Eigenständig im Alltag unterwegs (E-Book) - Monika Luginbühl - E-Book

Eigenständig im Alltag unterwegs (E-Book) E-Book

Monika Luginbühl

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Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Alle Klient*innen der Sozialpädagogik möchten möglichst selbstständig im Alltag unterwegs sein. Doch wie gelingt das? Und was können Sozialpädagog*innen konkret dafür tun? Dieses Buch bietet hilfreiche Tipps zur Förderung von Alltagskompetenzen sowie einen kompakten, fachlichen Überblick zu Fragen rund um Konsum, Haushalt und digitale Medien. Das Praxishandbuch zeigt Berufsfachpersonen mit dem Modell «SALSA» und anhand zahlreicher Beispiele auf, wie sie geeignete Lernsituationen zur Förderung der Alltagskompetenzen ihrer Klient*innen erkennen und kreativ nutzen können. Es eignet sich sowohl für den Einsatz im stationären als auch im ambulanten Bereich.

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Christa Luginbühl / Monika Luginbühl

Eigenständig im Alltag unterwegs

Alltagskompetenzen in sozialen Einrichtungen kreativ fördern

 

ISBN Print: 978-3-0355-1991-4

ISBN E-Book: 978-3-0355-1992-1

 

Fotos: Frank Egle

 

Dank an: Hanspeter Bosshard, Marianne Bossard, Eliane Hess, Simon Lieberherr, Familie Luginbühl, Luca Patocchi, Melanie Seifert, Sonia Schädeli, Kathrin Scheidegger, Talina Rostetter, Chantal Billaud, Eva Zogg, Moritz Zumbühl, BFF Bern, Berner Schuldenberatungsstelle

 

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 hep Verlag AG, Bern

 

hep-verlag.ch

Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Auftritt Hauswirtschaft: Nicht verstaubt, sondern brillant!

Einführung

1. Das Plädoyer für die Hauswirtschaft

2. Unser Bildungsverständnis

3. Lebensweltorientierung im Kontext von Hauswirtschaft

4. Modell SALSA: Spezifische, alltagskompatible Lernsituationen systematisch finden und anleiten

5. Was Sie in diesem Buch finden

Teil 2: Themenbereiche mitten aus dem Praxisalltag

A | Konsum und Geld

Cash und Credit: Mein Umgang mit Geld und Finanzen

Schein und Sein: Wie Werbung mich und meine Konsumentscheide beeinflusst

Klipp und klar: Ich weiss, warum ich was will

B | Kochen und wohnen

Effizient und organisiert: Ohne Anstrengung durch den Alltag

Genussvoll und kreativ: Kochen mit Köpfchen

Gemeinsam und relaxt: Gute Stimmung am Tisch

C | Smart mit Phone

Praktisch und Handy: Mit digitaler Unterstützung durch den Alltag

Risiken und Grauzonen: Wenn das Handy zur Gefahr wird

D | Selbstbestimmt und entspannt

Eigenständig unterwegs: Ich habe den Alltag im Griff

Teil 3: Lernsituationen konkret

Übersicht über die einzelnen Kompetenzstufen

Anwendung des SALSA-Modells am Beispiel der Förderung von Selbststeuerungskompetenzen

Ideen für Lernsituationen mit Kindern (5- bis 10-jährig) ohne Lernschwierigkeiten

Ideen für Lernsituationen mit Kindern (5- bis 10-jährig) mit Lernschwierigkeiten

Ideen für Lernsituationen mit Jugendlichen (11- bis 19-jährig) ohne Lernschwierigkeiten

Ideen für Lernsituationen mit Jugendlichen (11- bis 19-jährig) mit Lernschwierigkeiten

Ideen für Lernsituationen mit Erwachsenen ohne Lernschwierigkeiten

Ideen für Lernsituationen mit Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten

Abbildungsverzeichnis

Weiterführende Literatur

Anhänge

Annex 1: Checkliste Grundhaltung: Menschenbild, Werte, Ziele, Berufsverständnis

Annex 2: Checkliste Lernfelder erkennen: visionäre, potenzielle, aktuelle Optionen

Annex 3: Checkliste Lernsituationen wählen: alltagskompatibel, angepasst an Finanz-, Zeit- und Betreuungsressourcen

Annex 4: Kurzzusammenfassung der wichtigsten Lerntheorien

Die Autorinnen

Teil 1: Auftritt Hauswirtschaft: Nicht verstaubt, sondern brillant!

Hauswirtschaft. Schon der Begriff löst bei vielen Menschen negative Assoziationen aus: Pingelige Hauswirtschaftslehrer*innen lassen gesundes, aber bitter schmeckendes Gemüse kleinschneiden, kontrollieren mit dem Zeigefinger die eben geputzte Arbeitsfläche, fordern exakt ausgestochene Weihnachtsguetzli und lassen Menüs auf die Minute und den Rappen genau planen. Auch zu Hause fallen die Assoziationen meist nicht besser aus: aufräumen, putzen … – was daran soll bitteschön interessant sein? Und nun folgt hier zum Auftakt dieses Buches ein Plädoyer für die Hauswirtschaft mit dem nicht eben bescheidenen Titel «Nicht verstaubt, sondern brillant»?!

Nun, liebe kritische Leser*innen, ja, genau das möchten wir Ihnen beweisen: Das Themenfeld Hauswirtschaft ist aus sozialpädagogischer Sicht eine wahre Goldgrube für die Erweiterung der Alltagskompetenzen Ihrer Klient*innen.

Mit dem Lehrplan 21 ist das neue Schulfach Wirtschaft, Arbeit, Haushalt (WAH) entstanden. Es ersetzt den bisherigen Hauswirtschaftsunterricht der 9. Klasse. Dieses Schulfach im dritten Zyklus (7.–9. Klasse) erörtert genau die hier ins Zentrum gestellten Inhalte. Alltagskompetenzen werden nicht mehr nur so verstanden, dass lediglich die erforderlichen handwerklichen und organisatorischen Kompetenzen erlangt werden müssen. Es geht vielmehr umfassend darum, sich als Konsument*in sicher zu bewegen, bewusste Konsumentscheide zu fällen und einen Umgang mit Geld und Verlockungen zu erlernen. – Kurz: sich im Alltag organisieren können. Die Stunden des äusserst sinnvollen Schulfaches ersetzen aber nicht die pädagogische Förderung im Alltag. Und hier sind Sie als Sozialpädagog*in in Ihrer Profession gefragt, indem Sie Menschen fördern, damit diese so eigenständig und selbstbestimmt wie möglich im Alltag leben können. Die Ressourcen dafür liegen denn auch im Alltag selbst, Sie müssen diese nur erkennen und pädagogisch nutzbar machen. Wir geben Ihnen mit dem vorliegenden Buch einen breit gefächerten ersten Überblick, das Thema bietet aber unzählige Vertiefungsmöglichkeiten für das Selbststudium.

Es geht uns mit diesem Buch um nicht weniger als um die Verschiebung des Blickwinkels, um das Setzen eines neuen Rahmens: Hauswirtschaft als zentrales Lernfeld für die Erweiterung der Alltagskompetenzen. Machen Sie sich mit uns auf den Weg, dieses spannende und vielfältige Thema neu zu entdecken!

Einführung

1.Das Plädoyer für die Hauswirtschaft

Erlauben Sie uns zuerst eine Frage: Was bringt Sie besser durch den Alltag, das Fachbuch oder die Klobürste? Nun ja, die Frage ist etwas gewagt und rhetorisch, aber dennoch bringt sie einiges auf den Punkt: Selbstverständlich ist das Fachbuch wichtig, aber wenn Sie die Anforderungen des Alltags – und dazu gehören nun mal auch so banale Dinge wie ein Klo putzen – nicht managen, ergeben sich für Sie ganz schnell Probleme, und zwar fundamentale.

Um im Leben gut zurechtzukommen, müssen wir für uns selbst sorgen können. Dafür müssen wir eine Reihe von Alltagskompetenzen beherrschen. Die meisten Menschen entwickeln diese Alltagskompetenzen nicht in der Schule, sondern zu Hause im familiären Umfeld. Klient*innen der Sozialpädagogik leben häufig ganz oder teilweise in Institutionen. Einige verbringen nur die Wochenenden in der Herkunftsfamilie oder mit den Partner*innen. Entsprechend verlagern sich die Alltagsaufgaben in die Institution, und das bedeutet: Die Klient*innen der Sozialpädagogik sind darauf angewiesen, dass sie im institutionellen Umfeld alltagspraktischen Lernchancen erhalten. Dabei fällt den Angehörigen trotzdem weiterhin eine wichtige Rolle zu, denn für eine nachhaltige, systemische Arbeitsweise ist es wichtig, das Herkunftssystem der Klient*innen wann immer möglich einzubeziehen und zu beteiligen. Im Sinne des lebenslangen Lernens brauchen auch Erwachsene, die in Wohnheimen leben, entsprechende Förderung. Das Ziel der sozialpädagogischen Arbeit ist es, Menschen zu unterstützen und zu befähigen, möglichst eigenständig und in weitgehend selbstbestimmten Lebenszusammenhängen ihren Alltag gelingend zu gestalten und dabei am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und teilzunehmen. Dazu gehört als Basis auch, dass Klient*innen lernen, möglichst eigenständig für sich selbst zu sorgen. Wenn es Ihnen in Ihrer Vorbildfunktion und als sozialpädagogische Begleitperson also gelingt, das negative Image der Hauswirtschaft abzustreifen, können Sie das sich bietende Potenzial für die Erweiterung der lebenspraktischen Befähigung aktiv und vielfältig nutzen. Im Folgenden geben wir Ihnen einen kurzen Überblick, welche Förderfelder im Buch thematisiert werden.

 

Selbstwirksamkeit erleben, Erfolgsmomente ermöglichen: Der Alltag der Klient*innen der Sozialpädagogik zeichnet sich in der Regel nicht primär durch Erfolge aus. Oftmals befinden sich die Klient*innen in komplexen Problemlagen und haben schon viele belastende Erfahrungen gemacht. Selbstwirksamkeitsförderung ist daher ein zentrales Ziel. Im Bereich Hauswirtschaft können Sie Ihren Klient*innen sichtbare und schnell erreichbare Momente des Erfolgs ermöglichen. Mit Kochen und Backen liegt das auf der Hand – aber auch im Bereich Putzen ist es möglich. Denken Sie nur kurz nach, wie das bei Ihnen zu Hause läuft: Sie haben sich endlich überwunden, die Fenster ihrer Wohnung zu putzen. Am Abend kommt Besuch vorbei – was sagen Sie? «Schau, die Fenster! Man sieht nicht mal das Glas, so sauber sind sie geworden.» Solche Momente des Stolzes sind auch für Ihre Klient*innen wichtig.

 

Umfassende Alltagskompetenzen fördern: Das eigenständige Verrichten von Alltagsarbeiten im Haushalt fördert eine Vielzahl an wichtigen Basiskompetenzen, beispielsweise die Finanz- oder Konsumkompetenz, Kompetenzen in den Bereichen Konsumethik, Haushaltsarbeiten oder Ernährung, Sozialkompetenz in Tischsituationen, Medien-, aber auch Planungs- oder Selbststeuerungskompetenz sowie Reflexionsfähigkeit. Die Tatsache, dass haushaltsbezogene Arbeiten regelmässig und in überblickbaren Sequenzen erledigt werden müssen, erlaubt ein tägliches Trainieren und Erweitern dieser Kompetenzen.

 

Soziale Kompetenzen erweitern: Sozialpädagogische Arbeit wird meist in Gruppen durchgeführt. Hauswirtschaft ist ein tolles Lernfeld, um soziale Kompetenzen zu trainieren. Kooperation und Teamwork sind erforderlich, etwa dann, wenn zur richtigen Zeit das Abendessen auf dem Tisch stehen soll. Die verschiedenen Kompetenzen und das unterschiedliche Vorwissen der Klient*innen können gut kombiniert werden und bei einer gelungenen Umsetzung stärkt der gemeinsame Erfolg das «Wir-Gefühl» der Gruppe. Auch das Thema «Gäste empfangen» eignet sich hervorragend, damit Klient*innen ihre Sozialkompetenz weiterentwickeln können und Wertschätzung und Anerkennung erfahren. Zudem ermöglichen hauswirtschaftliche Tätigkeiten, durch eine eigenständige Aktivität an der Lebenssituation von anderen teilzuhaben, zum Beispiel jemanden eine Freude zu machen mit einem selbstgebackenen Kuchen. Generell werden dabei Dialog-, Konflikt-, und Kooperationsfähigkeit trainiert.

 

Motorische Fertigkeiten üben: Gemüse schälen, schneiden, hacken; Wäsche aufhängen, falten; Zutaten abwiegen: Hauswirtschaftliche Tätigkeiten erfordern eine Vielzahl an feinmotorischen Fertigkeiten. Diese werden geübt, ganz nebenbei und ohne Frage nach dem Sinn der Übung, denn dieser ist offensichtlich und das Ziel in Reichweite.

 

Kreativität anstossen: Hauswirtschaft beinhaltet ein schier unerschöpfliches Potenzial an kreativen Gestaltungsmöglichkeiten. Kochen, backen, Tisch decken, gärtnern: Überall kann Schönes, Spannendes und Überraschendes entstehen und aktiv gestaltet werden.

 

Interkulturelle Begegnungen schaffen: Was essen wir bei uns – was esst ihr bei euch? Was gibt es am Traumreiseziel zu essen? Ist erst einmal die Neugier geweckt und werden kulturelle Begegnungen mit Kochen und Essen verbunden, wird Trennendes plötzlich zu Verbindendem und Grenzen sind leichter zu überwinden.

 

Inklusion im Alltag leben: Hauswirtschaftliche Aufgaben lassen sich einfach oder komplex gestalten. Für jede Person ist etwas dabei, und gerade deshalb eignet sich Hauswirtschaft auch so gut für inklusive Projekte. Gemeinsam verschieden sein und etwas erschaffen oder Aufgaben bewältigen ist hier gefragt und einfach möglich.

Umdenken, um weiterzukommen

Sie sehen: An Argumenten für eine positive Sichtweise auf das Thema Hauswirtschaft fehlt es nicht. Kleine Kinder beteiligen sich meist noch ausserordentlich gerne an hauswirtschaftliche Tätigkeiten. Mit Inbrunst und einer hohen Selbstwirksamkeitsüberzeugung helfen sie beim Putzen, sammeln Müll ein oder rühren in der Teigschüssel, ja sogar spielerisches Aufräumen kann Spass machen. Woher kommt also die spätere Abneigung? Wir beobachten, dass Erwachsene dazu tendieren, die «minderwertige» Alltagsarbeit negativ zu bewerten, oder gar im pädagogischen Sinne operant negativ zu verstärken – das geschieht etwa dann, wenn zur Strafe die Küche gemacht werden muss. Ein solches Verhalten ist nicht nur schade, sondern schädlich, denn dadurch werden die hauswirtschaftlichen Tätigkeiten negativ aufgeladen. Als Folge davon bleibt das pädagogische Potenzial des Themas ungenutzt und Klient*innen werden um den Erwerb wichtiger Alltagskompetenzen gebracht. Vielfach wird durch negative Stigmata das Haushalten zudem zu einem konfliktiven Gebiet, auf dem sich Sanktionen und Machtkämpfe abspielen. Es ist daher zentral, dass Sie als Berufsfachperson positive Zugänge zu Haushaltsthemen schaffen und selbst einen kreativen Umgang damit vorleben.

Auch eine lösungsorientierte Grundhaltung statt einer Problemfokussierung ist in der Begleitung der Klient*innen im Alltag zentral. Oder wie Steve de Shazer es ausgedrückt hat: «Problemtalk creates problems. Solutiontalk creates solutions.» Er und seine Partnerin Isoo Kim Berg haben in ihren Ausführungen wichtige Leitsätze formuliert, die bei der Förderung von alltagspraktischen Kompetenzen umgesetzt werden können. Drei Beispiele:

«Nimm immer zuerst die Person in ihren Ressourcen wahr.» (Insoo Kim Berg) Alle Menschen haben ein Potenzial, sich zu entwickeln. Wenn die Ressourcen ausgelotet werden, können angepasste Lernschritte gefunden werden.

«Wenn es funktioniert – mach mehr davon. Wenn das, was du tust, nicht funktioniert, dann mach etwas anderes.» (Steve de Shazer) In der Begleitung im Alltag ist immer wieder Kreativität und «out of the box»-Denken gefragt. Neue Wege zu finden und alte Strukturen infrage zu stellen gehören hier unbedingt dazu.

«Ziele sind wie Lokomotiven, die Lösungen hinter sich herziehen.» (Steve de Shazer) Ziele implizieren ein geplantes Vorgehen. Der Alltag steckt voller Lernmöglichkeiten. Fachlich macht es Sinn, einige davon auch als explizite Lernchancen mit entsprechenden Zielen zu entwickeln und umzusetzen.

 

Im institutionellen Praxisalltag werden Sie indes oft damit konfrontiert sein, dass Haushaltsarbeiten ausgelagert oder zentralisiert werden. Suchen Sie dennoch Nischen im Alltag und gestalten Sie diese. Und geben Sie den Alltagsthemen, insbesondere den hauswirtschaftlichen Themen, einen Wert. Denn die «Normalität» ist ja nicht so, dass einem das Essen gebracht und die Wäsche gemacht wird. «Normal» ist, sich um den Alltag mit all seinen Anforderungen zu kümmern. Erfolge soll man unbedingt geniessen, es gehört aber auch dazu, sich mal zu überwinden und etwas zu erledigen, was auf der Vergnügungsskala nicht an erster Stelle steht. Die Befriedigung, die sich gerade nach Momenten der Selbstüberwindung einstellt, ist eine wichtige Lernerfahrung.

2.Unser Bildungsverständnis

Wir orientieren uns in unserem Bildungsverständnis im Wesentlichen am Lehrplan 21 sowie an den interdisziplinären Konzepten der Bildung für Nachhaltige Entwicklung und des lebenslangen Lernens. In dem Sinne haben wir ein breites Bildungsverständnis, das sich an Kompetenzen orientiert, globale Wirtschafts-, Umwelt- und Gesellschaftszusammenhänge integriert und Menschen ihr Leben lang fördern und in ihrer Entwicklung unterstützen will. Wir sind zudem überzeugt, dass Alltagskompetenzen eine wesentliche Grundlage bilden für ein möglichst selbstbestimmtes Leben und die gesellschaftliche Teilhabe – beides sind Kernziele der sozialpädagogisch-agogischen Arbeit. Für das bessere Verständnis unserer Herangehensweise möchten wir in diesem Kapitel zentrale Begriffe und Konzepte erklären.

Kompetenzorientierung und Lehrplan 21

Mit dem Lehrplan 21 (LP21) fand ein wesentliches Umdenken in der Bildung statt. Der starke Fokus auf den Erwerb und die Erweiterung von Kompetenzen bedingt, dass Lehrinhalte anders gelehrt und anders bewertet werden, als dies bei der reinen Wissensvermittlung der Fall ist. Der LP21 äussert sich zur Kompetenzorientierung so: «Durch die Beschreibung von Lernzielen in Form von Kompetenzen werden Kulturinhalte mit daran zu erwerbenden fachlichen und überfachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten verbunden; Wissen und Können, fachliche und personale, soziale und methodische Kompetenzen werden miteinander verknüpft. In den Fokus rücken damit auch die für den Kompetenzerwerb notwendigen Aneignungs-, Lern- und Problemlöseprozesse.»[1]

Der LP21 gilt so weit als möglich auch für Schüler*innen (SuS) mit Lerneinschränkungen. Können die im LP21 vorgesehenen Kompetenzen nicht erreicht werden, kommt die Ergänzung «Anwendung des LP21 für SuS mit komplexen Behinderungen» zum Tragen.[2] Die Aspekte Elementarisierung (Fokus auf Grundsätzliches, Basales), Befähigungsbezug (individuelle Förderung im Sinne des Bildungsauftrags) und Erfahrungsbezug (Anknüpfung an die Lern- und Lebenskontexte) stehen dort im Zentrum.

 

Der LP21 liefert mehrere konkrete Ziele[3] zu den Themenfeldern des vorliegenden Buches. Dazu gehören:

Die Lernenden

«können einen verantwortungsvollen Umgang mit Geld entwickeln»,[4]

«können unterschiedliche Einflüsse auf die Gestaltung des Konsumalltages erkennen und benennen sowie deren Bedeutung für das eigene Konsumieren reflektieren (z.B. Marktangebot, finanzielle Ressourcen, Medien, soziales Umfeld)»,[5]

«können sich bei Miet- und Kaufverträgen über vertragliche Bedingungen informieren und rechtliche sowie finanzielle Verpflichtungen einschätzen (z.B. Wohnungsmiete, Online-Shopping, Kleinkredite, Leasing, Reparaturen, Abonnements, Reisen)»,[6]

«können an exemplarischen Gütern das Zusammenspiel von Produktion und Handel beschreiben (z.B. globale Arbeitsteilung bei Kleidern, Lebensmitteln: Produktionsorte, Handelswege, personelle Ressourcen)»,[7]

«können ökonomische, ökologische und soziale Überlegungen in der Güterproduktion bzw. der Bereitstellung von Dienstleistungen aus Sicht des Produzenten bzw. Anbieters beschreiben und Interessens- und Zielkonflikte erklären»,[8]

«können kriterien- und situationsorientierte Konsumentscheidungen finden»,[9]

«können Informationen aus Lebensmittelkennzeichnungen erschliessen und das Angebot hinsichtlich unterschiedlicher Aspekte beurteilen (z.B. Gesundheit, Haltbarkeit, Lagerung, Herkunft, Produktion, Ökologie, Zertifizierung)»,[10]

«können alltägliche Arbeiten organisiert und effizient ausführen (z.B. Arbeitsverteilung und -koordination im Team, Geräteeinsatz bei der Nahrungszubereitung)»,[11]

«können Medien und Medienbeiträge entschlüsseln, reflektieren und nutzen»,[12]

«können Medien interaktiv nutzen sowie mit anderen kommunizieren und kooperieren.»[13]

Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE)

Gemäss LP21 bezweckt Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE), dass sich die Lernenden «mit der Komplexität der Welt und deren ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auseinandersetzen», sowie Vernetzungen und Zusammenhänge verstehen und dazu befähigt werden, «sich an der nachhaltigen Gestaltung der Zukunft zu beteiligen.»[14]

Das nationale Kompetenzzentrum éducation 21 beschreibt für BNE zudem spezifischere Ziele, etwa zu Umweltbildung: «Im Zentrum zeitgemässer Umweltbildung stehen die Förderung der Handlungsbereitschaft und die Befähigung des Menschen zum respektvollen Umgang mit den natürlichen Ressourcen im Spannungsfeld von individuellen und gesellschaftlichen sowie ökonomischen und ökologischen Interessen.»[15] Auch Globales Lernen ist ein wichtiger Teil der BNE und beinhaltet «die Orientierung in der Weltgesellschaft und die Auseinandersetzung mit globalen Herausforderungen». Und weiter: «Globales Lernen will verstehbar machen, dass unser Alltag von weltweiten Zusammenhängen und Machtbeziehungen geprägt ist. Dazu gehört auch die Vergegenwärtigung einschränkender eigener Konzepte sowie die Auseinandersetzung mit Stereotypen und Vorurteilen. Globales Lernen orientiert sich am Wert der sozialen Gerechtigkeit sowie an der Leitidee einer Nachhaltigen Entwicklung.»[16] Für unser Buch heisst das, dass wir Hauswirtschaftsthemen und Konsumfragen global ausgerichtet und mit dem Ziel auf eine möglichst nachhaltige eigene Verhaltensweise verstehen.

Lebenslanges Lernen

Auch wenn sich das Verständnis von lebenslangem Lernen oft im engeren Sinne an einer möglichst optimalen Teilhabe am Arbeitsmarkt orientiert, finden wir die dahinterliegenden Grundsätze wichtig. Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation beschreibt das Konzept so: «Das lebenslange Lernen umfasst sämtliche Lernformen, die im ganzen Leben genutzt werden, um das eigene Wissen zu stärken und Kompetenzen zu erweitern.»[17] Weiter wird spezifiziert: «Die Beherrschung der Grundkompetenzen bildet eine unabdingbare Voraussetzung für lebenslanges Lernen und die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.»[18] Mit Blick auf die Klient*innen in stationären und teilstationären sozialpädagogisch-agogischen Einrichtungen sind beide Aussagen gleichermassen von Bedeutung: einerseits, dass sich Lernen nicht auf formale Lernformen wie Schulbildung beschränkt, in jeder Lebensphase stattfindet und sich am Kompetenzerwerb orientiert; andererseits, dass das Beherrschen gewisser Grundkompetenzen – und dazu gehört heute beispielsweise auch der Umgang mit digitalen Medien im Alltag – eine Voraussetzung für die gesellschaftliche Teilhabe ist. In Bezug auf Menschen mit einer Beeinträchtigung ist elementar, dass ihnen das Entwicklungspotenzial zum Lernen nicht abgesprochen wird. Aufgrund der Differenz von Lebens- und Entwicklungsalter ist es gut möglich, dass gewisse Lernschritte wie zum Beispiel Geld zählen lernen erst im Erwachsenenalter erfolgen, andere vermeintlich komplexere Lernschritte im Regelbereich hingegen schon im frühen Schulalter bewältigt werden können.

Begrifflichkeiten in diesem Buch

Begriffsdefinitionen[19]

Kenntnisse bezeichnen die Gesamtheit der Fakten, Grundsätze, Theorien und Praxis in einem Arbeits- oder Lernbereich.

Fertigkeiten umfassen die Fähigkeit, Kenntnisse anzuwenden und Know-how einzusetzen, um Aufgaben auszuführen und Probleme zu lösen. Dazu gehören kognitive Fertigkeiten (logisches, intuitives und kreatives Denken) und praktische Fertigkeiten (Geschicklichkeit und Verwendung von Methoden, Materialien, Werkzeugen und Instrumenten).

Kompetenz ist die nachgewiesene Fähigkeit, Kenntnisse, Fertigkeiten sowie persönliche, soziale und methodische Fähigkeiten in Arbeits- oder Lernsituationen und für die berufliche und/oder persönliche Entwicklung zu nutzen.

Was wir unter Lernschwierigkeiten verstehen

Analog der Grundhaltung des Modells der funktionalen Gesundheit[20] gehen wir von der Prämisse aus, dass die ganzheitliche Lebens- und Entwicklungssituation einer Person bei der Frage der Kompetenzförderung auch die Umweltfaktoren mit ihren Ressourcen und Barrieren miteinschliesst. Lernschwierigkeiten verstehen wir demnach als Ausgangslage mit einem spezifischen Förderbedarf, schwerpunktmässig in den Bereichen Kognition sowie soziale und emotionale Kompetenz. Die Bereiche der Motorik und Sensorik spielen immer auch eine Rolle. Der spezifische Förderbedarf für Menschen mit Sinnesbehinderungen oder motorischen Einschränkungen ist nicht Teil unserer Ausführungen. Das Buch kann zwar auch für diesen Bereich Inputs liefern, wir verweisen hier aber auf bestehende Literatur aus dem heilpädagogischen Bereich.

Wie wir mit den Begriffen Andragogik, Sozialpädagogik, Agogik umgehen

Wir sprechen im vorliegenden Buch meist von «Sozialpädagogik» und beziehen uns damit auf das weite Berufsfeld von Sozialpädagog*innen, das Klient*innen aller Altersklassen einbezieht. Für die bessere Lesbarkeit haben wir darauf verzichtet, konsequent den Doppelbegriff «Sozialpädagogik-Andragogik» zu verwenden. Der Vollständigkeit halber möchten wir aber hier dennoch einen Überblick über die verschiedenen Begrifflichkeiten geben:[21]

Agogik: Überbegriff für alle Lernprozesse mit professioneller Begleitung, der Begriff umfasst alle Altersstufen.

Andragogik: wird im Zusammenhang mit Lernprozesse von Erwachsenen verwendet, laut Duden ist die wörtliche Bedeutung «Wissenschaft der Erwachsenenbildung».

Pädagogik: wird im Kontext von Lernprozesse von Kindern gebraucht, sowohl die Ebene der Bildung als auch die Ebene der Erziehung werden dabei berücksichtigt.

 

In der Praxis werden die Begriffe nicht immer konsequent verwendet. Häufig wird auch im Bereich von Erwachsenen von Pädagogik gesprochen und auch die Literatur ist hier nicht immer stringent.

Was wir unter echten Lernchancen verstehen

Wir meinen mit echten Lernchancen professionell gestaltete, an die jeweilige Lebenswelt und Ressourcenvoraussetzung angepasste und sinnvoll sequenzierte Lernsituation für Klient*innen, mit dem Ziel der Förderung von Selbstwirksamkeit im Bereich Alltagskompetenzen.

 

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass wir mit dem vorliegenden Buch an ein zeitgemässes Bildungsverständnis anschliessen und eine Theorie-Praxis-Relation wichtiger Inhalte des LP21 zu «Wirtschaft, Arbeit, Haushalt (mit Hauswirtschaft)» sowie zu «Medien und Informatik» als Querschnittsthema im Kontext von stationären und teilstationären sozialpädagogisch-agogischen Institutionen leisten. Es gibt daneben im LP21 viele überfachliche Kompetenzen, die auch im Kontext der sozialpädagogischen und agogischen Arbeit wichtig sind. Wir fokussieren auf die Selbststeuerungskompetenz, da diese zentral in alle Themenbereiche des Buches hineinspielt. Wir sind überzeugt, dass jede*r Klient*in in jeder Lebensphase lernfähig ist und ein Anrecht auf angemessene Förderung hat. Wichtig ist dabei, dass sowohl Lerninhalte wie Lernziele, Lernmethoden und Hilfsmittel der jeweiligen Situation der Lernenden angepasst werden. Ausgangs- und Ankerpunkt sind bei allen Klient*innen deren Lebenswelten, also ihr individueller Umgang mit Lebenslagen, verbunden mit den subjektiven Erfahrungen und Überzeugungen. Deshalb befasst sich der Hauptteil dieses Buches auch damit, wie eine angemessene pädagogische Umsetzung der Lerninhalte mit Blick auf die Klient*innen lebensweltorientiert angepackt und in den Institutionsalltag integriert werden kann.

3.Lebensweltorientierung im Kontext von Hauswirtschaft

Die lebensweltorientierte Perspektive, begründet durch Hans Thiersch, ist in der sozialpädagogischen Arbeit weitverbreitet und ein wichtiger theoretischer Zugang. Ziel der lebensweltorientierten Arbeit ist es, die Klient*innen bei der Gestaltung eines gelingenderen Alltags zu unterstützen. Darunter wird verstanden, dass die Klient*innen in der Lage sind, ihr Leben mit all seinen täglichen Herausforderungen so zu bewältigen, dass sie selbst zufrieden sind, aber auch so, dass sie im Kontext der jeweiligen Gesellschaft bestehen können. Ressourcen im institutionellen Rahmen sollen so eingesetzt werden, dass die Klient*innen auch in Institutionen ein Leben in grösstmöglicher Selbstständigkeit und «Normalität» führen können. Um diese Ziele zu erreichen, müssen Alltagskontexte individuell pädagogisch-agogisch gestaltet werden. Die angestrebte Selbstständigkeit kann man auch als Handlungsfähigkeit bezeichnen. Im Alltag handlungsfähig zu sein, geht einher mit der Erlangung von Selbstwert, Anerkennung und Selbstwirksamkeit.

 

Lebenswelten sind Alltagswelten, und das ist der Schnittpunkt zur Hauswirtschaft. In der gelingenden Gestaltung des Alltags liegt das Potenzial zu mehr Selbstständigkeit und Selbstbestimmung. Gleichzeitig muss hier die Balance zwischen einer normgeleiteten Realität und der Individualität jeder Person gefunden werden. Ein Beispiel: Wenn ein chronisch psychisch kranker Klient seine Kleider nicht im Schrank, sondern auf dem Boden aufbewahren will, weil er sich – warum auch immer das in seiner Lebenswelt so ist – dadurch sicherer fühlt, entspricht das zwar normgeleitet nicht der Regel, aber aus lebensweltlicher Sicht kann das Verhalten trotzdem in Ordnung sein. Selbst dann, wenn diese Ordnung die «Normalität» der Sozialpädagogik irritiert. Voraussetzung ist in diesem Beispiel allerdings, dass ein Minimum an Hygiene gewährleistet wird, damit es nicht zu einer Gesundheitsgefährdung kommt. Lebensmittel im Kleiderhaufen oder feuchte Kleidung, die schimmelt, wären hier eine Grenze des Tolerierbaren. Der Grat zwischen der eigenen Perspektive des gelingenden Alltags und der Akzeptanz der Realität der Klient*innen ist immer wieder eine Herausforderung und bedarf der ständigen Reflexion. So ist beispielsweise Fairtrade und Konsumerziehung im Setting einer Jugendwohngruppe grundsätzlich ein sinnvoller Inhalt sozialpädagogischer Schulung, der zum Nachdenken und Diskutieren anregt. Wenn es sich allerdings um eine Wohngruppe mit geflüchteten Minderjährigen handelt, sollte zuerst thematisiert werden, wie diese mit all den vorhandenen, aber für sie aktuell unerreichbaren Konsumverlockungen umgehen können.

Hauswirtschaft als pädagogisch-agogische Ressource mit dem Ziel einer gelingenden, möglichst selbstbestimmten Alltagsgestaltung sowie einer maximalen gesellschaftlichen Teilhabe und Teilnahme führt also dann zum Erfolg, wenn gleichzeitig eine lebensweltorientierte Sichtweise anstelle eines normierten Weltbildes eingenommen wird. Weiter muss die Balance zwischen «Normalität» und «Individualität» stets reflektiert werden. Dieses Ausloten und die damit verbundene Förderung der Klient*innen im Alltag ist für alle Zielgruppen sinnvoll, wenn auch die angestrebten Kompetenzen unterschiedlich weit gehen. Während eine Jugendliche zum Beispiel lernt, wie sie ihren Jugendlohn verwalten muss, damit das Geld bis Ende Monat reicht, lernt der Klient mit einer kognitiven Beeinträchtigung die Bedeutung der Geldmünzen in Relation zu einzelnen Gütern kennen. Beide haben im Alltag Lernschritte gemacht. Den Menschen Entwicklungsfähigkeit zuzuschreiben und Lernmöglichkeiten zu eröffnen, gehört zu einem humanistischen Berufsverständnis und zeigt sich gerade eben im gelebten Alltag besonders deutlich. Selbstverständlich ist der Ansatz der Lebensweltorientierung von Hans Thiersch komplexer und beinhaltet auch eine politische Dimension, da sich die Soziale Arbeit für möglichst gute Lebenslagen der Klient*innen einsetzen soll.

Lebenspraktische Themen pädagogisch gestalten

Wir haben dargelegt, wieso Hauswirtschaft ein sehr reichhaltiges Lernfeld ist, das Sie aktiv nutzen können und sollen. In diesem Kapitel nähern wir uns ein erstes Mal der ganz konkreten pädagogischen, lebenspraktischen Gestaltung dieses Lernfelds.

Stellen Sie sich folgende Situation aus dem Praxisalltag vor: Ein Kind auf Ihrer Wohngruppe hat Geburtstag und wünscht sich eine Torte mit frischen Himbeeren. Es ist allerdings Januar. Was tun Sie?

Ich kaufe frische Importhimbeeren, schliesslich will ich dem Kind eine Geburtstagsfreude machen.

Ich bespreche mit dem Kind die Saisontabelle für Früchte und schaue, ob wir die Torte mit anderen Früchten machen können, zum Beispiel mit Äpfeln.

Ich bespreche mit dem Kind die Einkaufsoptionen und ihre ökologischen Vor- und Nachteile, und wir wählen schliesslich als Alternative zu den frischen die tiefgekühlten Himbeeren.

 

Alle drei Reaktionen sind zwar menschlich nachvollziehbar, aus pädagogischer Sicht und mit Blick auf die Erweiterung der Alltagskompetenzen bieten sich allerdings nur bei Reaktion b) und c) echte Lernchancen: In der Diskussion mit der Betreuungsperson lernt das Kind die Saisonalitäten kennen, es setzt sich mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen auseinander, lernt mögliche Alternativen zum Einkauf von CO2-intensiver Importwaren kennen, erfährt, dass man Rezepte variieren kann, und erhält am Schluss zum Geburtstag einen Kuchen, der ihm dennoch schmeckt – und vielleicht ja noch einen Gutschein für einen Kuchen mit frischen Himbeeren, der während der Himbeersaison eingelöst werden kann. Mit anderen Worten: Auch wenn die Reaktion a) nett gemeint ist, wird das Kind in diesem Beispiel um wichtige Lernerfahrungen gebracht.

Stellen Sie sich eine zweite Situation vor: Wiederum steht ein Geburtstag an, dieses Mal in einer Institution für Erwachsene mit kognitiven Beeinträchtigungen. Eine Klientin kommt mit der Bitte auf Sie zu, für einen Mitbewohner den Geburtstagskuchen selbst backen zu dürfen. Sie nehmen die Planung in die Hand – was tun Sie?

Sie finden die Idee zwar gut, aber die Zeit ist knapp und Sie denken nicht, dass die Klientin wirklich einen schmackhaften Kuchen backen kann. Sie lassen sie daher wählen, was es für ein Kuchen sein soll, kaufen ihn aber in der Bäckerei ein.

Sie wählen ein Rezept aus, kaufen die Zutaten ein, wiegen die Zutaten ab und lassen die Klientin den Teig umrühren. Damit der Kuchen nicht zu schief rauskommt, füllen Sie den Teig aber selbst in die Backform und überwachen den Backprozess.

Sie besprechen mit der Klientin, was für einen Kuchen sie backen könnte, wählen ein dem Lernniveau angepasstes Kochbuch aus, lassen sie einen Einkaufszettel erstellen und einkaufen gehen, und assistieren ihr während des Backprozesses. Die Vorbereitung für den Kuchen nimmt viel Zeit in Anspruch und das Ergebnis ist leider leicht angebrannt, aber dennoch essbar.

 

Wiederum sind alle drei Reaktionen im Alltag gut nachvollziehbar, haben allerdings sehr unterschiedliche pädagogische Wirkungen: Bei Reaktion a) und b) schmeckt zwar wahrscheinlich der Kuchen sehr gut, aber es geht etwas Entscheidendes verloren, nämlich der ganze Lernprozess und die Motivation, überhaupt einen Kuchen als Geburtstagsüberraschung zu backen. Auch wenn die Klientin bei Teilentscheiden (Kuchen auswählen) oder Teilschritten (Teig umrühren) involviert war, hatte sie nur eine sehr limitierte Lernchance. Ganz anders bei Reaktion c): Hier wird das Kuchenbacken von Anfang an als Lernsituation genutzt und entsprechend gestaltet. Die Klientin lernt die notwendigen vorbereitenden Teilschritte kennen, erhält Anleitungen oder Hilfsmittel, um das gesetzte Ziel möglichst eigenständig zu erreichen (z.B. ein Bilderkochbuch, falls das Lesen schwerfällt) und hat am Schluss einen Kuchen als Ergebnis – zwar etwas angebrannt, aber dafür selbst gemacht und mit doppelter Freude zum Verschenken.

Die beiden fiktiven Situation zeigen mehrere wichtige Aspekte auf:

Im stationären und teilstationären sozialpädagogisch-agogischen Alltag gibt es viele potenzielle Lernchancen – aber nur, wenn diese als solche erkannt und pädagogisch aufbereitet werden.

Die Schaffung und Gestaltung von Lernprozessen hin zu mehr Selbstständigkeit gehört zu den wichtigsten sozialpädagogisch-agogischen Aufgaben. Nicht nur das Endresultat zählt, sondern insbesondere der Lernprozess – dieser sollte daher auch im Zentrum der Arbeit stehen.

Damit Lernprozesse stattfinden, müssen sie gut geplant, sinnvoll rhythmisiert, in den Alltag integriert und unterstützend umgesetzt werden.

Generell gilt: Je grösser der eigenständige Anteil an der Bewältigung einer Aufgabe, desto grösser das Erfolgserlebnis. Insbesondere Teilschritte und Hilfsmittel müssen im Lernprozess gut an die Kenntnisse und Fertigkeiten der Lernenden angepasst werden.

Erfolgserlebnisse motivieren für mehr, und Motivation ist gleichzeitig der Schlüssel für die Erweiterung der eigenen Kompetenzen. Gut umgesetzte Lernsituationen im Alltag stärken die Selbstständigkeit und Eigenmotivation der Klient*innen entscheidend.

 

Um das Potenzial im Alltag zu nutzen, muss zunächst der pädagogische Wert dieser Alltags-Lernsituationen erkannt und explizit gemacht werden. Denn damit Lernsituationen ihre Wirkung entfalten können, muss ihnen genügend Zeit eingeräumt werden. Wer die Erweiterung der Alltagskompetenzen anhand von pädagogisch aufbereiteten Lernsituationen nicht als Prinzip, sondern als optionalen Zusatz einstuft, wird im Berufsalltag womöglich immer wieder an der Ressourcenfrage scheitern. Es braucht daher eine bewusste Entscheidung eines Teams respektive einer Institution, solche Alltagskompetenzen aktiv und innovativ zu fördern und die Qualität der eigenen sozialpädagogisch-agogischen Arbeit – neben anderen Zielen wie etwa Coping-Strategien im Umgang mit Stress – auch an der Erweiterung der Alltagskompetenzen der Klient*innen zu messen. Durch die sichtbaren, konkreten Erfolge im Alltag können zudem weitere Synergien für die übergeordneten (Förder-)Ziele der Klient*innen entstehen.

Damit das im Alltag gut gelingt, braucht es Arbeit auf unterschiedlichen Ebenen: Es geht sowohl um das Erkennen und Nutzen von vorhandenen Arbeitsfeldern als auch um das Initiieren von Denk- und Diskussionsprozessen im Team und in der Institution. Im ganz Praktischen geht es zudem um das Auswählen und Gestalten von geeigneten Lernsituationen. Wann immer möglich sollte die Schwerpunktsetzung zudem partizipativ mit den Klient*innen geschehen. Wie Sie das auf einfache Weise tun können, zeigen wir Ihnen im Folgekapitel. Unser Modell SALSA unterstützt Sie in der Umsetzung einfach und praxisnah.

4.Modell SALSA: Spezifische, alltagskompatible Lernsituationen systematisch finden und anleiten

Wir haben für den Praxisalltag ein Modell entwickelt, mit dessen Hilfe Sie einfach und strukturiert geeignete Lernsituationen finden und gestalten können. Auf den folgenden Seiten erklären wir den Grundsatz des Modells. Unter den thematischen Kapiteln finden Sie jeweils die themenorientierte Umsetzung des Modells sowie im dritten Teil des Buches zusätzlich Beispiele für die Gestaltung von spezifischen Lernsituationen.

Abbildung 1: SALSA-Modell (eigene Darstellung, Copyright Christa und Monika Luginbühl, CC BY-NC-ND 4.0)

Um geeignete Lernsituation zu finden, müssen Sie zuerst die Rahmenbedingungen klären. Es lohnt sich, dass Sie sich hierfür genügend Zeit nehmen, denn die Wahl der Lernsituation ist entscheidend für den Erfolg Ihrer Klient*innen. Klären Sie die Rahmenbedingungen in den Schritten 1 und 2 des Modells.

Schritt 1: Grundhaltung reflektieren

Seien Sie sich im Klaren, mit welchem Menschenbild, welcher Grundhaltung und welchen Grundwerten Sie Ihren Beruf ausüben. Gehen Sie beispielsweise bei allen Klient*innen davon aus, dass es Lernpotenzial gibt? Wo sehen Sie dieses? Wie steht es mit Ihren Berufsambitionen: Wollen Sie Erfolge bei Ihren Klient*innen sehen? Und was werten Sie dabei als Erfolg? Fordern und fördern Sie Ihre Klient*innen oder überfordern Sie sie manchmal? Sind Sie oft im Zeitstress und greifen dadurch (zu) schnell helfend ein? In welchen Situationen sind Sie besonders stolz auf Ihren Beruf, wann macht er Ihnen richtig Spass, und wann finden Sie ihn besonders schwierig? Wer hat in Ihrem Team welche Stärken, und wie können Sie diese bei der Bearbeitung verschiedener Lernfelder sinnvoll nutzen? Wie gehen Sie selbst mit hauswirtschaftlichen Themen um? (Siehe auch Annex 1 mit einer Checkliste zur Bearbeitung dieser Fragen, S. 333.)

Schritt 2: Lernfelder erkennen

Nicht jede eigentlich sinnvolle Lernsituation ist im jeweiligen institutionellen Kontext auch umsetzbar. Es gibt institutionelle Organisationsabläufe, die Lernfelder eher begünstigen oder hemmen. Ist beispielsweise die Küche zentral organisiert, wird es schwierig mit dem Kochen ganzer Menüs. Sie könnten aber trotzdem einen Geburtstagskuchen auf der Gruppe backen. Als potenzielles Lernfeld könnten Sie initiieren, dass jede Gruppe einmal wöchentlich selbst kocht und das dafür notwendige Budget erhält. Analysieren Sie, welche Ressourcen Sie nutzen können, sowohl auf institutioneller Ebene wie auch auf Ebene der Gruppe und individueller Ebene des*der Klient*in. Nutzen Sie vorhandene Optionen, erweitern Sie diese, wo es der institutionelle Rahmen einfach zulässt, seien Sie punktuell visionär und diskutieren Sie ganz neue Organisationsformen und Prozesse. Wichtig ist dabei: Ihre Klient*innen wachsen nur an den Lernsituationen, die sie auch umsetzen – denken Sie also nicht hauptsächlich in Zukunftsszenarien, sondern packen Sie konkret dort an, wo Sie bereits heute Lernchancen ermöglichen können. (Siehe auch Annex 2 mit einer Checkliste zur Bearbeitung dieses Themenfelds, S. 334.)

Lernen im Alltag kann auf zwei Arten geschehen. Implizit, sozusagen «by the way» machen wir jeden Tag neuen Erfahrungen. Diese können auch als Lernerfahrungen gesehen werden, da sie unsere früheren Erfahrungen bestätigen oder auch infrage stellen. Bei Letzterem müssen wir neue Strategien finden, um die Situation zu bewältigen. Diese Momente sind wichtig, um potenzielle Lernfelder und Lernchancen zu erkennen. Daneben gibt es aber auch agogische Lernsituationen, in denen Lernmöglichkeiten bewusst und gezielt kreiert werden, um die Klient*innen zu fördern. Wir sprechen hier von angeleiteten Lernsituationen, welche die Klient*innen dazu befähigen sollen, auch in variablen Situationen handlungsfähig zu bleiben. Dies betrachten wir auf den folgenden Seiten genauer.

Schritt 3: Lernsituationen auswählen

Damit Sie Ihre Klient*innen zu einem Lernerfolg führen können, muss die gewählte Lernsituation alltagskompatibel sein. Erwarten Sie beispielsweise, dass Ihr Klient nach einem anstrengenden Arbeitstag am Abend noch viel Motivation für eine Lernsituation an den Tag legt, die seiner Arbeit ähnelt, wird es schwierig. Überlegen Sie sich, wann Sie welche Lernsituationen im Tages- und Wochenablauf Ihrer Klient*innen einbauen. Beziehen Sie dabei die Klient*innen in die Entscheidungsfindung mit ein; dieser partizipative Prozess ist ein wesentlicher Faktor für die intrinsische Motivation. Klären Sie zudem die dafür erforderlichen Finanz-, Zeit- und Betreuungsressourcen. In individuellen Lernsituationen dürfen zum Beispiel nicht die gesamten Ressourcen, die der Gruppe zustehen, für eine Einzelperson verwendet werden. Behalten Sie bei der Planung von individualisierten Lernsituationen daher die Gruppendynamik gut im Blick. Denken Sie daran, dass pädagogisch umgesetzte Lernsituationen immer mehr Zeit in Anspruch nehmen, als wenn Sie die Aufgabe selbst erledigen. Und auch wenn das Endresultat wichtig ist, steht bei der pädagogischen Umsetzung der Weg dorthin, also der eigentliche Lernprozess, im Hauptfokus und muss entsprechend hoch gewichtet werden. (Siehe auch Annex 3 mit einer Checkliste zur Bearbeitung dieses Themenfelds, S. 335.)

Exkurs: Grundsätzliche Überlegungen zu der Zusammenarbeit mit Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten[22]

Lebensweltorientierung

Je stärker Lernsituationen an die persönliche Lebenswelt anknüpfen, desto eher sind die Beteiligten bereit, sich auf das Lernen einzulassen. Die Verbindung zu eigenen Zielen oder Vorlieben schafft Motivation. Dies können grosse Ziele sein, wie etwa das Erlernen von Kompetenzen, um selbstständig zu wohnen, oder auch kleine Ziele, wie beispielsweise die Lieblingsspeise selbst zubereiten zu können. Lebensweltorientierung ist für alle Zielgruppen wichtig, für Menschen mit einer Lernschwierigkeit aber umso zentraler, um überhaupt einen subjektiv sinnvollen Zugang zu einer Aufgabe zu finden.

Beziehungsarbeit

Die positive, pädagogisch-agogische Beziehung ist zentral für Lernerfolge. Menschen lassen sich eher auf Lernprozesse ein, wenn sie Anerkennung und Wertschätzung erfahren und ihnen von der lehrenden Person Kompetenzen und Know-how zugeschrieben werden. Auch dieser Aspekt ist für alle Zielgruppen wichtig. Doch bei Personen, die wenig abstrahieren können, beispielsweise aufgrund einer kognitiven Beeinträchtigung, wird der emotionale Bezug zu Themen und Aufgaben umso wichtiger und die Beziehungsebene rückt noch stärker in den Fokus. Zudem gilt: Je jünger die Klient*innen, desto wichtiger ist die Beziehungsebene.

Positive, emotionale Zugänge schaffen

Je positiver die Emotionen sind, die in Lernsituationen entstehen, desto mehr intrinsische Motivation entwickeln die Lernenden. Humor ist in diesem Zusammenhang eine wichtige Komponente. Zudem sollen sich alle Beteiligten über Erfolge freuen und Fehler als Chance zum Lernen sehen. Diese Aspekte sind für alle lernenden und lehrenden Personen wichtig.

Visuelle Zugänge betonen

Kleine Kinder und Menschen mit einer Lernschwierigkeit lernen oftmals stark über Bilder. Visuelle Zugänge in Form von ansprechenden Bildern erhöhen deshalb den Lernerfolg. Sicher haben alle Personen gerne eine ästhetisch ansprechende Visualisierung, insofern ist ein solcher Zugang immer sinnvoll. Kognitiv fitte Klient*innen sind aber daneben auch in der Lage, sich auf komplexere, sprachliche Aufgaben einzulassen, vorausgesetzt sie sind dafür motiviert.

Prozessorientierung

Lernen ist ein Prozess, für diesen haben sowohl Unter- als auch Überforderung eine demotivierende Wirkung. Es ist daher für alle Zielgruppen wichtig, eine gute Anforderungsbalance zu finden. Die Zielsetzungen können für mehrere Personen gleich, die Etappierungen und Teilziele jedoch individuell sehr unterschiedlich sein in Bezug auf den Schwierigkeitsgrad und das Tempo. Das Gliedern von Lernprozessen in individuell angepasste Teilschritte ermöglicht immer wieder Erfolgserlebnisse und Etappensiege und ist daher für alle Zielgruppen wichtig, um motiviert zu lernen.

Schritt 4: Fachkompetenz sichern

Unter Fachkompetenzen werden Fachkenntnisse und fachspezifische Fertigkeiten verstanden, die es für die Bewältigung einer spezifischen Aufgabe braucht. Es geht also darum, einerseits über Wissen und anderseits über das geeignete Handwerk zu verfügen, sowie darum, beides zielführend anzuwenden.

Nehmen wir das Beispiel Spaghettikochen: Im Bereich der Fachkenntnisse geht es um das Wissen, wie viel Gramm Spaghetti es braucht, wie lange es dauert, bis diese gar sind, welche Sossen zu Spaghetti passen und was es für die Zubereitung braucht. Zudem braucht es Wissen zum Ablauf der einzelnen Arbeitsschritte, also etwa wann und wie die Sosse zubereitet wird und wie lange es dauert, bis die Sosse fertig ist. Auch planerische Kompetenzen sind wichtig, damit die Spaghetti und die Sosse gleichzeitig fertig werden. Im Bereich der fachspezifischen Fertigkeiten braucht es die Wahl einer Pfanne in angemessener Grösse für das Kochen der Spagetti und das Timing, wann die Spaghetti ins Wasser gegeben werden müssen und wie erkannt wird, dass sie gar sind. Bei der Sosse braucht es Fertigkeiten zum Zwiebelnschneiden, und Kenntnisse, was andünsten heisst oder wie viel gewürzt wird. Selbstverständlich fliessen Kenntnisse und Fertigkeiten ineinander. Eine Trennung ist in der Praxis auch nicht nötig. Hingegen ist es wichtig zu erkennen, dass es schwierig ist, jemandem etwas beizubringen, wenn man selbst nicht über die grundlegenden Fachkompetenzen verfügt. Gleichzeitig ist in der Praxis auch ein gewisser Pragmatismus angesagt. Man muss nicht bis ins letzte Detail über Fachkompetenzen verfügen, man kann je nach Kontext auch gemeinsam mit Klient*innen Dinge ergründen und lernen. Je komplexer der Kontext, desto sicherer muss aber die anleitende Person fachlich sein. Eine Gruppe mit mehreren Klient*innen anzuleiten, ohne sich fachlich sicher zu fühlen, ist stressig, was sich negativ auf den Lernerfolg der Klient*innen auswirken kann.

Schritt 5: Lernzugänge abrufen

Methodenkompetenzen betrachten wir hier in Zusammenhang mit Pädagogik und Agogik. Als Grundlage dafür ist Basiswissen über die Lerntheorien wichtig. Wir geben Ihnen daher in Annex 4 auf S. 336 einen kurzen Überblick über die wichtigsten Lerntheorien.

In der Praxis geht es dann um die Frage, mit welchen Lernzugängen ein Lernprozess initiiert wird. Lernzugänge werden auf dem Fundament von Lerntheorien geschaffen, praxisorientiert umgesetzt und sie kombinieren in der Regel mehrere Lerntheorien miteinander.

Lernzugänge

Für die Entwicklung einer Lernsituation müssen Sie wie in Schritt 4 erläutert über Fachkompetenz in den zu vermittelnden Inhalten verfügen. Dazu gehören sowohl Fachwissen, das thematisch in die Tiefe geht, wie auch die dazugehörigen Fachmethoden, beispielsweise bezüglich der Planung von Abläufen. Für die Vermittlung der Inhalte stellen wir Ihnen nun in Schritt 5 eine Reihe von Lernzugängen vor. Das Gelingen des Lernprozesses hängt essenziell davon ab, ob der*die Klient*in motiviert werden kann. Diese Motivation wiederum gelingt dann, wenn die individuell passende Form einer Lernsituation mit dem individuell passenden Lernzugang gefunden wird. Wir stellen in diesem Buch befähigendes Lernen ins Zentrum, das heisst wir haben Lernzugänge gewählt, die auf eine hohe Partizipation und einen individuellen Lernprozess fokussieren. Lernzugänge, die auf klassischer oder operanter Konditionierung basieren, haben wir bewusst ausgeklammert, da diese im Kontext der Themen dieses Buches in den meisten Fällen dem Anspruch eines individuellen, befähigenden Lernens nicht gerecht werden. Auch Lernzugänge auf der Basis von «Versuch und Irrtum» schliessen wir weitgehend aus, da beispielsweise einzelne Entscheide potenzielle Konsequenzen von grosser Tragweite wie Verschuldung oder delinquentes Verhalten haben können, da Unfallgefährdung entsteht oder sich ethische Fragen, etwa im Umgang mit Lebensmitteln, stellen. Für die Umsetzung in der Praxis arbeiten wir in diesem Buch mit sieben Lernzugängen, die wir Ihnen in der Folge kurz erläutern.

 

Sensorisches Lernen – Lernen über die fünf Sinne: Man spricht auch von multisensorischem Lernen und meint damit, dass wir mit allen Sinnen (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten) lernen und dass Lernprozesse besser gelingen, wenn mehrere Sinne angesprochen werden. Voraussetzung ist jedoch, dass die Lernimpulse und die verschiedenen Sinne im Lernprozess koordiniert werden und sich nicht widersprechen oder konkurrenzieren.[23]

Beispiel für sensorisches Lernen: Zopfbacken und die einzelnen Arbeitsschritte mit allen Sinnen wahrnehmen: Hefe riechen, Teig kneten und so weiter.

Exkurs: Visuelle Zugänge

Visualisierungen sind ein wichtiger Lernzugang für unsere Herangehensweise. Dabei ist es zentral, den Abstraktionsgrad der Visualisierung im Kontext der individuellen Entwicklungsstufe der Klient*innen zu berücksichtigen.[24] Visualisierungen können von sehr konkret bis sehr abstrakt sein:

Funktionales Objekt: Es wird eins zu eins mit dem Objekt visualisiert, um das es geht. So wird zum Beispiel die Pfanne, die es zum Kochen braucht, gezeigt.

Repräsentatives Objekt: Ein konkretes Symbol oder ein Teil eines Objekts verweist auf das Objekt, beispielsweise wird ein Topflappen als Symbol für eine heisse Pfanne benutzt.

Miniatur: Ein verkleinertes Objekt steht für das Original. Beispielsweise kann eine Puppenpfanne die echte Pfanne symbolisieren.

Foto: Bei Fotos gibt es wiederum mehrere Abstraktionsebenen, so etwa ein Bild von genau der Pfanne, die später benutzt wird, ein Bild einer ähnlichen Pfanne oder das Symbolbild einer Pfanne.

Zeichnung: Der Gegenstand wird grafisch dargestellt, zum Beispiel mit der Zeichnung einer Pfanne.

Piktogramm: Eine schematische Zeichnung, hier beispielsweise der Pfanne, wird angefertigt.

Symbol: Ein Symbol weist auf einen Gegenstand hin, eine kleine Pfanne bedeutet beispielsweise, dass das Rezept für eine Einzelperson berechnet ist, eine grosse Pfanne symbolisiert die Mengen für 4 Personen.

Buchstaben: Diese sind die abstrakteste Form der Visualisierung. So symbolisiert etwa die Buchstabenfolge PFANNE den Gegenstand.

Observatives Lernen – Lernen durch Beobachten: Dieser Lernzugang orientiert sich am Lernen am Modell nach Albert Bandura. Differenzieren wir diesen Zugang, dann können folgende Stufen daraus abgeleitet werden:[25]

vormachen und erklären,

anleiten,

unterstützen,

Hilfestellung abbauen.

 

Während die ersten beiden Schritte dem Schema «Beobachten und nachmachen» folgen, werden die beiden darauffolgenden Schritte, wenn sie wiederholt geübt werden, via Habituation zur Routine für Abläufe, die sich situativ wenig ändern.

Beispiel für observatives Lernen: Jede Woche auf der Wohngruppe einen Zopf backen und den Klient*innen zunehmend mehr Selbstverantwortung für die einzelnen Teilschritte übergeben.

 

Motorisches, manuelles Lernen – Lernen durch praktisches Ausprobieren: Dieser Zugang ist eine Mischung der Lerntheorien «Lernen durch Versuch und Irrtum» und «Habitation». Je nach didaktisch-methodischem Aufbau erfolgt dieser Zugang nach dem observativen Lernen oder auch zu Beginn in einer eher experimentellen Art.

 

Motorisches, manuelles Lernen erfolgt in drei Phasen:[26]

 

Grobkoordination: Eine Karotte wird mit dem Messer grob zerkleinert, es entstehen ungleiche Stücke, es besteht noch Unsicherheit bei der Handhabung des Messers.

Feinkoordination: Eine Karotte wird exakt zerkleinert, das Messer wird routiniert benutzt.

Stabilisierende Feinkoordination: Auch andere Gemüsesorten werden exakt zerkleinert.

Beispiel für motorisches, manuelles Lernen: Zutaten für Zopf bereitstellen (Mehl abwiegen, Wasser abmessen usw.), Teig kneten, Zopf formen und dabei Routine entwickeln.

 

Analytisch-verstehendes Lernen – Lernen durch Fragen, Erläutern, Zerlegen und Vergleichen: Dieser Ansatz gehört zu den kognitivistischen Lerntheorien und beinhaltet auch Begriffs- und Regellernen.

Beispiel für analytisch-verstehendes Lernen: Zopf mit und ohne Ei bestrichen backen und die verschiedenen Resultate vergleichen (Zopf glänzt, glänzt nicht)

 

Eidetisches, mentales Lernen – Lernen durch Vorstellen und Nachdenken: Dieser Zugang ist rein kognitiv. Angeleitet durch Fragen, Diskussionen und Nachdenken werden Erkenntnisse gewonnen.

Beispiel für eidetisches, mentales Lernen: Wie muss die Arbeitsorganisation aussehen, dass der selbst gebackene Zopf rechtzeitig zum geplanten Brunch auf der Wohngruppe essbereit ist?

 

Emotional-affektives Lernen – Lernen durch Erleben und Erfühlen: Dieser Zugang gehört zu den sozialen Lerntheorien – durch Erlebnisse werden Lernerkenntnisse emotional eingebettet.

Beispiel für emotional-affektives Lernen: Die Klient*innen besuchen einen Bauernhof und beschäftigen sich damit, woher die Eier für den Zopf stammen. Sie sehen die Hühner und dürfen selbst Eier einsammeln. Dieses Erlebnis ermöglicht einen anderen emotionalen Bezug, als wenn sie die Eier einfach im Laden kaufen.

 

Sozial-affektives Lernen – Lernen durch gemeinsames Handeln, Reflektieren und Erleben: Auch dieser Zugang gehört zu den sozialen Lerntheorien. Gemeinsames Handeln in der Gruppe, sich als Team erleben, aber auch etwas für jemanden anderen tun ermöglichen viele soziale Erfahrungen, die in den Alltag integriert und für diesen genutzt werden können.

Beispiel für sozial-affektives Lernen: Gemeinsam einen Zopf backen, gemeinsam am Frühstückstisch den Zopf geniessen, Ideen für Zopfvarianten entwickeln (Speckzopf, Rosinenzopf, Zimtzopf usw.).

Schritt 6: Analyse und Konklusion durchführen

Analysieren Sie die Ausgangslage für die Lernsituation: Beziehen Sie lebensweltliche Fragen Ihrer Klient*innen mit ein und klären Sie die individuellen Voraussetzungen bezüglich Kenntnissen, Fertigkeiten und Teilkompetenzen, die Ihre Klient*innen mitbringen und auf denen sie aufbauen können. Nehmen Sie eine lösungsorientierte Haltung ein und fokussieren Sie auf vorhandene Stärken. Diese Analyse bildet die Basis für Schritt 7, die Sequenzierung.

Schritt 7: Sequenzierung gestalten

Abbildung 2: Visualisierung der unterschiedlich grossen Lernstufen bei gleichem Ziel (eigene Darstellung, R. Luginbühl)

Wichtig ist, dass Sie Lernschritte in geeigneten Lernstufen schaffen. Diese Lernstufen können, wie auf dem Bild ersichtlich, unterschiedlich sein. Die eine Treppe zeigt kurze, steile Stufen, die schnell aufeinander folgen. Die Stufen der anderen Treppen sind weniger steil und viel länger – bis das Lernziel, hier symbolisch oben an der Treppe, erreicht wird, braucht die lernende Person also wesentlich länger. Das heisst: Sie definieren einzelnen Lernschritte und stellen sicher, dass Ihre Klient*innen diese erreichen können. Wir gross die einzelnen Stufen sind, ist individuell verschieden und hängt von den Kompetenzen der Klient*innen ab. Ebenso individuell ist der Einsatz der einzelnen Lernzugänge. Es kann sein, dass Sie einer fitten Jugendlichen etwas in wenigen Schritten erklären können (kognitive Lerntheorie) und sie das Gehörte gleich umsetzt. Es kann aber auch sein, dass sie einen Lernschritt mit einem Klienten lange einüben müssen (behavioristischer Zugang), bis der nächste erfolgen kann. Die Aufgabenstellung für die einzelnen Lernschritte muss allenfalls auch sprachlich angepasst werden, sodass die Klient*innen mit einer Textanleitung, mit Piktogrammen oder mit einem Audiozugang arbeiten können. Die richtige Sequenzierung ist demnach die Hauptarbeit bei der Planung von Lernsituationen.

Wir geben Ihnen in der Folge auf S. 34–35 ein Beispiel, wie eine spezifisch gestalteten Lernsituation aussehen kann. Natürlich werden Sie mit zunehmender Routine und Praxis auch mehr Übung im Erkennen, Durchdenken und Gestalten von Lernsituationen erlangen. Eine schriftliche Planung wird nicht immer nötig sein, aber die strukturierte Vorgehensweise hilft Ihnen, dass Sie sich der Komplexität der Lernsituationen bewusst werden und für Ihre Klient*innen passende Lernschritte finden.

Schritt 8: Lernsituation reflektieren

Evaluation und Reflexion sind wichtige Teile eines Lernprozesses. Es geht darum, immer wieder den Blick auf Lernerfolge zu legen und gemeinsam neue, weitere Lernschritte zu finden. Stellt sich ein Lernschritt als zu gross heraus oder verändern sich die Rahmenbedingungen, muss das Lernsetting angepasst werden. Auch die selbstkritische Reflexion der Berufsfachleute ist wichtig: Was hat sich weshalb bewährt? Was war handlungsleitend? Gibt es Aspekte, die angepasst werden sollten? In der Alltagsrealität kommt es immer wieder zu unerwarteten Situationen, Störungen oder Änderungen der Kontexte. Versuchen Sie den «roten Faden» nicht zu verlieren und trotzdem agil und pragmatisch zu bleiben. Im Sinne der Lösungsorientierung geht es oft auch darum auszutesten, was funktioniert, und dort Schritt für Schritt anzuknüpfen. Klappt etwas nicht, dann beharren Sie nicht darauf, sondern orientieren Sie sich am Motto von Steve de Shazer: «Wenn etwas funktioniert, mach mehr davon. Wenn das, was du tust, nicht funktioniert, dann mach etwas anders.» Wesentlich ist, dass die Alltagsarbeiten möglichst positive Emotionen hervorrufen und nicht in Frust enden. Und manchmal müssen die Berufsfachleute ihre eigenen Ansprüche drosseln, ganz nach der Devise: «Wenn es keine perfekte Lösung gibt, nehme ich von den schlechteren die Beste.» Würdigen und feiern Sie Erfolge mit den Klient*innen, aber auch im Team, und betrachten Sie Misserfolge nicht als Versagen, sondern als Rückmeldung, was neu und anders angegangen werden könnte.

Beispiel einer spezifisch gestalteten Lernsituation

Sie arbeiten in einer stationären Einrichtung für Kinder aus prekären Familienverhältnissen. Die Institution hat eine zentrale Küche. Die Kinder auf Ihrer Gruppe beklagen sich oft über das Essen, das ihnen nicht schmeckt. Food Waste ist auf Ihrer Gruppe ein Thema, die Kinder werfen Essen schnell weg.

Vorgehen zum Planen einer spezifisch gestalteten Lernsituation

1.

 

Grundhaltung reflektieren: Es ist für Kinder wichtig, dass sie die Wertigkeit von Lebensmitteln erfahren. Indem sie selbst mit Lebensmitteln arbeiten, reflektieren sie ihren Umgang mit Lebensmitteln. Konkrete, sichtbare Resultate erhöhen die Motivation. Auch kleine Kinder können, wenn gut sequenziert, einen ganzen Arbeitsablauf lernen.

2.

 

Lernfelder erkennen: