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In einer Welt, in der erweiterte Realität jede Fassade überstrahlt und jeden Blick lenkt, glauben die Menschen an perfekte Harmonie. Doch ein kurzer Augenblick, in dem die Filter versagen, genügt, um Zweifel zu säen. Plötzlich ist die glatte Oberfläche der Illusion rissig, und leise fordert eine Stimme hinter verschlossenen Türen: "Seht genauer hin!" Leyla, eine unscheinbare Technikerin, steht vor der Entscheidung: Soll sie mitspielen oder ein riskantes Zeichen setzen, das die Stadt aus ihrem bequemen Traum reißt? Während Polizisten, Eliten und verunsicherte Bürger um die Deutung des Gesehenen ringen, keimt in verborgenen Winkeln neuer Mut. Nichts ist mehr sicher, nichts mehr selbstverständlich - und die Frage nach der Wahrheit drängt sich unaufhaltsam in den Raum.
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Seitenzahl: 403
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PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
KAPITEL 41
KAPITEL 42
KAPITEL 43
KAPITEL 44
KAPITEL 45
KAPITEL 46
KAPITEL 47
KAPITEL 49
KAPITEL 50
Auris erwacht, wie jeden Morgen, in perfekter Abstimmung. Der Himmel ist leicht dunstig, aber wer könnte das mit Sicherheit sagen? Die meisten Bewohner tragen längst ihre AR-Linsen, winzigste Präzisionsgeräte, die sich nahtlos an die Hornhaut schmiegen. Wer sie einsetzt, bekommt den Tag serviert wie ein individuell abgestimmtes Menü: Wegweiser, Marktschilder, sanfte Hinweise auf Sonderangebote, Verkehrsinfos, Warnhinweise. Ein Komplettpaket an Information, jederzeit abrufbar, unauffällig, selbstverständlich.
Noch bevor viele aus ihren Wohnungen treten, haben sich die Linsen kalibriert. Ein leises Summen, fast unhörbar, kündigt ein Mikro-Update an. Irgendwo in den Rechenzentren der Stadt sortieren Algorithmen Datenströme. Für jeden Bürger entsteht eine sorgfältig gefilterte Sicht der Dinge. Niemand nennt es Zensur, die meisten denken an „Personalisierung“. Eine seltsame Stille liegt darin, diese Form der Perfektion. Keine verdreckten Hinweisschilder mehr, keine Schmierereien, kein Durcheinander. Die Linsen zeigen nur, was sinnvoll ist, was den Alltag erleichtert.
Unten in den Straßen huschen Schatten über den Asphalt – Drohnen, die Lieferungen und Wartungseinheiten transportieren. Doch die meisten Passanten sehen weniger die Drohnen selbst als deren sauber überlagerte Info-Tags: kleine grüne Symbole, die ihren Weg markieren, einzelne Produkt-Icons, die in der Luft schweben, um auf Neuheiten hinzuweisen. Werbung erscheint passend zum Profil der Betrachterin oder des Betrachters. Jemand mit technischem Beruf sieht vielleicht Hinweise auf neue Gadgets, ein anderer primär Restaurant-Empfehlungen. Was man wahrnimmt, war einst Geschmackssache, jetzt ist es schlicht normal, fest in den Alltag verwoben.
Ohne diese Linsen kann man sich Auris kaum vorstellen. Nicht, weil es gesetzlich vorgeschrieben wäre, sie zu tragen – es ist eher eine Frage der Praktikabilität. Straßenpläne, öffentliche Informationen, sogar offizielle Mitteilungen gibt es fast nur noch digital. Wer keine Linsen nutzt, sieht leere Wände, kaum Hilfen, keine Anzeichen dafür, wohin man gehen soll. Das Leben wäre mühsam, orientierungslos. Die meisten Menschen kommen gar nicht auf die Idee, ohne sie auszukommen. Warum sollten sie auch?
Manchmal, in seltenen Momenten, bemerken ein paar aufmerksame Seelen eine seltsame Diskrepanz: Mal ist eine Fassade am Vortag noch frisch restauriert, tags darauf erscheint sie in einem leicht anderen Stil. Ein belebtes Café wirkt plötzlich leer. In den Nachrichten sieht man flüchtige Unterschiede, je nachdem, ob man morgens oder abends hinsieht. Doch die meisten ignorieren solche Kleinigkeiten. Ein Glitch, ein Update-Fehler, nichts von Bedeutung. Die Linsen sind komplex. Wer kann schon erwarten, dass alles immer gleichbleibt?
Die Hersteller und Betreiberfirmen – Namen tauchen hier und da auf, meist globale Konzerne mit sonoren Titeln – hüllen sich in professionelles Schweigen. Ein paar technische Erklärungen finden sich in den Info-Kanälen: Die Linsen arbeiten mit Echtzeit-Scans, Filtern bestimmte Informationen heraus und legen andere darüber. Ein Dienst am Bürger, so sagen die offiziellen Werbespots, die ebenfalls als Overlays in den Straßen schweben. Alles zu deinem Vorteil, alles für ein reibungsloses Miteinander.
In Auris ist Ordnung ein unsichtbarer Standard. Keine Dramen, keine offensichtlichen Konflikte. Probleme gibt es sicher, aber die Linsen halten viele Reibungen klein, indem sie nicht jeden Kratzer, nicht jede Beschädigung zeigen. In einer Gasse, in der sich früher Obdachlose aufhielten, sehen Passanten nun zumindest ein Schild mit Hinweisen auf soziale Hilfsprogramme – ein Overlay, versteht sich. Ganz ohne AR wäre es vielleicht trostlos, aber wer kann das beurteilen, wenn niemand je ohne Linsen durch diese Straßen geht?
Von Zeit zu Zeit erscheint eine neue Funktion: Anpassbare Stimmenführer, virtuelle Wegmarken, holografische Projektions-Kunst. Die Leute freuen sich, loben den Fortschritt, genießen die komfortable Navigation durch die Komplexität der Stadt. Die Hintergründe, wie die Daten sortiert werden, wem welche Informationen gezeigt werden, bleiben abstrakt und unergründlich. Und wer sich ehrlich fragt, ob sein Nachbar dieselben Dinge sieht wie er selbst, erhält selten eindeutige Antworten.
Allerdings muss man kein Verschwörungstheoretiker sein, um zu ahnen, dass diese Technologie nicht nur Bequemlichkeit ermöglicht. Ein System, das deine Wahrnehmung steuert, kann dich auch lenken. Dass die Linsen gesellschaftliche Prozesse beeinflussen, ist für einige in Auris ein offenes Geheimnis. Doch die breite Masse stellt diese Frage nicht. Warum auch? Der Alltag funktioniert. Die meisten würden sagen, sie haben nichts zu verbergen. Die Stadt ist sauber, effizient, klar strukturiert – zumindest in ihren Augen.
An einer Straßenecke, unter dem projizierten Schild eines Cafés, wechselt das Overlay behutsam den Tonfall der eingeblendeten Hinweise: Ein frisches Tagesangebot, ein dezenter Wink, welches Heißgetränk heute „im Trend“ ist. Und in den oberen Stockwerken eines Regierungsgebäudes fließen dieselben Datenströme, die diese Trends setzen. Die Linsen sind Schnittstelle zwischen Bürger und Stadt, zwischen Realität und Design.
Doch hier, im Prolog des Ganzen, reicht es zu wissen: Die Menschen in Auris akzeptieren die Linsen wie ein zweites Paar Augen. Sie haben sich daran gewöhnt, dass Informationen nicht neutrales Gut sind, sondern fließend, anpassbar. Die Stadt präsentiert sich ihnen als harmonische Kulisse, egal wie die tatsächlichen Zustände hinter den digitalen Schichten aussehen mögen.
Ob diese Harmonisierung immer im Sinne der Bewohner ist, steht in den Sternen. Vielleicht ist es nur eine bequeme Form von Ordnung. Vielleicht lauern hinter den AR-Schichten Spannungen, die nur darauf warten, durch einen Riss im System hervorzubrechen. Doch vorerst gleiten die Bürger von Auris durch ihren Morgen, als wäre alles natürlich, selbstverständlich, stabil.
Die Linsen werden getragen, als wären sie ein Teil des Körpers. Man nimmt sie kaum noch wahr. Die Technologie ist einfach da – so wie der Wind, die Schwerkraft, oder der Herzschlag, an den man selten denkt. So beginnt ein neuer Tag in Auris: Die Stadt ist wach, die Linsen arbeiten, und niemand zweifelt ernsthaft daran, dass alles so ist, wie es sein soll. Noch nicht.
Leyla öffnet die Augen, und die Welt ist noch still. Das Licht im Apartment ist gedämpft, aber da sie schon ihre Linsen trägt — nein, Moment, sie hat sie gestern Abend vor dem Schlafengehen herausgenommen. Ein automatischer Griff nach der kleinen, passgenauen Box auf dem Nachttisch: Die Linsen müssen sie wieder einsetzen, gleich jetzt, vor dem Aufstehen. Ohne sie ist alles verschwommen, nicht physisch, aber funktional. Ohne die Linsen würden ihr die Informationen fehlen, die den Alltag in Auris erst einfach machen. Sie setzt sich auf, streckt die Arme und hebt die kleine Box an. Ein leises Klicken, dann gleiten zwei hauchdünne, durchsichtige Scheibchen auf ihre Hornhaut, perfekt angepasst. Ein leichter Druck, es summt kurz. Dann klären sich ihre Sichtfelder.
Sofort erscheinen die ersten Overlays: Ein Datumsstempel im unteren rechten Sichtfeld, ein Wetter-Icon links oben, eine kleine Meldung, dass ihr Terminkalender heute voll, aber „bewältigbar“ sei. Das System begrüßt sie, eine sanfte Frauenstimme flüstert: „Guten Morgen, Leyla. Es ist 7:02 Uhr. Heutige Außentemperatur gemäßigt, Luftqualität über Durchschnitt.“ Nüchtern, effizient, ohne Pathos. Genau so mag Leyla es. Sie blinzelt, atmet einmal tief durch. Heute ist ein wichtiger Tag, hofft sie jedenfalls. Die Gerüchte im Flur — man munkelt, dass im Technikerteam eine Stelle frei wird, ein kleines Upgrade ihrer Position. Sie ist bereit.
Sie steht auf, schlurft zur Küchenzeile. Ihr Apartment ist sparsam eingerichtet, aber keineswegs trostlos. Die Wände zeigen, dank ihrer Linsen, dezente Kunstprints: ein paar abstrakte Formen, die sich leicht ändern, wenn sie ihren Blickwinkel wechselt. In Wirklichkeit ist die Wand wahrscheinlich nackt, vielleicht hellgrau verputzt. Aber wozu sich mit banaler Wirklichkeit abfinden, wenn eine geschmackvolle, personalisierte Ästhetik zu haben ist?
Während sie einen Kaffee bestellt — per Fingerzeig im virtuellen Menü, das nur sie sehen kann — überprüft sie ihre Nachrichten. Ein Overlay rechts oben projiziert den digitalen Posteingang: ein paar Routine-Memos von der Firma, eine Einladung zu einem neuen Fitnessprogramm (gesponsorte Werbung, natürlich), und eine Benachrichtigung ihrer alten Universitätsbekannten, die wieder einmal eine Petition für „mehr analoge Kulturevents“ teilen. Leyla scrollt rasch darüber hinweg. Analoge Events sind nett gemeint, aber kommen letztlich immer etwas improvisiert rüber. Sie hat nicht wirklich Zeit für nostalgische Experimente.
Ein Schluck Kaffee — er schmeckt gut, zumindest für ihre gewohnten Verhältnisse. Die Kaffeemaschine ist auf Autopilot und verwendet ihre Geschmacksprofile. Leyla freut sich leise, dass heute nichts Kompliziertes ansteht: Routinechecks im Infrastrukturnetzwerk der AR-Overlays, ein kurzer Testlauf für ein neues Werbefenster in der Innenstadt, dann vielleicht das Meeting mit der Abteilungsleitung, wo sie hoffentlich ihre Kompetenz unter Beweis stellen kann. Die Firma, bei der sie arbeitet — Offiziell nennt sie sich Arion Data Environments, ADE — ist einer der Hauptanbieter für AR-Basisinfrastruktur in Auris. Kein Konzern an oberster Spitze, aber ein solider Player. Leyla hat gute Aufstiegschancen, wenn sie ihre Arbeit ordentlich macht.
Sie trinkt den Kaffee aus, legt die Tasse ins Spülfach und zieht sich an. Ein kostbarer Vorteil der Linsen: Alles, was sie anzieht, kann mit virtuellen Mustern ergänzt werden. Tatsächlich trägt sie eine schlichte Jacke, doch für ihr eigenes Auge glänzt ein unauffälliges Muster am Kragen, hellblau, passend zu ihrem aktuellen AR-Theme. Blau ist überhaupt die dominierende Farbe in ihrer Wahrnehmungsschicht. Seit sie in einer besseren Wohngegend residiert, zeigt ihr System häufiger saubere, elegant gestaltete Overlays in kühler Farbgebung. Ein zartes Symbol an der Hauswand draußen — ein kleines, fast unmerkliches blaues Icon mit geometrischem Muster — signalisiert, dass dieses Viertel als „gehoben“ gilt. Ein Statusmerkmal. Leyla erinnert sich noch an die Zeit, als sie in einem einfacheren Block wohnte und die Overlays dort eher in neutralem Grau gehalten waren. Nichts Schlechtes, nur nicht so inspirierend. Hier, zwischen den blauen Codes, fühlt sie sich befördert, wertiger.
Sie verlässt ihre Wohnung und tritt auf den Korridor hinaus. Die Nachbarn grüßen kaum, jeder ist in seine eigene Informationswelt vertieft. Leyla erhält ein kurzes Update: Der Fahrstuhl steht bereit, keine Wartezeit. Perfekt. Sie steigt ein, nickt zu einer holografischen Anzeige, die die neuesten Stadtprojekte anpreist. „Auris — immer einen Schritt voraus“, steht da. Leyla weiß nicht, ob das für sie oder für irgendein Algorithmus Konzept bestimmt ist, aber es hat etwas Beruhigendes. Sie wäre wohl nie ohne die Linsen auf die Idee gekommen, dass dieser Fahrstuhl trivial wäre. Mit den Linsen wird er fast familiär — es steht, welche Musikoptionen sie wählen kann (sie lehnt dankend ab, braucht keine Hintergrundmusik), und ob sie die Nachrichten scrollen will.
Unten auf der Straße empfängt sie die morgendliche Geschäftigkeit. Die Menschen bewegen sich ruhig, niemand rempelt. Kleine virtuelle Schilder weisen diskret auf einen neuen Bäckerladen um die Ecke hin — angeblich gibt es dort besondere Croissants. Leyla hat leider keine Zeit mehr für solche Extras. Sie beschließt, direkt zur Bahnstation zu gehen. Ein schwebendes Icon in ihrem Sichtfeld zeigt ihr, dass der nächste Zug in fünf Minuten ankommt. Sie muss sich nicht beeilen, aber trödeln auch nicht. Unterwegs prüft sie nochmals ihre Berufsdaten: Heute soll sie einen kleinen Check am Overlay-System in der Handelszone durchführen. Alles Standard. Ein Feldversuch, um nach Updates zu schauen. Vielleicht trifft sie Riven dort, ihren Kollegin, der/die manchmal an denselben Projekten arbeitet.
Riven ist… interessant. Leyla weiß selbst nicht, was sie genau fasziniert. Die ruhige Art, der analytische Blick? Die Tatsache, dass Riven sich nicht eindeutig positioniert, sondern immer sorgfältig abwägt? Sie hofft, dass sie heute zusammenarbeiten, dann kann sie im Vorbeigehen nachhaken, ob es Neuigkeiten zu der offenen Stelle gibt. Vielleicht weiß Riven etwas, was nicht im offiziellen Feed steht.
Sie steigt in den Zug, oder besser gesagt, in einen fließenden Kabinenverbund, bei dem Overlays routinemäßig Sitzplätze markieren. Es sind genug virtuelle Markierungen frei, um nicht überlegen zu müssen, wo man sich hinsetzen soll. Die Türen gleiten zu, und eine Stimme informiert über die nächste Station. Leyla scrollt nebenbei durch interne Firmennachrichten: Das System zeigt ihr transparente Panels, die über die reale Aussicht gelegt werden. Es gibt einen Hinweis auf Wartungsarbeiten in Arianda Green, einem Viertel, das sie nur vom Hörensagen kennt. Eine Randnotiz: „Overlay-Qualitätscheck läuft reibungslos.“ Nichts Ungewöhnliches.
Die Fahrt verläuft ruhig. Draußen sind die Straßen gefiltert, als wären sie makellos. Leyla weiß, dass sie dank ihrer Zugangsstufe manchmal etwas realistischere Ansichten bekommt. Als Technikerin sieht sie hin und wieder Rohdaten, aber diese sind so verschachtelt und technisch, dass sie kaum einen Eindruck von echter Verwahrlosung vermitteln, wenn es diese überhaupt gibt. Ihr ist schon aufgefallen, dass manche Ecken in der unprozessierten Kartenansicht anders aussehen, aber sie hat das nie groß hinterfragt. Wozu auch? Die Firma sagt, es handele sich um codierte Testläufe oder interne Renderfehler. Klar, manchmal kommt ihr ein ironischer Gedanke: Was, wenn hier mehr getrickst wird, als man zugibt? Aber dann lacht sie innerlich über sich selbst. Sie ist doch keine paranoide Spinnerin. Das System funktioniert. Sie hat einen guten Job, ein komfortables Leben, und bald vielleicht eine bessere Stelle.
An der Haltestelle aussteigen, ein kurzer Weg durch eine überlagerte Passage mit Werbebannern — einer preist ein neues AR-Game an, ein anderer kündigt eine Wohltätigkeitsveranstaltung für Kulturförderung an. Leyla registriert es nebenbei. Als sie den Firmeneingang erreicht, legt sie unwillkürlich die Schultern zurück. Heute will sie selbstsicher wirken. Ein Upgrade in der Firma würde bedeuten: mehr Verantwortung, vielleicht etwas mehr Gehalt, vielleicht sogar ein stabileres Overlay-Paket als Mitarbeiterin im mittleren Management. Die AR-Welt könnte für sie dann noch komfortabler werden. Keine Ahnung, ob das wirklich so funktioniert, aber es kursieren solche Geschichten, dass man mit Beförderungen auch subtil veränderte Wahrnehmungsebenen erhält. Höherer Status, ansprechendere Overlays, gezieltere Informationen.
Drinnen begrüßt sie die Sicherheitsschranke mit einem grünen Symbol: „Zutritt gewährt, Leyla N.“ Sie nickt kurz, geht durch die Lobby. Ein paar Kollegen huschen vorbei. Ein holografischer Aushang vermeldet ein Firmen-Meeting am Ende der Woche. Vielleicht erfährt man dann offiziell von der freien Stelle. Sie geht zum Aufzug, drückt auf ein virtuelles Panel, und während sie wartet, checkt sie ihre Mails: zwei Routineanfragen, eine Erinnerung an eine Systemprüfung im Westsektor, und — da ist es, eine persönliche Nachricht von Riven: „Morgen Leyla, Overlay-Check in Zone 3 abgeschlossen. Hast du gehört, in Arianda Green gibt es Störungen? Evtl. schaust du heute mal vorbei. - R.“
Arianda Green, also doch. Störungen klingen harmlos, sind aber nie gern gesehen. Zumindest ist es kein großes Problem, sonst hätte sie sicher ein offizielles Ticket bekommen. Sie tippt eine knappe Antwort: „Danke Riven, werd ich machen. Heute später? Vielleicht Mittagspause?“ Sie formuliert es neutral genug, um nicht aufdringlich zu wirken, aber freundlich genug, um weiter Kontakt zu halten.
Auf ihrem Stockwerk angekommen, geht sie zu ihrem Schreibtisch. Ein minimalistischer Arbeitsplatz, der natürlich im AR-Modus viel umfangreicher wirkt: Virtuelle Bildschirme über dem leeren Tisch, Menüs, Werkzeuge für Datenanalyse. Leyla setzt sich, streckt die Finger und öffnet die Systemkonsole. Während sie einige Skripte durchläuft, um Overlay-Stabilität zu prüfen, bemerkt sie wieder diesen angenehmen Blauton, der ihre Wahrnehmung begleitet. Ein Zeichen dafür, dass sie in einer „gehobenen“ Zone ist. Ein heimliches Lächeln huscht über ihre Lippen. Sie hat sich das erarbeitet.
Kurz danach klopft es an ihrer virtuellen Tür. Eigentlich klopft niemand mehr physisch an. Ein Avatar-Icon eines Kollegen, namens Malek, erscheint. Er schickt eine Kurznachricht ins Interface: „Hey Leyla, wir haben ein paar merkwürdige Rückmeldungen aus Arianda Green. Ein Frame-Drop bei bestimmten Overlays. Kannst du später einen Blick drauf werfen? Nicht dringend, aber bevor es eskaliert, wäre’s schön.“
Merkwürdig. Zwei Hinweise auf Arianda Green an einem Morgen. Leyla fragt sich, ob es ein simpler Rendering-Fehler ist. Das passiert schon mal, wenn alte Datenpakete nicht korrekt aktualisiert werden. Sie antwortet: „Klar, schick mir die Logs, ich geh nachher rüber.“ Dann widmet sie sich noch ein paar internen Checks.
Eine halbe Stunde vergeht in stiller Routine. Leyla mag diese Monotonie — sie arbeitet konzentriert, klopft ein paar Befehle in die virtuelle Konsole, überprüft Parameter, die sicherstellen, dass jeder Bürger seiner Kategorie entsprechend die korrekten Overlays erhält. Dabei denkt sie kurz nach, wie nahtlos sich die Leute an diese Welt gewöhnt haben. Zeitungskioske gibt es längst nicht mehr, jedenfalls nicht real. Ein Kiosk könnte existieren, aber man würde ihn als Overlay sehen, wenn es sinnvoll erscheint. Nahrungsmittel sind echt, aber ihre Inszenierung als Waren im Raum ist digital. Alles im Fluss.
Sie steht auf, um sich einen Kaffee aus der Büroküche zu holen. Auf dem Weg dorthin registriert sie, dass zwei Kollegen leise über etwas diskutieren — sie fängt Wortfetzen auf: „...Arianda Green... Testserver...“ Sie runzelt die Stirn. Schon wieder dieses Viertel. Ist da gerade ein Hardwarefehler? Oder plant das Management dort eine Umstrukturierung?
Mit dem Kaffee zurück an ihrem Platz, überlegt sie, ob sie früher oder später mal einen kurzen Ausflug nach Arianda Green machen soll. Zu Fuß ist es etwas weit, aber sie kann sicher einen Log-in vor Ort durchführen. Das AR-System erlaubt Fernzugriffe. Dennoch, manchmal ist es besser, real hinzugehen und zu schauen, ob der physische Ort irgendein Problem aufweist: veraltete Sensoren, defekte Drohnenstationen, irgendetwas Handfestes, das ein reines Softwareproblem nicht erklärt.
Sie ist gerade dabei, ein paar Analysetools zusammenzustellen, als eine neue Systemnachricht direkt im oberen Bildrand auftaucht. Diesmal ist es ein Standardhinweis der Firma: „Overlay-Störung in Arianda Green – dringend prüfen!“ Der Betreff ist auffallend knapp. Kein freundliches „Bitte nachsehen“, kein Ticket mit Begründung, einfach nur ein Befehl. Die Nachricht kommt vermutlich von der Systemleitstelle.
„Hm“, macht Leyla leise. Nichts Dramatisches, steht da nicht, aber eindeutig eine Aufforderung. Gerade eben wirkte noch alles banal, jetzt taucht innerhalb kurzer Zeit die dritte Meldung zu diesem Viertel auf. Sie nippt am Kaffee. Schmeckt etwas bitter. Wie passend. Die Linsen blenden ihr jetzt einen Wegweiser ein, falls sie vor Ort handeln will: Eine dezent flackernde Pfeilmarkierung, die sie daran erinnert, wohin sie gehen müsste, um zum Bahnsteig für diesen Stadtteil zu gelangen.
Leyla lehnt sich zurück. Das ist ihr erster konkreter Auftrag heute. Vielleicht kann sie durch gutes Troubleshooting zeigen, dass sie für höhere Aufgaben qualifiziert ist. Ein kleiner Stolperstein, den sie schnell aus dem Weg räumen kann. Sie grinst schmal. Ein Overlay-Störfall, nichts Besonderes, aber immerhin eine Gelegenheit, zu glänzen. Sie tippt rasch ein paar Befehle ins System, um die vorläufigen Daten zu sichten.
Die Zeitanzeige in ihrem Sichtfeld rückt vor. Noch ist es früh am Tag, und sie hat alle Chancen, dieses Problem schnell und elegant zu lösen. Und wer weiß, vielleicht hat Riven auch Zeit. Sie wird später fragen. Jetzt heißt es erst mal, diesen kleinen Fehler im System aufzudecken. Ein minimaler Kratzer in der sonst makellosen Fassade von Auris.
Leyla steht auf, macht sich bereit, ihren Arbeitsplatz zu verlassen. Draußen in der Lobby warten saubere Overlays, Blautöne und weiche Formen. Sie atmet durch, ruft ein Transportroutentool auf, und im oberen rechten Sichtfeld leuchtet erneut die Meldung auf: „Overlay-Störung in Arianda Green – dringend prüfen!“
„Schon unterwegs“, murmelt sie, halb amüsiert, halb entschlossen. Sie greift ins Leere, wo sie ein virtuelles Datenpaket für das Projekt ablegt, und nickt sich selbst im Spiegelbild eines AR-Panel zu: Heute ist ein guter Tag, um Kompetenz zu beweisen.
Mit einem leisen Summen öffnet sich die Bürotür, und Leyla tritt hinaus in die künstliche Perfektion des Auris-Arbeitstagmorgens.
Während sie den letzten Befehl eingibt, sieht sie in einer Codezeile erneut das Wort „UserGroupFactor“. Sie versucht, es zu ignorieren. Vielleicht ist es wirklich nur ein internes Tagging-System. Sie schaltet den Arbeitsplatz in den Standby-Modus, steht auf und spürt dieses leichte Unbehagen wieder. Ein winziger Kratzer am Weltbild, wie ein Haarriss in einer perfekt polierten Scheibe Glas. Kaum sichtbar, aber wenn man weiß, wo er ist, bekommt man ihn nicht mehr aus dem Kopf.
So endet ihr Tag. Sie geht nach Hause, so als wäre alles in Ordnung, doch sie kann die Frage nicht abschütteln: Wer sieht was in dieser Stadt, und warum?
Leyla steht vor dem Büroausgang, noch etwas gedankenverloren, als sie sich aufrafft. Gestern hat sie dieses seltsame Flackern gesehen, die verborgenen Filterregeln in Arianda Green entdeckt. Heute soll sie sich vor Ort selbst ein Bild machen. Selbst wenn alle im Team diesen Vorfall als harmlosen Rendering-Fehler abtun, lässt es ihr keine Ruhe. Sie will beweisen, dass sie gründlich arbeitet, dass sie sich um jedes Detail kümmert. Vielleicht kann sie so ihre Kompetenz unterstreichen, was ihr im laufenden Aufstiegsgerangel sicher nicht schadet.
Sie ruft in ihrem Interface eine Routenanweisung auf: Arianda Green ist nicht weit, mit der Bahn etwa zehn Minuten. Das System zeigt ihr einen blauen, dezent schimmernden Wegweiser, der sie zur passenden Plattform führt. Unterwegs grüßt sie beiläufig ein paar Kollegen. Niemand fragt, wohin sie geht. Es ist normal, dass Technikerinnen sich gelegentlich vor Ort umschauen, um zu prüfen, ob alle Sensoren korrekt arbeiten. Während sie in die Bahn steigt, denkt sie kurz an Riven. Riven hatte keinen Einwand. Vielleicht kann sie nachher rapportieren, was sie gefunden hat, falls es überhaupt etwas zu rapportieren gibt.
Die Bahn gleitet sanft durch Auris. Die Overlays im Inneren sind zurückhaltend: ein Fahrplan, Wetterinfos, ein paar Werbe-Einblendungen. Leyla lenkt ihren Blick ins Freie, dort wo virtuelle Fassaden auf reale Gebäude gelegt sind. Nichts Ungewöhnliches. Einzig ihr wachsendes Misstrauen sticht heraus. Sie fragt sich, ob sie das Ganze übertreibt. Wahrscheinlich.
Als sie in Arianda Green ankommt, empfängt sie ein Viertel, das auf den ersten Blick so aussieht, wie ihr Debug-Tool es vorgab: modern, aufgeräumt, mit eleganten AR-Werbeflächen. Ein sanfter, ins Grünliche gehender Farbton dominiert hier, passend zum Namen. Manche Gebäude haben digitale Deko-Elemente: geschwungene Muster, die das Auge beruhigen. Eine Fußgängerzone ist mit schwebenden Hinweisschildern versehen, die Radwege, Cafés und Geschäfte bewerben.
Leyla schlendert langsam durch die Straßen. Offiziell ist sie hier, um die Sensorik eines bestimmten Knotenpunkts zu überprüfen, doch anstatt sich direkt an die Arbeit zu machen, nimmt sie sich einen Moment, um die Atmosphäre aufzusaugen. Alles wirkt glatt, vielleicht zu glatt. Sie konzentriert sich auf die kleinen Dinge: eine Mülltonne (hübsch digital übermalt, sodass sie fast wie eine Designer-Vase wirkt), ein Straßenschild, das laut Overlay vor ein paar Jahren erneuert wurde. Doch da ist etwas: Das Straßenschild flackert kurz. Ein kaum wahrnehmbares Zucken. Leyla runzelt die Stirn.
Sie tritt näher an den Pfosten, an dem dieses digitale Schild angebracht ist. Natürlich existiert real eine Metallstange, aber ob das Schild selbst noch physisch dort ist, kann Leyla ohne Abschalten der Linsen kaum beurteilen. Sie weiß, dass man vor geraumer Zeit echte Beschilderung fast komplett aufgegeben hat. AR macht’s möglich. Doch wenn es flackert, könnte das bedeuten, dass die zugrundeliegenden Daten nicht hundertprozentig übereinstimmen. Leyla speichert eine kleine Markierung in ihrem internen Firmen-Tool, um später nachzusehen.
Dann spricht sie eine leise, fast kratzige Stimme von der Seite an: „Komisch, Ihr seht das wohl auch so schön, was?“ Leyla dreht den Kopf. Ein älterer Mann steht da, vielleicht um die sechzig. Seine Kleidung ist schlicht, ohne sichtbare AR-Verbesserungen. Er blickt sie forschend an, als suche er etwas in ihrem Gesicht.
Leyla lächelt höflich. „Entschuldigen Sie?“
Der Mann schnaubt leise. „Das Viertel. So aufgeräumt, nicht wahr? Alles sauber, keine Makel.“ Er betont das letzte Wort leicht ironisch. Leyla hebt eine Braue. Der Mann trägt weder moderne Kontaktlinsen noch erkennbare AR-Gadgets. Wer macht so was? Ohne Linsen ist man doch orientierungslos.
„Sie tragen keine Linsen?“ fragt Leyla vorsichtig.
Er zuckt mit den Schultern. „Hatte früher welche, aber die waren alt. Jetzt komm ich mit den neuen nicht zurecht. Außerdem… ich mag’s nicht, wenn man mir die Welt vorschreibt. Hab meine eigene Brille, und die ist nur Glas, kein Schnickschnack.“ Er zeigt eine altmodische Brille, die er in der Hand hält. Ohne AR-Funktionen, nur zum Sehen. Leyla ist verblüfft. Wie kommt er dann zurecht? Bestimmt ist es schwierig, ohne digitale Wegweiser.
„Und Sie sehen… anders?“ fragt Leyla. Eine vorsichtige Formulierung.
Der Mann lacht trocken. „Ah, Sie sind also eine von denen, die denken, wir sehen alle das Gleiche. Nun, Miss, ich sehe Risse in den Fassaden, Graffiti, abgeplatzte Farbe. Das hier war mal ein echtes Viertel mit echten Schildern. Da stand mal ein richtiges Metallschild, keine Projektion. Heute ist alles nur… übermalt. Für Leute wie Sie.“ Er deutet mit dem Kinn auf ihre Augen. Er weiß, dass sie Linsen trägt. Ist ja auch Standard.
Leyla schluckt. Sein Tonfall ist nicht aggressiv, eher müde. „Ich bin Technikerin“, erklärt sie leise, „ich sorge dafür, dass die Overlays korrekt funktionieren.“ Ihr Satz klingt in ihren Ohren plötzlich defensiv. Als müsste sie sich rechtfertigen.
Der Mann mustert sie. „Dann wissen Sie doch sicher, wie viel gefiltert wird, oder? Wie viel man zeigt und wie viel man versteckt?“ Er lächelt bitter. „Früher hing hier ein handgeschriebenes Schild. Der Wind hat es verbogen, der Regen es verblasst. Heute zeigt man euch ein perfektes, digitales Schild. Keine Mühe, kein Verschleiß. Nur ein schöner Schein. Aber manchmal, wenn ich genau hinschaue, flackern sie.“ Er nickt in Richtung des Pfostens. „Vielleicht sehen Sie’s ja auch, wenn Sie die richtigen Augen haben.“
Leyla fühlt sich unbehaglich. Sie wollte nur ein Problem lösen, kein philosophisches Gespräch führen. „Aber ist es nicht praktisch, wenn alles sauber und gut lesbar ist?“ versucht sie zu relativieren.
Der Mann hebt eine Augenbraue. „Praktisch, sicher. Aber was ist, wenn das, was man Ihnen zeigt, nicht wahr ist? Nur eine Frage. Nun gut, Miss Technikerin. Ich will Sie nicht aufhalten.“ Er dreht sich um, geht langsam davon. Leyla bleibt zurück, nachdenklich.
Sie sieht sich erneut um. Für sie ist Arianda Green makellos – bis auf diese kleinen Flackermomente. Der Mann hat insinuiert, dass es auch eine andere Realität gibt, eine ohne die AR-Schichten, in der das Viertel durchaus Makel aufweist. Sie wusste natürlich, dass Overlays die Realität ergänzen, aber sie ging immer davon aus, dass sie weitgehend mit den echten Strukturen übereinstimmen, nur verbessert. Nicht, dass sie grundlegend anderes zeigen als die Wahrheit.
Leyla beschließt, ihren eigentlichen Auftrag auszuführen. Sie sucht den Sensorenknoten in einer Seitenstraße. Auf ihrem Interface erscheint ein Pfeil, der sie zu einer kleinen, unscheinbaren Box führt, an einer Wand montiert – echt und greifbar. Über die Linsen sieht sie diese Box markiert mit einem hellen Icon: „Sensor Node #AG-14“. Sie tippt ein paar Befehle ins AR-Menü, um die Statusdaten des Sensors auszulesen. Alles im grünen Bereich.
Während sie sich über die Ergebnisse beugt, verwischt das Schild an der Straße im Hintergrund erneut für eine Millisekunde. Leyla versucht, bewusst hinzusehen, aber es ist schnell wieder stabil. Sie kann nicht verifizieren, ob hier ein Serienfehler vorliegt. Vielleicht nur eine leichte Datenlatenz.
Als sie fertig ist, beschließt sie, noch ein Stück herumzuschlendern. Niemand wird ihr das Verwehren, sie ist offiziell unterwegs. Nach einigen Schritten kommt sie an einen Platz mit einem projizierten Kunstwerk – eine virtuelle Skulptur, schwebend über dem Kopfsteinpflaster. Das System blendet Info-Tafeln ein, die behaupten, hier stehe eine berühmte Installation. Doch Leyla erkennt, wenn sie genau hinschaut, dass die Skulptur minimal flimmert. Ganz leicht, aber genug, um ihr misstrauisches Gehirn anzuheizen.
In Gedanken geht sie die Möglichkeiten durch: Vielleicht ist der alte Mann nur ein Sonderfall, der keine Linsen mehr trägt und deshalb etwas anderes sieht – nämlich das, was wirklich da ist. Und was da ist, könnte einfach weniger gepflegt sein. Sie selbst sieht nur die geschönte Version. Bisher nahm sie an, dass die AR-Fassaden auf real existierenden Strukturen beruhen, zumindest rudimentär. Doch jetzt keimt der Verdacht, dass an manchen Stellen mehr verschleiert wird, als sie wusste.
Sie versucht eine kleine Diagnose über ihr Firmeninterface: zeigt ihr das System Hinweise auf unterschiedliche Profile? Doch hier draußen hat sie nicht dieselben Debug-Rechte wie am Schreibtisch. Sie kann nur oberflächliche Daten abrufen. Nichts Auffälliges.
Als Leyla genug gesehen hat, macht sie sich auf den Rückweg. Beim Einsteigen in die Bahn fällt ihr ein, dass sie vergessen hat, den Datenabzug des Viertels mitzunehmen. Egal, sie hat Erinnerungen, Notizen im Kopf. Die Bahn beginnt ihre Fahrt, und Leyla öffnet gedanklich ihr Debug-Tool im eingeschränkten Modus, um während der Rückfahrt ein paar Netzwerkpakete zu inspizieren. Überraschung: In diesem Bereich von Arianda Green scheinen auffallend viele Filterregeln hinterlegt zu sein. Genau wie im Büro, als sie die Codefragmente sah. Sie haben eindeutig etwas mit Nutzergruppen zu tun – das Wort „UserGroupFactor“ taucht wieder auf, nur diesmal in den Statusmeldungen, die ihr sporadisch durch den Kopf gehen.
Nutzergruppen. Der alte Mann könnte keiner bestimmten Gruppe mehr zugeordnet sein, weil er keine aktuellen Linsen hat. Und möglicherweise bekommt er ein völlig anderes Bild. Kann das sein? Sie wollte es erst nicht glauben, aber jetzt ist sie sich unsicher. Doch was soll das bedeuten? Warum sollten bestimmte Gruppen andere, schönere Overlays bekommen und andere nicht?
Am Bahnhof zur Rückfahrt steigt Leyla aus. Ihr Herz klopft ein wenig schneller, als sie erwartet hat. Sie hält kurz inne und atmet durch. Es wird ihr doch nicht mulmig, nur weil ein älterer Herr ein paar kryptische Andeutungen machte? Und weil sie ein paar Codezeilen gesehen hat?
Sie erinnert sich an Maleks Worte: „Mach dir keinen Kopf.“ Und an das Lächeln von Riven, die die Sache pragmatisch abgetan hat. Vielleicht würde jeder so reagieren. Niemand hat ein Interesse, sich in mögliche Schieflagen hineinzudenken. Warum sollte Leyla das ausgerechnet tun? Weil sie ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden hat? Oder ist es einfach ihr Ehrgeiz, jedes technische Detail verstehen zu wollen?
Wieder im Büro, spätnachmittags, nimmt sie sich ein paar Minuten, um die Logs des heutigen Ausflugs in ihre interne Notizdatei (privat verschlüsselt) einzutragen. Sie schreibt stichwortartig:
• Seltsames Flackern bei realen vs. AR-Schildern.
• Älterer Mann ohne moderne Linsen sieht offenbar ein ganz anderes, heruntergekommenes Bild des Viertels.
• Wiederholt Filterregeln entdeckt, die auf Nutzergruppen basieren.
• Frage: Wer gehört zu welcher Gruppe? Warum unterschiedliche Fassaden?
Während sie tippt, wirft sie einen Seitenblick auf ihre Kollegen. Alle arbeiten normal, konzentriert, mit ausdruckslosen Gesichtern. Keiner scheint sich den Kopf über solche Feinheiten zu zerbrechen. Ist sie die Einzige, die das auffällig findet?
Sie schickt Riven eine kurze Nachricht: „War in Arianda Green. Alles okay, aber paar komische Flacker, vermutlich altmodische Infrastruktur. Können wir morgen drüber quatschen?“ Riven antwortet prompt: „Klar. Hab gerade viel zu tun. Morgen früh?“
Leyla stimmt zu. Sie will Riven vorsichtig fragen, ohne zu alarmieren. Immerhin kennt Riven die internen Prozesse besser als sie. Vielleicht kann Riven erklären, dass dieses UserGroup-Ding ein alter Hut ist, irgendwas völlig Harmloses.
Als Leyla am Ende des Tages nach Hause geht, summen die Drohnen über den Straßen, die Linsen zeigen ihr einen angenehmen Heimweg. Sie sieht alles perfekt geordnet. Doch nun achtet sie auf jedes Flackern, jeden Übergang. Einmal scheint eine Hauswand für den Bruchteil einer Sekunde nackt und fleckig, bevor sie sich wieder in eine saubere, modernisierte Fassade verwandelt. Leyla ist sich nicht sicher, ob sie sich das einbildet.
Sie ertappt sich dabei, wie sie innerlich sarkastisch murmelt: „Na toll, Leyla, jetzt bist du schon paranoid.“ Doch das ist ihre Art, mit Stress umzugehen. Diese Ungereimtheiten nagen an ihr. Sie hat noch keine Gewissheit, nichts Handfestes, nur Indizien und Andeutungen. Sie weigert sich aber, einfach wegzuschauen.
Zuhause in ihrem Apartment lässt sie sich auf einen Stuhl fallen. Sie nimmt die Linsen nicht gleich heraus, scrollt durch News und Entertainment-Feeds. Alle wirken so normal, so beruhigend. Doch sie fragt sich, ob andere Leute dasselbe sehen. Vielleicht sind manche Nachrichten für bestimmte Gruppen anders gefiltert. Was, wenn man alles anpasst, je nachdem, wer zuschaut?
Leyla weiß, das könnte die ganze Wahrnehmung der Stadt in Frage stellen. Aber sie hat noch keine Beweise, nur Hypothesen. Ein Schritt nach dem anderen, sagt sie sich. Zuerst muss sie morgen mit Riven reden. Vielleicht auch mit jemandem, der keine aktuellen Linsen nutzt. Wie findet sie solche Leute? Der alte Mann schien nicht besonders gesprächig, aber es muss andere geben, die auf ältere Systeme zurückgreifen. Vielleicht kann sie herausfinden, ob es eine Gruppe von Menschen gibt, die dem offiziellen System misstraut.
Bevor sie die Linsen herausnimmt, fällt ihr Blick auf ein kleines digitales Icon an ihrer Wand, eine Deko, die ihr Wohnviertel als „gehobenes Areal“ markieren soll. War das schon immer da? Sie findet es merkwürdig, wie subtil man den Status kommuniziert. Ein Symbol für die Sicherheit, in der sie sich wähnt. Ein Symbol dafür, dass manche Menschen wohl bessere Overlays haben als andere. „Nutzergruppen“, flüstert sie. Klingt wie eine harmlose Kategorisierung. Aber vielleicht steckt mehr dahinter.
Sie nimmt die Linsen ab, die Welt ist jetzt nur ihr schlichtes, echtes Apartment. Graue Wände, wenig Dekoration. Alles andere war digital. Ein leichtes Frösteln überläuft sie, als sie realisiert, wie viel ihre Wahrnehmung vom System gesteuert wird. War ihr das nicht immer klar? Doch, natürlich, aber sie hat es nie hinterfragt. Jetzt, wo sie erste Ungereimtheiten entdeckt hat, fühlt es sich anders an, fast beklemmend.
Vor dem Schlafengehen schreibt sie ein paar Stichpunkte auf Papier – ja, echtes Papier, das sie manchmal für Notizen nutzt, um sicherzugehen, dass sie nicht alles digital hat. Sie notiert:
• „Arianda Green: Andere Realität für manchen Mann.
• Unterschiedliche Overlay-Regeln nach Nutzergruppen.
• Vielleicht kein Bug, sondern gewollt?
• Morgen Riven fragen.“
Leyla legt den Zettel beiseite, atmet tief durch. Sie kämpft gegen das Gefühl an, dass sie auf etwas gestoßen ist, das niemand sehen soll. Noch ist es nur eine Ahnung. Aber die leisen Zweifel haben begonnen, ihre Sicht auf Auris zu verändern. Und sie ahnt, es wird nicht bei diesen ersten Ungereimtheiten bleiben. Es ist, als hätte sie einen Faden im perfekten Gewebe der Stadt gezogen. Nun muss sie entscheiden, ob sie ihn weiterzieht.