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An einem regnerischen Abend stirbt der bekannter Magier Maxwell Conradi bei einem Verkehrsunfall. Doch Chief Inspector Ebenezer Pommeroy junior von New Scotland Yard hat einen Verdacht. War es Mord? Aus dem Unfallwrack ist ein Koffer verschwundenen. Darin das Vermächtnis des legendären Zauberers Harry Houdini.
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Seitenzahl: 150
Veröffentlichungsjahr: 2024
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In dieser Reihe bisher erschienen
1901 Dietmar Kuegler Der unheimliche Pfeifer von Blending Castle
1902 Dietmar Kuegler Die goldenen Mönche
1903 Thomas Tippner Im Bann des Erlösers
1904 J. J. Preyer Der Spieler
1905 Reiner F. Hornig Das Geheimnis der toten Augen
1906 Thomas Tippner Die verlorenen Mädchen von London
1907 Thomas Tippner Die Flussratten von London
1908 Thomas Tippner Der Kreis der Verschworenen
1909 Reiner F. Hornig Das Erbe des Magiers
Edgar Wallace - Neue Fälle
Buch 9
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Copyright © 2024 Blitz Verlag, eine Marke der Silberscore Beteiligungs GmbH, Mühlsteig 10, A-6633 Biberwier
Redaktion: Danny Winter
Titelbild: Mario Heyer
Logo: Mark Freier
Satz: Gero Reimer
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-689-84058-7
1908 vom 05.08.2024
Aus dem Tagebuch des Mörders:
Was du siehst, ist, was du glaubst
Das Geheimnis von Schließfach 8109
Das Geheimnis des Zauberers
Das Geheimnis des Magiers
Notruf aus dem Nirgendwo
Der Kopf ohne Leiche
Die Leiche ohne Kopf
Mordfall Schwarzer Koffer
Aus dem Tagebuch des Mörders:
Die Flüsse unter London
Und noch einmal ein Koffer
Mord im verschlossenen Zimmer
Die Glocken des Todes
Die Geheimnisse von St. Paul’s
Tischlein deck dich, Knüppel aus dem Sarg
Sein letzter großer Trick
Im Irrgarten verschwunden
Die fehlenden Finger
Das verschlossene Zimmer
Der allerletzte Trick
Danke
Über den Autor
Oftmals ist es nur ein kleiner Schritt zwischen Liebe und Hass. Oftmals ist es auch nur ein kleiner Schritt zwischen Macht und Ohnmacht. Oder zwischen Armut und Reichtum. Wo hört das eine auf, wo beginnt das andere?
Es gibt keine Grauzonen im Leben, es gibt kein Dazwischen. Es gibt keinen Mittelweg. Es hat nie einen Mittelweg gegeben. Und wenn es uns manchmal doch so scheinen will, dann haben wir uns nur etwas vorgemacht. Wie schon so oft. Wie eigentlich immer.
Es ist nur ein kleiner Spalt zwischen Liebe und Hass. Zwischen Macht und Ohnmacht. Zwischen Armut und Reichtum. Wir brauchen uns nur ein wenig vorzubeugen, um auf die andere Seite blicken zu können. Dann, auf einmal, ist der Spalt so schmal. Und plötzlich stehen wir vor einer Entscheidung.
Gehen wir hinüber oder nicht? Wollen wir hinüber oder nicht?
Haben wir denn überhaupt noch eine Wahl?
Der Schritt ist so einfach. Der Spalt ist so schmal, ach so schmal.
Aber der Spalt ist so tief. So unendlich tief.
Und der Schritt über den Spalt ist unwiderruflich.
Dieser Schritt über den Spalt ist wie ein Schritt über eine Brücke, die immer zu brennen beginnt, sobald wir sie überschritten haben.
Soll ich diesen Schritt wirklich wagen?
Oftmals treten wir auf der Stelle und sind zu sehr auf die anderen fixiert, sagte meine Mutter immer, die schon lange nicht mehr lebt. Ein Anstoß, eine andere Perspektive hilft unserer Entwicklung, sagte meine Mutter immer. Nur geradeaus zu schauen bringt uns oftmals um unglaublich schöne Momente. Aber der Schritt über den Spalt kann manchmal vielmehr erbringen, sage ich immer, der noch lebe.
Nur eine Änderung der Sichtweise, sagte meine Mutter, die schon lange nicht mehr lebt, stärkt unser Vertrauen in das Leben und in uns selbst.
Im Stillstand finden wir kein Glück, sagte meine Mutter immer, nur der Wandel macht es möglich.
Soll ich diesen Schritt also wirklich wagen?
Ich habe ja nichts zu verlieren!
Oder doch?
Ohne jeden Zweifel liegt die Anziehungskraft der Magie
vorrangig in ihren Geheimnissen verborgen.
Nicht nur für das allgemeine Publikum, sondern auch
für den professionellen Magier bedeuten
die Geheimnisse der Zauberei
den faszinierendsten Ableger dieser Materie.
Durch alle Schichten der
Bevölkerung hinweg sind sie von jeher
ein äußerst beliebtes Konversationsthema.
Ganze Bibliotheken sind daraus entstanden.
Weitaus mehr und weitaus vielfältiger, als
jemals aus Diskussionen über irgendein anderes
Thema unter dieser Sonne entstanden sind.
Aus: Die wahren Geheimnisse der Magie
NEVIL MASKELYNE (1863 – 1924)
Englischer Bühnenillusionist und Erfinder
Jeder, der an Zauberei glaubt, ist ein Dummkopf!
Harry Houdini (1874 – 1926)
Weltbekannter Entfesselungskünstler und Illusionist
Niemand hätte vorausahnen können, wie es enden würde. Niemand von Scotland Yard, und schon gar nicht der Mörder selbst.
Doch kein menschlicher Plan, wie teuflisch scharfsinnig auch immer er sein mag, ist derart verlässlich, dass seine Durchführung auch immer garantiert gelingt. Irgendwo wird immer ein unvorhersehbarer Faktor lauern. Bis dann alles zu spät sein wird ...
* * *
Der 22. November, ein Donnerstag, war einer jener trüb-kalten Tage, die den bevorstehenden Winter nicht nur ahnen, sondern auch spüren ließen. Die Quecksilbersäule war in London bis auf zwei Grad Celsius gesunken. Ein Ereignis, welches die Londoner Bürger mit einer Mischung aus Überraschung und Misstrauen bestaunten.
Und dazu kam auch noch der Nebel!
Wie ein riesiger Wattebausch schluckte er alle abendlichen Geräusche der Großstadt.
Der tadellos gekleidete Fremde mit dem Monokel im rechten Auge saß verkrampft und leicht nach vorn gebeugt hinter dem Steuer seines Bentley. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er durch die beschlagene Frontscheibe und versuchte, die milchig graue Masse eines nicht enden wollenden Nebelmeeres zu durchdringen. Mit vornehm behandschuhten Händen wischte er unablässig die rechte Seite der Frontscheibe frei. Gerade bog er von der viel befahrenen Oxford Street in ein schmales Nebensträßchen ab. Endlich war er am Ziel seiner heiklen Mission angelangt.
Seinen silberfarbenen Bentley vorschriftsmäßig am linken Straßenrand geparkt, stieg er aus, setzte sich seinen grauen Zylinder auf den markanten kurz rasierten Schädel und lenkte seine Schritte wieder in Richtung Oxford Street zurück. Nach nur wenigen Yards hatte er seinen Bestimmungsort schon erreicht, erklomm frohen Mutes die steinernen Stufen, die am oberen Ende von zwei grimmig dreinschauenden marmornen Löwen flankiert wurden, und entschied sich spontan, das ehrwürdige Bankgebäude in typisch britischer Denkweise durch die Linke der beiden hohen, eleganten Drehtüren zu betreten. Ebenfalls mit seiner linken Hand umklammerte er den ledernen Griff seines kostbaren Attaché-Koffers.
* * *
Messing, Chrom und edle Hölzer in verschwenderischer Pracht! So bietet sich dem Fremden die Eingangshalle der Lloyd’s Bank of London. Kostbare orientalische Brücken und Läufer und jedes Geräusch erstickende Teppiche, wohin man sah.
„Hallo, Sir!“
Eine junge, bildhübsche Dame sitzt gleich hinter dem ersten Schalter des Foyers, dessen Boden und tragende Rundsäulen aus blendend weißem Marmor bestehen. Sie saß aufrecht hinter einer schmalen und niedrigen Glasscheibe, deren Rahmen kunstvoll aus Messing gearbeitet war, und nickte ihm jetzt freundlich lächelnd zu.
Der Fremde schätzte sie auf etwa Ende zwanzig. Sie machte auf ihn einen sehr gepflegten Eindruck und steckte in einem schlichten braunen Wollkleid, darauf eine goldene Brosche in Form eines Salamanders. Das hellblonde Haar fiel weich auf ihre schmalen Schultern hinab. Ihre Stimme klang freundlich, mit Nuancen sachlicher Geschäftigkeit, als sie den Besucher mit den Worten begrüßte: „Womit kann ich Ihnen behilflich sein?“
Ihre Blicke waren eine nahezu perfekte Kombination aus geschäftsmäßiger Nüchternheit und offenherziger Empathie.
Der Fremde stand jetzt genau vor dem Empfangsschalter und beugte sich, eine schüchterne Vertraulichkeit andeutend, leicht zu der Angestellten vor und lüpfte dabei kurz seinen Zylinder. Er stellte sein Diplomatenköfferchen vornehm direkt an der Kante des Tresens ab und öffnete es vorsichtig. Ohne eine weitere Miene zu verziehen, holte er ein versiegeltes Schreiben heraus und überreichte es, zusammen mit einer silbernen Marke, auf der man vier Ziffern eingraviert sehen konnte, der jungen Angestellten mit einer eleganten Bewegung.
„Ich möchte gerne das Schließfach mit dieser Nummer öffnen, um mir dessen Inhalt wieder anzueignen.“
„Dazu benötige ich aber noch Ihren Zweitschlüssel für das Fach, Sir! Ich hoffe doch sehr, dass Sie auch diesen dabeihaben!“, erklärte ihm die Blonde freundlich.
Daraufhin beugte sich der fremde Besucher noch weiter zu seinem Gegenüber hinab.
Miss Lavington, deren Namen in eleganten Schriftzügen auf einem kleinen, vor ihr stehenden Messingschild eingraviert war, erwiderte seinen fordernden Blick. Dabei blieb ihr Augenmerk unwillkürlich auf das im gedämpften Licht der Halle sich widerspiegelnde Monokel fixiert. Wie magisch klebten ihre blauen Augen an dem runden Glas. Mit einem Male sah sie dort, wie sich drehende Lichtstreifen sammelten, die sie an eine immer schneller werdende Hypnotisierscheibe erinnerten, welche sie an irgendwelche gruseligen Horrorfilme erinnerte.
„B-Bei guten Kunden machen wir selbstverständlich eine Au-Ausnahme, Sir! Was ist ein Zweitschlüssel schon ... Auch ich habe meinen Wohnungsschlüssel schon mehr als einmal verlegt! War aber nie ein Problem für den Schlüsseldienst gewesen. Schließlich haben Sie die Miete für Ihr Schließfach für zehn Jahre im Voraus bezahlt! Bitte sehen Sie es uns nach, dass wir Ihnen größere Umstände bereiten wollten, Mister ... Houdini war doch Ihr Name, Sir, nicht wahr?“
An dieser Stelle sah man hinter ihr eine füllige, tadellos gekleidete männliche Person, deren verbindliches Lächeln von einem goldenen Kneifer geschmückt war, auftauchen und sich behäbig vor seine Angestellte drängen.
„Mein Name ist Sir Willibald Godefroy!“, stellte er sich mit einer ausladenden Geste artig vor. „Es tut mir leid, sollte Miss Lavington, was Ihr Anliegen anbelangt, Ihnen irgendwelche Hoffnungen gemacht haben, Sir. Aber sicher haben Sie dafür Verständnis, dass es weder den traditionellen Gepflogenheiten unseres Hauses noch den strengen Sicherheitsrichtlinien der mittlerweile über hundert Jahre alten Lloyd’s Bank of London gemäß in keinem Falle eine Ausnahme gemacht werden kann. Seit Jahrzehnten vertrauen sich unsere Kunden den wohl strengsten Sicherheitsvorgaben im gesamten Königreich an, um hier bei uns ihre wertvollsten Dinge zu deponieren.“
Um Verständnis bittend blickte er seinem Gegenüber in die Augen. Dieser war gerade dabei, sein Monokel wieder zurechtzurücken.
Erneut begann die Hypnotisierscheibe in dem Augenglas zu rotieren und sich immer schneller zu drehen. In nur wenigen Sekunden hatte der fremde Besucher auch den Bankdirektor in seinen Bann gezogen.
„A-Aber s-selbstverständlich sind wir immer gerne bereit, guten Kunden aus einer Notlage zu helfen, S-Sir! Für solche Fälle haben wir schließlich unseren Universal-Zweitschlüssel. Da Sie ja im Besitz des Original-Safe-Nummernschildchens sind, bitte ich Sie doch herzlich, unsere vorhin geäußerten Bedenken tunlichst zu vergessen. Wenn ich dann bitten dürfte, Sir?“
* * *
Wenige Augenblicke später stieg das seltsame Trio in den Aufzug, der sie hinab in die bestbewachten Verliese der britischen Hauptstadt führen sollte, sah man einmal von den Währungsschätzen der Bank of England oder gar dem Aufbewahrungsort der Königlichen Kronjuwelen in den finsteren Gemächern des Tower ab.
Miss Lavington schloss das altmodische Scherengitter hinter ihnen zu und steckte eine goldfarbene Hollerith-Karte in einen Schlitz in der Seitenwand unter den Bedienungsknöpfen. Langsam und geradezu bedächtig ruckelnd setzte sich der Lift in Bewegung. Dem Fremden fiel auf, dass die Geschwindigkeit des Fahrstuhls wohl absichtlich gedrosselt wurde, damit die Insassen über die beiden an der Decke angebrachten Kameras gründlich von einem unsichtbaren Wachpersonal in Augenschein genommen werden konnten.
Ein heimliches Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. In vielleicht nicht allzu ferner Zukunft würde so ein Aufzug mit wesentlich moderneren und wirksameren Methoden ausgestattet sein als mit Hollerith-Lochkarten, welche zurzeit noch State of the Art waren. Jeder geschickte Fälscher konnte mit einer einfachen Busschaffner-Zange solche Karten selbst herstellen, sofern er ihr System durchschaut hatte.
Im Kellergeschoss angekommen, wurde das Scherengitter von zwei bis an die Zähne bewaffneten Sicherheitsbeamten geöffnet. Einer von ihnen verlangte sogleich die Legitimationen, aber Sir Godefroy winkte nur lässig ab. Der jüngere der Beamten begleitete das Trio durch einen langen Gang, welcher durch mehrere Sicherheitstüren verschlossen war. Nach nur wenigen Schritten waren sie schon an ihrem Ziel angekommen. Der Wachmann ließ sich vom Bankdirektor einen Zettel geben mit dem Code für die Safe-Tür. Der Code wechselte automatisch alle fünfzehn Minuten und war nur dem Direktor oder dessen Stellvertreter bekannt. Er gab den Code über die Wählscheibe der Tür ein und drehte dann am Stellrad der Tür, die sich leise knarrend öffnete und den Zugang zu den Schließfächern freigab.
Der Fremde bemerkte sofort die zahlreichen, an der hohen Decke angebrachten Alarmeinrichtungen. In regelmäßigen Abständen waren dort oben Abriss- und Körperschallmelder angebracht, welche beim geringsten Laut oder Luftzug Alarm auslösten. Und dann stand die kleine Gruppe auch schon vor dem Schließfach Nummer 8109 ...
* * *
Kurz darauf befand sich der Fremde im geräumigen, feudal ausgestatteten Büro des Bankdirektors auf dem bequemen Besucherstuhl vor dem Schreibtisch von Sir Godefroy, einen etwas abgewetzten Lederkoffer auf seinem Schoß, auf dem die Initialen H. H. in seiner Mitte eingeprägt waren.
Der Besucher ließ sich mit keiner Miene seinen Triumph anmerken. Den größten in seinem bisher sehr erfolgreichen Leben. Endlich hatte er es geschafft! Nach kurzer Erledigung aller abschließenden Formalitäten machte er sich schon wieder auf den Weg hinaus zu seinem Bentley. Dort platzierte er seinen Schatz behutsam auf den Beifahrersitz und wendete am Ende der kleinen Seitenstraße seine Luxuskarosse. Zeit für die Heimfahrt, dachte er lächelnd und kam sich dabei fast so vor wie einst Napoleon I. nach einer siegreichen Schlacht.
In der Lloyd’s Bank of London ließ er einen noch immer etwas verwirrten Bankdirektor samt seiner Empfangsdame zurück. In nicht einmal einem Jahr würde der bekannte Scotland Yard Chief Inspector Ebenezer Pommeroy junior der Bankzentrale in der Londoner Oxford Street einen Besuch abstatten, zusammen mit seiner ebenso gut aussehenden wie intelligenten Assistentin, Woman Detective Inspector Almut Fichtner. Beide würden Sir Willibald Godefroy und Miss Lavington einige sehr unbequeme Fragen über den Verbleib des Nachlasses des wohl größten Magiers aller Zeiten stellen, welcher völlig unberechtigt aus einem Bankschließfach verschwunden war. Und über einen alten Lederkoffer, der schon bald großes Unheil über die britische Weltmetropole bringen würde. Doch bis dahin sollten sich die beiden schon längst nicht mehr an den heutigen Besuch des Fremden erinnern können.
* * *
Inzwischen befand sich der silberne Bentley schon eine ganze Weile wieder auf der Heimfahrt nach Golder’s Green. Seine geräumige Doppelgarage befand sich direkt neben dem alten edwardianischen Landhaus des Mannes mit dem Monokel und war Anfang des 20. Jahrhunderts von dem bekannten britischen Stararchitekten Edwin Lutyens erbaut worden. Sein Fahrer hatte sich in Chiswick in den zähen Verkehrsfluss der Northern Circular Road eingefädelt, nach einer halben Stunde hatte er die Einmündung der M1, welche London mit der weit oben im Norden liegenden Stadt Leeds in der Grafschaft West Yorkshire verband, erreicht und wollte sich gerade im Kreisverkehr, der ihn an den südlichen Stadtrand von Golder’s Green abzweigen ließ, wieder aus der Schnellstraße ausfädeln, als es passierte.
Noch immer war es neblig. Weiße Schwaden waberten durch die Straßen, und die sich allmählich lichtende abendliche Winterlandschaft ließ das immer dichter werdende Schneetreiben im Vergleich dazu als harmlos erscheinen.
Ein weißer Lorry mit dem Warnzeichen Long Vehicle drängte sich unvorschriftsmäßig direkt vor ihm in den Kreis. Bremsen quietschten, wütende Rufe waren zu hören, und dann ein ohrenbetäubendes Krachen ...
* * *
Nur langsam kam die schwer verletzte Gestalt hinter dem Lenkrad des silbernen Bentley wieder zum Bewusstsein. Völlig ungläubig starrte er mit glasigem Blick durch die Frontscheibe auf das Geschehen außerhalb seines Fahrzeuges. Er beobachtete zwei dunkle Schemen, die der Fahrerkabine entstiegen, um sich dann ihr schweres Fahrzeug von außen zu betrachten und etwaige Schäden festzustellen.
Ihm fiel auf, dass Teile seiner silberfarbenen Motorhaube fehlten und wahrscheinlich jetzt irgendwo auf der Fahrbahn verstreut lagen. Wie durch Watte nahm er fernes Glockengeläut wahr.
Seltsame Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Ihm fiel mit einem Male ein, dass es in London über fünftausendfünfhundert Kirchenglocken gab, und dazu noch eine Vereinigung von Männern, die den Club der Kirchenglocken-Läuter bildeten. Und dass es irgendwo in London eine Straße gab, auf der nur rechts gefahren werden durfte. Dabei handelte es sich um die Zufahrt zum alt-ehrwürdigen Savoy-Hotel. Und dass die ursprünglichen Steine der Waterloo-Brücke einst nach Australien verschifft wurden, um in Perth damit ein Rathaus zu bauen.
Und dass das älteste Bauwerk in London ... was? ... jawohl, der Tower war. Er würde im nächsten Jahr seinen neunhundertsten Geburtstag feiern!
In all dem Trubel und der Aufregung, die um ihn und sein Fahrzeug herum herrschte, nahm er wahr, dass plötzlich irgendjemand von außen die Scheibe des Beifahrersitzes einschlug.
Eine dunkle Gestalt beugte sich durch das zerbröckelnde Sicherheitsglas und blickte ihn mit hasserfüllten Augen an.
„D...du?“
„Ganz recht, mein Lieber! Ich bin’s! Wen hast du denn erwartet? Die Engel an der Himmelspforte etwa?“
Die Stimme war eiskalt, kälter noch als die Temperatur draußen in Golder’s Green, und sie troff förmlich vor Hass und abgrundtiefer Abscheu.
Der Schwerverletzte begann mit kaum vernehmbarer Stimme zu flüstern: „Der Unfall ...?“
„War selbstverständlich keiner! Ich habe eine Bombe im Motorraum versteckt, bin die ganze Zeit über hinter dir hergefahren, um sie zum richtigen Zeitpunkt zu zünden!“
In der Ferne waren jetzt Sirenen von Einsatz- und Rettungsfahrzeugen zu hören. Der Atem des Fremden ging jetzt nur noch stoßweise.
„Indem du den Koffer unrechtmäßig an dich gerissen hast, glaubtest du wohl, dich für den Rest des Lebens in Ruhm und Reichtum baden zu können. Aber ich sage dir, mein Lieber: Nach all den vielen Jahren, in denen ich nur Kummer und Armut erlitten habe, glaube ich, den Koffer mehr verdient zu haben.“
„Zur Hölle sollst du fahren!“, kam es jetzt nur noch flüsternd von den blutigen Lippen des Magiers. „Schon bald werde ich von den Toten zurückkehren und dich eines qualvollen Todes sterben lassen! Denn ... denn mein ist die Rache, sprach ... der ...“
Ein letztes Mal wandte er seinen Kopf dem unbekannten Besucher zu, aber dieser war längst im Dunkel der Nacht untergetaucht. Und mit ihm der lederne Koffer ...
„James Hartley?“
„Tot.“
„Paul Rudman?“
„Tot.“
„Richard Levinson?“
„Tot.“
Mit versagender Stimme hatte der Mann im Rampenlicht die Namen heruntergebetet und wischte sich jetzt mit seinem Einstecktuch fahrig über die schweißnasse Stirn. Ansonsten machte er einen auffallend gepflegten Eindruck. Sein weißes Haar wies einen sorgfältigen Bürstenschnitt auf, glatt rasiert, mit gepflegtem Schnurrbart. Mir ratlosem, fast verzweifeltem Blick in den Augen standen seine beiden hübschen Assistentinnen im knappen weißen Rüschenkleid neben ihm und erweckten den Eindruck, als wollten sie ihm kraftvoll beistehen.
Zögernd stellte der Große Merlini dann seine letzte Frage.
„Und ... Betty Hillman?“
„Tot.“
Dr. Karel Pinchefsky, der berühmte Chirurg des Londoner St. Mary’s Hospital, klappte bedauernd sein Stethoskop zusammen und verstaute es wieder in seiner Arzttasche, die er aus alter Gewohnheit überallhin mit sich trug.