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"Woher kommen wir? Wo liegen die Grenzen unserer Macht über die Natur und wo die Grenzen ihrer Macht über uns? Welcher Zukunft gehen wir entgegen? Das sind die Probleme, die sich jedem, der in diese Welt geboren wird, immer wieder neu und mit unvermindertem Gewicht stellen", schrieb der Biologe Thomas Henry Huxley 1863. Die Fragen nach dem, was den Menschen ausmacht, sind seit Jahrhunderten die gleichen, die Antworten jedoch verändern sich in dem Maß, in dem sich die Wissenschaften wandeln und entwickeln. Dieser Band stellt aus interdisziplinären Perspektiven Menschenbilder vor und mündet in die Frage, ob im 21. Jahrhundert überhaupt noch ein einheitliches Bild vom Menschen denkbar ist.
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Seitenzahl: 516
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'Woher kommen wir? Wo liegen die Grenzen unserer Macht über die Natur und wo die Grenzen ihrer Macht über uns? Welcher Zukunft gehen wir entgegen? Das sind die Probleme, die sich jedem, der in diese Welt geboren wird, immer wieder neu und mit unvermindertem Gewicht stellen', schrieb der Biologe Thomas Henry Huxley 1863. Die Fragen nach dem, was den Menschen ausmacht, sind seit Jahrhunderten die gleichen, die Antworten jedoch verändern sich in dem Maß, in dem sich die Wissenschaften wandeln und entwickeln. Dieser Band stellt aus interdisziplinären Perspektiven Menschenbilder vor und mündet in die Frage, ob im 21. Jahrhundert überhaupt noch ein einheitliches Bild vom Menschen denkbar ist.
Prof. Dr. W. Vossenkuhl, Prof. Dr. G.D. Borasio, Prof. Dr. B. Grothe, Prof. Dr. F.W. Graf, Prof. Dr. K. Hilpert, Prof. Dr. A. Nassehi, PD Dr. S. Sellmaier und Prof. Dr. U. Schroth, Vorstand des Münchner Kompetenzzentrums Ethik.
Das Münchner Kompetenzzentrum Ethik (MKE) möchte ethische Probleme erkennen und beurteilen, bevor sie virulent werden. Ethischen Problemen kommt nicht nur in der öffentlichkeit, sondern auch in den Wissenschaften eine stetig wachsende Bedeutung zu. Da diese Entwicklung von der überwiegenden Mehrzahl der Wissenschaften bis vor kurzem kaum wahrgenommen wurde, mangelt es an Lösungsansätzen in vielen Disziplinen.
Das MKE fördert ethische Forschung an der Ludwig-Maximilians- Universität München und bietet ein interdisziplinäres Netzwerk für kooperative Lösungen ethischer Probleme in den Wissenschaften und in der Gesellschaft. Dabei baut das MKE auf den Resultaten früherer und gegenwärtiger Forschungen auf und vertieft die interdisziplinären Perspektiven. Das Zentrum fördert internationale Zusammenarbeit und bietet ein hochqualifiziertes Forum für den Austausch von Argumenten und Forschungsergebnissen.
Die Reihe „Ethik im Diskurs“ ist den Themen, Aufgaben und Zielsetzungen des Münchner Kompetenzzentrums Ethik verpflichtet. Ihre Bände decken die ganze Bandbreite der am MKE beteiligten 14 Fakultäten der LMU ab, sie können sich dabei sowohl schwerpunktmäßig auf einzelne Disziplinen beziehen als auch interdisziplinär angelegt sein.
Die Bände der Reihe, die von Prof. Dr. Gian Domenico Borasio, Prof. Dr. Benedikt Grothe, Prof. Dr. FriedrichWilhelm Graf, Prof. Dr. Konrad Hilpert, Prof. Dr. Armin Nassehi, Prof. Dr. Ulrich Schroth, PD Dr. Stephan Sellmaier und Prof. Dr. Wilhelm Vossenkuhl herausgegeben wird, basieren in Form von Monographien und Sammelbänden einerseits auf den Ergebnissen von Forschungsprojekten und herausragenden Tagungen, andererseits auf hervorragenden Dissertations- und Habilitationsschriften.
Wilhelm Vossenkuhl, Gian Domenico Borasio, Benedikt Grothe, Friedrich Wilhelm Graf, Konrad Hilpert, Armin Nassehi, Stephan Sellmaier, Ulrich Schroth (Hrsg.)
Ecce Homo!
Menschenbild - Menschenbilder
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Gefördert durch den Freundeskreis des MKE e. V.
1. Auflage 2009
Alle Rechte vorbehalten © 2009 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany
Print: 978-3-17-020368-6
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978-3-17-027376-4
mobi:
978-3-17-027377-1
Vorwort
Barbara Vinken „Als Mann und Frau schuf er sie“. Geschlechtsidentität bei Joseph Ratzinger
Armin Nassehi Wie die Ethik nach Menschen sucht und doch nur Bilder findet. Ein soziologischer Blick auf die Praxis des ethischen Entscheidens
Julian Nida-Rümelin Homo oeconomicus versus homo ethicus. Über das Verhältnis zweier Grundorientierungen menschlicher Existenz
Martin Schulze Wessel Die Konstruktion des Neuen Menschen in der sozialistischen Revolution – Wissenschaften vom Neuen Menschen im revolutionären Russland
Ulrich Schroth Bilder des Kriminellen: Homo oeconomicus versus homo soziologicus versus homo ethicus – Menschenbild und Verständnis der Strafe
Gian Domenico Borasio Wie, wo und wann dürfen wir sterben? Das ärztliche Menschenbild am Lebensende zwischen Autonomie und Fürsorge
Karl Kardinal Lehmann Gibt es ein christliches Menschenbild?
Harald Lesch und Harald Zaun Der Mensch im Weltraum – Homo spaciens (Science + Fiction)
Fritz Böhle Der Mensch als geistiges und praktisches Wesen. Verborgene Seiten intelligenten Handelns
Konrad Hilpert Die Differenz zwischen Gewachsenem und Gemachtem: Die „menschliche Natur“ als regulative Idee in der bioethischen Diskussion
Kristiane Weber-Hassemer „Das Individuum im Schatten der Biomedizin“ – Menschenwürde zwischen Menschen und Menschengeschlecht
Horst Bredekamp Weite und Begrenzung, Vertrauen und Eigensinn: Galileis visueller Kosmos
Benedikt Grothe Nimmt uns die Neurobiologie den freien Willen? Eine kritische Betrachtung der Aussagekraft moderner neurowissenschaftlicher Methoden
Wilhelm Vossenkuhl Über vergangene Modelle und neue Ideologien
Autorenverzeichnis
Personenregister
Sachregister
Die Ringvorlesung der Ludwig-Maximilians-Universität ist aus gewachsener Tradition heraus eine zentrale Veranstaltung unserer Universität geworden. Sie gibt Gelegenheit, ein allgemeines, aktuell wichtiges Thema auf wissenschaftlicher Grundlage mit den einer Universität zur Verfügung stehenden Mitteln aufzubereiten und eine interessierte Öffentlichkeit daran teilhaben zu lassen. Die Ringvorlesung spürt durch die Jahre den Themen nach, welche die Menschen aktuell bewegen. Sie erhebt den Anspruch und vermittelt die Chance, die Diskussion zum jeweiligen Thema auf sachlicher und akademisch hoch stehender Grundlage zu führen. Sie richtet sich an alle interessierten Mitglieder der Universität wie auch an die Mitbürger unserer Stadt, um sie anzuregen, in gemeinschaftlichem Gespräch den gestellten Fragen auf den Grund zu gehen.
Das Thema „Ecce homo! Menschenbild – Menschenbilder“, dem dieser Band gewidmet ist, hat viele Menschen angesprochen und zu Hörern der Reihe gemacht. Dem Selbstverständnis des Menschen nachzugehen, war ein Semester lang ein mitreißendes Thema, das uns allen einen Spiegel vorgehalten und uns angeregt hat, nach dem Wesen des Menschen zu fragen und sich uns vielleicht zwischendurch auch selbst in Frage zu stellen. Der Rahmen der Ringvorlesung ist offen und erlaubt es damit, dem einzelnen Hörer, der einzelnen Hörerin, seine beziehungsweise ihre Position ohne Druck von außen zu hinterfragen und die eigene Position zu überdenken. Die Diskussionen und die vielen Reaktionen zwischen den Vorträgen zeigen, dass die Ringvorlesung mit ihrem Thema „Ecce homo“ viele Menschen erreicht und nachdenklich gemacht hat.
Das Projekt der Ringvorlesung „Ecce homo! Menschenbild – Menschenbilder“ lag in Händen des Kompetenzzentrums Ethik der Ludwig-Maximilians-Universität, in dessen Vorstand sich eine Reihe von hervorragenden Wissenschaftlern unserer Universität versammelt hat. So war die Auswahl der Referenten von hoher interdisziplinärer Sachkompetenz getragen und hat bewirkt, dass der Vorstand des Kompetenzzentrums Ethik und die Referenten zu einem losen und auf dasselbe Ziel hin orientierten Wissenschaftlerkreis geworden sind. Dies hat zu einem Geist der Verständigung unter den Referenten und einer Art von Interaktion geführt, die über die Einzelbeiträge hinaus ein gemeinsames Forum geschaffen hat. Dass die Vorträge der Ringvorlesung „Ecce homo! Menschenbild – Menschenbilder“ nun in diesem Band vorliegen, ist Ausdruck dieser Zusammenschau und macht diese deshalb über die Einzelbeiträge hinaus so wertvoll.
Die Ludwig-Maximilians-Universität ist dem Kompetenzzentrum Ethik und dem Organisator der Ringvorlesung, Herrn Dr. Schuler, zu ganz besonderem Dank für ihr Engagement verpflichtet. Herzlich sei auch Herrn Dr. Sellmaier gedankt, der die Mühen der redaktionellen Überarbeitung dieses Buches übernommen hat. Jedem Referenten und jeder Referentin sei für die Möglichkeit, ihren Vortrag im Wortlaut nachlesen zu können, Dank abgestattet.
Univ. Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Putz
Vizepräsident der Ludwig-Maximilians-Universität
München, Oktober 2008
Barbara Vinken
„Als Mann und Frau schuf er sie“(Genesis 1,27)„Ni homme, ni femme, prêtre“(Victor Hugo)
In dem leidenschaftlichen Eintreten für eine marianische Kirche, die ihn mit seinem Vorgänger verbindet, sieht Benedikt XVI. sich im schroffsten Gegensatz zur Moderne. Diese Moderne steht für ihn mehr denn jede andere Epoche im Zeichen der Ursünde, die zur Vertreibung aus dem Paradiese führte: des absolut gesetzten Wunsches, Gott gleich zu werden (Genesis 3,5). Das Streben nach Unabhängigkeit, Autarkie und Autonomie erkennt Ratzinger als das konstitutive Begehren der Modernen, sich keinem zu verdanken, von keinem abzuhängen, selbstbestimmt und selbstbewusst zu sein. Wichtiger, neuer: Den Impetus und das Pathos der Selbstbehauptung erkennt er als dezidiert männlich.
Denn in der heutigen Welt des Geistes gilt nur noch das männliche Prinzip: das Machen, das Leisten, die Aktivität, die selbst die Welt planen und hervorbringen kann, die nicht auf etwas warten will, von dem sie dann abhängig ist, sondern die allein auf das eigene Können setzt. Es ist, so glaube ich, kein Zufall, daß wir in unserer westlichen, maskulinen Mentalität immer mehr Christus von der Mutter losgetrennt haben (Ratzinger 1997 f., S. 11 f.).
In der Moderne ist das weibliche Prinzip auf der Strecke geblieben, unter die Räder des männlichen Prinzips gekommen, das auf ganzer Linie gesiegt hat. Der Egozentrismus – die Behauptung und Durchsetzung des Selbst – hat den Sieg über die Mystik – die Preisgabe des Selbst, die durch das Begehren des Anderen und dem Anderen einen Ort einräumend ermöglicht wird – davongetragen (vgl. Tugendhat 2004). Der Feminismus, wie ihn Benedikt XVI. wahrnimmt, erscheint als eine Variante des Egozentrismus, der das weibliche Prinzip des Empfangens und Gebärens zugunsten maskuliner Selbstbehauptung verleugnet, negiert.
Im Prozess der radikalisierten „Emanzipation“ der Moderne, im rasenden Begehren der Modernen, zu sein wie Gott, komme es zu einer „Lösung“ von der Schöpfung, zu der
Loslösung des Menschen von seiner biologischen Bedingtheit, von dem ‚Als Mann und Frau schuf er sie‘ (der Genesis). Diese Differenz, die zum Menschen als biologischem Wesen unaufhebbar gehört und ihn zutiefst zeichnet, wird als vollkommen unerhebliche Belanglosigkeit, als geschichtlich erfundener ‚Rollenzwang‘ in einen den Menschen nicht eigentlich angehenden, ‚bloß biologischen‘ Bereich verwiesen. Das bedeutet, dass dies ‚bloß Biologische‘ als Sache dem Menschen verfügbar, außerhalb der humanen und geistigen Maßstäbe angesiedelt wird (bis zur freien Verfügung über werdendes Leben). Solche Versachlichung des Biologischen erscheint dann als Befreiung, in der der Mensch den Bios unter sich lässt, ihn frei gebraucht und im Übrigen unabhängig davon bloß Mensch ist – nicht Mann oder Frau. Aber in Wirklichkeit trifft er sich damit im Tiefsten seiner selbst, wird sich selbst verächtlich, weil er in Wahrheit eben doch Mensch als Weib, Mensch als Mann der Frau ist [...]. [D]ie Befreiung wird zur Erniedrigung ins Machbare hinein (Ratzinger 1997c, S. 26).
Im Bestreben, Gott gleich zu werden, hat der Mensch sich verdinglicht. Der Prozess der Moderne trägt die Züge einer objektiven Ironie, in der die Menschen im Bestreben, ihr Wesen zu überhöhen, ihres Wesens verlustig gingen und sich selbst zur Sache würden, biologisches Material bis hin zum Patientengut. Es ist diese angemaßte Autarkie, eine verhängnisvolle Täuschung, sich immer neu entziehende Fata Morgana, die in Wahrheit sterblich macht: Ein moderner Kommentar zur Genesis, denn es war der Wunsch, gottgleich zu sein, der zur Vertreibung aus dem Paradies führte und mit der erkannten Geschlechtlichkeit die Sterblichkeit über die Menschheit brachte. Indem Ratzinger den Zug zur Selbstermächtigung in der Moderne radikal wie in keiner anderen Epoche am Werk sieht, sieht er sie exemplarisch als verblendete, verdunkelte, gottferne Zeit.
In dieser verzweifelten Kritik an der Moderne zeigt sich Benedikt selbst als radikal modern – und es fällt schwer, die andrängenden Assoziationen an Autoren wie Marx und Heidegger, Adorno und Hannah Arendt oder auch Pasolini zu vermeiden. Dabei ist die eher ungewöhnliche Pointe leitend, dass die verblendete Gottferne der Moderne bei Ratzinger explizit wie selten geschlechterdifferenzspezifisch zu denken ist. Was die den „Bios negierende Emanzipation“ im Zeichen des Männlich-Menschlichen, in ihrer cartesianischen Dualität von Geist und Körper, verkennt und austreibt, sei „diese biologische Bestimmtheit des Humanen“, die „in der Frage der Mutterschaft ihre am wenigsten verdeckbare Realität“ habe. Er nennt deshalb diese Art von Emanzipation vor allem „einen Angriff auf die Frau: die Leugnung ihres Rechts, Frau sein zu dürfen“ (Ratzinger 1997c, S. 26).
Gegen die Moderne hat der Theologe Ratzinger seine marianisch geprägte Kirche gestellt, die „das mütterliche Bewußtsein der Urkirche wieder erlangen soll“ – „die Virgo Ecclesia, die Mater Ecclesia, die Ecclesia immaculata, die Ecclesia assumpta“ (Ratzinger 1997c, S. 22). Diese Kirche, könnte man sagen, ist der Raum der Antimoderne schlechthin, Exil des Bräutlich-Mütterlichen. Das marianische Kirchenverständis zu retten, erscheint Ratzinger umso nötiger, als er den Begriff der Kirche selbst vom Ungeist der Moderne bedroht findet: Wenn man Kirche soziologisierend als Institution und Struktur begreift, verkennt man das Wesen der Ecclesia: Kein Machen, sondern das Empfangen und Gebären ist ihr Teil. Mit Johannes Paul II. erinnert der Nachfolger
an ein viel zu wenig meditiertes Pauluswort: ‚ich leide von Neuem Geburtswehen um Euch, bis Christus in Euch Gestalt annimmt‘ (Gal 4.19). Leben entsteht nicht durch Machen, sondern durch Geborenwerden und verlangt daher Geburtswehen (Ratzinger 1997a, S. 48).
Die Kirche ist der Raum, in dem die in der Moderne verkannte, verdrängte, abgeschnittene Dimension des Frauseins, wie es von Maria verkörpert wird, ihren Ort hat. Maria Ecclesia und Moderne sind antithetisch, gegenläufig konstituiert.
Die Gottesmutter wird zur Gegenfigur des in der Moderne an rasantem Tempo gewinnenden Strebens der Selbstbestimmung, Selbstbehauptung. Ratzinger weist die Schlüsselbegriffe der Moderne nicht ab, er besetzt sie um, rückt sie in katholischer Perspektive zurecht in dem genauen und durchaus selbstbewussten Sinne eines ihnen Gerechtwerdens: Freiheit, Selbständigkeit, wirkliches Gegenüber, wahres Selbst lassen sich nicht durch Selbstbehauptung, sondern allein durch Preisgabe des Selbst an den Anderen, durch den Auszug, Exodus, aus sich selbst erlangen. Denn sie kommen nicht aus dem Selbst, sondern von diesem Anderen, Gott, her. Maria hatte in sich einen Ort für Gott geschaffen, weil sie nicht von sich selbst eingenommen war. Weil sie sich nicht selbst behauptet, kann sie dem Anderen vorbehaltlos Raum gewähren: In „der völligen Enteignung an Gott [wird sie] sich selber wahrhaft zu eigen“ (Ratzinger 1977, S. 70).
Die Empfängnis Mariens durch das Wort, das in ihr Fleisch wird, wird als Urbild des mystischen Prozesses der geistigen Geburt interpretiert, in dem jeder Christ in sich selbst sterben muss, um in Christo wieder geboren zu werden. Das Eigene – als Zeichen der Erbsünde und Abfall vom göttlichen Ebenbild, das In-Sich-Selbst-Stehen-Wollen – muss preisgegeben werden, damit man ein radikal anderer und im Nachvollzug des Kreuzes wirklich man selbst werden kann, Ebenbild Gottes. Erst diese geistige Geburt, die vollkommene Enteignung in der Übereignung macht unsterblich: „Unsterblich ist der Mensch [...] letztlich und wahr nur im Ganz-anderen und von ihm her: Gott“ (Ratzinger 1977, S. 79). Indem Maria dem Engel antwortet „ich bin die Magd des Herrn“ und „an mir geschehe wie Du gesagt“, gibt sie Selbstverfügung und Selbstplanung ihres Lebens auf. Die geistige Geburt der christlichen Erlösung vom Alten Menschen geht in Maria der Geburt im Fleische voraus. Sie kommt nicht vom Selbst, sondern verdankt sich der Gnade und der Liebe Gottes. Als liebende Preisgabe ist sie zugleich Vollendung in der Liebe, liebendes Fruchttragen. Eben dies vollzieht sich in Maria tatsächlich, und das heißt im Fleische:
Sie ist solche Darstellung des geretteten und frei gewordenen Menschen aber gerade als Frau, das heißt in der leiblichen Bestimmtheit, die vom Menschen unabtrennbar ist: ‚Als Mann und Frau erschuf er sie‘ (Gen. 1,27). Das ‚Biologische‘ und das Humane sind in ihrer Gestalt untrennbar, so wie das Humane und das ‚Theologische‘ untrennbar sind (Ratzinger 1997c, S. 25).
Das impliziert über das gewöhnliche Verständnis der Fleischwerdung in der Jungfrau, dass Benedikt in der Frau als Frau – und nicht allein in Maria – „die eigentliche Siegelbewahrerin der Schöpfung“ sieht. In ihr hat sie „ihre maßgebende, vom Mann sozusagen nur nachzuahmende Vollgestalt“ (Ratzinger 1997c, S. 27). Die Vollendung des Geschöpfes als Geschöpf vollzieht sich in der Frau, nicht im Mann, präziser: in der empfangenden, schwangeren, gebärenden Frau. Wie das männliche Glied, herausragend, hervorstechend, für Lacan zum biologischen Angelpunkt des Phallus wird, so wird die schwangere Frau für Benedikt Teil der kreatürlich-biologischen Offenbarung, Figur für ein Dem-anderen-Platz-Einräumen, für die Preisgabe des Selbst um des Anderen willen. Entsprechend steht das weibliche, hingebende Empfangen gegen das männliche, aufrührerische Zeichen, das im Phallus regiert. Augustinus sah im erigierten Penis eine Wiederholung des erbsündigen Aufbegehren gegen den göttlichen Willen; denn so wie der Mensch sich gegen Gottes Willen erhebt, so der Penis gegen die Selbstbestimmung des Mannes, dessen Souveränität diese Erhebung des Fleisches entzogen bleibt. Das Verhältnis von Kirche und Gott ist auf der liebenden Vereinigung von Maria und Gott modelliert. Selbst Gott wird das vom Anderen her nicht zu störende Ruhen in sich selbst abgesprochen. Der Gott Benedikts XVI. ist kein unbewegter Gott; er entäußert sich liebend:
Zum Wesen Gottes gehörte für antikes Denken die Leidenschaftslosigkeit der reinen Vernunft. Den Vätern fiel es schwer, diesen Gedanken abzuweisen und ‚Leidenschaft‘ in Gott zu denken, aber von der Bibel sahen sie doch sehr wohl, daß die ‚Offenbarung der Bibel‘ alles erschüttert [...], was die Welt über Gott gedacht hatte. Sie sahen, daß es eine innerste Leidenschaft in Gott gibt, die sogar sein eigentliches Wesen ist, die Liebe (Ratzinger 1997b, S. 69).
Schon das Verhältnis von Jahwe zu Israel, seiner Braut, dem erwählten Geschöpf, war ein leidenschaftliches:
Das Bundesverhältnis Jahwes zu Israel ist ein Bund ehelicher Liebe, die Jahwe selbst [...] im Innersten aufwühlt und erschüttert: Er hat das junge Mädchen Israel mit einer Liebe geliebt, die sich als unzerstörbar, als ewig erweist. Er kann der Frau seiner Jugend zürnen ob ihres Ehebruchs, er kann sie bestrafen, aber all dies richtet sich zugleich doch gegen ihn selbst, schmerzt ihn, den Liebenden, dessen ‚Eingeweide sich umkehren‘ [...]. Darin, in seiner innersten Betroffenheit als Liebender gründet die Ewigkeit und Unwiderruflichkeit des Bundes (Ratzinger 1977, S. 21).
Das Verhältnis Gottes zu Maria ist eines der sehnsüchtigen Liebe: „Wie der König und Herr aller nach Deiner Schönheit verlangte, so sehr ersehnte er deine zustimmende Antwort [...]. Was zauderst Du?“ zitiert Ratzinger Bernhard von Clairvaux (Ratzinger 1997d, S. 78)2. Die Kirche ist „Verschmelzung des Geschöpfes mit seinem Herrn in der bräutlichen Liebe, in der sich ihre Hoffnung auf Vergöttlichung durch den Weg des Glaubens erfüllt“ (Ratzinger 1997c, S. 24). Damit ist auch das letzte Versprechen, das die Moderne auf, wie Ratzinger meint, perversen Wegen wahrzumachen sucht, in der bräutlichen Kirche wahr geworden: die Vergöttlichung des Menschen, die nicht durch behauptende Selbstbestimmung, sondern durch liebende Selbstpreisgabe nach dem Vorbild Mariens, Braut und Mutter, zu erlangen ist.
Was Benedikt XVI. vorschlägt, ist also nicht, dass Männer Männer und Frauen Frauen bleiben nach dem Motto „boys will be boys“ (um dann Hormone, Gene oder ähnliches ins Feld zu führen) – so könnte man das „als Mann und Frau schuf er sie“ ja auch verstehen. Biologisierung des Menschlich-Geschlechtlichen, wie sie gerade gegen die Psychoanalyse und die Kulturwissenschaften so massiv ins Feld geführt wird und den Menschen wie jedes Tier zum bloßen Geschlechtswesen macht, ist das Gegenteil dessen, was der Papst anstrebt. Was Benedikt vorschlägt, ist vielmehr ein Hinwenden zur Frau: nicht männliche Selbstermächtigung, sondern Fruchttragen in liebender Selbstpreisgabe, die in der Keuschheit bis zur Preisgabe des fleischlichen Fruchttragens selbst gehen können muss, wie sie sich in Maria erfüllt hat und wie seither in jeder Schwangerschaft – im Zeichen Marias – offenbar geworden ist. Eigentlich, kann man pointiert sagen, sollen Männer wie Frauen empfangen, Frucht tragen und Gebären, Mütter werden.
So weit, so gut. Dass das biologische Geschlecht überschritten wird – etwa wenn Männer Mütter werden – ist ein Merkmal von Texten, die von Leuten erzählen, die Gott in außerordentlicher Liebe zugetan sind. Märtyrerinnen, so lernen wir aus den Acta sanctorum, ließen um ihres Glaubens willen, heroisch den Tod auf sich nehmend, ihre Weiblichkeit zurück, überwanden alle weibliche Schwäche, um „mehr als eine Frau“ zu sein. Aber auch die geistliche Liebe, in der Nonnen und Mönche dieser Welt sterben, um ganz in Christo zu leben, kann dazu führen, dass Frauen mehr als eine Frau, geradezu männlich werden. „Dein Ruhm hat uns verkündet, daß Du das weibliche Geschlecht übertroffen hast. Du hast die weibliche Schwäche überwunden und Dich zu männlicher Härte durchgerungen“ schrieb Hugo Metellus, Kanonikus von Tours, über Héloise. Er folgt dabei einem Topos, den Gregor von Nyssa in der Vita seiner Schwester Macrina ausgearbeitet hatte. Eine Ausnahme oder, besser, Verkomplizierung zeigt der Briefwechsel von Abaelard und Héloise selbst, die konträr zur Einschätzung Héloises bei den Zeitgenossen und konträr zur Vermütterlichung der Mönche bei Bernhard geistliches und natürliches Geschlecht übereinander fallen lassen. Aber auch in diesem Briefwechsel ist der sich Gott in Liebe hingebende Leib ein doppelter, mystisch und natürlich. Was die Geschlechtshierarchien angeht, so steht in der Ordnung der natürlichen Körper dieser Welt der Mann über der Frau, in der Ordnung der mystischen Körper dagegen die Nonne über dem Mönch, weil sie als Braut des Herrn diesem näher steht als die Mönche als Gottesknechte.
Die metaphorische Vermännlichung der Frauen interessiert Benedikt nicht, er weist diesen Topos ab. Die Verbräutlichung und Vermütterlichung geistig liebender Männer, die prägend ist für mystische Literatur, liegt ihm hingegen sehr am Herzen. Das Verhältnis Gottes zur Kirche als Kollektiv ist auf die gläubige Seele zu übertragen, im Skopus des anagogischen Sinnes. Das herausragende, epochale Beispiel liefert Bernhard von Clairvaux, der die gläubige Seele bräutlich wie die Kirche darstellt: empfangend und fruchttragend in der göttlichen Liebesvereinigung. Sie wird unter dem Kuss des Bräutigams schwanger, in ihre Brüste schießt die Milch ein (vgl. Clairvaux 1995). Bernhard sah sich als die Mutter seiner Mönche, um die er Geburtswehen leidet. Diese mütterlich-bräutlichen Männer stehen nicht allein in der Nachfolge Mariens, sondern in der Nachfolge Christi, der als eine Mutter die Kirche aus seiner Herzwunde geboren hat. Angesichts dieses Befunds ist es nicht übertrieben, zu sagen, dass in dieser von der Moderne überdeckten Überlieferung die geistliche Liebe, die Geburt aus dem Geiste die „leibliche Bestimmtheit“ des Menschen, ihr Mann- oder Frau-Sein, übersteigt und in dieser Übersteigung erst die Ebenbildlichkeit mit Gott wieder erreicht wird (vgl. exemplarisch Bynum 1982).
Nun ist es vollkommen überraschend, dass in der Argumentation Ratzingers die geistige Geburt nicht als Verkehrung der fleischlichen Geburt auftritt, sondern als deren Erfüllung. Die Opposition von fleischlicher Geburt – todesverfallen aus dem Sexus, „inter faeces et urinas“, wie Augustinus an Drastik nicht zu wünschen ließ – und geistiger Geburt zum Leben und aus dem Herzen, wie sie von Gregor von Nyssa bis Abaelard im Mittelpunkt steht, wird von Ratzinger in ein typologisches Schema der Analogie überführt, das die apologetische Konstellation der Kirchenväter überlagert und aus dem Oppositionsmodell in die Gradation einer anagogischen Perspektive überführt. Der Papst könnte nicht mit Abaelard an Héloise, die einst seine Frau und Mutter ihres Sohnes war, um dann nach seinem Willen als Nonne Braut Christi und als Äbtissin Mutter der Nonnen zu werden, schreiben:
Wieviel geistliche Töchter hast du [sc. die Äbtissin Héloise] dem Herrn schon geboren [...]. Welch unheilvoller Verlust, welch beklagenswerter Schaden, wenn du dich den schmutzigen Lüsten des Fleisches hingegeben und mit Schmerzen wenige Kinder zur Welt gebracht hättest, die du jetzt mit Freuden eine zahlreiche Schar für das Himmelreich gebierst. Ein Weib wärest du geblieben wie alle andern, die du jetzt hoch selbst über den Männern stehst, die du Evas Fluch in den Segen der Maria gewandelt hast! Wie entweiht würden diese heiligen Hände, die jetzt nur die heiligen Bücher umblättern, dienten sie der Kleinlichkeit weiblicher Sorgen (Brost 1979, S. 107 und vgl. Vinken 2002)!
Für Benedikt leuchtet bereits – und die Frage ist, wie modern das ist – in der fleischlichen Geburt die geistliche Geburt mit auf: Über dem von ihm rehabilitierten antiken Bios liegt der Vorschein liebender Selbstpreisgabe, welche die geistliche Geburt vollendet. Mariae Empfängnis und Geburt – dem Credo der Kirche zufolge nicht aus dem Willen des Fleisches – ist als Fleischwerdung der geistigen Geburt eine „nova nativitas“, die den alten, bei der Vertreibung aus dem Paradies auferlegten Schmerzen die Zukunft der Erlösung einzeichnet. Paradoxerweise ist es, als materialisierte sich im Fleisch die Spiritualisierung des Fleisches auf seine Erlösung hin. Das Verhältnis von Geburt im Fleische und Geburt im Geiste ist bei Ratzinger keines mehr von Opposition und Überwindung, von Verkehrung und Umschlag des Alten ins Neue Testament, es ist eines der Verheißung, das sich in Maria für ein Mal historisch-wörtlich erfüllte. Von Maria her sind Bios und Natur virtuell erlöst, wie die Beziehung zwischen Gott und Israel, der Synagoge, in der Liebe zwischen Gott und Maria, der Kirche, mehr als bloß überwunden, sondern vom Neuen Testament her erneut erfüllt wird. Jede fleischliche fruchtbare Ehe wäre mithin in der Gemeinschaft der geistlich fruchtbar Liebenden erfüllt wie die Synagoge in der Kirche erfüllt ist. Jeder fleischlichen wäre die geistige Geburt bereits eingetragen – als ein andauernder sensus anagogicus, auch wenn sich dieser erst vom Ende der Zeiten her ganz vollendete. Im Wort, das Fleisch wird,
ist schon die Hingabe zum Opfer, das Geheimnis des Kreuzes und das Geheimnis des daraus kommenden österlichen Sakramentes mit ausgesagt [...]. In der Fleischwerdung ist die Dynamik des Opfers eingeschlossen (Ratzinger 1997d, S. 80).
Das Wort, das Fleisch wird, ist nicht mehr als Umkehr der Geburt aus dem Fleische begriffen. Das Gebären im Geiste, das als Voraussetzung die aus der Gnade der göttlichen Liebe ermöglichte Preisgabe des Selbst hat, caritas statt Selbstbehauptung (Ratzinger zitiert Augustins Formel, nach der „dem leiblichen Empfangen das Empfangen im Geiste Marias vorranging“ (Ratzinger 1997c, S. 42)) hat im fleischlichen Empfangen und in der fleischlichen Geburt eine biologische Figur gefunden, die sich dereinst, einmalig, in der geistig-fleischlichen, jungfräulichen Geburt Marias erfüllt hat.
Das Risiko ist kein geringes, sieht man sich seine Tradition an. Bevor ich darauf komme, sei der Gewinn nicht unterschlagen, den eine solche Interpretation des Bios mit sich bringt. Er springt schon auf innerkirchlichem Terrain ins Auge: In der Jüdin Maria als der Erfüllung der alttestamentlichen Präfigurierung die vollständige, erfüllte Figur der Ecclesia zu erkennen, legt alle strukturellen Antisemitismen ad acta, die sich in der unversöhnlichen Entgegensetzung von Gesetz und Liebe zwischen Altem und Neuem Bund eingenistet hatten – er ist a priori ausgeschlossen, wo der Alte Bund zwischen Jahwe und der Synagoge im erneuerten Bund mit der Jüdin Maria als Ecclesia erfüllt sein soll, statt als überwunden zurückzulassen war. Die ebenso unvordenkliche, latente Verbindung von Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit ist damit in toto erledigt. Der allgemeinen Vermännlichung oder Maskulinisierung der Gesellschaft, in der das Subjekt sich selbst ermächtigt, und unter dessen Vorzeichen noch der Feminismus leide, zieht Benedikt eine Verfraulichung vor, deren liebende Selbstpreisgabe in der Figur von Mutter und Braut, in Empfangen und Gebären kulminiert. Aber er nimmt dabei eine Hypothek auf, die er mit der Moderne teilt: die Verbuchstäblichung von Figuren.
Rhetorisch betrachtet macht Benedikt nämlich folgendes: Er projiziert die geistliche Geburt auf die fleischliche, aus deren Bildern sie schöpft, zurück. Er überträgt eine Übertragung. Er nimmt die Metaphern spiritueller Mutterschaft wörtlich und findet sie in der „biologischen Bedingtheit“. Nur so kann die mystische Selbstpreisgabe in der fleischlichen Geburt und in der fraulichen „Fähigkeit für den anderen“ vorgezeichnet sein, statt sie zu verkehren. Damit kommt es zu einem Bedeutungsüberschuss, zu einer geistlichen Aufladung, die der biologischen Bedingtheit, dem „Frau-Sein“, zugeschrieben wird.
Empfängnis und Geburt, Mütterlichkeit, sind ganz anders gedeutet worden denn als liebende Preisgabe an einen anderen, dem ohne Selbsteingenommenheit Platz eingeräumt wird. Für Augustinus etwa ist die Überwindung der zähesten aller weltlichen Liebe, des Hängens der Mütter nämlich mit jeder Faser ihres Herzens an ihrem eigen Fleisch und Blut, Bedingung für das geistliche Gebären: „Der Mutter aus Fleisch und Blut geborenes Verlangen nahmst Du [sc. Gott] in die gerechte Zucht ihres geißelnden Schmerzes“, schreibt er, als er seine Mutter, von ihm getäuscht, allein in Karthago fassungslos vor Schmerz zurücklässt (Augustinus 1960, S. 219, 5. Buch). Nur so geläutert, kann sie ihn unter viel größeren Leiden nicht nur dem Fleische nach zum Tode, sondern dem Herzen nach zum ewigen Leben gebären. Es ist kein Wunder, dass der Weg zur Braut Christi, der Weg zu geistlicher Mütterlichkeit der Heiligen oft ganz wörtlich nur über den Leib ihrer Kinder führt, über den sie hinwegsteigen müssen wie Jeanne Françoise de Chantal über den sich ihr in den Weg werfenden Sohn.
Wenn wir mehr in die Moderne gehen, braucht man sich nur an Freud zu erinnern, der im Wunsch der Frau nach einem Kind das Begehren nach phallischer Vollkommenheit sieht. Es ist symptomatisch, dass Schwangerschaft und Gebären gerade im Zusammenhang mit der Entstehung des modernen Subjektbegriffs, in dem der Mann sich gegen und auf Kosten der Frau als selbstbestimmt, selbstbeherrscht und selbstbewusst definiert, kontrovers gedeutet werden. Sieht Simone de Beauvoir darin nichts als blindes, biologisches Geschehen, reine Passivität, die der Selbstbestimmung der Frau frontal im Weg steht, dann deutet Ellen Key Schwangerschaft und Geburt schlicht als Überbietung der Normen männlicher Subjektivität. Im Jahrhundert des Kindes beschreibt sie beides als den Höhepunkt selbstbehauptender Schöpfung. Sie verwandelt noch das „Weiblichste“ dem Vorbild männlicher, selbstbestimmter Subjektivität an, indem sie Schwangerschaft und Geburt als Momente begreift, in denen die Frau die Normen des männlichen Subjektes übertrifft. Die vielleicht interessanteste Interpretion von Schwangerschaft, mehr in die Richtung von Ratzinger gehend, stammt von Julia Kristeva. In Stabat mater liest sie den Bildtypus der Maria partans als Allegorie der Gespaltenheit des Subjektes, seinem „assujetti“, seinem grundsätzlichen Unterworfen sein. Hier offenbart sich eine Wahrheit, die sonst vom Phantasma des in Sich-Selbst-Stehens verdeckt wird. Auch das ein Versuch, weibliche Leiblichkeit gegen das hervorstechende Geschlecht des Mannes zu setzen.
Geistliche Mütterlichkeit beruht in der Texttradition, in der Ratzinger steht, auf einer Verkehrung oder zumindest auf einer Übersteigung fleischlicher Mütterlichkeit. Nichts spricht dafür, dass Empfangen, Gebären und die Liebe zu den eigenen Kindern Figur mystischer Selbstpreisgabe sind – die katholische Tradition legt, wenn ich richtig sehe, bis zum 19. Jahrhundert eher das Gegenteil nahe.
Halten wir zunächst fest: Das Plädoyer Ratzingers für eine Verweiblichung oder, wie er sagen würde, eine Verfraulichung ist mutig, ja wunderbar. Lächelnd nimmt ein Papst das, was die Moderne als den Inbegriff der Verworfenheit angesehen hatte, auf sich: die Verweiblichung des Männlichen. Nichts hat die Moderne, deren Grundzug sich im männlichen Protest, Protest der Männlichkeit versteift hatte, so sehr gezeichnet wie eine nachgerade pathologisch zu nennende gender anxiety: Angst um die männliche Geschlechtsidentität. Nichts hat die Moderne so unnachgiebig auszurotten versucht wie die allgemein gemachte und unterstellte unnatürliche, perverse Feminisierung des Männlichen durch Monarchie und katholische Kirche. In Reformation, Revolution, Republik war der Mann in ganzer, prangender Natürlichkeit wieder aufzurichten. Die Moderne trat als Selbstbehauptung eines Subjekts auf, dessen Männlichkeit als seine Menschlichkeit sich behauptete und in der Kirche den alten mit dem neuen Adam verraten fand. Im Namen einer so natürlich empfundenen wie wissenschaftlich erwiesenen Geschlechterordnung, war der Frau ihre natürlich vorpolitische Rolle im Haus und bei der Pflege der männlichen Potenz zugewiesen. Pointiert formuliert sah und sieht dieses neue, auf nichts als die Natur gegründete Ordnung der Geschlechter so aus, dass Frauen wegen ihres natürlichen Geschlechtes nicht die Menschen werden können, die die Männer ihrer Natur nach sind.
Deswegen bleibt das Beharren Ratzingers auf der natürlichen Geschlechtsidentität missverständlich und, wie mir scheint, überflüssig: Es geht gegen den Strich seiner eigenen Argumentation, die die Figur der mystischen Selbstpreisgabe, die in Maria Fleisch wird, für beide Geschlechter vorgezeichnet findet. Und so notwendig hier der Hinweis auf geistliche Mütterlichkeit ist, so ganz und gar überflüssig und missverständlich ist der Verweis auf „biologische Bedingtheit“. Ich halte es für das weibliche Geschlecht zwar für eine sehr schmeichelhafte, verführerische, aber letzten Endes keine wirklich gute Idee – und abgesehen davon für einen rhetorischen Fehler – diese Figur in der „biologischen Bedingtheit“ vorgezeichnet zu sehen. Benedikt verkennt, dass Mann und Frau bei aller gleichursprünglichen Geschaffenheit geschichtlich variable Größen sind. Noch die „biologische Bedingtheit“, von der er spricht, ist eher eine Metalepse, ein in den Ursprung projiziertes Resultat, als eine Grundlage für bestimmte (moderne) Subjekt- und Geschlechtsidentitätsannahmen. Dass Frauen „spontaner für den andern“ da sind (Ratzinger und Amato 2004, S. 20), scheint mir ein Gerücht. Auch scheint mir nichts außer „whishful thinking“ dafür zu sprechen, dass Frauen „diese Haltungen [sc. „Haltungen des Hörens, des Aufnehmens, der Demut, der Treue des Lobpreises“, kurz des Seins für den Anderen] mit besonderer Intensität und Natürlichkeit leben“ (Ratzinger und Amato 2004, S. 23).
Mann und Frau sind nicht erst in einem welthistorischen Verständnis, sondern bereits nach der Bibelhermeneutik nicht ständig dasselbe. Der Mann und die Frau, die Gott mit der Natur fürs Paradies schuf, waren nicht der Mann und die Frau, die nach dem Fall der Geschlechtlichkeit und dem Tod unterworfen wurden. Dementsprechend bleibt Marias Frau-Sein im sensus anagocicus des Neuen Testamentes etwas anderes als das Frau-Sein im Hier und Jetzt jeweiliger Geschichte.
Auch dass es sich bei der von Benedikt postulierten „Lösung des Menschen von seiner biologischen Bedingtheit“ (Ratzinger 1997c, S. 26) um einen für beide Geschlechter parallel verlaufenden Emanzipationsprozess gehandelt hätte, ist unrichtig. Richtiger ist vielmehr auch und gerade nach Ratzinger, dass der Mann der Moderne Mensch geworden ist, indem er die Frau zum bloßen Leben erniedrigt hat, um sich selbst des geschlechtlich geschaffenen Bios – abgesehen von den Momenten, wenn ihm die Natur so kommt – zu überheben. Er hat sich von jeder Geschöpflichkeit emanzipiert und die Frau ihr zur Gänze zu unterworfen, nicht zu sagen: sie phantasmatisch zu dem Geschöpf gemacht, das ihm unter Berufung auf ihre „biologische Bestimmtheit“ und, also, Bestimmung bestätigt, was er selbstbehauptet unter sich gelassen hat. Dass dieses Syndrom eine historische Größe, eine ideologische Spielmarke ist, steht mittlerweile außer Frage – was nicht heißt, dass sie beliebig wäre oder man gar beliebig darüber verfügen könnte. Wegen dieser Geschichte ist es so prekär, sich auf eine biologischnatürliche Grundlage der Geschlechter zu berufen, die Ratzinger gegen den Strich der massiven kirchlichen Modernisierungstendenzen – gegen die biblische Priorität des zuerst geschaffenen Mannes – auf den Plan gerufen hat, aber in ihrer biopolitischen Verhärtung nicht so leicht mehr los wird.
Wenn man die grundlegende moderne Konstruktion der Geschlechter und ihre radikal asymmetrische Stellung zur „Biologie“ außer acht lässt, fällt man leicht in den von der Moderne vorgezeichneten ideologischen Plot. Deswegen beschleicht einen bei der Lektüre Ratzingers, immer wenn es um den von ihm mit Bedacht so genannten Bios des als Mann und Frau Geschaffen-Seins geht, ein Unbehagen. Es sind die Argumente seiner entschiedendsten Gegner, die im Namen der „Natürlichkeit“ der Geschlechter aller Marienverehrung und a fortiori einer marianischen Kirche den Garaus gemacht haben. Es sind seine entschiedendsten Gegner, die noch die hingebungsvolle keusche Liebe der Braut Christi zu nichts als einer biologischen Funktion machen wollten. Deshalb müsste keinem mehr als diesem Papst an theoretischen Strömungen gelegen sein, in denen die Geschichtlichkeit oder, besser, die symbolische Verfasstheit der Geschlechter Gegenstand der Analyse ist.
Denn gerade diese Richtungen gehen mitnichten davon aus, dass es um eine „Emanzipation“ vom Bios gehen kann, der zu einem autarken Subjekt führe, das über ihn verfügen kann. Vielmehr zerbricht eine solche humanistische Subjektkonstruktion an der Differenz der Geschlechter, der ihr zum Stolperstein wird. Allerdings ist eine so verstandene Differenz der Geschlechter keine biologische Bedingtheit, sondern immer schon etwas vom Menschen Gedeutetes, etwas, aus dem wir nolens volens Sinn machen. Von Freud über Lacan, von Derrida über Cixous, Irigaray und Kristeva bis hin zu Judith Butler zeichnen sich diese Richtungen (bei aller Unterschiedlichkeit) durch einen Subjektbegriff aus, der dem modern-humanistischen Begriff eines selbstbestimmten, selbstbeherrschten, selbstbewussten Subjektes diametral entgegensteht. Alle gehen wie Ratzinger davon aus, dass das Subjekt nicht Herr im eigenen Hause ist und das In-sich-selbst-Stehen ein leeres Phantasma. Sie räumen dem Anderen, wenn sie darin auch nicht Gott sehen, eine Position ein, die für das Subjekt der Moderne nicht anders als kränkend sein kann.
Umgekehrt kann man sagen, dass rein empirisch das Bestehen auf geschlechtlicher Identität und der Natürlichkeit der Geschlechter fast immer – ich sehe keine Ausnahme – mit der vom Papst so kritisierten Subjektposition der Moderne einherging, um geschlechterpolitisch von unter gender anxiety stehenden Männern gegen Frauen gerichtet zu werden. Sehen wir uns einige Momente dieser Politik an. Die Monarchie ist, folgt man Montesquieu und Rousseau, vor allen Dingen deswegen von Übel, weil sie alle vornehmlich natürlichen Geschlechtsidentitäten zersetzt. Sie macht alle Männer zu Frauen: „faute de pouvoir devenir hommes, les femmes nous rendent femmes“ (Rousseau 1948, S. 135) oder, und hier ist schwer zu entscheiden, was das größere Übel für die Männer ist – zu Eunuchen, orientalisch fremd. Rousseaus Spott über die unnatürliche Ordnung der Geschlechter – sprich: die allgemeine Feminisierung –, die er in Paris am Werk sah, war grenzenlos; besorgt sah er bereits das reine, calvinistische Genf vom Virus der in Paris grassierenden Verweiblichung angegriffen. Der Stimme der Natur – „als Mann und Frau schuf er sie“ – sollte zu ihrem Recht verholfen, in einer brüderlichen Republik sollten Männer endlich wieder Männer sein dürfen. Bedingung dafür war, dass die Frauen aus der Öffentlichkeit verschwanden. Dieses Verschwinden wiederum machte, immer Rousseau zufolge, die Natur ihrer Weiblichkeit zwingend.
Wenn alle Menschen gleich sind, ist ihre Geschlechtlichkeit das hauptsächliche Distinktionsmerkmal. Im Namen der Natur, im Namen des Bios wurden den Frauen gleiche politische Rechte verweigert. Ganz Mensch können sie im Gegensatz zu den Männern nicht werden. Denn die Natürlichkeit des Geschlechtes hat – so Rousseau – für Männer und Frauen ganz verschiedene Konsequenzen: Der Mann ist nur wenige Augenblicke seines Lebens Mann – und das heißt seinem Geschlecht unterworfen. Sonst ist er Mensch. Die Frau hingegen bleibt so gut wie ihr ganzes Leben Frau. Ihre Geschlechtlichkeit beeindruckt sie in ganz anderer Weise: in den Regeln, in der Schwangerschaft, im Gebären und Stillen. Weil sie von ihrem Geschlecht bestimmt bleibt, kann sie den Normen des selbstbestimmten, selbstbeherrschten und selbstbewussten Subjektes nicht genügen. Fremdbestimmt von ihrem Bios, bleibt sie ihrer Geschlechtlichkeit unterworfen, über die sich der Mann als Mensch abgesehen von wenigen Augenblicken erheben kann.
Die Biologisierung betrifft nicht beide Geschlechter symmetrisch. Es ist vielmehr die ihrer Geschlechtlichkeit unterworfene Frau, die dem Subjekt des per definitionem männlichen Wissenschaftlers zum Objekt wird; tot oder lebendig wird sie in einer geschlechtlich polarisierten Versuchsanordnung der Geschlechter in Objekt (weiblich) und Subjekt (männlich) zum Gegenstand par excellence männlicher Forschung. Am extremsten wird dies im Theater der Autonomie, das im 19. Jahrhundert so eine zentrale Rolle spielen wird, coram publico gut sichtbar inszeniert. Dass viele feministische, emanzipatorische Bestrebungen sich gegen diese Biologisierung des Weiblichen gewendet haben, müsste der Papst als erster unterstützen. Dass manche feministische Denkerinnen wie Simone de Beauvoir versucht haben, die vorgeblich menschliche, tatsächlich männliche Subjektnorm auch für Frauen zu reklamieren, war innerhalb der gegebenen Diskurse nur allzu verständlich.
Die Moderne ist in der Bestimmung dessen, was Mann und Frau ist, den umgekehrten Weg gegangen, den Ratzinger vorschlägt: Kommt es hier zu einer latenten Spiritualisierung von Biologie, so kam es dort zu einer Biologisierung von Spiritualität – einer historisch vorgängigen, vermeintlich irrigen Spiritualität, die als Opium für das Volk nach Aufklärung zu schreien schien und mit den Priestern Wesen schuf, die, Hugo zu zitieren, weder Mann noch Frau waren. Der für die Moderne verhängnisvolle rhetorische Fehler der Verbuchstäblichung, das Patentrezept der Reformatoren des Wörtlich-Nehmens des religiös Überlieferten, nahm seinen Lauf. Bis zum heutigen Tage ist das Beharren auf biologisch buchstäblich unterstellten, natürlichen Geschlechtsidentitäten durchgängig von diesem „modernen“ Traditionsstrang affiziert.
Die ideologische Gemengelage des nachrevolutionären Frankreich ist ein instruktives Feld. Richtete sich der Diskurs der französischen Aufklärung primär gegen die Monarchie, so der des Republikanismus des 19. Jahrhunderts gegen die katholische Kirche. Es ist mittlerweile Allgemeingut der Forschung geworden, dass Selbstentwurf und Selbstbeschreibung der Moderne der Religion und insbesondere der katholischen Religion den Prozess machten. Die katholische Kirche wurde als kultureller Gegenentwurf zur Moderne, als elementare Bedrohung des Projektes der Moderne gesehen. Als das schlechthin Andere von Nation, Vernunft und Moderne wurde die katholische Kirche nicht nur mit Internationalismus, Irrationalität und Rückschrittlichkeit assoziiert, sondern in einem stark gegenderten Diskurs mit Weiblichkeit, sexueller Devianz und Hysterie gleichgesetzt. Katholisch wurde synonym mit Widernatürlichkeit. Im aufgeklärten modernen Diskurs des männlichen, nationalen, liberalen republikanischen Subjekts, der selbstredend hegemonial war, kam es zu einer Femininisierung des Katholizismus, einer Sexualisierung des Klerus und einer Pathologisierung der Gläubigen. Keuschheit, einmal im bürgerlichen Dispositiv der Sexualität reformuliert zur sexuellen Abstinenz geworden, hatte wenig Chancen.
So wurde in Frankreich der Versuch unternommen, im Namen des Bios auf den Spuren Luthers die „wahre und natürliche Familie“ zu etablieren und eine endlich natürliche Geschlechterordnung zu propagieren, in der das als widernatürlich empfundene Zölibat und das Keuschheitsgelübde keinen Platz mehr haben. Zum Inbegriff der Pervertierung einer natürlichen Geschlechtlichkeit wurde die Marienfrömmigkeit; sie wurde als Gegenfigur, als Leugnung des „als Mann und Frau schuf er sie“ interpretiert. Eine Jungfrauengeburt, gelesen als ein nicht vom Mann gezeugtes Kind, wurde im Diskurs der Sexualität zum Gipfel des Widernatürlichen. Der Autor, der dies am folgen- und einflussreichsten in seinem Gesamtwerk illustriert hat, ist ohne Zweifel Émile Zola. Der Katholizismus, eine in seiner Perspektive im wahrsten Sinne des Wortes sterile Religion zum Tode, predigt die Fruchtlosigkeit und ist für Zola, es mit Benedikt XVI. zu formulieren, schlicht die Leugnung des Bios. Gleichbedeutend mit männlicher Kastration und weiblicher, steriler, hysterischer, überschüssiger Leidenschaft stellt sie die Herrschaft von Vernunft, Wissenschaft und der Ordnung der Geschlechter in Frage. Mit einer seltenen Radikalität hat Zola sich dem Kampf gegen die Kirche, und im Besonderen gegen den Marienkult im Namen einer natürlichen Mütterlichkeit und einer gesunden Geschlechtlichkeit verschrieben: „Als Mann und Frau schuf er sie“.
Angesichts dieser, grundsätzlich auf die natürliche Verschiedenheit der Geschlechter pochenden und auf Geschlechtsidentität beharrenden Tradition – die sich wohlgemerkt gegen das Jungfräulichkeitsideal der Kirche im Namen männlicher Selbstermächtigung entwickelt – ist es deprimierend, wenn ausgerechnet die katholische Kirche jetzt in ihrer Realpolitik die douceur du foyer, Teilzeitarbeit für Frauen und ein bürgerliches Familienideal, beruhend auf der natürlichen Verschiedenheit der Geschlechter predigt. Ihre Tradition birgt Besseres und Interessanteres. Um pragmatisch und mit einem Seitenhieb auf die propagierte bürgerliche, nun wirklich zeitgebundene Familienpolitik desselben Ratzingers zu schließen: Wenn das, was man „‚Fraulichkeit‘ nennt, mehr als ein Attribut des weiblichen Geschlechtes ist“, sondern „die grundlegende Fähigkeit des Menschen“ beschreibt, „für den anderen und dank des anderen zu leben“ (Ratzinger und Amato 2004, S. 20), dann muss man sich fragen, warum nicht auch oder vielleicht gerade (historischer Nachholbedarf!) dem Mann die Chance gegeben werden sollte, diese Fähigkeit des Seins für den anderen durch seine Sendung in der Familie nachzukommen, „seine ganze Zeit der häuslichen Arbeit zu widmen, ohne sozial gebrandmarkt und wirtschaftlich bestraft zu werden. Jene hingegen, die auch andere Tätigkeiten verrichten möchten, könnten dies in einem angepassten Arbeitsrhythmus tun, ohne vor die Alternative gestellt zu werden, ihr Familienleben aufzugeben oder einer ständigen Stresssituation ausgesetzt zu sein, die weder dem persönlichen Gleichgewicht noch der Harmonie in der Familie förderlich ist“.
Die katholische Kirche sollte nicht mit Berufung auf natürliche Unterschiedlichkeit und Komplementarität der Geschlechter eine Geschlechterordnung propagieren, wie sie ihren Höhepunkt in der bürgerlichen Familie mit der Ehe als Versorgungsinstitution findet. Auf dem Terrain der auf eine Natürlichkeit der Geschlechter gründenden Familienpolitik waren ihr die Protestanten von vornherein überlegen. Die Kirche sollte sich auf ihre gerade in Geschlechterfragen oft widerständige Tradition besinnen und vielmehr an ihre großen Heiligen erinnern, deren hervorstechendes Merkmal sicher nicht „natürliche Weiblichkeit“ war. Gegen den Strom der Zeit lag ihnen die „Sendung der Frau in der Familie“ nicht halb so sehr am Herzen wie ihre ganz unnatürliche, hingebungsvolle Liebe zum ersten besten nächsten und zu Gott.
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1 Dieser Aufsatz erschien in einer längeren Version unter dem Titel „Aufhebung ins Weibliche – Mariologie und bloßes Leben bei Joseph Ratzinger, Papst Benedikt XVI.“ In: Meinecke, T., Vinken, B., Menke, B., Zizek, S. (2006): Ratzinger-Funktion. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 24–55.
2 Zitiert nach Bernhard von Clairvaux 1993, S. 113–115.
Armin Nassehi
Ethische Fragen sind Begründungsfragen. Wenn Ethik die Reflexion der Moral ist, moralischer Entscheidungen, moralischen Handelns und moralischer Orientierung, dann versieht die Ethik die Moral mit Gründen. Sie setzt gewissermaßen eine eigene Praxis vor die Praxis: Die Praxis der Begründung vor die Praxis des Handelns. Deshalb sprechen wir von moralischem Handeln, nicht aber von ethischem Handeln – was ja genau genommen eine spezifische Handlungsform meint, die darauf zielt, für moralische Fragen Gründe zu generieren. Es ist dies ein besonderer wissenschaftlicher oder wenigstens wissenschaftsförmiger Handlungstypus, bei dem es tatsächlich darum geht, konsistente Sätze in Form konsistenter Begründungen zu formulieren, also gewissermaßen einen Versuchsaufbau zu installieren, in dem man einerseits davon ausgeht, dass alltägliche, moralisch relevante Handlungen sich stets nach den Maximen von Begründungen richten, in dem man andererseits einen Akteur, einen Menschen unterstellt, der als der alleinige Urheber und Autor dessen gilt, was als Handlung beobachtbar wird. Dies ist gewissermaßen die Geschäftsgrundlage für jene Denkungsart, die gemeinhin als philosophische Ethik fungiert. Und sie so dekonstruierend zu beschreiben, heißt keineswegs, dies zu kritisieren, sondern nur, darauf hinzuweisen, aufgrund welcher selbsttragenden Bedingungen ethische Begründungsformen und -formeln praktisch funktionieren.
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