Eighteen - John Brownlow - E-Book + Hörbuch

Eighteen Hörbuch

John Brownlow

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Beschreibung

Es gibt immer jemanden, der deinen Platz einnehmen will. Seventeen, der berüchtigtste Auftragskiller der Welt, hat sich zur Ruhe gesetzt, ist abgetaucht. Viele wollen ihm nachfolgen, doch sein Erbe anzutreten bedeutet, ihn aufzuspüren und zu töten, um Eighteen zu werden. Als eine Kugel Seventeen nur um wenige Zentimeter verfehlt, glaubt er zu wissen, wer es war. Doch er irrt sich. Der Scharfschütze ist nicht der eiskalte Killer, den er erwartet hat. Sondern Mireille – ein geheimnisvolles, schweigsames Mädchen, das im Wald ausgesetzt wurde. Mit einem Scharfschützengewehr und der Anweisung, den Abzug zu drücken. Weil Seventeen ein Killer mit Herz ist, will er Mireille beschützen. Gemeinsam mit seiner Geliebten Kat will er herausfinden, wer Mireille beauftragt hat, ihn zu töten. «Wir sind im Kopf eines Killers gefangen – und genießen jeden Augenblick.» Der Spiegel über «Seventeen»

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Zeit:11 Std. 39 min

Sprecher:Sebastian Dunkelberg
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John Brownlow

Eighteen

Thriller

 

 

Aus dem Englischen von Stefan Lux

 

Über dieses Buch

Ich warte darauf, dass jemand mich tötet.

Heute wäre ein guter Abend dafür.

Bei meiner Geburt waren One bis Fifteen schon nicht mehr unter uns. 

Keiner von ihnen war im Schlaf gestorben oder hatte damit gerechnet, dass es so kommt. 

Jetzt ist auch Sixteen tot. Nicht durch meine Hand, obwohl ich es wahrhaftig versucht habe.

Sobald er nicht mehr lebte, habe ich seinen Platz, seine Gewohnheiten, seine Identität angenommen.

Er war Sixteen.

Ich bin Seventeen.

Irgendwo da draußen gibt es einen, der Eighteen werden will.

Der Weg, den er nehmen muss, führt direkt zu mir.

Ich hoffe, er beeilt sich.

 

«Wir sind im Kopf eines Killers gefangen – und genießen jeden Augenblick.»

Der Spiegel über «Seventeen»

Vita

John Brownlow ist ein erfolgreicher Hollywood-Drehbuchautor und hat die britisch-kanadische Staatsbürgerschaft, er lebt in der Nähe von Toronto. Er schrieb das Drehbuch für den Film «Sylvia» über die Beziehung zwischen Sylvia Plath und Ted Hughes mit Gwyneth Paltrow und Daniel Craig in den Hauptrollen, die Fernsehserie «Fleming» über Ian Flemings Arbeit als Spion und die Entstehung von James Bond sowie die Fernsehserie «The Miniaturist», die nach dem Bestseller-Roman von Jessie Burton entstand.

 

Stefan Lux, geboren 1964, lebt und arbeitet in Bonn. Aus dem Englischen übersetzte er u.a. Bücher von Matthew J. Arlidge, David Ignatius, James Carlos Blake und Jonathan Moore/James Kestrel.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel «Eighteen» bei Hodder & Stoughton, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Eighteen» Copyright © 2023 by Deep Fried Films, Inc.

Redaktion Peter Hammans

Motto Richard Ford: «Kanada». Übersetzt von Frank Heibert. Hanser Berlin, 2012, Seite 398

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Magdalena Russocka/Trevillion Images

ISBN 978-3-644-01357-5

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Heather

«Man kommt nicht leicht durchs Leben, ohne jemanden umzubringen.»

Richard Ford, Kanada

TEIL I

1

Ich warte darauf, dass mich jemand tötet.

 

Heute wäre ein guter Abend dafür. Vor einer Weile noch ging eine Brise, aber jetzt hat der Wind sich gelegt, nur die Baumwipfel wiegen sich noch leise hin und her. Nichts, was eine Kugel von ihrem Ziel abbringen würde. Der Mond ist beinahe voll und steht hoch genug am Himmel, um einen Scharfschützen bequem seine Position finden zu lassen. Aber nicht so hoch, dass er leicht zu entdecken wäre. Noch vor einem Monat wäre ich vom Gipfel des gegenüberliegenden Hügels nicht zu sehen gewesen, aber inzwischen hat sich das Laub verfärbt und ist weitgehend abgefallen. Jetzt bietet der Wald bis in eine Entfernung von mindestens anderthalb Kilometern freie Sicht für einen Schützen.

Das Haus gehört mir nicht. Es gehört Sixteen, meinem Vorgänger. Er war der sechzehnte in einer Reihe professioneller Mörder, die sich bis in die Zeit der Romanows zurückverfolgen lässt. Einige haben als Spione angefangen, andere als Verräter, Saboteure, Idealisten, Polizisten – in einem Fall sogar als Waisenkind, das in den Straßen von Sankt Petersburg aufgegriffen wurde. Aber alle endeten auf dieselbe Weise: ellbogentief im Blut ihrer Mitmenschen und, früher oder später, in ihrem eigenen.

Die Mechanik, die unsere Welt am Laufen hält, muss geölt werden. Dieses Öl sind wir. Wir sind die Fliegen, die von der Scheiße der Welt leben und sie entsorgen. Maden, die eiternde Wunden säubern. Wir sind die Sicherheitsventile, die den Kessel vor dem Explodieren schützen, die Steuerelemente, die ein neues Tschernobyl verhindern. Wir sind kleine holländische Jungs, die ihre Finger in die Deiche der Geschichte stecken.

Oder etwas in der Art.

Die Nummer ist ein Wunschkennzeichen, das einem per Akklamation von den Kollegen zugeteilt wird. So ähnlich wie Ballkönigin oder Werbefachmann des Jahres (Südliche Region), nur eben fürs Töten. In den alten Zeiten haben wir allein gearbeitet, auf ein Nicken oder eine geheime Geste hin, und wurden mit Diamanten bezahlt, die in Jackensäume eingenäht waren. Oder mit Koffern voll benutzter Scheine. Mit Inhaberobligationen. Oder der altehrwürdigen Variante in Form eines Züricher Nummernkontos. Und heute? Mit Kryptowährungen, Wash Trades mit nichtfungiblen Tokens, Immobilien-Scheingeschäften, Offshore-Firmen und den Diensten professioneller Geldwäscher.

Wir nehmen auch Bargeld.

Mörder wie wir sind die Spitze eines Eisbergs aus Tod und Verrat, ein perverser Abklatsch des Hollywood-Starsystems mit seinen Moguln, Komparsen und Berühmtheiten. Je bedeutender der Name, desto höher die Gage, aber man wird immer nur an seinem letzten Job gemessen. Und natürlich gibt es ständig einen naiven Scheißkerl, der verzweifelt darauf aus ist, den glitschigen Weg nach oben zu erklimmen und einen für alle Zeiten in den Ruhestand zu schicken.

Bei meiner Geburt waren One bis Fifteen schon tot. Keiner von ihnen war im Schlaf gestorben oder hatte damit gerechnet, dass es so käme. Jetzt ist auch Sixteen gestorben. Nicht durch meine Hand, obwohl ich es wahrhaftig versucht habe. Sobald er tot war, habe ich seinen Platz, seine Gewohnheiten, seine Identität angenommen.

Er war Sixteen.

Ich bin Seventeen.

Irgendwo da draußen gibt es einen, der Eighteen werden will.

Der Weg, den er nehmen muss, führt direkt über mich.

 

Ich hoffe, er beeilt sich.

2

Offiziell bin ich im Ruhestand, im ehrwürdigen Alter von jünger-als-Sie-glauben. Ich verfüge über keinen Makler, keine Infrastruktur, keinen Schutz, keinen Zugang zu Aufträgen, wie ich sie früher ausgeführt habe. Geschweige denn das Bedürfnis nach solchen Aufträgen.

Mein altes Ich brannte so hell, dass Sie den Blick abwenden mussten. Fast ein Jahrzehnt lang reiste es mit einer Welrod VP9 im Schulterholster kreuz und quer um die Welt. Diese Waffe ist beruhigend, solide und leise. Auf allen sechs Kontinenten und jenseits des Nördlichen Polarkreises war ihr hollywoodmäßiges Plopp zu hören – oder besser: nicht zu hören. Aber dieser Seventeen hat aus Gründen, von denen er nichts wusste, zu viele Menschen getötet. Er sagte immer, dass man beim ersten Mal, dass man jemanden umbringt, auch sein altes Selbst tötet. Ab diesem Moment ist man die Person nicht mehr.

Er lag zur Hälfte richtig.

Ja, man tötet sich selbst, aber nicht sofort. Man erodiert bis zur Auslöschung, bis man nur noch Das-Ding-das-tötet ist. Man ist wie ein Jäger, der auf einem zugefrorenen See einer Spur folgt. Das Eis wird dünner, je weiter man in den aufsteigenden Nebel vordringt. Dann hört man ein Knacken hinter sich, dreht sich um und sieht einen Riss in der Oberfläche auf sich zukommen. Man läuft, aber jeder Schritt bringt einen weiter vom Ufer weg, bis einem das Eis unter den Füßen wegbricht und einen ins Dunkle zieht.

Dort bin ich jetzt.

Im Dunkeln.

Ich habe keinen digitalen Fußabdruck.

Kein Internet.

Kein Handy.

Keine Kreditkarten.

Kein Netflix.

Keine Pornos, abgesehen von einer eselsohrigen Ausgabe von Shiny Housewives, die ich in Sixteens Keller gefunden habe.

Ich habe all seine Platten gehört.

Ich habe all seine DVDs gesehen.

Ich habe es mit Trinken versucht.

Ich habe es mit Nichttrinken versucht.

Ich habe mit dem Rauchen angefangen, nur um damit aufhören zu können.

Ich habe Rosen gezüchtet.

Ich habe Zucchini angebaut.

Ich hasse Zucchini.

Ich bin nichts.

Ich bin weniger als nichts.

Eine Handvoll Staub. Eine Ziffer.

Eine negative Nummer.

Ich bin die Quadratwurzel aller negativen Scheiße.

 

Das Haus ist so gebaut, dass es sich leicht verteidigen lässt. Mitte des letzten Jahrhunderts im Ranchhaus-Stil mit versetzten Ebenen errichtet, krönt es den Gipfel eines Hügels. Man schaut hinunter auf ein winziges, verschlafenes Provinznest, das sich aus unerfindlichen Gründen «Stadt» nennt. Nimmt man die gewundene kleine Straße hinunter zur Tankstelle, erhebt sich auf der gegenüberliegenden Seite der Durchgangsstraße ein bewaldeter Hügel, der einen freien Blick auf die Panoramafenster des Hauses bietet.

Der zweieinhalb Meter hohe elektrische Zaun, der Sixteens Grundstück umgibt, die in der Erde vergrabenen Bewegungssensoren und die gepanzerten Stahltüren sorgen dafür, dass jeder Frontalangriff selbstmörderisch ausgehen würde. An jeder Biegung der in den Ort hinunterführenden Straße ist der Wald in dreißig Metern Abstand gerodet, was auch einen Hinterhalt sinnlos machen würde. Unter dem Strich bleibt nur eine Möglichkeit: ein Schuss aus neunhundert Metern Entfernung vom Gipfel des Hügels gegenüber.

Schwierig, aber nicht ganz unmöglich, vor allem jetzt, wo im holzgetäfelten Zimmer hinter mir alle Lampen brennen und ich so stehe, dass ich eine perfekte Silhouette biete.

Mein Bekanntenkreis ist kein Kreis. Eher ein Punkt, eine einzelne Person: Barb, die das heruntergekommene Motel auf der einzigen Durchgangsstraße führt. Es gab einmal zwei Leute dort, aber die junge Frau mit den grünen Augen ist vor sechs Monaten weggegangen und kommt wahrscheinlich nie zurück. Ich habe nicht den Mumm, mehr dazu zu sagen. Höchstens, dass sie ohne mich besser dran ist. Ob das auch umgekehrt gilt, ist eine Frage für lange Nächte mit der Flasche. Aber sie ist weg, und unsere Pfade werden sich höchstwahrscheinlich nicht mehr kreuzen.

Immerhin habe ich Kabelfernsehen, und ein paarmal wöchentlich besorge ich mir die New York Times oder die Washington Post. Dem, was ich lese, entnehme ich, dass die Welt der Spionage sich verändert hat. Sie ist online gegangen. Kryptografie, Ransomware, koordinierte Zero-Day-Malware-Attacken, massenhafte Überwachung, Keyword-Recherche, Mustererkennung durch KI, autonome Waffen, Fernüberwachung, Side-Channel-Exploits.

Ich verstehe die Begriffe und weiß, worum es geht, aber es interessiert mich nicht.

Meine Welt besteht aus Fleisch und Blut, vor allem aus Letzterem. Aus Händeschütteln und Trinkgelagen und Kugeln im Rücken. Verwanzten Hotelzimmern. Waffen mit Schalldämpfern, Muskeln und schnellen Autos. Aus Explosionen und Fleischwunden, gefesselten Handgelenken und Prügeleien in Nebenstraßen. Aus falschen Pässen und Legenden, Erpressung und betrunkenem, verbotenem, lieblosem Sex. Aus Nächten in Polizeigewahrsam, Verhören, Fluchten. Toten Briefkästen und Koffern voller Bargeld. Aus Milliardären und Komplotten, nebulösen Machenschaften, Privatjachten und Inseln. Diktatoren in Fadenkreuzen, schier unmöglichen Schüssen und Stürzen aus großer Höhe.

Vielleicht existiert die Welt, zu der ich gehöre, nicht mehr.

Vielleicht gibt es für jemanden wie mich keinen Platz mehr.

Vielleicht ist das gut so.

 

Vor seinem Tod hat Sixteen mir verraten, warum er sich in dieser mit Flauschteppichen ausgelegten Einsiedelei verbarrikadiert hat. Er hatte Angst. Nicht vor einem angeberischen jungen Thronbewerber, der sich seine Krone holen wollte, sondern vor seinen Geistern, vor den Schatten der Opfer, die sich nachts um sein Bett versammelten, um ihn zu quälen. In einer Schublade in der Küche hatte er eine Pistole mit einer einzigen Patrone in der Kammer. Für den Fall, dass das Geschrei der Geister irgendwann zu laut würde.

Inzwischen habe ich meine eigenen Geister, zu viele, um sie zählen zu können, und manchmal, in der Stille der frühen Morgenstunden, höre ich sie flüstern. Hin und wieder öffne ich die Schublade und starre die Waffe an. Oder ich nehme sie in die Hand, spüre ihr Gewicht. In einigen Fällen habe ich sie mir an den Kopf gehalten, um mir vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, einfach nicht mehr zu existieren. Und inwieweit – wenn überhaupt – das ein Unterschied zu meinem jetzigen Leben wäre.

Aber dann sichere ich die Waffe wieder und lege sie in die Schublade zurück.

Zu sterben würde mir nichts ausmachen. Aber nicht so.

 

Ich vermisse dieses Leben nicht.

Ich vermisse es höllisch.

Aber mit dem grundlosen Töten habe ich abgeschlossen. Dieser Weg würde bloß immer wieder hierherführen, in diese vier Wände, ins Haus eines Toten. Mit den rachsüchtigen Geistern als einziger Gesellschaft und einer geladenen Pistole in der Schublade.

Was ich brauche, ist ein Sinn. Ein Ziel.

Deshalb habe ich mich an hundertvierundsiebzig Abenden hintereinander bei voller Beleuchtung vor das hohe Panoramafenster gestellt. Auch heute lehnt mein Kopf an der Scheibe, ich spüre die Kühle auf meiner Stirn und halte den Atem immer wieder für eine Minute an, als könnte ich aus der Dunkelheit eine Kugel heraufbeschwören, die mich zurück ins Leben holt.

Ich will mich gerade zum hundertfünfundsiebzigsten Mal abwenden, als ich das Mündungsfeuer sehe.

3

Vom Gipfel des gegenüberliegenden Hügels bis zu meinem Fenster sind es gut neunhundert Meter. Eine Hochgeschwindigkeitspatrone verlässt die Mündung mit einer Geschwindigkeit von etwa dreitausend Stundenkilometern, was bedeutet, dass sie eine knappe Sekunde unterwegs ist. Die durchschnittliche menschliche Reaktionszeit auf einen visuellen Reiz liegt bei ungefähr einem Viertel dieser Zeit. Das alles zusammengenommen bedeutet, dass mir genug Zeit bliebe, um der Kugel auszuweichen.

Aber das tue ich nicht.

Denn ich habe ein Abkommen mit dem Universum geschlossen, Kismet, Schicksal, wie immer Sie es nennen wollen.

Wenn die Kugel ihr Ziel findet, okay. Der Schütze wird Auftragsmörder Achtzehn und kann sich die Zahl wie bei einer Kellneruniform an die Brust heften – LÄCHELN Sie, wenn Sie auf KOPFSCHÜSSE stehen!!! Meine Uniform wird weggehängt, das Trikot eines vergessenen Stars, das irgendwo unter dem Dach des leeren Stadions flattert.

Aber falls das Universum mich am Leben lässt, erlöst es mich aus der Dunkelheit.

Dann habe ich noch einen Platz auf der Welt.

Dann werde ich nicht auf Sicherheit durch Unsichtbarkeit setzen, sondern auf Sicherheit durch komplette, totale Sichtbarkeit. Ich werde Superautos mit überdimensionierten Motoren fahren – und sie wahrscheinlich schrotten. Ich werde in entlegene Länder reisen, im Feuer automatischer Waffen unglaubliche Parcours-Fähigkeiten demonstrieren und den tödlichsten staatlichen Nachrichtendiensten der Welt entkommen.

Hin und wieder werde ich die Welt retten.

Es gibt nur ein Problem.

Der Schuss ist perfekt.

 

Die Kugel trifft mich genau zwischen die Augen.

4

Ich bin tot.

Ende.

5

Meine Sicht verschwimmt und wird wieder klar. Der Höllenkreis, in dem ich gelandet bin, hat offensichtlich Spritzputzdecken und einen Ventilator, der im selben Rhythmus eiert wie der im Haus von Sixteen. Ehrlich gesagt hatte ich mir vom Jenseits mehr erhofft.

Die Alternative wäre, dass ich nicht tot bin.

In der Scheibe ist ein Loch, nur ein Krater auf der Außenseite, von dem sich dünne Risse in alle Richtungen ausbreiten. Laut der Rechnung, die ich im Keller gefunden habe, bestehen die Fenster aus kugelsicherem verglasten Polycarbonat der Klasse 7, das den Einschlägen von fünf NATO-Standardpatronen standhalten soll.

Ein professioneller Scharfschütze, irgendein Möchtegern-Eighteen, würde das alles mit einberechnet haben. Er hätte 0,5-Zoll-Munition benutzt, die eine Stahlplattenpanzerung oder fünfzehn Zentimeter kugelsicheres Glas durchdringen kann. Außerdem hätte er oder sie auf den Körper gezielt und einen garantiert tödlichen Treffer gelandet, weil eine Kugel dieser Größenordnung die Eingeweide in Hundefutter verwandelt.

Was mich getroffen hat, war kleiner und außerdem ein Kopfschuss. Das Glas hat die Kugel aufgehalten und ihre kinetische Energie auf mich übertragen, wie ein Hammerschlag ins Gesicht.

Ich hebe die Hand zum Mund. Als ich sie wegnehme, sehe ich Blut und einen Zahn.

Taumelnd komme ich auf die Beine, immer noch benommen von dem Schlag. Ich schalte das Licht aus.

Wer auch immer auf mich geschossen hat, hat mir mein Leben zurückgegeben.

Wenn ich ihn finde, werde ich mich bedanken und ihn umbringen.

 

Nur nicht in dieser Reihenfolge.

6

Mit meinem Geländewagen fahre ich aus der Garage, eine Infrarotbrille in die Stirn geschoben und eine Sig Sauer auf dem Rücken. Der Schütze muss gesehen haben, wie die Scheibe zerborsten ist und wie ich anschließend auf die Beine gekommen bin. Trotzdem hat er es kein zweites Mal versucht, was bedeutet, dass er sich entweder zurückgezogen hat oder, was wahrscheinlicher ist, mit meinem Gegenangriff rechnet und Zeit braucht, um sich auf den offenen Kampf vorzubereiten.

Vom Gipfel des Hügels gibt es nur eine offensichtliche Fluchtroute, einen zerfurchten Waldweg, der nach zwölf Minuten in den Highway mündet. Wenn er diesen Weg wählt, wird er wahrscheinlich entkommen, sodass ich wie ein Hund seiner Fährte folgen muss. Aber wenn er wirklich vorhat, Eighteen zu werden, bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Stellung zu halten und den Kampf bis zum Tod zu führen.

Er, sein, ihm. Warum gehe ich von einem Mann aus?

Es ist nicht so, als gäbe es in der Branche keine Frauen, aber die Beste von ihnen, Bernier, ist tot. Sie wurde vor einem halben Jahr mit einer Kettensäge zerlegt – von dem Mädel mit den grünen Augen, das sich geweigert hat, sein weiteres Leben von dieser Tat bestimmen zu lassen. Die Zweitbeste, Ostermans Mädel, Kovacs, hat mich gezwungen, sie in einem Hotelzimmer in Berlin zu erschießen, obwohl mein Körper noch in ihren Moschusduft gehüllt war. Von der Drittbesten und für mich in jeder Hinsicht Gefährlichsten hört man seit einem knappen Jahrzehnt nichts mehr.

Hinter einer Kurve erreiche ich die Stelle, wo das Gebüsch zu einer Bodenvertiefung hin abfällt, die vom Gipfel des Hügels aus nicht einzusehen ist. Das Motorengeräusch verrät ihm meine Position, aber immerhin bin ich seinen Blicken entzogen und versperre ihm den Fluchtweg zur Straße. Keine Minute später erreiche ich den tiefsten Punkt und lasse den Wagen stehen.

Ich ziehe die Infrarotbrille herunter und bewege mich lautlos zwischen den Bäumen hindurch. Nach einem Jahr Vorbereitungszeit kenne ich den Wald wie meine eigenen Gesichtszüge. Immer noch vor ihm verborgen, steige ich auf einem geheimen Pfad, den ich, um keine Geräusche zu verursachen, vom Unterholz befreit habe, nach oben.

Alle paar Sekunden bleibe ich stehen und lausche. Da sollte nur Stille sein, die Atmosphäre des Waldes und mit etwas Glück das Knacken eines Asts oder Zweigs unter einem Kampfstiefel.

Aber ich höre etwas anderes.

Ein Atmen. Schnell. Fast keuchend. Und noch etwas. Das Rascheln von Blättern unter Füßen. Habe ich es mit mehreren Angreifern zu tun? Und wenn ja, warum bewegen sie sich wie Amateure? Aber die Geräusche passen nicht zu Männern in Kampfmontur. Sie sind leiser. Viel leiser.

Ich erreiche den Gipfel, leise und vorsichtig. Durch die Infrarotbrille entdecke ich nichts. Ich setze sie ab, um einen besseren Rundumblick zu haben. Und sehe vor mir ein Glitzern im Mondlicht.

Es ist ein Scharfschützengewehr, ein Sako TRG 42. Finnisch, beste Qualität. Unter anderen Umständen eine gute Wahl. Aber die Sako benutzt Munition Kaliber .300 und hat eine effektive Reichweite von rund tausend Metern. Das Haus lag schon am Rand ihrer Möglichkeiten. Wenn man dann noch die hohe Wahrscheinlichkeit einkalkuliert, dass meine Fenster aus Panzerglas bestehen, lag die Chance auf einen tödlichen Treffer praktisch bei null.

Es kann nur einen Grund geben, warum jemand, der die Fähigkeit besitzt, mich aufzuspüren, und genug Mut hat, tatsächlich zu schießen, eine solche Waffe verwendet hat: Der Schuss war eine Finte mit dem Ziel, mich aus dem Haus zu locken.

Nun, hier bin ich. Warum hat er noch nichts unternommen?

Das Atmen ist überall.

Langsam macht es mir Gänsehaut.

Ich setze die Infrarotbrille wieder auf. Nichts.

Und dann sehe ich es.

Einen Lichtblitz. Ein Leuchten.

Körperwärme.

 

Nur nicht von einem menschlichen Körper.

7

Es ist ein Wolf.

Und noch einer.

Und noch einer.

Ein ganzes Rudel, herumkreisend, auf der Jagd, vielleicht vom Knall des Scharfschützengewehrs angelockt.

Himmel, was für ein Ende.

Hier liegt Seventeen, von Wölfen verspeist.

Und dann begreife ich es.

Sie jagen nicht mich.

Sondern jemand anders – oder etwas anderes.

Rings um mich herum glüht es grünlich, die Augen leuchten besonders hell. Sie scheinen sich auf einen knorrigen alten Ahorn zu konzentrieren und rücken unter der Führung eines ausgewachsenen Alphatiers vor. So stark auf ihre Beute konzentriert sind sie, dass sie nicht merken, wie ich einen Bogen um den Stamm schlage, um zu sehen, wen oder was sie töten wollen.

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe.

Meinen Angreifer?

Einen Jäger, der ihn gestört hat und getötet wurde?

Ein verwundetes Reh?

Bigfoot?

Alles falsch.

Ich muss die Infrarotbrille hochschieben, um sicherzugehen, dass es sich nicht um einen Materialfehler handelt.

Denn es ist ein Kind, das sich gegen den Baum presst.

Ein Mädchen, ungefähr neun, in Tarnkleidung und mit geschwärztem Gesicht.

Sie ist total verängstigt.

Das Rudel nutzt den Augenblick und greift an.

8

Ich könnte die Hälfte von ihnen mit dem Gewehr erledigen, aber der Rest des Rudels würde das Mädchen verschlingen. Also entleere ich mein Magazin stattdessen in die Bäume und Sterne. Die Kugeln zischen durchs Blattwerk und lassen Äste und Blätter regnen. Der Krach zerreißt die Nacht, und die Wölfe verziehen sich panisch ins Unterholz. Ich setze die Brille wieder auf und drehe mich im Kreis, in der Hoffnung, dass sie verschwunden sind. Stattdessen sammeln sie sich in knapp hundert Metern Entfernung in einem Bogen, hungrig und immer noch zum Töten bereit. Nur das große Alphamännchen ist nicht zu sehen.

Schnell schiebe ich ein neues Magazin ein. Tiere zu töten, die lediglich ihren Instinkten folgen, macht mir keinen Spaß. Aber das Leben des Kindes zählt mehr, selbst wenn es versucht hat, mich zu erschießen.

Ich wende mich wieder zum Baum um und will ihr sagen, dass sie keine Angst haben soll und ich sie beschützen werde.

Aber sie ist weg.

Am äußeren Rand der Brille sehe ich das Licht eines menschlichen Körpers. Ich drehe mich um. Sie läuft schnell, direkt auf eine Gruppe von drei Wölfen zu, darunter das Alphatier. Im Dunkeln kann sie die Tiere nicht sehen.

«Stopp!», rufe ich.

Sie läuft weiter.

Die drei Wölfe stürzen auf sie los. Von hinten kommt bellend der Rest des Rudels. Sie wird in die Zange genommen und sieht noch immer nichts.

Egal wie viel ich trainiert habe, beim Hundert-Meter-Sprint bin ich nie unter zehneinhalb Sekunden geblieben. Selbst das verlangt olympiareife Disziplin und einen Körper, der mit den richtigen Genen gesegnet ist. Im Moment trage ich ein Automatikgewehr, eine Pistole, Munition, Stiefel, Nachtsichtausrüstung und eine Schutzweste. Aber ich schwöre, dass ich diesmal unter zehn Sekunden bleibe.

Trotzdem bin ich zu langsam.

Im letzten Moment sieht sie die Wölfe, eine Wand aus Fell und Zähnen, die auf sie zurast. Sie bleibt stehen und schreit, wie eine Neunjährige in Todesangst eben schreit. Als das Alphamännchen sich mit weit aufgerissener Schnauze auf sie stürzen will, packe ich sie mit einer Hand und hole mit dem Gewehr in der anderen nach dem Tier aus.

Der riesige Wolf stürzt zu Boden und kommt taumelnd wieder hoch. Das Mädchen dreht und windet sich in meinem Arm. Ich drehe mich zu dem Tier um, das jetzt nicht nur hungrig, sondern auch wütend über die Demütigung ist. Ich schaue zurück und sehe, dass das Rudel näher kommt. Wieder feuere ich in die Bäume, aber inzwischen sind sie daran gewöhnt. Wieder läuft der Anführer zähnefletschend los, er nimmt Tempo auf.

Das sich sträubende Kind macht es mir unmöglich, mit der Sig Sauer einhändig zu zielen. Also lasse ich die Waffe fallen und zücke meine Pistole. Als ich sie endlich aus dem Holster habe, fliegt der Wolf bereits auf uns zu. Unmittelbar bevor er zuschnappen kann, erwische ich ihn genau zwischen den Augen. Sein Gewicht, rund achtzig wilde, stinkende Kilo, krachen in mich hinein und reißen mich um.

Angeekelt schiebe ich das tote Tier von mir herunter. In diesem Moment befreit sich das Mädchen aus meinem Griff. Ich drehe mich um und packe sie am Knöchel, aber ihr Fuß rutscht aus Schuh und Socke. Ich werfe die Pistole weg und schnappe mir den nackten Fuß mit der anderen Hand, doch sie beißt mir fest auf die Fingerknöchel und schlägt winzige, scharfe Zähne hinein. Ich lasse nicht los, taste mit der anderen Hand wieder nach der Pistole und drehe mich zu den Wölfen um. Sie rücken wieder vor, aber sie haben mich vergessen. Jetzt gilt ihr Interesse dem Alphatier, sie schnüffeln am noch warmen Kadaver ihres toten Königs.

Ich gebe einen einzigen Schuss in die Luft ab. Sie zerstreuen sich, führerlos und ängstlich.

 

Ich klemme mir das Kind wie einen Football unter den Arm und gehe zurück zu meinem Wagen.

9

Mit Kindern habe ich keine Erfahrung, ich bin selbst kaum eines gewesen. Von Junebug, meiner Junkie-Nutten-Mutter, wurde ich von vergammeltem Motel zu vergammeltem Motel geschleppt. Wie ein Kind hat sie mich kaum behandelt, eher wie einen Freund und Komplizen. Ich habe für sie Schmiere gestanden, war ihr Vertrauter und ihr Banker – habe auf das Geld aufgepasst, das sie verdient hat, habe es gezählt, in eine ramponierte Sesamstraßen-Lunchbox gestopft und genug auf die Seite gelegt, um das Hotelzimmer bezahlen und uns hinreichend Vorräte für die Woche kaufen zu können. Aber ich war auch ihr Kurier, ein Mittelsmann, der bei Männern in durchhängenden Autos oder in verwahrlosten Wohnungen Bargeld abgeliefert hat.

Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der Junebug nicht auf die eine oder andere Art abhängig gewesen wäre. In manchen Wochen hat sie so tapfer dagegen angekämpft, wie ich je irgendwen habe kämpfen sehen, in anderen hat sie sich komplett der Sucht hingegeben. Ihr Leben war ein immerwährender Kampf, sich aus dem Treibsand der eigenen Geschichte zu befreien – einer Kindheit, die von ihrem Vater, einem religiösen Spinner, mit schweigender Billigung ihrer Mutter entweiht wurde. Mit fünfzehn entfloh sie diesem Leben, aber als wäre es Treibsand, versank sie umso tiefer darin, je heftiger sie dagegen ankämpfte.

Mit acht oder neun hatte ich einen sechsten Sinn für Polizeiwagen und Undercover-Ermittler der Sittenpolizei entwickelt. Ich wusste, wie man das Jugendamt, Familienrichter und alle belog, die mit Fragen kamen, die ich nicht beantworten wollte. Ich sah dem Auf und Ab ihres Krankheitsverlaufs zu. Wahrscheinlich wurde für Junebug nie eine ordentliche Diagnose erstellt, aber ich vermute, dass sie unter dem litt, was im diagnostischen und statistischen Leitfaden psychischer Störungen als Bipolar-II-Störung beschrieben wird. Sie hatte sonnig optimistische Phasen, in denen sie detaillierte Pläne für unsere Zukunft schmiedete, Geld sparte, neue Kleidung kaufte und sich praktisch komplett zusammenriss. Dann aßen wir gesunde Mahlzeiten, sie las Selbsthilfebücher, die sie aus den Regalen an der Kasse von Lebensmittelläden stahl. Sie ließ die Finger vom Stoff, was dazu führte, dass sie mehr und für bessere Kundschaft arbeitete. Was wiederum bedeutete, dass sie mehr verdiente und die Bibo-Büchse unter dem Bett sich mit Zehnern und Zwanzigern füllte statt mit den üblichen knittrigen Ein- und Fünf-Dollar-Scheinen.

Das waren die guten Zeiten.

Aber unweigerlich drehte sich der Wind. Ich sah es kommen, weil sie dann still wurde. Statt zu arbeiten, saß sie an manchen Tagen einfach auf dem Bett und weinte ohne ersichtlichen Grund. Dann wurde mir klar, dass sie immer noch kämpfte, aber innerlich wusste, dass die Schlacht schon verloren und es nur eine Frage der Zeit war, bis sie wieder kapitulierte. Sie wusste auch, dass ich protestieren würde, weshalb sie die Büchse plünderte, während ich schlief. Natürlich kannte ich die Anzeichen gut genug, um den größten Teil des Geldes herauszunehmen und woanders zu verstecken. Aber in einem beschissenen Motelzimmer ist die Zahl möglicher Verstecke begrenzt, und ein Junkie kennt sie alle.

Sie war dann schon high, wenn sie von dem Ort oder der Person mit dem Stoff zurückkam. Ich wachte auf, wenn sie ins Zimmer stolperte. Alles, was ich dann noch tun konnte, war, dafür zu sorgen, dass sie nicht einschlief oder, wenn das nicht funktionierte, wenigstens nicht an ihrem Erbrochenen erstickte. Und der Kreislauf – der ein paar Wochen oder ein paar Monate dauern konnte – begann von vorn.

Als ich neun war, ermordete ein Mann sie vor meinen Augen. Danach war ich nur noch rein körperlich ein Kind.

10

Den ganzen Weg zurück bis zum Haus kämpft das Mädchen wie eine Wildkatze. Ich kann den Geländewagen kaum unter Kontrolle halten, weil ich sie festhalten und an der Flucht hindern muss, ohne ihr wehzutun oder irgendwelche Knochen zu brechen.

Tatsächlich schaffe ich es bis zur Haustür, aber sobald ich sie hinter uns schließe, windet sie sich mir aus dem Arm. Ich versperre ihr den Weg zur Eingangstür, aber sie verschwindet im Haus. Als ich endlich abgeschlossen habe, ist sie weg. Es folgt eine Viertelstunde entwürdigenden Versteckspiels, das mich unter Betten und in Schränken suchen lässt, hinter Türen und sogar unter den Sofakissen. Als ich mich auf den Weg in den Keller mache, in dem mein Fitnessstudio und gepanzerte Schränke mit Waffen und Sprengstoffen untergebracht sind, höre ich hinter mir leise Schritte. Ich drehe mich um und sehe gerade noch, wie die Tür zum Bad zugeschlagen wird. Dann höre ich, dass sie die Tür abschließt.

Es gibt kein Fenster, was bedeutet, dass sie nicht abhauen kann. Also setze ich mich auf die oberste Treppenstufe, um endlich einen Moment nachdenken zu können.

Ich bin sicher, dass das Kind auf mich geschossen hat. Als ich sie aus dem Wagen zur Haustür geschleppt habe, ist mir der Korditgeruch aufgefallen. Aber eine Neunjährige schleppt kein Zehn-Kilo-Gewehr samt Zielfernrohr und Munition von der Straße den Hügel hinauf und sucht sich dort die geeignete Position für einen perfekten Schuss auf mein Fenster. Ganz sicher war es nicht sie, die mich aufgespürt hat. Aber wer auch immer hinter alledem steckt, hat sich nicht mal die Mühe gemacht, dem Kind zu sagen, es solle sich nach dem Schuss schnellstens aus dem Staub machen. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie auch nicht besonders scharf darauf ist, Eighteen zu werden.

Was hat das zu bedeuten? Ist sie eine Stellvertreterin? Ein Werkzeug, um gefahrlos einen Schuss auf mich abgeben zu können?

Wer hat sie geschickt? Und warum ein Kind? Weil es das Risiko nicht einschätzen konnte?

Wenn es so ist: Wer wollte mich aus einem anderen Grund tot sehen als dem, selbst die Krone zu beanspruchen?

Wenn es nicht so ist: Welchen anderen Sinn könnte das alles haben?

Aber jetzt zum größten Rätsel von allen: Was zum Teufel soll ich mit einem neunjährigen Mädchen anfangen?

Ich brauche Antworten. Und ich kenne eine Menge Verhörtechniken. Die Dinge, die Sie von Abu Ghraib gehört oder gesehen haben – stundenlanges Ausharren in unbequemen Körperhaltungen, Waterboarding, Stromschläge, Angriffe durch Hunde, Schlafentzug –, waren das harmlosere Zeug. Die echten Hits sind in mittelalterlichen Kerkern erfunden worden, in den Verhörzentren der Nazis, in syrischen Gefängniszellen oder im Keller des Kreml.

Aber nichts von alldem würde ich bei einem Kind anwenden.

 

Ich lausche einige Sekunden an der Badezimmertür und höre ein Schniefen, wahrscheinlich weint sie. Ich klopfe leise an die Tür, es hört sofort auf.

«Alles in Ordnung», sage ich. «Ich tue dir nichts, versprochen. Aber du musst die Tür aufmachen.»

Ich kann gerade eben ihren Atem hören, schnell und flach, verängstigt.

Die Tür ist dünn, ich könnte sie problemlos aufbrechen. Aber wenn ich etwas erfahren will, muss das Mädchen mir vertrauen. Was bedeutet, dass sie die Tür selbst öffnen muss.

«Ich setze mich einfach hierhin», sage ich durch die geschlossene Tür hindurch. «Bis du bereit bist aufzumachen.»

Ich lehne mich mit dem Rücken an die Tür und bleibe eine Stunde sitzen. Dabei höre ich, wie der flache Atem sich langsam beruhigt und fest wird, beinahe tief.

Nach fast neunzig Minuten höre ich ein leises Schnarchen.

Auch kleine Attentäterinnen brauchen ihren Schlaf.

Im Türknopf gibt es ein winziges Loch, sodass man die Tür auch von außen öffnen kann. Ich suche nach einem passenden Schraubenzieher und drehe, so leise ich kann. Ich lausche, ob sich das Atemgeräusch verändert, aber das tut es nicht. Vorsichtig schiebe ich die Tür auf. Im Dunkeln kann ich an der gegenüberliegenden Wand ihre zwischen Badewanne und Waschbecken kauernde Gestalt erkennen. Sie hält etwas in der Hand, aber ich kann es nicht erkennen. Ohne sie aus den Augen zu lassen, taste ich nach dem Lichtschalter und lege ihn vorsichtig um.

 

Großer Fehler.

11

Das Mädchen springt auf, und ich sehe, was sie in der Hand hält.

Ein Rasiermesser.

Sie weicht zurück zur Wand und fuchtelt mit dem Messer herum. Über ihr kohleschwarzes Gesicht ziehen sich Streifen von halb getrockneten Tränen, sie wirft mir wilde Blicke zu, halb herausfordernd, halb verängstigt.

Mein Blick gleitet über den immer noch geöffneten Badezimmerschrank. Auch der fast schon antike Rasierer war Ausdruck von Sixteens Alter-Knacker-Seite. Ich hätte ihn schon vor Monaten mit dem sonstigen Müll entsorgen sollen. Allerdings habe ich mich hier nie als längerfristigen Bewohner gesehen, und als Gast erschien es mir, auch wenn Sixteen tot war, unangemessen, seine Sachen einfach wegzuschmeißen. Wir hatten unsere Differenzen, um es freundlich auszudrücken, aber er dürfte der einzige Mensch auf der Welt gewesen sein, der sich in meine Lage hineinversetzen konnte.

Auf irgendeine alberne Weise kam es mir vor, als wäre dieses Haus ein Schrein zu seinem Andenken.

Da sieht man, wohin Sentimentalität führt.

Eine Neunjährige zu entwaffnen, ist kein besonderes Problem, aber schließlich versuche ich, Vertrauen aufzubauen. Also hebe ich stattdessen meine Hände, um zu zeigen, dass sie leer sind.

«Ich tue dir nichts», sage ich noch einmal. Dann gehe ich so langsam und so wenig bedrohlich wie möglich auf sie zu, die leeren Handflächen nach oben.

Sie bewegt sich nicht und wendet den Blick nicht von mir ab.

Ich bin keine zwei Meter mehr von ihr entfernt.

«Alles in Ordnung, alles in Ordnung», wiederhole ich. «Gib mir einfach das Rasiermesser.»

Ich gehe weiter. Daran, wie ihr Blick plötzlich hin und her schweift und ihre Hände zittern, erkenne ich, dass sie sich in die Ecke gedrängt fühlt. Vielleicht wird ihr Arm einfach müde, vielleicht ist die Angst der Grund, jedenfalls hält sie das Messer, gerade als ich den Arm danach ausstrecken will, an ihre Kehle.

Ihr Blick sagt: Glaub mir, ich tue es.

Wieder hebe ich die Hände und ziehe mich ein Stück zurück.

Das Messer bleibt, wo es ist.

«Bitte. Nimm das Messer runter», sage ich.

Das Messer bleibt, wo es ist.

«Ich will nur wissen, warum du mich erschießen wolltest.»

Das Messer bleibt, wo es ist.

«Kannst du mir deinen Namen sagen?»

Plötzlich kommt mir ein Gedanke.

«Sprichst du Englisch? Wenn ja, dann nick einfach.»

Sie rührt sich nicht.

Scheiße.

 

Ich versuche es auf Deutsch, Italienisch, Spanisch, Französisch und Arabisch. Sie starrt mich weiterhin ausdruckslos an, aber ich könnte schwören, dass beim vierten Versuch etwas in ihrem Gesicht aufblitzt. Aus dem Bauch heraus versuche ich es noch einmal.

«Tout va bien. Je ne vais pas te faire de mal.»

Ich sehe ihren Augen an, dass sie mich verstanden hat. Das Rasiermesser bleibt an Ort und Stelle, aber sie drückt es nicht mehr so fest an ihre Haut.

Ich deute auf mich selbst. «Seventeen. Je m’appelle Seventeen. Et toi?»

Ihre Lippen bewegen sich, aber sie spricht so leise, dass ich nichts hören kann.

Ich will näher treten, sehe aber, dass sie das Messer wieder fest an ihre Kehle drückt. Also halte ich mich zurück.

«Ton nom. Tu t’appelles …?»

«Mireille», sagt sie mit leiser, verängstigter Stimme.

«Mireille», wiederhole ich. «C’est un joli nom. Tu parles Français?»

Sie nickt.

«As-tu peur de moi?»

Sie nickt.

«Tu n’as pas besoin d’avoir peur. Je te le promets.»

Sie lässt das Messer ein winziges Stück sinken, immer noch unsicher.

So verharren wir einen Moment. Ich habe keine Ahnung, was ich als Nächstes tun soll, aber plötzlich weiß ich Bescheid. Sie muss Stunden im Wald verbracht haben, um auf die Gelegenheit zu ihrem Schuss zu warten. Aber dort, wo ich sie gefunden habe, war von Essen weit und breit nichts zu sehen. Keine Bonbonpapierchen, keine Feldflasche, nichts.

«As-tu faim?», frage ich.

Sie nickt.

12

Trotz seines ganzen Macho-Gehabes hatte Sixteen seltsam kindliche Vorlieben. Weit hinten in seinen Schränken und in der Gefriertruhe finde ich eine ganze Palette von Junkfood: Cap’n Crunch™ und Lucky Charms™, Alphagetti™ und Zoodles™, Twinkies™ und Suzie Qs™, Hot Pockets™ und Pop-Tarts™.

Ich lege die Schachteln und Päckchen auf den Küchentresen, hole einen Klapptisch aus dem Wohnzimmer und stelle das ungesündeste Smörgåsbord aller Zeiten zusammen. Als ich gerade Milch in eine Schüssel eingefärbter Frühstücksflocken gieße, sehe ich ein kleines Gesicht, das durch den Spalt in der Badezimmertür späht. Aber sobald ich hinsehe, zieht sie sich zurück.

Ich nehme den Klapptisch, trage ihn hinüber und schiebe die Tür auf. Sie ist wieder auf ihrem Platz zwischen Wanne und Becken und hält das Rasiermesser noch in der Hand. Aber ihre Entschlossenheit ist verschwunden, und als ich den Tisch vor ihr abstelle, reißt sie in kindlichem Verlangen die Augen weit auf.

Ich trete zurück, lasse mich mit dem Rücken zur Tür nieder und warte.

Sie betrachtet mich misstrauisch und nähert sich langsam ihrem Büfett, schnüffelt wie eine Katze daran herum. Das Messer scheint sie mehr oder weniger vergessen zu haben. Mit der freien Hand greift sie nach einem Hot Pocket, riecht daran und legt es wieder hin.

Dieselbe Prozedur wiederholt sie mit den anderen Leckereien, dann schaut sie mich fragend an.

«Das ist für dich», sage ich auf Französisch. «Bedien dich nach Lust und Laune.»

 

Das Mädchen hat nicht nur Appetit, sie ist völlig ausgehungert. Mit methodischer Gründlichkeit arbeitet sie sich durch das komplette Angebot. Erst die Schüssel mit den Frühstücksflocken, dann die Pasta und die Toastrollen, zuletzt der Kuchen. In ihre Hingabe mischt sich Neugier, sie betrachtet jeden Happen, als wäre er eine außerirdische Substanz oder potenziell giftig. Sobald sie etwas für essbar hält, schlingt sie es komplett herunter.

Sie hat etwas Verwildertes an sich, keine Frage. Ich muss nur daran denken, wie sie sich gewehrt und damit gedroht hat, sich mit dem Rasiermesser die Kehle durchzuschneiden. Andererseits zeigt sie keine Anzeichen eines misshandelten oder vernachlässigten Kinds. Sie bewacht ihr Essen nicht auf die Art und Weise, wie ich selbst es in Kinderheimen gelernt habe. Sie trägt keine sichtbaren Narben. Ihre Nägel und Haare sind ordentlich geschnitten. Die Tatsache, dass nordamerikanisches Junkfood neu für sie ist, deutet darauf hin, dass sie ein ganz anderes Leben geführt hat, vielleicht ein besseres.

Auf ihrem Kopf entdecke ich ein rosafarbenes Haargummi.

Wer sie auch sein und wie sie hier gelandet sein mag: Jemand liebt sie oder hat es bis vor kurzer Zeit getan. Als mir das klar wird, überfällt mich ein Déjà-vu.

Vielleicht ist sie wie ich in diesem Alter.

Als Junebug tot war, gab es niemanden mehr, der mich vor all den Schrecken beschützt hat, die mich – zwei Jahrzehnte und eine Armee von Leichen später – hier in diesem Haus eines Toten hocken lassen, mit nur einem geladenen Revolver als Gesellschaft.

Ich spüre keine Wut. Nur das seltsame und mich völlig befremdende Bedürfnis, sie zu beschützen.

Sie trägt immer noch die Tarnjacke, aber als sie die Schüssel hebt, um den Rest ihrer zuckrigen Milch zu trinken, bemerke ich vorne eine Ausbeulung, als hätte sie dort etwas versteckt. Es ist keine Waffe, die hätte ich gespürt, als ich sie getragen habe. Also frage ich auf Französisch: «Mireille, was hast du da unter deiner Jacke?»

Argwöhnisch sieht sie mich an.

«Ich nehme es dir nicht weg», sage ich. «Ich möchte nur sehen, was es ist.»

Ihre einzige Antwort ist ein herzhaftes kindliches Rülpsen. Trotzig zieht sie ihre Jacke fester um sich und legt den Kopf auf die Seite.

Offensichtlich verhandeln wir jetzt.

«Möchtest du noch irgendetwas?», frage ich auf Französisch.

Sie nickt.

«J’ai soif.»

 

Ich gehe zurück in die Küche. Wenn ich erfahren will, was sie unter der Jacke versteckt hat, muss ich ihr etwas bieten. Und ein Glas Wasser oder fettarme Milch dürften nicht reichen.

Ich stöbere im Kühlschrank herum, bis ich etwas finde. Eine Flasche mexikanische Coca-Cola. Etwas für Kenner, mit Rohrzucker statt Maissirup, Babyboomer-Luxus, typisch Sixteen.

Ich bereite sie mit der Finesse eines Barmixers zu. Erst gebe ich Eiswürfel ins Glas, dann schütte ich die Cola darüber, schneide eine Zitronenscheibe ab und lege sie obendrauf. Als Letztes suche ich einen Strohhalm – nein, verdammt, zwei Strohhalme – und schiebe sie ins Glas.

Ich gehe zurück ins Bad. Mireilles Blick bleibt an dem Getränk hängen.

Vielleicht kannte sie das Junkfood noch nicht, aber das Mädchen erkennt eine Cola, wenn es eine sieht.

Sie streckt die Hand aus, aber ich deute mit dem Kopf auf die Wölbung in ihrer Jacke.

Zeig es mir.

Sie schüttelt den Kopf.

Ich zucke die Achseln und beuge den Kopf zu den Strohhalmen vor, als wollte ich selbst daraus trinken.

«Non!», sagt sie aufgebracht.

Sehr vorsichtig zieht sie den Reißverschluss ihrer Jacke ein paar Zentimeter herunter.

Sie greift hinein und zieht etwas heraus.

Einen einäugigen Sockenaffen mit einem losen Faden, wo das zweite Auge war.

«Darf ich?», frage ich und strecke die Hand aus, aber sie schüttelt den Kopf und drückt das Stofftier an sich.

«Schon gut», sage ich. «Es ist deiner. Ich nehme ihn dir nicht weg.»

Sie stopft ihn – das Tier sieht aus wie ein Er – zurück in ihre Jacke.

«Moment», sage ich. «Wie heißt er?»

Sie nennt den Namen, und plötzlich wird mir kalt.

Es ist mein Name.

Keiner der Namen, die ich heute benutze, nicht Seventeen, nicht mein gelegentliches Alias Jones, sondern der Name, den meine Mutter mir gegeben hat. Der Name, den ich nicht mehr benutzt habe, seit ich einem Jugendknast-Wärter mit glänzendem Gesicht, der mich über Jahre hinweg missbraucht hatte, in der Sakristei einer Kirche der Evangelikalen das Hirn weggepustet habe.

Der Affe trägt den Namen, den niemand kennen sollte.

Meinen Geburtsnamen.

Plötzlich ist die ganze Sache nicht einfach ungut, sondern richtig abartig gruselig.

13

Eine halbe Stunde später wird sie vom Schlaf überwältigt.

Das grelle Licht des Bads verleiht ihrer Gesichtshaut an den Stellen, wo die Tränen die schwarze Farbe abgewischt haben, einen speziellen Ton.

Ich feuchte ein Handtuch an und wische ihr vorsichtig den Ruß ab. Ich habe Angst, sie zu wecken, aber sie schläft den tiefen, tiefen Schlaf der Kindheit, der uns Erwachsenen selten vergönnt ist. Je mehr ich abwische, desto deutlicher wird, dass ich mich nicht geirrt habe. Ihre Eltern hatten verschiedene ethnische Abstammungen. Sie ist teils weiß, teils etwas anderes. Westafrikanisch vielleicht oder afroamerikanisch oder etwas ganz anderes.

Wieder überfällt mich ein Déjà-vu, und diesmal muss ich mich zurücklehnen. Es geht nicht nur darum, dass sie mich an meine Kindheit erinnert. Da ist noch etwas anderes. Etwas Vertrautes, wie ein Wort, das einem auf der Zunge liegt, ein Gesicht, das man nicht zuordnen kann, oder einer dieser Gerüche, die einen sofort in eine andere Zeit an einen anderen Ort versetzen, nur dass man nicht weiß, wohin genau.

Ich tupfe ihr Gesicht trocken, nehme sie in die Arme und trage sie ins immer noch dunkle Wohnzimmer. Dort lege ich sie aufs Sofa, decke sie mit einer Navajo-Decke zu und lasse mich auf einen Sessel fallen, um ihr beim Schlafen zuzusehen.

Inzwischen ist es drei Uhr morgens, das Mondlicht bricht sich am Fenster, dort, wo die Kugel es getroffen hat.

Das alles ergibt überhaupt keinen Sinn.

Würde jemand, indem er mich umbringt, zu Eighteen werden wollen, hätte er oder sie es selbst erledigt. Erschießen durch einen Helfer nützt nichts. Also muss das Motiv woanders liegen. Doch ich bin seit einem Jahr aus dem Spiel. Sämtliche Geheimnisse, die ich kannte, die Details all meiner Operationen, sind durch den Flächenbrand ans Licht gekommen, in dem Sixteen und mein alter Manager/Agent Handler ums Leben gekommen sind. Kurz gesagt: Ich stelle für niemanden mehr eine Bedrohung dar. Trotzdem war jemand bereit, ein Kind zu opfern – ein Kind, das offenbar jemandem etwas bedeutet hat –, um mich tot zu sehen.

Mireille regt sich im Schlaf und dreht sich ein Stück. Die Decke hebt und senkt sich im Rhythmus ihres Atems.

Eins ist klar: Meine Tarnung ist aufgeflogen. Die Person, die Mireille hergebracht, mit einem Scharfschützengewehr im Wald postiert, es auf das Fenster gerichtet und entsichert hat, weiß, wer ich bin und wo ich wohne.

Wenn diese Person mich entdeckt hat, können es auch andere.

Ich muss hier weg, und zwar schnell. Aber ich kann sie nicht hierlassen, und ein einzelner Mann, der mit einem Mädchen reist, das nicht seine Tochter ist, zieht eine Menge ungewollte Aufmerksamkeit auf sich.

Die Alternative wäre, sie im Stich zu lassen. Sie auf der Schwelle irgendeines Krankenhauses oder einer Feuerwache abzusetzen, anonym Meldung zu machen und sie dem Jugendamt zu überlassen. Aber ohne das Mädchen hätte ich keinen einzigen Hinweis darauf, gegen wen ich kämpfe, geschweige denn, warum. Abgesehen davon möchte ich das, was ich selbst durchgemacht habe – die Reise von der Pflegefamilie ins Kinderheim, weiter ins geschlossene Heim und schließlich in den Jugendknast –, keinem Kind zumuten, nicht mal einem, das auf mich geschossen hat.

Und wenn es nun darum geht?

Wenn die Person, die Mireille geschickt hat, mich gut genug kennt, um zu wissen, dass ich ihr kein Leid zufügen würde?

Wenn sie wüsste, dass ich kein Kind denselben Umständen aussetzen würde, die mich zu dem gemacht haben, der ich bin? Dass ich nicht in der Lage bin, sie im Stich zu lassen?

Was würde das bedeuten?

Ich muss an das unterdimensionierte Gewehr denken, das am äußersten Rand seiner Möglichkeiten eingesetzt wurde und auf ein Fenster feuerte, das es niemals hätte durchschlagen können. An den Sockenaffen, der meinen Namen trägt, den Namen, den niemand kennen darf.

Es würde bedeuten, dass mein Feind mich fast so gut kennt wie ich mich selbst, vielleicht sogar besser. Und es würde bedeuten, dass der Schuss nie dazu gedacht war, mich zu töten. Sondern dass er mich nach draußen locken sollte, damit ich nicht nur ein leichtes Ziel bin, sondern durch das schweigsame, unbekannte Kind an meiner Seite auch doppelt so verwundbar.

Dann herzlichen Glückwunsch, es hat funktioniert.

Also leg los.

14

Im ersten Morgenlicht belade ich den Geländewagen mit möglichst unauffälliger, aber umso tödlicherer Ausrüstung. Dann gehe ich noch einmal hinein, um das Mädchen zu holen. Mireille, ermahne ich mich, so heißt sie. Mireille.

Sie liegt immer noch schlafend auf dem Sofa und wacht auch nicht auf, als ich sie, immer noch in die Decke gehüllt, hochhebe. Erst als ich durch die Tür trete, regt sie sich in der kalten Nachtluft und legt mir die Arme um den Hals. Ihr Kopf kommt mir auf meinen Schultern unerwartet schwer vor.

So muss es sich anfühlen, Vater zu sein, geht mir durch den Kopf. Der Gedanke ist mir so fremd, als käme er vom anderen Ende der Galaxie.

Die hintere Tür des Jeeps steht offen. Behutsam muss ich ihre Arme lösen, bevor ich sie mitten auf der Rückbank zwischen zwei Seesäcken absetzen kann. Ihren Hals stütze ich mit einem zusammengerollten Tarnnetz ab, dann lege ich den Sicherheitsgurt um ihre schmale Gestalt und polstere ihn mit einer Jacke aus, damit er fest sitzt.

 

Ungefähr achthundert Meter hinter der Stadtgrenze schwingt ein MOTEL-Schild an zwei rostigen Ketten. Ich fahre auf den mit Schlaglöchern übersäten Parkplatz auf der Rückseite des Gebäudes und parke den Jeep so, dass er von der Straße aus nicht zu sehen ist.

Als ich zum allerersten Mal in diese Stadt gekommen bin, hat das Motel meine Aufmerksamkeit geweckt. Es hätte eines von zehntausend schlecht laufenden Motels mit leerem Parkplatz und einem Schild mit der Aufschrift FARBFERNSEHEN IN ALLEN ZIMMERN sein können, wie sie an den Highways kreuz und quer durchs Flyover Country stehen. Aber das war es nicht, was meinen Blick fesselte. Es war die einsame weibliche Gestalt, die sich im Licht der Rezeption abzeichnete. Als ich vorbeifuhr, stand sie mit dem Rücken zu mir. Wahrscheinlich hätte ich mir damals schon denken können, wie unsere Pfade sich kreuzen und wie alles enden würde. Aber jetzt ist sie weg, und wahrscheinlich werden wir uns nie wieder begegnen.

Mireille schläft immer noch wie eine Bewusstlose, also öffne ich den Sicherheitsgurt, hebe sie wieder hoch und trage sie zur Hintertür des Motels. So vernehmlich es geht, ohne sie zu wecken, klopfe ich gegen das Riffelglas der Tür. Ein paar Minuten später geht das Licht an, eine Gestalt taucht auf, ein Schloss wird geöffnet, die Tür schwingt auf. Vor mir steht eine Frau von Ende fünfzig mit gebleichter Dolly-Parton-Frisur unter einem Haarnetz. Sie trägt ein Hauskleid, in ihrem Mundwinkel klemmt eine Zigarette.

Sie starrt mich und das schlaff wie ein Sack in meinen Armen liegende Kind an.

«Was soll das werden?», fragt Barb.

«Das ist ein Kind», sage ich.

«Das sehe ich. Warum hast du ein Kind dabei, und was hast du ihr angetan?»

«Sie hat versucht, mich umzubringen, ich hab sie vor einem Wolfsrudel gerettet und mit Junkfood gefüttert. Sie heißt Mireille. Jetzt weißt du so viel wie ich.»

«Ha», sagt Barb und zieht an ihrer Zigarette.

«Lässt du mich rein?»

«Mache ich mich damit strafbar? Irgendwelche Leichen?»

«Bisher nicht», sage ich, obwohl ich das Gefühl habe, dass es nicht lange dabei bleiben wird.

15

«Wie wollte sie dich umbringen?», fragt Barb. Immer noch rauchend, sitzt sie auf der Kante eines ramponierten Stuhls im Büro des Motels. Das Mädchen schläft auf einem alten Sofa unter einer blauen Decke.

«Sie hat mit einem Scharfschützengewehr auf mich geschossen, das jemand im Wald aufgebaut hatte», sage ich. «Sie wurde dort zurückgelassen, um den Job zu erledigen und die Konsequenzen zu tragen.»

«Mein Gott», sagt sie. Dann hält sie inne und zieht noch einmal an ihrer Zigarette. «Aber dir musste klar sein, dass irgendwann jemand auftaucht.»

Barb mochte wie eine billige Kopie von Tammy Wynette aussehen, aber sie wusste, wovon sie sprach. Nicht zuletzt, weil sie sich mit Sixteen eingelassen hatte. Aber auch, weil sie schon vor ihrer Zeit hier in Buttfuck, South Dakota, ein «erfülltes Leben» hinter sich hatte. Die Amateur-Tattoos auf ihrem Oberarm, die nur teilweise die Einstichnarben überdecken, erzählen ihre eigene Geschichte. Ich habe Barb einmal als Geisel genommen, ein Fehler, der mir eine volle Ladung Bärenspray ins Gesicht eingebracht hat. Aber wir haben unsere Differenzen beigelegt.

Ich würde Barb nicht unbedingt als Freundin bezeichnen, weil sie mich und meine Motive zu Recht mit tiefer Skepsis betrachtet. Aber sie ist meine engste Verbündete im Umkreis einer Tagesreise und wahrscheinlich noch ein ganzes Stück mehr.

«Redet sie?»

«Kaum. Sie spricht Französisch. Mehr hab ich nicht aus ihr rausbekommen. Wahrscheinlich wurde ihr eingetrichtert, den Mund zu halten.»

«Armes Ding», sagt Barb. «Man hört ja immer wieder von Kindersoldaten, aber wenn sie vor der eigenen Haustür auftauchen, wundert man sich doch. Hast du irgendeine Ahnung, wer sie ist und wer sie in den Wald gebracht hat?»

«An der Stelle kommst du ins Spiel.»

«Red weiter.»

«Jemand hat sich gut um sie gekümmert», sage ich. «Keine Anzeichen für Vernachlässigung. Geschnittene Nägel. Haargummi. Sie hat sogar ein Stofftier dabei.»

Barb schaut zum Sofa hinüber und sieht den Affen, der unter der Decke hervorlugt.

«Das bedeutet, dass derjenige, der sie hergebracht hat, ihr nahestand oder sich zumindest um sie gekümmert hat. Außerdem war es jemand, der mit einer Neunjährigen herumreisen konnte, ohne Verdacht zu erregen.»

«Eine Frau», sagte Barb.

«Vermutlich. Wahrscheinlich hat sie sich als Mireilles Mutter ausgegeben.»

Barb runzelt die Stirn. «Dann wäre sie ihr so wichtig gewesen, dass sie sich um ihre Frisur gekümmert und ihr ein Stofftier mitgegeben hätte. Aber andererseits wollte sie das Mädchen opfern, um dich umzubringen? Das ergibt keinen Sinn.»

Sie hat recht. Was bedeutet, dass ich etwas übersehe.

«Wer immer es war, ich muss sie finden.»

«Wie?»

«Wenn Mireille wirklich mit einer Frau unterwegs war, brauchten die beiden Zeit, um die beste Position für den Schuss auszukundschaften. Das heißt, dass sie irgendwo übernachtet haben. Draußen zu campen, wäre zu auffällig gewesen, außerdem wussten sie nicht, ob ich den Wald absuche. Wo können sie also hier in der Gegend geschlafen haben?»

«In einem Wohnmobil auf dem Walmart-Parkplatz», sagt Barb. «Oder in einem Motel wie dem hier. Wo man bar bezahlen kann und keine Fragen gestellt bekommt. Und wo es nach Möglichkeit keine Kameras gibt.»

«Genau», sagte ich. «Wenn ich die Wahl hätte, würde ich das Wohnmobil nehmen. Aber damit wären sie nicht in den Wald gekommen, sodass sie ein zweites Fahrzeug gebraucht hätten. Und einen zweiten Fahrer. Was Infrastruktur erfordert und die Gefahr von undichten Stellen nach sich zieht. Es wäre eine größere Operation. Zu leicht zu entdecken, zu schwer zu kontrollieren. Und so kommt es mir einfach nicht vor.»

«Also ein Motel.»

«Ich nehme an, durch deinen Job kennst du sämtliche Motels im weiteren Umkreis.»

Barb nickt.

«Und ich schätze, ihr habt eine Art Telefonkette, damit ihr euch gegenseitig vorwarnen könnt, falls jemand Sachen aus den Zimmern stiehlt, dealt oder möglicherweise Menschen schmuggelt.»

Wieder nickt sie.

«Ich sag dir, was wir machen. Wir starten einen Rundruf und sagen, hier hätte eine Frau mit einem Kind übernachtet. Das Kind hätte seinen Affen vergessen. Wir können die beiden nicht erreichen, wissen aber, dass sie auf dem Weg zum nächsten Motel sind. Dann fragen wir, ob sie Gäste haben, auf die die Beschreibung zutrifft.»

«Warum glaubst du, dass sie noch nicht abgereist sind?»

«Die Frau muss wissen, wie es gelaufen ist», erkläre ich. «Das Mädchen hatte kein Handy dabei und konnte nicht Bericht erstatten. Ich vermute, die Frau bleibt so lange in ihrem Versteck, bis sie weiß, ob der Anschlag erfolgreich war. Das bedeutet, dass wir ungefähr vierundzwanzig Stunden haben, um sie aufzuspüren.»

«Okay», sagt Barb und zündet sich an ihrem Zigarettenstummel die nächste an. «Nur eine Frage noch: Warum zum Teufel sollte ich dir helfen?»

16

«Es geht nicht darum, dass du mir helfen sollst», sage ich. «Es geht um das Kind. Weißt du, was ihr Name auf Französisch bedeutet?»

«Sag mir einen Grund, warum ich das wissen sollte.»

«Er bedeutet ‹Wunder›. Jemand hat ihr diesen Namen gegeben. Vielleicht dieselbe Person, die ihr das Haarband geschenkt, sie frisiert und dafür gesorgt hat, dass ihre Nägel geschnitten sind. Für diese Person war sie ein Wunder. Und ist es vielleicht noch immer.»

Barb brummt, um zu signalisieren, dass sie sich nicht darum schert, aber ich merke, dass meine Worte ihre Wirkung nicht verfehlen.

«So werden wir sie aufspüren», sage ich und stelle überrascht fest, dass ich es so meine.

 

Barb klemmt sich hinters Telefon. Ihre heisere Stimme ist in sämtlichen unabhängigen Motels bekannt, und wenn sie an der Rezeption nichts erreicht, kennt sie die Namen sämtlicher Besitzer auswendig.

Inzwischen ist Mireille aufgewacht. Ich hole ihr ein paar Muffins aus dem klappernden Kühlschrank in der sogenannten Küche. Dann setze ich sie vor den Fernseher und finde eine Sendung, in der Erwachsene in Schaumstoffanzügen stecken und Lieder singen. Das Mädchen verdreht die Augen, offenbar ist sie für so etwas zu alt. Also reiche ich ihr die Fernbedienung. Routiniert zappt sie durch die Programme, bis sie bei Sponge-Bob landet und sich zurücklehnt.

Neunzig Minuten später landen wir einen Treffer. Mit der Zigarette in der Hand winkt Barb mich zu sich. Sie spricht, ich lausche den Antworten, die aus dem Hörer mit dem geringelten Kabel dringen.

«Ja, kleines Mädchen, ungefähr neun, anscheinend mit Eltern verschiedener Abstammung. Sie ist zusammen mit einer Frau unterwegs. Nein, ich hab sie nicht gesehen, sie haben sich während der Nachtschicht angemeldet. Ich hab das Mädchen nur an der Eismaschine stehen sehen. Wir haben ihren Affen unter dem Bett entdeckt, so einen Sockenaffen. Ich schätze, sie vermisst ihn.»

Die Stimme am anderen Ende der Leitung knistert. Barb legt eine Hand auf die Sprechmuschel.

«Sie sagt, die beiden haben vor drei Tagen eingecheckt und sind noch nicht abgereist.»

Wieder knistert es.

«Sie will mich ins Zimmer durchstellen.»

«Sag ihr, du hast gerade einen Gast und rufst später noch mal an.»

Barb liefert eine perfekte Vorstellung. «Hab’s notiert, danke.» Sie kritzelt etwas auf einen Block und legt auf.

Dann zeigt sie mir die Nummer, die sie notiert hat.

17

Ich reiche Barb eine Mossberg-Pumpgun. «Weißt du, wie man damit umgeht?»

Sie nimmt die Flinte, entsichert sie und drückt sie an ihre Schulter.

Wer sich mit Barb anlegt, sollte auf der Hut sein.

Mireille mag versucht haben, mich zu erschießen, aber jetzt ist sie ein mögliches Ziel. Sie ist die Einzige, die weiß, wer sie geschickt hat, auch wenn ihr die Gründe schleierhaft sind. Aber jetzt, wo ihr Bauch voll ist, hat sie sich wieder aufs Schweigen verlegt und weigert sich, auf Fragen zu antworten. Sie hat unübersehbar Angst, nicht vor mir, sondern vor etwas oder jemand anderem. Jedes Mal, wenn sie ein Auto vorbeifahren hört, sieht sie zum Fenster und umklammert ihren Affen ganz fest.

«Geh mit Mireille runter in den Keller», sage ich zu Barb. «Schließ ab, mach unten alle Lichter aus, aber lass sie oben an. Falls jemand runterkommt, siehst du die Silhouette, bevor seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen können. Mach niemandem auf, bevor ich dich auf dem Handy anrufe.»

«Und wenn du nicht zurückkommst?»

«Du weißt, wer ich bin, oder?»

«Nein», sagt Barb. «Ich weiß, wer du mal warst. Und ich wusste, wer jemand anders war. Und jetzt ist er tot. Also quatsch nicht rum, sondern lass deinen verdammten Plan hören.»

«Achtundvierzig Stunden», sage ich. «Ich gebe dir eine Nummer für den Fall, dass du bis dahin nichts gehört hast. Ruf an, dann bekommst du Hilfe.»

Barb notiert sich die Nummer. «Wer ist das?»

«Die einzige Person auf der Welt, mit Ausnahme von dir, der ich im Moment traue.»

«Warum hast du sie dann noch nicht angerufen?»

«Weil ich ihr nicht so sehr traue wie dir.»

Wieder dieses Brummen, ich nehme es als gutes Zeichen.

Als ich vom Parkplatz herunterfahre, überkommt mich ein seltsames Gefühl.

Das ist mir schon früher passiert, in Situationen, die mich gelehrt haben, dieses Gefühl nicht zu ignorieren. Ich würde es nicht unbedingt als sechsten Sinn bezeichnen, eher als die Wahrnehmung, dass sich ein Lüftchen regt, sich der Wind dreht, das Licht sich leicht verändert und ein Unwetter ankündigt. Dieses Unwetter muss nicht in der nächsten Stunde oder am selben Tag losbrechen, aber es kommt. Und es wird nicht irgendein Unwetter sein, sondern eines, das ganze Wälder entwurzelt, den Verlauf von Flüssen ändert und Städte unter Schlammlawinen begräbt. Es krempelt die Landschaft so stark um, dass jede Landkarte nutzlos wird. Es schafft eine Welt, in der man sich komplett neu orientieren muss.

Ich betrachte das im Rückspiegel schrumpfende Schild des Motels und versuche, das Gefühl abzuschütteln, aber es geht nicht weg. Kurz spiele ich mit dem Gedanken zu wenden. Aber falls jemand entschlossen ist, mich zu töten, würde ich seine Aufmerksamkeit nur auf zwei mehr oder weniger unschuldige Menschen lenken.

Die Blätter rascheln. Sie wollen mir etwas sagen.

Ich habe nur eine Möglichkeit herauszufinden, was es ist.

18

Vermillion ist eine winzige Farmerstadt, deren Bild auf absurde Weise vom DakotaDome dominiert wird, dem gigantischen Stadion der Coyotes, das sämtliche anderen Gebäude wie Spielzeughäuser wirken lässt. Inklusive des schäbigen Travelers Motel, das im Schatten des Stadions liegt.

Ich fahre in Schrittgeschwindigkeit vorbei. Das Motel hat zwei Etagen, oben führt ein Laubengang zu den Türen. Barb hat mir die Nummer 213 genannt, es muss das dritte Zimmer links oben sein. Dass die Vorhänge geschlossen sind, überrascht mich nicht. Auf dem Parkplatz stehen fünf Fahrzeuge: zwei Pick-ups – ein Dodge und ein Ford –, ein kastenförmiger Lieferwagen, ein beiger Corolla aus den Neunzigern und ein neues Sorento-Modell. Einer der Pick-ups ist verrostet und verfügt, wie auch der Corolla und der Lieferwagen, über einen Zweiradantrieb. Der andere Pick-up trägt Aufkleber einer Baufirma aus Sioux City. Der Kia Sorento ist schätzungsweise ein halbes Jahr alt und hat die typischen miesen Reifen eines Mietwagens aufgezogen. Als ich zum zweiten Mal vorbeifahre, bemerke ich die Schlammspritzer rings um die Radkästen und ein «4x4»-Logo am Heck. Wie mein Jeep Gladiator liegt er hinten einige Zentimeter tiefer, als er sollte.

Die Person, die mich tot sehen will, ist noch hier. Und für einen Krieg gerüstet.