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"Ein Mörder entkommt aus dem berüchtigten Zuchthaus von Dartmoor. Auf seiner Flucht hinterlässt er eine blutige Spur, die Scotland Yard bis auf eine mittelalterliche Burg in Süddeutschland führt. Der Scharfsinn von Chief Inspector Ebenezer Pommeroy junior ist gefragt."
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Seitenzahl: 233
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In dieser Reihe bisher erschienen
1901 Dietmar Kuegler Der unheimliche Pfeifer von Blending Castle
1902 Dietmar Kuegler Die goldenen Mönche
1903 Thomas Tippner Im Bann des Erlösers
1904 J. J. Preyer Der Spieler
1905 Reiner F. Hornig Das Geheimnis der toten Augen
1906 Thomas Tippner Die verlorenen Mädchen von London
1907 Thomas Tippner Die Flussratten von London
1908 Thomas Tippner Der Kreis der Verschworenen
1909 Reiner F. Hornig Das Erbe des Magiers
Edgar Wallace - Neue Abenteuer
Buch 5
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Copyright © 2022 Blitz Verlag, eine Marke der Silberscore Beteiligungs GmbH, Mühlsteig 10, A-6633 Biberwier
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Logo: Mark Freier
Satz: Gero Reimer
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-95719-075-8
1905 vom 25.08.2024
Prolog – Feuer im Schloss
1. Die Tür mit den sieben Schlössern
2. Das Geheimnis der gelben Narzissen
3. Ein gerissener Kerl
4. Das Gasthaus an der Themse
5. Der Frosch mit der Maske
6. Hands up!
7. Der Safe mit dem Rätselschloss
8. Die Bande des Schreckens
9. Der Mann, der seinen Namen änderte
10. Das Steckenpferd des alten Derrick
11. Der unheimliche Mönch
12. Das Gesicht im Dunkeln
13. Der Diamantenfluss
14. Zimmer 13
15. Der Redner
16. In den Tod geschickt
17. Die gebogene Kerze
18. Die gelbe Schlange
19. Die Melodie des Todes
20. Der Schwarze Abt
21. Das geheimnisvolle Haus
22. Der Mann, der alles wusste
EPILOG: Der Engel des Schreckens
Nachwort des Autors
Whatever your reason to visit ... you should always leave with a compelling reason to return.
(Warum auch immer Sie uns besucht haben ...
Sie werden mit Sicherheit einen Grund finden,
wiederzukommen.)
Inschrift: The King’s Head Pub, Church Road,
Little Marlow
... Wie ein Diamant auf Wunden.
Die Zeile fiel ihr ein. Sie mussten sie im Englischunterricht bei ihrer Hauslehrerin gelernt haben.
Das alles war jetzt schon so viele Jahre her, dass es ihr vorkam, als wäre es in einem anderen Leben gewesen. In einem Leben vor ihrem Leben.
Wie sie damals zusammen mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder eine unbeschwerte Kindheit erlebt hatte. Wie sie beide im Anschluss an die Unterrichtsstunden bei Miss Pargeter in den Gängen, Treppenhäusern und Zimmern des Schlosses gespielt und herumgetollt hatten. In den unendlich langen Gängen, auf den Stufen der unendlich hohen Wendeltreppen, in der unendlichen Anzahl von Zimmern und Sälen. Von den dunklen Kellergewölben bis hinauf zu den Zinnen der Wehrtürme lebten sie Tag aus, Tag ein in einer märchenhaften Welt. In ihrer Welt.
Und zwischendurch ruhten sie sich dann auf dem dicken roten Teppich vor der Ahnengalerie aus, wo sie erschöpft und doch gleichzeitig zufrieden mit sich und der Welt auf dem Boden saßen, während ihre Vorfahren und auch alle noch lebenden Familienmitglieder aus mächtigen, mit Blattgold verzierten Rahmen mahnend auf die beiden Geschwister hinabsahen. Mit ihren in Öl gemalten Augen. Mit ihren toten Augen.
Die männlichen Ahnen mit Zylindern oder gar in eisernen Harnischen mit hochgezogenem Visier porträtiert, die weiblichen mit hochgesteckten Frisuren und mit prunkvollem Geschmeide behangen. Diamanten, überall nur Diamanten ...
Um Diamanten und Rubine hatte sich ihr ganzes junges Leben gedreht, vielmehr das Leben ihrer Eltern. So lange, bis ihr Vater auch die allerletzten Steine verloren hatte. Durch eine unehrenhafte Wette. Und was sollte jetzt bloß aus ihnen allen werden?
Eine ungewisse Zukunft züngelte wie alles verzehrende Flammen aus den Ecken und Winkeln des alten Schlosses und drohte, ihre unbeschwerte Gegenwart für immer zu zerstören. Feuer im Schloss!
Und bald schon würden die Bedrohungen der nahen Zukunft auf ihren gepeinigten Leibern zu brennen beginnen wie ein Diamant auf Wunden ...
In der Vergangenheit
Draußen senkte sich allmählich das dunkle Leichentuch der Nacht über die einsame Kulisse von Englands berüchtigtem Zuchthaus. Nur langsam, fast vorsichtig, kletterte der volle Mond das blauschwarze Firmament empor und verteilte dabei sein gespenstisches Licht über Dartmoor.
Drinnen schob Chief Warden Alex Bledloe behäbig seinen dicken Bauch vom Fenster und knipste die spärliche Beleuchtung in dem kleinen Wachraum an. Dann begann er, es sich in seinem Ohrensessel gemütlich zu machen, und schlug die Abendzeitung auf. Gleich darauf betrat sein junger Kollege Tony Bonelli das Zimmer und warf einen Blick auf die kahle Wanduhr über dem Kamin. Unter den Arm geklemmt trug er einen Schmöker, den er am Vortag aus der Gefängnisbibliothek entliehen hatte.
„Nimm ruhig Platz, Kleiner“, lud ihn Bledloe launig ein und deutete dabei auf den anderen, noch freien Ohrensessel in dem Raum. „Es wartet auf dich eine Umarmung der ganz besonderen Art, wie von einer jungen, hübschen Maid. Wenn da nur nicht die rostigen Spiralfedern dazwischenkommen würden!“ Seine Bemerkung war ihm jetzt ein polterndes Lachen wert.
Behaglich ließ Tony Bonelli sich in den zweiten Sessel fallen und wandte sich gut gelaunt zu seinem älteren Kollegen um.
„Noch fast eine Stunde bis um elf. Erster Sicherheitsrundgang nach der Wachübernahme“, meinte er dann lapidar. Bledloe grunzte nur laut und vernehmlich.
„Dann wird es ernst für uns, du Grünschnabel! Bis dahin kannst du dich ja von deinem Meister Wallace schon mal das Gruseln lehren lassen!“
Neues vom Hexer, verkündete der Titel des dicken Schmökers mit vor Blut triefenden Lettern, welchen Bonelli jetzt über seinen schlanken Beinen aufgeschlagen hatte. Zur Bekräftigung des unheilvollen Titels prangte noch das gemalte Gesicht einer jungen Dame mit ausladendem Dekolleté auf dem Buchcover, deren schmallippiger Mund vor Angst und Entsetzen weit geöffnet war. Man konnte das bedauernswerte Opfer des Hexers förmlich schreien hören!
„So schlimm?“, wollte Bonelli wissen. „Heute ist doch mein erster Tag hier in Dartmoor.“
„Deine erste Nacht, Grünschnabel!“, musste sich der Neuling belehren lassen. „Wenn du nach dieser Schicht deinen Schlaf nachholst, wirst du von den schlimmsten Albträumen gepackt werden, die du je hattest. Schlimmere, als alle unsere Gäste im Todestrakt zusammen sich jemals an solche erinnern können!“, prophezeite er ihm grinsend.
Mulmig blickte Bonelli von seinem Krimi hoch und wandte sich an Bledloe.
„Wirklich so schlimm?“, wiederholte er noch einmal seine Frage.
Der Angesprochene versuchte, seinem schwabbeligen Doppelkinn ein ehrfürchtiges Nicken abzuringen. „Schon allein Turtle, unser Stargast, hat schon mehr Leute auf dem Gewissen, als du Finger an beiden Händen hast. Aber seit Ihre Majestät, die Queen, die Todesstrafe abgeschafft hat, bedenkt uns der unheimliche Kerl Tag für Tag aufs Neue mit seinen Todeswünschen. Wohl bis an unser aller Lebensende.“
Bonelli blinzelte neugierig. „Weiß man Genaueres über seine Gräueltaten?“
„Nun, damals auf Chelford Castle, oben im kalten Norden, war Turtle der Butler des dritten Earl of Chelford. Schon bald nach seiner Einstellung begann es mit den grauenvollen Morden. Eine Erbschaftsangelegenheit, dachte die Polizei damals. Erst der junge Earl, dann seine beiden Schwestern. Altersschwache Kronleuchter, bröckelnde Stufen im Westturm, Gift in der Minzsoße des Wildschweinbratens ...“
Der junge Bonelli lauschte angespannt den Worten seines Kollegen. Sein Gesicht wurde von Mal zu Mal blasser.
„Zuerst dachte niemand an den buckligen Butler. Was hätte er auch für einen Vorteil aus der ganzen Geschichte ziehen sollen? Später zog man dann Scotland Yard zurate, und die alten Spürhunde aus London witterten sofort einen Verdacht. Aber der Butler konnte jedes Mal ein wasserdichtes Alibi für die Taten erbringen, und so verliefen mit der Zeit alle Spuren im Sand. Bis dann zum Schluss mit einem Male das ganze Schloss in Flammen stand und man den letzten Earl von Chelford nur noch als verkohlte Mumie zu Grabe tragen konnte.
Bald darauf erwischten die Ortsgendarmen den buckligen Bediensteten, als er mit schwerem Gerät das noch rauchende Schlossgemäuer zu durchwühlen versuchte.
Der Schatz! Der Schatz!, soll er immer wieder mit einem irren Ausdruck in den Augen gerufen haben. Endlich gehört der Schatz von Chelford mir allein!
Aber wenn du mich fragst, Grünschnabel, hat der Wahnsinn ihn schon vor vielen Jahren in seinen Würgegriff genommen. Schon bevor er den ersten Mord beging!“
Mit einem Male fühlte sich Bonelli nicht mehr so ganz wohl in seiner Haut. Unsicher blickte er auf die silberne Uhr, die auf dem staubigen Kaminsims stand. Ihre Zeiger näherten sich immer mehr den geschwungenen Ziffern der elften Stunde. Die Zeiger der stummen Wanduhr über dem Kamin taten es ihr gleich.
Nicht lange, und elf kurze Schläge verzauberten den spartanisch ausgestatteten Wachraum mit ihrem silbernen Klang. Von Zauber kann hier wohl keine Rede sein, dachte Bonelli fröstelnd und erhob sich kurzerhand.
Auch Chief Warden wand sich jetzt umständlich aus den schon etwas verblichenen Polstern seines Sessels.
„Dann wollen wir mal“, meinte er nur gelangweilt. Zusammen verließen sie den Wachraum und schritten zur kupfernen Stechuhr draußen in dem nur schwach beleuchteten Zellengang.
Drei Stockwerke weiter oben waren sie im sogenannten Todestrakt angelangt und schickten sich umständlich an, die erste Schleuse aufzuschließen. Erst nach dem Öffnen von zwei weiteren Gittertüren standen sie am Ziel ihres Wachganges. Eine unheimliche Stille umfing sie in dem kahlen Korridor.
* * *
Das Zuchthaus von Dartmoor stand so gut wie leer. Die meisten Häftlinge hatte man entweder nach und nach entlassen oder in die umliegenden Gefängnisse ausgelagert, weil das Justizministerium Ihrer Majestät, der Queen, der Ansicht war, dass die Insassen des Gebäudes nicht mehr nach dem neuesten Stand der Zeit beherbergt wurden.
Ein Museum will man jetzt aus dem alten Kasten machen!, dachte Chief Warden angewidert. Bald würde es auch mit den Wachgängen im Obergeschoss vorbei sein, und das noch verbliebene Aufsichtspersonal würde dann Tag für Tag nur noch neugierige Touristen durch ein leer stehendes Zuchthaus schleusen.
Missis Pauline Haggerty, die Gefängnisdirektorin, von allen nur Missis Furious, die Zornige, genannt, hatte Bledloe schon mehr als einmal angedroht, dass sie ihn bereits wegen des geringsten Vergehens während seines Wachdienstes dazu verdonnern würde, für künftige Besucher als das Zuchthausgespenst von Dartmoor durch die leeren Gänge zu spuken. Nein, da würde er sich lieber für den Rest seiner alten Tage in das zu einem Andenkenladen umfunktionierte Wärterhäuschen neben dem Haupttor setzen und dort eine ruhige Kugel schieben!
Bledloe und Bonelli hatten mittlerweile alle anderen Zellen abgeklappert und waren schließlich bei der Tür des Monsters, von Turtle, der Schildkröte, angelangt.
Die meisten Insassen hatten bereits ihr Licht ausgeknipst und schliefen einen Schlaf, den man keinesfalls einen der Gerechten nennen konnte. Andere hatten über ihrem spärlich ausgestatteten Bett noch die Leselampe an und suchten in ihrer ausgeliehenen Bettlektüre einen baldigen Schlaf.
„Weißt du, Grünschnabel, arbeiten dürfen die ja alle nicht. Wär’ ja auch viel zu gefährlich! Lässt man sie nur einmal aus der Zelle raus, bekommt sie keiner jemals wieder unter Kontrolle. Manche von den Bestien haben ihren Wärtern schon ganze Finger abgebissen und unzerkaut hinuntergeschluckt! Deshalb kriegen sie auch gerne von uns Bücher aus der Gefängnisbibliothek gebracht. Zur Ablenkung.
Allerdings ... wenn einer von denen von unseren Psychiatern als suizidgefährdet eingestuft ist, geht das natürlich gar nicht! So ein Blatt Papier aus einem Buch ist dreimal so scharf wie jedes Küchenmesser ... und schwups, wie leicht sind die Pulsadern damit aufgeschlitzt!“
Bonelli, der sich im Grunde seines Herzens zartbesaiteter wusste, als ihm lieb war, zog instinktiv die Ärmel seiner Dienstjacke über seine Fingerknochen.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Grünschnabel jetzt auf die Zellentür des psychopathischen Vielfachmörders, ihres letzten Kunden, bevor sie den ersten Kontrollgang in dieser Nacht dann beruhigt abhaken konnten.
Sein Partner schluckte tief und schickte sich dann umständlich an, die unausgesprochene Frage seines jungen Kollegen zu beantworten.
„Nun ja“, begann er dann, sich mehrmals verlegen räuspernd. „Wie du ja bereits weißt, hat jede Zellentür bei uns gleich zwei schwere Sicherheitsschlösser eingebaut bekommen. Alle Männer des Wachpersonals fürchten jedoch, dass diese nicht ausreichen, um die Schildkröte eines Tages an einem Ausbruch zu hindern. Deshalb malten oder kratzten sie im Laufe der Jahre in ihrer Angst noch einige symbolische Schlüssellöcher und auch Vorhängeschlösser auf die Zellentür. Insgesamt sieben sind es bislang geworden.“
Die Tür mit den Sieben Schlössern! Bonelli dachte ehrfürchtig an einen Buchtitel seines von ihm so sehr verehrten Krimiautors.
„Aus Sicherheitsgründen hat jeder von uns mehr als doppelt so viele Schlüssel an seinem Bund hängen, als er in Wirklichkeit braucht.“
„Verstehe!“, nickte Bonelli eifrig. „Sollte jemals ein Häftling in den Besitz eines solchen Schlüsselbundes gelangen, benötigt er wesentlich mehr Zeit, bis er auch nur eines von den vielen Sicherheitsschlössern damit öffnen kann.“
Inzwischen hatte Bledloe einen bestimmten Schlüssel in eines der beiden kleinen Schlösser neben der auf Augenhöhe liegenden Türluke gesteckt und drehte ihn vorsichtig um. Das Schloss war dazu gemacht, dass man die kleine Luke mit einem Schieber öffnen konnte. Das andere Schloss löste eine Klappe unter der Türluke aus, auf der man das Essenstablett oder sonstige Gegenstände in die Zelle reichen konnte. Die Klappe durfte nicht die ganze Zeit über ausgefahren bleiben, damit die Häftlinge sich nicht daran verletzen konnten.
„Nichts zu sehen“, stellte Chief Warden nüchtern fest. „Das Zellenlicht ist schon ausgeschaltet.“
Vorsichtig dreht er an einem neben der Tür an der Wand befestigten Schalter und wartete den Bruchteil einer Sekunde lang ab, bis der spärlich eingerichtete Zellenraum von dem rötlichen Notlicht erhellt wurde.
„Verdammt!“, brach es schnaufend aus ihm hervor. „Nicht im Bett und nicht auf der Kloschüssel! Der Kerl muss sich irgendwo versteckt haben. So ein Teufel aber auch!“
Eilends holte er einen kleinen Taschenspiegel aus seiner Jackentasche, schob ihn vorsichtig in die Türluke hinein und drehte ihn dann langsam nach allen Seiten, um die im toten Winkel der Zelle liegenden Ecken damit auszukundschaften. Sein Kollege rechnete jeden Augenblick damit, dass er den Spiegel mit einem wilden Schrei fallen lassen würde, weil die Bestie ihm in die Hand gebissen hatte.
Doch nichts dergleichen trat ein.
Immer weiter drehte Bledloe den Spiegel langsam um sein Handgelenk, bis er plötzlich abrupt innehielt.
„Er ... er hängt hin ... hinter der T-Tür!“, stotterte er, zu Tode erschrocken.
Eiligst zog er seine Hand aus der Luke zurück und verstaute den kleinen Spiegel wieder in seiner Anstaltsuniform.
„Müssten wir nicht spätestens jetzt Alarm auslösen?“ Umsichtig erinnerte sich der Neuling an die bestehenden Vorschriften, doch sein älterer Kollege tat so, als habe er ihm nicht zugehört. Rasch nahm dieser seinen Schlüsselbund in die Hand und schloss damit das Erste der beiden großen Türschlösser auf. Die Angst fuhr ihm wie eine züngelnde Viper seine Wirbelsäule hoch. Kalter Schweiß breitete sich auf seiner Stirn aus.
„Schnell, die Pistole!“, flüsterte er keuchend. Wie durch einen Zaubertrick hervorgebracht, hielt er sie bereits in der Hand. Bonelli tat es ihm nach.
Dann wurde auch der Schlüssel in dem zweiten Schloss herumgedreht.
Vorsichtig öffneten sie die Tür zu der Zelle, sich gegenseitig Feuerschutz gebend.
Als sie die stählerne Tür halb geöffnet hatten, lugte Bledloe um ihren Falz und erhellte mit einer starken Stablampe das grauenvolle Szenario, welches sich ihnen nun präsentierte.
„Aber das ist doch ... nur ...!“, stotterte jetzt auch Bonelli und blickte noch einmal genau auf das leblose Bündel, welches vor ihren Augen hinter der Zellentür von der Decke baumelte.
„Das ist ja gar nicht Turtle!“, riefen sie beide wie aus einem Munde.
„Nur in Laken eingewickeltes Bettzeug, in einer Schlinge aus gedrehtem Leintuch oben an der Wasserleitung befestigt!“
„Und wo ist die Schildkröte jetzt wirklich?“, stammelte Bledloe erschrocken.
„Hier in der Zelle jedenfalls nicht mehr!“
Bonelli legte ihm vorsichtig eine Hand auf seine Schulter.
„Das Ganze ist bestimmt ein Trick“, flüsterte er seinem Kollegen ins Ohr. „Wir sollten weiterhin auf der Hut sein!“
Mit einem heftigen Kopfnicken lenkte er die Blicke Chief Wardens auf den hohen Einbauschrank, der neben der stählernen Toilettenschüssel in die Zellenwand eingelassen war. Den linken Zeigefinger vor seine trockenen Lippen gelegt, in der Rechten seine schussbereite Dienstwaffe fest umklammert, näherte er sich jetzt auf leisen Sohlen dem Wandschrank, dicht gefolgt von seinem ebenfalls bewaffneten Kollegen. Langsam, unendlich langsam, öffnete er die Blechtür des Schrankes und leuchtete vorsichtig hinein. Als er die Tür vollends geöffnet hatte, fiel ihm vor lauter Entsetzen die Stablampe aus seiner linken Hand. Seine Waffe in der anderen zitterte bedenklich.
* * *
Die Architekten, die das berühmte Zuchthaus vor über 200 Jahren nach ihren Plänen erbauen ließen, weilten schon lange nicht mehr unter den Lebenden. Sie hatten damals jeden Winkel der gut drei Meter hohen Räume ausgenutzt, um keinen unnötigen Platz zu verschwenden. Beim Einbau der bis zur Decke reichenden Wandschränke jedoch hätten sie es sich damals höchstwahrscheinlich nicht träumen lassen, dass eines Tages ein Häftling ihren Hang zu wohnbaulichen Platzsparmaßnahmen schändlich missbrauchen würde.
Der Häftling, auf den diese Tatsache erstmals in der Geschichte des Zuchthauses von Princetown, Dartmoor, zutraf, war niemand anderes als Albert Sutcliffe, genannt Turtle, die Schildkröte. Gefährlicher Schwerverbrecher, unheilbarer Psychopath, und als zigfacher Mörder zu zehn Mal lebenslänglicher Haft unter strengster Sicherheitsverwahrung verurteilt. Ihr unbestrittener Star des Todestraktes.
Beinahe friedlich baumelte er jetzt etwas über Augenhöhe vor den sprachlosen Beamten an einer massiven Kleiderstange aus Messing, einen umgeworfenen Schemel zu seinen Füßen.
Fast anklagend blickte er die beiden mit großen, hervorgequollenen Augäpfeln an, während das helle Mondlicht durch die Gitterstäbe auf sein blasses Gesicht schien.
Ein Erhängter bietet kein erfreuliches Bild. Blässliche oder violette Lippen, Blaufärbung des Gesichts, Blutungen der Augenbindehäute, Schaum und möglicherweise Blutspuren um Mund und Nase, eine bleckende Zunge und verkrampfte Finger – das sind die unverkennbaren Anzeichen eines Erstickungstods mit Genickbruch.
Als Bledloe in die Augen des langsam vor ihm baumelnden Monsters starrte, kroch ein sonderbares Gefühl der Betäubung in ihm hoch. Er versuchte, die Augen vor dem unheimlichen Anblick zu schließen, wollte sich abwenden und davonlaufen, aber kein einziger Muskel seines Körpers gehorchte seinem Willen.
Bledloe und Bonelli standen noch eine ganze Weile wie gelähmt da, dann verließen sie fluchtartig die entsetzliche Kulisse und stürmten die Gänge entlang und Treppen hinab in Richtung Wachstube, um endlich pflichtbewusst den Alarm auszulösen.
Die letzte Erinnerung, die Bledloe mit auf den Weg nahm, war Turtles irres Lächeln.
Ein Lächeln, wie es noch viele sehen sollten, bevor sie starben ...
Einige Jahre später
Die Sonne stand schon ein gutes Stück über dem Horizont über Buckinghamshire, als der Fremde an diesem späten Vormittag am Bahnhof von Marlow aus dem Regional-Express der Great Western Railway Eisenbahngesellschaft ausstieg und sich blinzelnd auf dem einsamen Bahnsteig umsah.
Als er vor vielen Jahren schon einmal in dem kleinen Städtchen aus dem Zug gestiegen war, war Marlow noch einer von zahlreichen Bahnhöfen auf der viel befahrenen Strecke von London über Maidenhead nach High Wycombe gewesen, vor nahezu hundert Jahren von Isambard Kingdom Brunel erbaut, dem berühmten technischen Pionier des Zeitalters der Industriellen Revolution. Dessen Vater hatte damals den ersten Tunnel unter der Themse hindurch gebaut. Aber heutzutage war das einzige noch befahrbare Gleis direkt in Marlow Terminus Station mit einer großen Betonplatte verplombt, und alle noch im Zug verbliebenen Fahrgäste waren nun gezwungen, von hier aus mit dem Bus weiterzureisen.
Auch das historische Bahnhofsgebäude hatte längst einem einstöckigen Flachdachkonstrukt weichen müssen, das außer einer kleinen Wartehalle nur noch einen Schalterraum für den Ticketverkauf sowie einen angrenzenden Zeitungskiosk beherbergte.
Der junge Bahnbeamte der kleinen Station saß aufrecht hinter einer großen Glasscheibe am Schalter und gab dem fremden Fahrgast bereitwillig Auskunft.
„Der Vorort Little Marlow ist nur ein Katzensprung vom Bahnhof hier entfernt. Sie können aber gerne auch ein Taxi nehmen. Sie müssen mir nur noch sagen, Sir, welchen der drei dortigen Friedhöfe Sie besuchen wollen!“
„Gleich drei Friedhöfe?“, wunderte sich der Fremde und hielt seinen Bowlerhut an der Krempe fest, damit der verspielte Frühlingswind ihn nicht schelmisch fortwehen konnte.
Der Dienstmann nickte und grinste breit über seine vollen Lippen.
Seiner Hautfarbe nach stammte er von einem Kontinent, auf dem man heute noch Jagd auf Großwild wegen des Elfenbeins machte.
Sein Vater hatte jenes Land geliebt, mitsamt seinen Ureinwohnern. Zahlreiche Abenteuerromane aus seiner Feder legten noch heute davon ein beredtes Zeugnis davon ab. Als Vollblutjournalist aus der Londoner Fleet Street hatte er schon früh dafür plädiert, das Ende der Kolonialherrschaft endlich einzuläuten.
„Und auch noch zwei recht gemütliche Pubs, M’sieur“, fügte der Beamte stolz hinzu. „The King’s Head und The Queen’s Head ...“
„Ach du meine Güte! Das komplette Königspaar geköpft? Das will mir doch ganz nach einer abgesprochenen Revolution ausschauen!“ Der Farbige wieherte daraufhin vor Lachen.
„Und nur zwei Pubs, aber dafür gleich drei Friedhöfe“, überlegte der Fremde jetzt laut weiter. Er war sich im Klaren darüber, dass dem guten Mann sein französischer Akzent nicht verborgen geblieben war.
„Kann man daraus etwaige Rückschlüsse über die Qualität der Ales ziehen, die hier im Ort ausgeschenkt werden?“
„Sie sind gut, Sir!“ Erneut bebte ein Lachen über seine ebenholzfarbenen Gesichtszüge. „Nur keine Sorge, mit unserem Bier hier ist alles in Ordnung. Das Buckingham Brown ist übrigens sehr zu empfehlen, M’sieur!“
„Sie haben aber auch einen guten Humor, Mann. Mit Hinblick auf Ihre Hautfarbe hätte ich mir diese Bemerkung nicht erlauben dürfen.“ Nur zögerlich fiel der Fremde jetzt in das Lachen des Schalterbeamten mit ein.
Die weiße Zahnreihe in dessen Gesicht schien immer größer zu werden.
„Meine Mom sagte immer: Humor ist nur, wenn alle lachen, M’sieur!“ Grinsend klärte er seinen Fahrgast auf. „Wir hätten da einmal den Fern Lane Churchyard zu bieten, oder ...“
Um das Gespräch abzukürzen, holte der Fremde seine Brieftasche hervor und überreichte dem Stationsbeamten seine Visitenkarte.
„Ach, dieses Grab wollen Sie aufsuchen, Sir! Dann ist der Friedhof von St. John the Baptist wohl der richtige. Den Kirchturm können Sie von hier aus gar nicht verfehlen. Gleich dahinter biegen Sie rechter Hand in ein kleines Seitensträßchen ein. Aber erwarten Sie bloß kein großes Mausoleum, damit konnten ihm seine trauernden Hinterbliebenen damals leider nicht dienen. Als leidenschaftlicher Spieler von Pferde- und anderen Wetten war der Verstorbene nämlich zeit seines Lebens immer wieder hoch verschuldet. Ein Armengrab ist nichts dagegen, Sir!“
Und heutzutage verdienen diese Nachkommen allein an seinen Tantiemen regelmäßig eine Million Pfund pro Jahr, dachte der Fremde amüsiert bei sich. Vom damaligen Armenbegräbnis wollte heute aber keiner von ihnen mehr wissen.
Noch einmal warf der Schalterbeamte einen Blick auf die ihm dargebotene Visitenkarte.
„Aber M’sieur! Dann sind Sie also ...?“
Mit einer angedeuteten Verbeugung verabschiedete sich der Fremde rasch. Schon im Gehen warf er gut gelaunt eine Münze auf das Fensterbrett des Fahrkartenschalters. Das schätzte er so an seinem Mutterland. Hier konnten Einwanderer aus aller Herren Länder und von jeglicher Hautfarbe es zu etwas bringen und waren selbst in der ersten Reihe der Theke eines Pubs stets willkommen. All dem in England leider immer noch herrschenden Zwei-Klassen-System zum Trotz.
Mit Stolz erfüllt tastete der Franzose nach dem britischen Pass in seiner Manteltasche, während er immer weiter in Richtung Ortsmitte auf die große, aus weißem Kalkstein gemauerte Kirche zuschritt, deren viereckiger Turm, von mächtigen Zinnen bewehrt, schon von Weitem über die Hausdächer lugte. Als er dann kurz vor dem sakralen Bau, welcher laut einer an der Mauer angebrachten Messingtafel aus dem vierzehnten Jahrhundert stammte, stehen blieb, weckte dieser in ihm eine plötzlich vor seinen Augen auftauchende Erinnerung.
Erst vor Kurzem hatten er und seine Frau in einem Kino in Tours die Verfilmung des neuen Agatha-Christie-Romanes Der Wachsblumenstrauß angeschaut. Der Kirche, vor deren mächtiger Kulisse er gerade stand, wurde im Vorspann des gut gemachten Filmes ein großer Platz eingeräumt.
* * *
Nachdem er das angerostete Friedhofstor quietschend hinter sich geschlossen hatte, suchten die Augen des Fremden nach irgendeiner Hinweistafel, welche ihm bei seiner Orientierung behilflich sein konnte.
Plötzlich vernahmen seine Ohren in der Ferne ein rhythmisches Quietschen, das allmählich näher zu kommen schien. Tatsächlich tauchte an der nächsten Wegkreuzung unter einer Gruppe von Trauerweiden eine sich ihm langsam nähernde kräftige Gestalt auf, die ein altes Kehrwägelchen samt Besen und Schaufel vor sich herschob, welches offensichtlich für das Einsammeln des noch vom vergangenen Winter stammenden Laubes auf den Gräbern und Friedhofswegen gedacht war.
Rasch kam der Fremde mit dem alten Mann ins Gespräch, und schon bald standen sie dann beide vor dem gesuchten Grab. Wie immer hatte der Fremde für solch ein zufälliges Treffen eine gute Nase gehabt.
„Es kommen nicht mehr viele Touristen hierher“, erklärte der sonnengebräunte Arbeiter im breitesten Londoner Slang, dem sogenannten Cockney. Hätten beide sich gerade in einem Kriminalroman befunden, so wäre der Friedhofsgärtner als ein kleines, stämmiges Männchen beschrieben worden, dessen einziger Lebensinhalt die von ihm betreuten Pflanzen und Bäumchen gewesen wären. „Heutzutage hat seine arme Seele endlich Ruh’! Aber früher ...“
„Was meinen Sie damit?“, fragte der Fremde jetzt mit gerunzelter Stirn und blickte fragend auf das schmale Beet aus Narzissen, welches das karge Grab seines Vaters umrundete.
Der Friedhofsgärtner folgte seinem Blick und fuhr dann fort: „Nu ja, seltsam ist es schon, die Sache jetzt mit den ganzen Blumen! Irgendeiner scheint hier jeden Monat ’ne neue Sorte anzupflanzen. Gewissermaßen über die Nacht! Und keiner weiß, wer’s denn überhaupt gewesen ist.“
„Wollen Sie etwa damit sagen, dass es keiner der Hinterbliebenen war?“
„Nee nee! Die wollen alle mit dem Grab hier nichts mehr zu tun haben. Aber am Anfang, schon bald nach der Beerdigung, ja, da war hier am Grab wohl der Teufel los!“
„Der – der Teufel?“, ertönte plötzlich eine schrille Stimme hinter ihnen. Mit entsetztem Blick beugte sich eine ältere Dame gerade über ihren Rollator, um dem Gespräch der beiden besser folgen zu können.
„Hörte ich die beiden Gentlemen gerade über den Beelzebub reden?“
Höflich zog der Fremde vor der Dame den Hut und erklärte der gerade Angekommenen: „Der Gärtner hier war so nett und berichtete mir von den rätselhaften Grabbepflanzungen in der letzten Zeit.“
„Der – der Gärtner?“ Die alte Dame starrte jetzt den Betreffenden an, der immer noch seine fleischigen Hände fest um die Stange seines Karrens gekrallt hatte.
„Es ist ja schon seltsam, mit all den Pflanzen hier, nicht? Letzten Monat waren’s Waldnachtschatten, davor der Giftsumach. Un’ jetzt im Mai sind’s gelbe Narzissen. Möcht’ einer nur wissen, was das alles bedeuten sollt, nicht wahr? Also, wissen Sie, wenn Sie mich mal fragen, hat all der Pflanzenkram hier mit dem Tod zu tun!“
„Tod?“, echote die alte Dame erneut.
„Ganz recht, ja. Tod! Giftsumach führt schon bei der kleinsten Berührung zu Krämpfen. Ein paar Tropfen davon, und schon biste hier unter der Erde! Waldnachtschatten wird von den Leuten hier auch Schwarze Tollkirsche genannt. Ihr Gift ist Atropin, was von einer griechischen Göttin kommt, die allen den Lebensfaden durchgeschnitten hat, wie es heißt!“
„Und die gelben Narzissen?“, fragte der Fremde verblüfft nach.
„Um auf die gelben Narzissen zurückzukommen, die werden auch gemeinhin Osterglocken genannt. Sind dann das Symbol des ewigen Lebens!“ Stolz blickte der Gärtner um sich, ob auch jeder seine speziellen Kenntnisse über die Pflanzen zu schätzen wusste.
Der Fremde wurde gerade gewahr, dass die alte Dame sich mit ihrem Rollator schon wieder eiligst auf den Weg zum Ausgang gemacht hatte. Er wandte sich erneut dem Mann mit seinem Karren zu.
„Tödliches Gift? Lebensfaden abschneiden? Und dann Wiederauferstehung? Ewiges Leben?“, wiederholte er nachdenklich. „Was, um des Himmels willen, möchte uns die Person, die all das hier im Geheimen anpflanzt, damit nur sagen?“
„Tja, wenn das nun einer wissen täte!“, meinte der Angesprochene lapidar und schickte sich nach einer artigen Verbeugung an, mitsamt seinem altmodischen Laubkarren seinen nächsten Einsatzort auf dem Gottesacker anzusteuern.
Der Fremde hatte den Eindruck, dass dieser sich mehr an seinem Karren festhielt, als dass er ihn schob. Irgendwie, dachte er amüsiert, hat der Bucklige eine frappierende Ähnlichkeit mit einer aufrecht gehenden Schildkröte!
* * *
Der Fremde kniete noch eine Weile andächtig vor dem Grab. Er dachte an das knapp gefasste Telegramm, welches er vor ein paar Tagen von seiner jüngeren Schwester Penelope aus London erhalten hatte, mit der er leider schon seit Jahren nicht mehr in Kontakt stand.
Bitte aufsuche Grab von Vater sofort – STOP – Unerklärliche Geschehnisse machen Angst – STOP – Informieren sobald du mehr herausbekommst – STOP – In großer Sorge – STOP – Dein Schwesterherz – ENDE.
Typisch Penny,