auf diesem Planeten wirkte im Vergleich zur menschlichen unnatürlich lang, besonders die der Reichen. Er trug ein violettes Gewand, das seine Hände und Füße komplett verdeckte. Die weißen Haare waren kurz geschoren, und er war glattrasiert. Als er lächelte, bildeten sich tausend Fältchen rings um die blauen Augen.
»Verzeihen Sie die Störung, aber die Veranstaltung beginnt jeden Augenblick«, sagte er mit rauer Stimme. »Hochkanzlerin Vale ersucht um Ihre Anwesenheit im Thronsaal.«
»Dem Thronsaal?«, fragte Lucas. »Sie hat einen Thron?«
»Der Saal ist ein Relikt aus der Zeit, als der Palast noch die königliche Familie beherbergte. Innerhalb dieser Mauern hat man aber seit knapp fünftausend Jahren keinen König mehr angetroffen.«
»Also wird der Hochkanzler gewählt?«, fragte Asha.
»Ja, und vor fünf Jahren erhielt die Frau Kanzlerin 83 Prozent der Stimmen, was ihre nächste Amtszeit sicherstellte.«
»Klingt nicht nach einem echten Wettbewerb«, fand Asha.
»Die Vales sind auf Sora eine sehr angesehene Familie. Ihr Vater, Hochkanzler Varrus, gehörte zu den einflussreichsten Führungspersonen in der Geschichte unseres Planeten.«
»Und was ist aus ihm geworden?«, fragte Asha.
Eine Anzeigelampe leuchtete an der Robe des Mannes auf, die anscheinend mit elektrischen Schaltungen durchsetzt war.
»Es tut mir leid, aber wir müssen jetzt wirklich los. Ich gehe gerne zu einem späteren Zeitpunkt auf diese Fragen ein. Man hat mich für die Zeit Ihres Aufenthalts im Palast zu Ihrem persönlichen Betreuer ernannt.«
»Unserem persönlichen Betreuer? Wie heißen Sie?«, fragte Lucas, während er und Asha zur Tür hinausgingen.
»Verzeihung. Mein Name lautet Malorious Auran. Ich bin jetzt seit sehr vielen Jahren der Hüter des Großen Palastes. Ich habe beiden Vales und dreizehn Hochkanzlern vor ihnen gedient.«
»Ich vermute, dann sind Sie der richtige Mann, um über alles zu reden. Wir sind noch dabei, die Geschichte dieser Welt kennenzulernen«, sagte Lucas. »Ich bin Lucas, und das ist Asha.«
»Darüber bin ich schon informiert«, sagte der Alte lächelnd, während er in seinem langen violetten Gewand vor ihnen her schlurfte. »Seit heute habe ich einen neugeborenen Urenkel namens Lucas.«
Asha versetzte Lucas einen Ellbogenstoß, während sie ein kleines Stück hinter ihm einherging. Er grinste.
Lucas hatte bislang erst wenige Bereiche des riesigen Palastes gesehen, aber der Thronsaal war der bei weitem eindrucksvollste Innenraum, den er jemals betreten hatte, sei es auf diesem Planeten oder seinem eigenen. Der Saal verkörperte eine Mischung aus uralter Kunst, fortschrittlicher Technik und nichtmenschlicher Architektur. Mächtige Steinsäulen trugen eine Decke, auf der eine Wiedergabe der gesamten Galaxis wirbelte und dabei den gesamten Raum überspannte. Die Wände waren mit einer Mischung aus großen Ölgemälden, die sicherlich Jahrtausende alt waren, und holografischen Kunstwerken verziert, die durch filigranen Detailreichtum bestachen und aus ihren Rahmen ragten. Ein paar schienen sich sogar zu bewegen.
Üppige grüne Pflanzen wuchsen an den Rändern des Saals auf dem Steinfußboden, und Lucas fragte sich, ob das immer so war oder man sie für diesen Anlass eingesetzt hatte. Im Zentrum all dessen hatte man ein gewaltiges Füllhorn an unvertrauten Speisen ausgeschüttet, an dem sich die Gäste bedienten, während sie durch den Raum schlenderten. Auf einem großen Spieß steckte der gehäutete Körper eines großen Tieres, das Lucas nicht erkannte. Es war schwer zu sagen, ob es mal katzenartig, hundeartig, rinderartig oder etwas ganz anderes gewesen war. Eine ordentliche Reihe blauer Flammen darunter hielt das Essen warm.
Auf dem Parkett plauderten die Gäste miteinander. Viele Männer waren ähnlich wie Lucas in relativ dezente Anzüge gekleidet, während andere seltsamere Ensembles trugen. Als Lucas und Asha in den Saal kamen, sah erst einer der Anwesenden sie an, dann ein weiterer, und in Sekunden trat im ganzen Raum Stille ein. Alle Augen richteten sich auf die beiden Menschen, und sie warfen einander unbehagliche Blicke zu.
Zum Glück kam Talis Vale schnell herbei, wobei sie unterwegs ihren Drink leerte und das Glas einem Dienstboten reichte. Talis legte den beiden je eine Hand auf den Arm, während der alte Mann, der sie hergeführt hatte, nach kurzer Verneigung in den Hintergrund schlurfte. Talis wandte sich an die Versammlung.
»Unsere Ehrengäste sind endlich eingetroffen«, sagte sie, als alle still geworden waren. »Und sehen sie nicht umwerfend aus? Ich möchte Ihnen Lucas und Asha vorstellen, die Erdgeborenen!«
Stürmischer Jubel stieg von der Menge auf. Lucas schätzte, dass es ungefähr dreihundert Gäste sein mussten. Das bot einen scharfen Kontrast zu den Millionen, vor denen er zuvor gesprochen hatte, aber das Erlebnis hier war gleichermaßen intensiv, da alle von ihnen beiden förmlich gebannt waren. Talis hielt jedem der beiden eine Hand an den Rücken, während sie gemeinsam die Treppe zum Hauptparkett hinabstiegen. Lucas fiel ein gigantischer alter Marmorthron zu seiner Linken auf.
»Keine Sorge«, sagte Talis. »Alle sind angewiesen worden, sich um ihren eigenen Kram zu kümmern und Sie beide nicht den ganzen Abend lang zu bedrängen, so sehr es sich die Leute auch wünschen mögen.«
Eine neue Stimme ertönte hinter ihnen.
»Und wenn man Sie doch belästigt, sagen Sie mir Bescheid, und ich befördere die Schuldigen mit ein paar Arschtritten hinaus.«
Es war Tannon Vale in seinem besten militärischen Staat. Auf die Orden hatte er diesmal zugunsten einer einzelnen Anstecknadel mit einem Symbol verzichtet, das Lucas nicht kannte. Nicht ein Staubkorn war auf der ganzen schiefergrauen Uniform zu entdecken. Der Admiral trug allerdings eine Energiepistole an der Hüfte. Lucas blickte sich um und stellte fest, dass an jeder Säule ein bewaffneter Posten mit einem großen Gewehr stand.
»Also sind Sie hier für die Sicherheit zuständig?«, fragte Lucas.
»Ich bin für die Sicherheit des ganzen verdammten Planeten zuständig, also warum sollte für diese Party etwas anderes gelten?«, schnaubte er.
»Wie viele Todesdrohungen gegen uns sind bislang eingegangen?«, erkundigte sich Asha.
»Etwa sechshundert pro Stunde«, antwortete er, »aber nur drei Prozent stammen von Leuten, die tatsächlich eine Gefahr darstellen.«
»Tannon!«, rief Talis. »Du jagst unseren Gästen Angst ein.«
»Sie haben Schlimmeres gesehen, das versichere ich dir. Und außerdem hält sich niemand in fünf Meilen Umkreis um den Palast auf, der nicht zehn Sicherheitsstufen durchlaufen hat, und das gilt auch für alle deine kleinen schicken Freunde hier.« Er deutete auf die Menge. Lucas wusste immer noch nicht so recht, wie weit eine soranische Meile reichte.
Talis wandte sich mit einem beruhigenden Lächeln an sie. »Ich verspreche Ihnen, dass Sie hier vollkommen sicher sind.« Ihr Lächeln schwächte sich ein wenig ab. »Obwohl ich das nicht mehr behaupten kann, wenn Sie davonrennen und sich Tannons Armee anschließen.«
»Es ist deine Armee, ich scheuche sie nur herum«, entgegnete der Admiral. Auf einmal machte er große Augen.
»Oh, das erinnert mich an etwas.« Er drehte sich um und rief einer Gruppe von Gästen hinter ihm zu: »Maston, kommen Sie herüber!«
Ein großer breitschultriger Mann löste sich aus der Gruppe und marschierte heran. Auch er steckte in einer Militäruniform, nur war seine dunkelblau statt grau und zeigte ein volles Ordensspektrum auf der Brust. Schwarze Locken fielen ihm in die Stirn, und er hatte ein auffällig gespaltenes Kinn, wie ein Zeichentrickschurke. Seine braunen Augen waren tief und dunkel und wanderten sofort an Asha auf und ab. Verärgert zog sie eine Braue hoch. Er wandte sich lächelnd von ihr ab.
»Ja, Admiral, womit kann ich dienen?«
»Sie dürfen als Erster die Außenweltler kennenlernen. Lucas und Asha, das ist Mars Maston, ehemals Kommandant der Fünften Flotte und derzeit Erster Wachmann der Garde. Er hilft heute Abend bei der Sicherheit aus.«
Lucas bemerkte eine dünne Linie, die sich parallel zum Kragen an der rechten Seite von Mastons Hals entlangzog. Eine Narbe? Es war der einzige sichtbare Makel an einem ansonsten einwandfreien Bild.
»Es ist mir eine Ehre«, sagte Maston und verneigte sich tief.
»Mars, wie der Planet?«, fragte Lucas.
»Welcher Planet ist das?«, fragte Maston und richtete sich wieder auf.
»Oh, klar, ähm, das ist einer von unseren.« Lucas kam sich töricht vor.
»Nun, ich würde ihn gern eines Tages besuchen«, sagte Maston lächelnd. »Es ist ein Wunder«, fuhr er fort, als er sich Asha zuwandte.
»Nämlich?«, fragte sie, die Augenbraue immer noch hochgezogen.
»Dass wir beim Erstkontakt mit einer anderen Spezies gleich eine Botschafterin erblicken dürfen, die unser ganzes Volk mit ihrer Schönheit überstrahlt.«
Asha verdrehte die Augen.
»Ich musste nicht eine Billion Meilen weit durch die Galaxis fliegen, um von Soldaten angemacht zu werden. Davon hatte ich zu Hause reichlich.«
»Kümmern Sie sich nicht um ihn«, sagte Talis hilfreich. »Er ist ein Charmeur, seit er laufen lernte. Glauben Sie mir, ich war als Babysitter dabei.«
Maston wirkte ein wenig verlegen und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung.
»Mich hat beeindruckt, dass Sie beide sich für die SVI verpflichtet haben. Das ist ein beachtlicher Schritt, wo Sie gerade selbst aus einem Krieg kommen.«
»Beachtlicher geht es nicht«, sagte Tannon. »Und das ist, nebenbei, der eigentliche Grund, warum Sie die Ehre haben, heute Abend diese Gala zu besuchen.«
Maston schien verwirrt.
»Ich verstehe nicht.«
»Die Erdgeborenen werden sich Ihrer Garde anschließen.«
Ein Ausdruck der Wut lief für einen kurzen Augenblick über Mastons Gesicht, verschwand aber schnell wieder. Er zwang sich zu einem Lächeln.
»Aber Admiral«, sagte er, und seine Stimme sank um eine Oktave ab, »die Garde ist die absolute Eliteeinheit der ganzen Initiative. Die Gardisten werden von Geburt an für die Einheit gezüchtet. Es ist nicht einmal möglich, sich später zu verpflichten.«
»Jetzt schon.«
»Aber Sir, ihre Fähigkeiten entsprechen auf keinen Fall denen der übrigen Gardisten. Die Garde verfügt über das beste genetische Material des Planeten. Meine besten Soldaten kosten in der Herstellung Milliarden Mark.«
Der Charme war verschwunden, und Mastons Stimme klang jetzt eindeutig hohl und kalt.
»Sie stehen auch in einem schlechten Ruf, seit Ihre jüngsten Einsätze … schiefgingen«, entgegnete Tannon. »Sie benötigen gute Presse, und wenn diese beiden zur Garde stoßen, wird Ihre Truppe sofort wieder als heldenhaft gelten.«
»Es sind Helden, Sir.«
»Nicht in jüngster Zeit.«
Lucas hatte das Bedürfnis, sich einzumischen, auch wenn er gerade zum ersten Mal von der Garde oder seinem bevorstehenden Dienst bei ihr hörte.
»Wir kämpfen schon seit Jahren, und wir haben alle anderen auf unserem Planeten überlebt. Wir haben eine ganze xalanische Raumstation ausgeschaltet und einen Schattengeneral auf seinem eigenen Schiff getötet.«
Maston hob den Blick auf eine Art und Weise, die gefährlich dicht ans Augenrollen reichte, während er ein Seufzen herausließ. Lucas hätte ihm am liebsten eine runtergehauen.
»Ja, ja, ich habe es im Stream gelesen.«
»Dann müssten Sie sich darüber klar sein, dass wir auf alles vorbereitet sind, das Sie auf uns hetzen können«, sagte Asha drohend.
»Das bezweifle ich sehr.«
»Sie haben Ihre Befehle, Commander. Die beiden werden sich in einer Woche bei Ihnen melden«, erklärte Tannon nachdrücklich.
»Ja, Sir«, antwortete Maston, ohne den Blickkontakt mit Lucas zu unterbrechen.
Anscheinend salutierten Soraner nicht, oder Maston war einfach zu sauer dafür, denn er drehte sich um und tauchte in der Menge unter, ohne Lucas oder Asha eines weiteren Blickes zu würdigen.
»Oh Mars«, sagte Talis wehmütig. »Er ist manchmal wirklich schlimm, dabei ist er im Grunde ein guter Soldat und ein feiner Mann. Und er hat so viel durchgemacht …«
»Wenn er Ihnen irgendwelche Schwierigkeiten macht, kann ich ihn nach Thylium versetzen lassen«, sagte Tannon. Beide sahen ihn verständnislos an.
»Der Eismond«, erklärte er.
Tannon warf einen Blick über die Schulter auf einen großen Mann mit Schnurrbart, der ihm von der anderen Seite des riesigen Banketttischs freundlich zuwinkte. Er erwiderte die Geste, indem er leicht nickte.
»Ach, verdammt«, sagte er und wandte sich wieder der Gruppe zu. »Das ist Madric Stoller, und er steht im Begriff, mir für die nächsten zwanzig Minuten die Ohren vollzuschwatzen. Können Sie mir etwas Unterstützung gewähren?«, fragte er und wandte sich an Asha. Der andere traf derweil tatsächlich Anstalten, sich einen Weg um den Tisch herum zu suchen.
»Was ist da für mich drin?«, fragte Asha trocken.
»Er ist der zweitreichste Mann auf dem Planeten. Ist vermutlich keine schlechte Idee, ihn zum Freund zu haben.«
»Er ist auch bei der letzten Wahl zum Hochkanzler gegen mich angetreten«, setzte Talis hinzu.
Asha zuckte die Achseln.
»Also ausreichend interessant, vermute ich.« Sie wandte sich an Lucas. »Kommst du allein klar?«
Ehe Lucas antworten konnte, mischte sich Talis ein: »Ich sorge dafür.«
Diese Versicherung reichte Asha, und sie wandte sich zum Gehen, sodass ihr schimmerndes Kleid wirbelte. Sie begegneten Stoller auf seinem Anmarsch, und seine Miene hellte sich entzückt auf, als er Asha vorgestellt wurde.
»Kommen Sie«, sagte Talis zu Lucas. »Jetzt ist es an Ihnen, den Massen zu begegnen.«
Die nächsten Stunden blieben Lucas nur unscharf im Gedächtnis. Man stellte ihn einer endlosen Folge von Würdenträgern, Notabeln, Provinzvorstehern und planetaren Berühmtheiten vor. Namen und Gesichter gingen ineinander über, und Lucas amüsierte sich damit, sämtliche Lebensmittel auf dem zentralen Tisch wenigstens einmal zu probieren. Während er gerade einen Stapel würfelförmigen roten Fleisches auf einem Kristallteller verspeiste und zugleich mit dem Vize-Botschafter von Irgendwas redete, kam ihm ein Gedanke.
»Wo ist Alpha?«, fragte er Talis, die daraufhin erfreut schien, sich über etwas anderes unterhalten zu können als die Lebensmittelknappheit in der Provinz des besagten Botschafters.
»Er wurde natürlich auch zur Gala eingeladen, hat das Angebot aber ausgeschlagen. Es ist schwer, ihm daraus einen Vorwurf zu machen, da ich garantieren kann, dass sich viele der Anwesenden vor Angst ducken würden, wäre er hier. Nur eine Handvoll Personen in diesem Raum haben jemals einen Xalaner persönlich gesehen. Nein, er arbeitet anscheinend lieber mit unseren Wissenschaftlern am Schiff des Schattens.«
Lucas vermutete, dass Alpha wahrscheinlich wirklich lieber dort unten war, aber es wäre trotzdem nett gewesen, einen weiteren Freund dabeizuhaben. Asha war derzeit völlig von einem Schwarm Bewunderer in Beschlag genommen, die an jedem ihrer Worte hingen. Ihre Gesten gaben Hinweis darauf, dass sie sie gerade mit Erzählungen von einer ihrer früheren Schlachten unterhielt.
»Wenn Sie mich entschuldigen wollen«, sagte Lucas zu Talis und dem Botschafter, »ich denke, ich brauche etwas frische Luft.«
»Natürlich, mein Lieber«, sagte Talis, und der Mann neben ihr nickte. »Gesellen Sie sich später wieder zu mir.«
Lucas bahnte sich einen Weg durch die Menge, und aller Augen ruhten auf ihm. Er dachte, dass ihn wohl jeder, an dem er vorbeiging, liebend gern kennengelernt hätte, dass sie alle aber wussten, sie würden sich Talis’ Missfallen zuziehen, wenn sie ihn ohne seine Zustimmung belästigten. Es war sehr nett von ihr, dass sie diese Regel aufgestellt hatte.
Er ging zwischen zwei bewaffneten Wachleuten hindurch, die steif an zwei Säulen am Rand des Saals standen. Ein offener Durchgang führte auf einen kleinen Balkon. Es wurde leiser um ihn, als er den großen Saal verließ. Der strahlende Sternenhimmel begrüßte ihn wieder, und er entdeckte zwei kleinere Monde am Himmel, von denen einer voll war, der andere nur eine schmale Sichel. Er vermutete, dass er sich hier auf der anderen Seite des Palasts befand, da die drei Monde von zuvor hier nicht zu sehen waren.
In der Ferne leuchteten die hohen Spitzen von Gebäuden, erhellt von Nullkernen im Taschenformat, ungleich kleiner als jener, der ihr Schiff von der Erde bis nach Sora angetrieben hatte. Lucas fragte sich, wann er wohl die Stadt Elyria selbst besuchen würde, falls überhaupt. Oder sonst eine Gegend. Der Palast war prachtvoll, aber da draußen war ein ganzer neuer Planet zu erkunden. Er würde in einer Woche zur militärischen Ausbildung abreisen, und wer wusste schon, in welchem Teil der Welt die stattfinden würde? Wahrscheinlich nirgendwo, wo es so schön war wie hier. Vielleicht war es eine überstürzte Entscheidung gewesen, sich so schnell für den Militärdienst zu verpflichten, aber zu dem Zeitpunkt schien es ihm die richtige Entscheidung. Sollte er jedoch im Krieg fallen, dann hatte er nur einen Bruchteil dieses erstaunlichen Ortes gesehen, den zu finden er so weit gereist war. Kein Wunder, dass Alpha diesen Planeten ein »Kronjuwel« genannt hatte, das die Xalaner am Ende des Krieges als Beute zu ergattern trachteten.
Auf einmal meldete sich jemand hinter ihm zu Wort.
»Ein toller Anblick, nicht wahr?«
Lucas drehte sich um. Eine junge Frau in saphirfarbenem Kleid kam langsam auf ihn zu. Die blonden Haare trug sie zu einer Reihe verwickelter Stränge hochgesteckt, die zu arrangieren stundenlang gedauert haben musste. An Hals und Handgelenken glitzerte das Licht der Sterne auf Edelsteinen. Als sie näherkam, hob das Mondlicht ihr Gesicht hervor. Ihre Augen funkelten, und es wurde sofort deutlich, dass sie ehrfurchtgebietend schön war, jeder einzelne Gesichtszug perfekt abgemessen und platziert. Und nach der Silhouette ihres Kleids zu urteilen, passte die Figur dazu.
Sie blieb neben Lucas stehen, ohne ihn anzusehen, stützte die Hände auf das steinerne Geländer vor ihr und blickte zum Horizont. Die Wachleute hatten sie nicht daran gehindert, sich ihm zu nähern, was ein Hinweis darauf war, dass sie eine sehr wichtige Person sein musste, sogar in einem Raum, in dem sich die mächtigsten Leute des Planeten drängten. Lucas hatte schon vergessen, dass sie eine Frage gestellt hatte. Sie stellte eine weitere.
»Hatten Sie auf der Erde Städte wie Elyria?«, fragte sie. Ihre Stimme hatte einen melodischen Klang, bei dem Lucas sofort den ganzen Stress der Party da drin vergaß. Er fand die Sprache wieder.
»Nichts in dieser Art. Wir hatten ein paar tolle Städte: New York, Paris, Dubai. Aber nichts war mit dieser zu vergleichen.«
Sie nickte.
»Ja, soweit ich es verstanden habe, war Ihre Welt ein gutes Stück jünger als unsere. Aber Sie wirken sehr … zivilisiert.«
»Na ja, ah, danke.«
»Keine Ursache«, sagte sie mit aufrichtigem Lächeln.
Sie blickte weiterhin in die Ferne und hatte immer noch keinen Blickkontakt mit Lucas hergestellt. Sie stützte einen Ellbogen aufs Geländer und legte das Kinn auf die Hand. Lucas versuchte ihr Alter zu schätzen. Vielleicht fünfundzwanzig Erdjahre? Auf Sora war das jedoch nur schwer erkennbar, da man hier so viele Verfahren an genetischer Rekonstruktion oder Therapie einsetzte, dass einfach jeder jünger aussehen konnte als er war.
»Wer sind Sie?«, fragte er.
Sie wandte sich ihm endlich zu. Eine Lampe in der Nähe hob ihre Augen hervor, die ein aufregendes Spektrum an Flecken in Blau, Grün, Braun und Gold aufwiesen, alles umgeben von einem Ring aus dunklem Violett. Lucas hatte so etwas noch nie gesehen. Die Iriden der jungen Frau waren bezaubernder als die gesamte Galaxie im Hintergrund.
»Ich bin Corinthia, aber die meisten hier nennen mich Cora. So läuft das, wenn man seit der Geburt aller Welt bekannt ist.«
»Seit der Geburt?«, fragte Lucas
»Na ja, wenn man es so nennen kann. Meine Eltern haben Billionen in meine Gene investiert, und ich möchte nicht mal wissen, wo man mich zusammengebastelt hat. Eine Vale muss natürlich perfekt ausfallen. Wie ich höre, ist bei Ihnen selbst etwas unterwegs. Da sind dann wohl Glückwünsche angebracht. Der Erste Sohn von Sora und all so was. Ich bin sicher, dass man ihm die besten Gene verpassen wird, die auf dem Markt sind. Und vermutlich auch einige von außerhalb des Marktes. Vermeiden Sie nur Augen wie diese«, sagte sie und deutete auf die eigenen. »Selbst für einhundert Millionen Mark das Stück sind die Farben die Lichtempfindlichkeit nicht wert.«
»Sie sind eine Vale«, stellte Lucas schließlich fest.
»Ja, ja, ich weiß, die Last, Tochter der Hochkanzlerin zu sein! Ich höre mich bestimmt wie ein vollkommenes Blag an«, sagte sie und verdrehte die Augen.
Talis’ Tochter. Er entdeckte jetzt eine vage Ähnlichkeit.
»Ganz und gar nicht«, sagte Lucas höflich, entschlossen, so zu tun, als hätte er schon die ganze Zeit gewusst, wer sie war.
»Ich arbeite hier sogar, egal was von mir behauptet wird. Tatsächlich bin ich seit vergangenem Jahr im Kanzleramt an führender Stelle für die Verbindungen zum Militär zuständig, also werden wir uns recht häufig sehen. Ich habe gehört, dass Sie in einer Woche mit der Garde abreisen.«
»Das wurde mir auch gesagt.«
»Warum haben Sie sich für die Initiative verpflichtet?«, fragte sie. »Sie sind gerade erst eingetroffen, nachdem Sie im Krieg waren, und jetzt stürzen Sie sich gleich in den nächsten?«
»Nun«, sagte Lucas, »ich habe schließlich einen ganzen Planeten zu rächen.«
»Und auch einen zu retten«, sagte sie, und ihr Tonfall wechselte von spielerisch zu ernst. »Sora wird noch zu meinen Lebzeiten überrannt werden, wenn wir nicht bald einen Weg finden, diesen Krieg zu beenden. Täglich brechen Verteidigungslinien überall in den Randsystemen zusammen. Die Xalaner könnten innerhalb von zehn Jahren hier sein. Und um die Wahrheit zu sagen: Wir haben nicht die Kraft, sie erneut aufzuhalten.«
Sie steckte eine lose Haarsträhne in einen Zopf zurück und fuhr fort: »Ich bin den Krieg leid. Das sind wir alle. Die soranische Geschichte ist beherrscht vom Krieg. Wir haben um Land gekämpft, Geld, Rasse, Religion. Wir mussten gegen unsere eigenen Schöpfungen kämpfen, die Maschinen, und jetzt tun wir das Gleiche wieder gegen die Xalaner. Wir lernen anscheinend nie.«
»Auf der Erde war es nicht viel anders«, sagte Lucas. »Nur selten ging ein Jahrhundert vorüber, ohne dass Millionen im Krieg gestorben wären. Es liegt in der menschlichen Natur, vermute ich.«
»Ah ja«, sagte sie. »So nennen Sie sich selbst, nicht wahr? ›Menschen‹?«
»Es wird schwierig werden, diese Gewohnheit abzuschütteln.«
Sie wurde für eine Minute still und nahm einen Schluck aus dem Glas in ihrer Hand. »Versprechen Sie mir nur eins, ja? Beenden Sie ihn.«
Lucas zog die Brauen hoch.
»Ihren Drink?«, fragte er und deutete auf das blaue Gefäß in ihrer Hand.
»Den Krieg.«
»Das ist viel verlangt.«
»Ich weiß, was sie planen – sie wollen den Xalanern die Wahrheit sagen. Das könnte funktionieren.«
Sie war wirklich gut informiert.
»Die Xalaner davon überzeugen, dass wir in Frieden leben können. Ihre Führung als die Lügner und Mörder bloßstellen, die sie sind. Die Bevölkerung zu gewinnen, das könnte funktionieren. Sie komplett auszurotten aber nicht.«
Einige Billionen Mark an genetischem Material hatten die Frau vor ihm offenkundig mit Selbstsicherheit, Intelligenz und entwaffnender Schönheit ausgestattet. Als sie näher an ihn heranrückte, wurde sich Lucas darüber klar, dass das eine potenziell gefährliche Kombination darstellte.
Ein Schaudern lief durch ihren Körper, und sie wich ein paar Schritte weit zurück.
»Es ist ein wenig kühl hier draußen. Ich kehre zur Party zurück, so lästig sie mir auch fällt. Ich weiß gar nicht mehr, wann man zuletzt so viele Schaumschläger auf einmal in einem Raum angetroffen hat.«
»In Ordnung«, sagte Lucas mit leisem Lachen. Lautes Gelächter drang von innen heraus. »Ich warte noch etwas länger.«