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John Brownlow

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Beschreibung

Niemand kennt meinen Namen. Ich bin Seventeen. Und weit mehr als eine Zahl. Man nennt mich Seventeen. Niemand kennt meinen Namen. Hinter Ereignissen, die du kennst, stehen Killer, die du nicht kennst. Wenn die Diplomatie versagt, kommen wir zum Zug. Offiziell gibt es uns nicht, aber jede Regierung der Erde nimmt unsere Dienste in Anspruch. Wir retten die Welt, deinen Arsch. Seit hundert Jahren. Sechzehn Leute haben diesen Job vor mir gemacht. Ich bin 17. Der gefürchtetste Auftragskiller der Welt. Aber um der Beste zu sein, muss man die Besten schlagen. Mein nächstes Ziel ist 16, so wie mich eines Tages 18 töten wird. Es ist eine Welt, in der jeder jeden jagt. An der Spitze ist es einsam. Niemand kann dort lange bleiben. Bis dahin zählt nur eins: zu gewinnen.

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Seitenzahl: 459

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John Brownlow

Seventeen

Thriller

 

 

Aus dem Englischen von Stefan Lux

 

Über dieses Buch

Ich bin Seventeen.

Einen anderen Namen habe ich nicht mehr.

 

Wenn die Diplomatie versagt, kommen wir zum Zug.

Offiziell gibt es uns nicht, aber jede Regierung der Erde nimmt unsere Dienste in Anspruch.

Wir retten die Welt, deinen Arsch. Seit hundert Jahren.

 

Sechzehn Leute haben diesen Job vor mir gemacht.

Ich bin 17. Der gefürchtetste Auftragskiller der Welt.

Aber um der Beste zu sein, muss man die Besten schlagen.

Mein nächstes Ziel ist 16, so wie mich eines Tages 18 töten wird.

Es ist eine Welt, in der jeder jeden jagt.

An der Spitze ist es einsam. Niemand kann dort lange bleiben.

 

Bis dahin zählt nur eins: überleben.

 

Das Romandebüt des erfolgreichen Hollywood-Drehbuchautors.

 

«Mitreißend … herausragend.»SUNDAY TIMES

 

«Ein raffinierter, cleverer und spannender Thriller.»CRIME REVIEW

 

«Von Anfang an absolut fesselnd.»IRISH INDEPENDENT

 

«Keine Überraschung, dass Hollywood zugegriffen hat.»DAILY MAIL

Vita

John Brownlow ist erfolgreicher Drehbuchautor und hat die britisch-kanadische Staatsbürgerschaft, er lebt in der Nähe von Toronto. Er schrieb das Drehbuch für den Film «Sylvia» über die Beziehung zwischen Sylvia Plath und Ted Hughes mit Gwyneth Paltrow und Daniel Craig in den Hauptrollen; die Fernsehserie «Fleming» über Ian Flemings Arbeit als Spion und die Entstehung von James Bond sowie die Fernsehserie «The Miniaturist», die nach dem Bestsellerroman von Jessie Burton entstand.

«Seventeen» ist John Brownlows Debütroman, derzeit schreibt er an der Fortsetzung «Eighteen».

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «Seventeen» bei Hodder & Stoughton, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Seventeen» Copyright © 2022 by Deep Fried Films, Inc.

Redaktion Peter Hammans

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Collaboration JS/Trevillion Images

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01275-2

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für meine Mutter, die mich gelehrt hat,

dass es wichtig ist, Feinde zu haben

Erster Teil

1

Ein Spion zu sein, ist nicht so, wie Sie glauben.

Es ist langweilig.

Mit langweilig meine ich nicht einfach stumpfsinnig.

Ich meine langweilig im Sinne von nervtötend, zum Aus-der-Haut-Fahren, zum Zähneknirschen öde.

In einer Wabe im Großraumbüro zu sitzen, einem von hundert identischen kleinen beigefarbenen Käfigen, das Bürohemd, die Büroschuhe und die Bürokrawatte zu tragen, dem Summen der Klimaanlage zu lauschen und sich zu fragen, was wohl das Tagesgericht in der Kantine sein könnte, mit dem Gedanken zu spielen, nach 11:30 Uhr noch einen koffeinhaltigen Kaffee zu riskieren, und dabei über sechs Monate alten aserbaidschanischen Zeitungen zu brüten, in der Hoffnung, auf ein winziges Informationshäppchen über Spannungen in den unteren Etagen der politischen Hierarchie Bakus zu stoßen, aus denen sich möglicherweise Profit schlagen ließe.

Baku ist übrigens irre. Durchgeknallt. Wie Dubai auf Steroiden, nur mit mehr Armdrücken. Man trinkt Tee mit Konfitüre, und der Nationalsport wird zu musikalischer Begleitung betrieben. Aber das wissen Sie nicht, denn Sie waren ja niemals dort.

Sie sind Spion – oder, wie Ihre Tätigkeitsbezeichnung Ihnen mit jeder zunehmend schlechter werdenden Leistungsbeurteilung in Erinnerung ruft, Analyst – und müssen in unmittelbarer Nähe Ihres Kollegen ausharren, der noch keine Bekanntschaft mit den Segnungen moderner Deodorant-Technologie gemacht hat, und dabei beschissene Behördenkopfhörer tragen, von denen Ihre Ohren schmerzen, weil die Polsterung schon seit sechs Monaten abgenutzt ist und obendrein eine Ausgabensperre gilt, weil der Kongress den Kopf nicht lange genug aus dem eigenen Arsch rauskriegt, um den Haushalt zu verabschieden.

Und so verstreicht Ihr Leben mit jedem Herzschlag, während Sie den endlosen, in mieser Qualität aufgezeichneten Gesprächen zwischen Omar dem Taxifahrer und Hussein dem Obstverkäufer lauschen, die das Für und Wider der Abseitsfalle diskutieren. Dabei schwindet Ihre Hoffnung, dass die beiden mit irgendeiner Bemerkung verraten, warum Omars Schwager, der inzwischen in Toronto wohnt und sie mit der aufregenden Welt der National Hockey League bekannt gemacht hat, plötzlich mehr Geld auf seinem Konto hat, als Sie in einem ganzen Jahr verdienen – oder je verdienen werden.

Aber nicht alles ist schlecht. Manchmal lässt man Sie Satellitenbilder aus der eritreischen oder mongolischen Wüste auswerten, bis Ihnen die Augen bluten. Der spannendste Moment Ihrer bisherigen Laufbahn war, als Sie ein im Bau befindliches Raketensilo in der Nordhälfte der koreanischen Halbinsel entdeckt haben. Aber als Sie damit zu Ihrer Vorgesetzten gegangen sind, hat sie Ihnen erklärt, dass es sich um eine Kläranlage handele.

Immerhin, Fleißkärtchen für den Versuch.

Was ich sagen will: all dieses Zeug im Fernsehen und im Kino? An exotische Schauplätze reisen und in knallig lackierten, exotischen Sportwagen richtig Gas geben, über Dächer sprinten und unter Beschuss aus automatischen Waffen Ihre Parkour-Fähigkeiten demonstrieren, glamouröse Persönlichkeiten verschiedener Ethnien und unklarer Loyalität vögeln, interessanten Leuten mit schallgedämpften Waffen den Kopf wegpusten aus Gründen, die bis zum dritten Akt im Dunkeln bleiben, wenn diese Leute plötzlich mit Getöse wieder auftauchen und Ihnen in den Arsch treten?

Das können Sie alles vergessen.

Und das meine ich wörtlich: alles.

Restlos.

 

Es sei denn, Sie sind ich.

2

Der Bugatti Veyron ist zu viel des Guten, aber das Spesenkonto für diesen Job war besonders großzügig, und wenn ich ein Motto habe, dann dieses: Reite das Pferd in die Richtung, in die es läuft.

Heute ist das Pferd zitronengelb und schnurrt mit 204 Stundenkilometern auf der Überholspur der Bundesautobahn 9 von München nach Berlin. Ich bin kurz vor Nürnberg und spiele mit dem Gedanken, einen Schlenker nach Westen in Richtung Nürburgring zu machen und dort ein paar Runden zu drehen, aber man kann nicht alle Früchte pflücken. Der Wagen könnte locker doppelt so schnell fahren, aber ich will nur so weit das Arschloch spielen wie unbedingt nötig.

Heute ist es unbedingt nötig.

 

Was das Thema Sichtbarkeit betrifft, gibt es zwei Lehrmeinungen.

Man kann sichtbar sein oder unsichtbar.

Dazwischen gibt es nichts.

Unsichtbar heißt: Sie sind die gestresste Frau mittleren Alters, die an der Sicherheitskontrolle mit Handtasche und Starbucks-Becher jongliert, um ihren Ausweis vorzuzeigen. Sie sind der Putzmann mit schlechtem Englisch und schütterem Haar, der mit einem Mopp um die Tische herum wischt, wo ein Pärchen Harvard-Absolventen – ohne auch nur die Füße zu heben – darüber diskutiert, ob man lieber ein Wasserflugzeug oder eine Jacht mieten sollte, um zur Insel zu gelangen. Sie sind der graue Mann in der U-Bahn mit fettigen Haaren und Flicken auf den Ellbogen, der nach einem glück- und arbeitslosen Antiquitätenhändler aussieht und eine Plastiktüte voll alter Bücher zu einem Safe House schleppt, wo er über Wasserdampf einen Buchumschlag löst, unter dem neue Ausweispapiere zum Vorschein kommen.

Sie haben keinen digitalen Fußabdruck. Sie benutzen keine Kreditkarten. Sie verwenden Wegwerfhandys, die Sie mindestens einmal pro Woche wechseln. Oder besser überhaupt nicht wechseln, weil Sie, wo immer möglich, physische Kommunikationswege benutzen, tote Briefkästen oder die Post. In einer Welt aus Einsen und Nullen bleiben Sie analog.

Sicherheit durch Unsichtbarkeit.

Wo das Problem liegt?

Es funktioniert nicht. Nicht mehr.

Die Biometrie versaut Ihnen alles. Und nicht nur die automatisierte Gesichtserkennung, die inzwischen überall verwendet wird. Sie können sich eine Papiertüte über den Kopf ziehen, trotzdem wird künstliche Intelligenz Sie an Ihrem Gang identifizieren, an der Art, wie Sie ein Bein mehr belasten als das andere, wie Sie es einwärts drehen. An Ihren Plattfüßen oder der Art, wie Sie die Hüfte neigen oder mit dem Hintern wackeln. Viel Glück beim Überschreiten einer Staatsgrenze, es sei denn, Sie besitzen einen Pass aus einem Land, das die Biometrie noch nicht nutzt, wie Russland – womit Sie noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Die andere Lehrmeinung?

Sicherheit durch komplette, totale Sichtbarkeit.

Deshalb der Veyron.

Wenn die Leute einen Supersportwagen sehen, sehen sie nur das Auto.

Der Fahrer interessiert keinen. Bestenfalls sehen die Leute eine widerliche Private-Equity-Heuschrecke, einen Dotcom-Bruder, einen unbedeutenden saudischen Prinzen oder die gebotoxte Trophäenfrau eines zentralasiatischen Oligarchen und Ex-Mafiosos. Niemand will solchen Leuten in die Augen sehen, also schaut man weg.

Ich bin nichts von alledem, aber der Blazer, die Rolex, das offene Hemd, die Sonnenbrille und die zurückgegelten Haare bringen die Leute dazu, sich ihren Teil zu denken und mich in die entsprechende Schublade zu stecken.

Auch Sie stecken mich gerade in eine Schublade, das spüre ich. Sie möchten wegschauen.

Gut.

Es funktioniert.

 

In Berlin lasse ich die Gelegenheit verstreichen, die Überreste der Mauer zu begaffen. Die Zeit des Kalten Krieges wirkt heutzutage fast kurios: verzweifelte Menschen, die sich in Ballons über die Mauer treiben lassen, knietief durch die Scheiße der Kanalisation waten oder als Opfer der Scharfschützen in den ostdeutschen Wachtürmen im Todesstreifen zwischen der inneren und der äußeren Mauer verbluten, gestresste Stasi-Offiziere, die in Autos ohne Kennzeichen loshetzen, um sich die Leichen zu schnappen, bevor die schlechte Nachricht durchsickert.

Die Ironie bestand darin, dass die DDR nicht an der Außenseite der Mauer endete. Sie war nicht die Grenze. Die Ostdeutschen errichteten, ein paar Meter landeinwärts in die eigene Richtung, eine Pufferzone, die ihnen gestattete, die westliche Seite der Mauer, wenn nötig, instand zu halten. Diese Zone war zwar von Westen her zugänglich, doch hatten die westdeutschen Behörden hier keinerlei Befugnisse. Es war eine Art Partyzone, buchstäblich ein Niemandsland, wo man von keiner Gerichtsbarkeit belangt wurde. Aus jener Zeit gibt es uralte Geschichten über Leichen mit Schusswunden im Hinterkopf, die dort abgeladen wurden. Angeblich brachte die CIA ihre Opfer in die französische Zone, die Franzosen ihre in die britische Zone, und die Briten nutzten die amerikanische Zone. Was einem mehr über die diplomatischen Beziehungen zwischen den westlichen Nuklearmächten auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges sagt als ein vierjähriges Studium der Politikwissenschaften.

Ich komme an der Touristenattraktion des Checkpoint Charlie vorbei und fahre in die Tiefgarage eines der hoch aufragenden Bank-Monolithen aus Stahl und Glas rund um den Potsdamer Platz. Kaum sieht der Mann vom Parkservice den Bugatti, schießt er auch schon aus seinem kleinen Kabuff. Er ist so fasziniert von dem Auto, dass er mich praktisch keines Blickes würdigt. Der Kerl ist mindestens sechzig, und sein Gesichtsausdruck lässt mich vermuten, dass er, als er auf dem herrlich weichen Leder des Schalensitzes Platz nimmt, den ersten natürlichen Ständer seit zehn Jahren bekommt.

«Verkratzen Sie ihn nicht», ermahne ich ihn, obwohl es mir völlig gleichgültig ist. Aber ich will ihn ins Schwitzen bringen, damit die Forensiker bequem seine Fingerabdrücke nehmen können. Meine werden sie dank der Kalbslederhandschuhe nicht finden, aber man kann nicht vorsichtig genug sein.

Ich nehme das Ticket und gehe zum Aufzug.

Er sieht nicht, wie ich es in einen Mülleimer fallen lasse.

Ich werfe einen letzten Blick auf den davonfahrenden Bugatti.

Und denke im Stillen: Ich hasse die Scheißkarre.

3

Ich habe Ihnen meinen Namen noch nicht genannt. Und zwar deshalb, weil es nicht mehr meiner ist. Er gehört zu einer anderen Person, einer, die ich mal war und die zu verkörpern ich vor langer Zeit aufgehört habe. Wahrscheinlich gibt es keine zehn Menschen mehr, die sich an diese Person erinnern. Nicht, weil ich den anderen irgendetwas angetan hätte, sondern weil diese Person ein Nichts war, ein Niemand, eine Ziffer, ein Satz ohne Bedeutung.

Ich habe all diese Menschen hinter mir gelassen. Ich vermisse sie nicht, und das beruht auf Gegenseitigkeit.

Bei Menschen, die ich heute kennenlerne, geht es darum, dass es mir nützt, für wen sie mich halten. Das hat nichts mit Schauspielerei zu tun, so wenig, wie Schauspielerei eben mit Schauspielerei zu tun hat. Sondern damit, jemand zu sein. Das Tolle daran, dass man keine richtige Identität hat, keine festgelegte Persönlichkeit, ist die Möglichkeit, aus einer Hülle heraus- und in die nächste hineinzuschlüpfen, wie diese nackten Einsiedlerkrebse, die sich, sobald sich im Spülbecken ihres Schneckenhauses das Geschirr stapelt, schnell ein neues suchen.

Die Leute in meiner Branche kennen mich unter einem einzigen Begriff.

Madonna, Cher, Pelé, Beyoncé, Michelangelo, Plato, Seinfeld, kurz und knackig.

Ich bin Seventeen.

Jünger, als Sie glauben.

Gepflegt, aufdringlich, manchmal ein bisschen zu laut.

Mit einem dieser amerikanischen Akzente, die sich schwer einordnen lassen.

Ein bisschen abstoßend.

Scheiße, nein. So richtig abstoßend.

Es ist okay, wenn Sie mich nicht mögen. In meiner Branche geht es nicht darum, gemocht zu werden.

 

Seventeen, weil es vor mir sechzehn andere gab.

Eine Nummer ist wie ein Orden. Man ist der fünfundvierzigste Präsident der Vereinigten Staaten, die zwölfte Miss Universum oder der aktuelle Boxweltmeister im Schwergewicht. Kurz gesagt: Man ist der Beste. Der Mächtigste, der Schönste, der Stärkste oder – in meinem Fall und bei meinen sechzehn Vorgängern – der Tödlichste. Und aus diesem Grund der Gefürchtetste.

Niemand kann noch mit Sicherheit sagen, wer die Eins war. Ich würde auf Zigmund Markovich Rosenblum tippen. Vielleicht möchten Sie ihn googeln, falls Sie jemanden in der Nähe haben, der Ihre Augäpfel aufsammelt, wenn sie herausfallen und über die Straße kullern.

Er ist der Einzige, den Sie bei Wikipedia finden. Der zweite war ein Kind, dessen Eltern vom Zaren ermordet wurden. Seither obdachlos, wurde er bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs vom deutschen Geheimdienst geschnappt und in Spionage und Sabotage ausgebildet. Er kehrte auf die Straßen von Sankt Petersburg zurück und berichtete über Truppenbewegungen, wandte sich dann aber heimlich gegen seine deutschen Herren und wurde zum Doppelagenten. Das alles bis zu seinem zwölften Lebensjahr.

Von den Nummern drei bis fünfzehn steht zweifelsfrei fest, dass sie tot sind. Es wird Sie kaum überraschen, dass kein einziger natürlicher Todesfall darunter war. Es sei denn, man betrachtet den Sturz aus einem Fenster (Seven) oder aus einer 737 (Thirteen) als natürlichen Tod.

Sixteen, mein unmittelbarer Vorgänger, ist ein Rätsel. Er ist einfach verschwunden. Hat sich, aus Gründen, die niemand kennt, auf der Höhe seines Schaffens zur Ruhe gesetzt. Sich einfach verabschiedet, auf Nimmerwiedersehen.

Und ich? Ich bin in sein Schneckenhaus geschlüpft.

4

Der Aufzug bringt mich nach oben. Er ist an der Außenwand des Gebäudes angebracht; während der Fahrt verschiebt sich meine Perspektive auf Berlin. Das Reichstagsgebäude, der Tiergarten und Schloss Charlottenburg scheinen ihre Positionen zu verändern. Im siebten Stock hält der Aufzug, eine junge Frau in blauem Bleistiftrock und weißer Bluse steigt ein. Sie trägt einen Stapel Akten und sieht mit ihren hinten festgesteckten schwarzen Haaren irgendwie italienisch aus. Sie lächelt mich an, ich spüre einen kurzen Anflug von Mitleid, weil sie zwischen diesen lüsternen Idioten hier festhängt. Einer von denen wird ihr sicher einen Antrag machen, sie heiraten und darauf bestehen, dass sie ihren Job aufgibt und stattdessen eine Horde von Replikanten aufzieht. In einer dieser riesigen steinernen McMansions, die Berlin heutzutage umringen wie zum Zuschnappen bereite Bärenfallen.

Ich werfe einen Blick auf ihre Hand. Er hat ihr den Antrag schon gemacht, wie mir der klobige, glitzernde Verlobungsring verrät.

Vielleicht halten Sie mich wegen solcher Gedanken für einen Arsch. Und vermutlich haben Sie recht. Aber so läuft es halt. Banken, private Finanzierungen, Risikokapital – in dieser Welt steht Gleichberechtigung ziemlich weit unten auf der Agenda.

Ich frage mich, ob ihr Verlobter, wer immer er sein mag, zu den Leuten gehört, die ich umbringen werde.

Der Aufzug hält mit einem Klingeln. Ihre Etage. Sie steigt aus.

Ich sehe ihr nach.

Ich hoffe um ihretwillen, dass er dazugehört.

 

Am Empfang sitzt die nächste junge Frau. Sie trägt eine Tonne Make-up und Kunstperlen. Eine von denen, die man im Auge behalten muss, weil sie clever sind. Sie stehen mit beiden Beinen in der Realität. Sie haben mit allen zu tun, vom Briefträger bis zum Staatschef. Die jüngeren, aufstrebenden Banker, die noch Vierundachtzig-Stunden-Wochen abreißen und bis nachts um drei an Angeboten arbeiten, stellen ihnen nach, ohne die Absicht, sie jemals Mummy und Daddy vorzustellen.

Sie sieht mich kommen, und noch bevor ich meine Sonnenbrille abnehmen kann, weiß ich, dass sie mich taxiert hat. Zwar lächelt sie, aber dieses Lächeln verrät, dass sie alles an mir hasst, vom handgearbeiteten Leder meiner Schuhe über die Bügelfalte meiner Hose und das Muster meiner Krawatte bis zu dem blendenden Weiß meiner für viel Geld gerichteten Zähne.

Ich liebe sie jetzt schon.

Sie ist auf glatte Weise freundlich, was sie bestimmt eine Menge Energie kostet. Ich sage, dass ich um drei Uhr einen Termin mit Gerhard Meyer habe, was den Tatsachen entspricht. Er ist Verkäufer, was bedeutet, dass schmieriges Gesindel wie ich sich bei ihm tagein, tagaus die Klinke in die Hand gibt. Er glaubt, dass ich einen in Toronto ansässigen Pensionsfonds für Lehrer vertrete, und hofft, mir eine dubiose Privatplatzierung aufschwatzen zu können. Mit der Provision könnte er seine dritte Scheidung finanzieren, jetzt, wo er seine Assistentin vögelt.

Ich bin dem Mann nie begegnet und werde ihm auch nie begegnen, aber ich kenne diese Typen.

 

Der Wartebereich ist mit Grüppchen von Anzugträgern gespickt, Bittsteller am Hofe des Mammons – Aktenkoffer auf den Knien, zusammengesteckte Köpfe, vor Nervosität feuchte Achseln. Sie alle hoffen, dass dieses Treffen, anders als die neun zuvor, den Kreditrahmen erweitern und das unaufhaltsame Tempo stoppen kann, mit dem ihr schwindendes Kapital gen null strebt. Meyer dagegen will verkaufen, nicht kaufen, deshalb wird er mich nicht warten lassen.

Sein Assistent erscheint, keine Frau, sondern ein junger Schwarzer – Somalier vielleicht? –, unglaublich schlank, hohe Wangenknochen, eng geschnittene und perfekt sitzende graue Hose. Er macht einen netten Eindruck. Vögelt Meyer ihn? Wenn ja, hat er einen besseren Geschmack, als ich ihm zugetraut hätte.

Der Assistent heißt Bashir. Ich habe keine Lust, ihn zu töten, sodass ich meinen Plan leicht abwandle und ihm an dem Konferenzraum mit meinen Zielpersonen vorbei zu Meyers Büro folge, wo Meyer aufsteht und mir zum Gruß die Hand entgegenstreckt. Er hat einen endlosen Schnurrbart, mehr gibt es zu ihm nicht zu sagen. Bashir bietet an, mir einen Kaffee zu holen. Ich bitte um einen doppelten Espresso macchiato, weil er dafür eine Weile brauchen wird, dann entschuldige ich mich bei Meyer und frage nach den Toiletten.

Er erklärt mir den Weg. Ich lasse meinen Aktenkoffer zurück, in dem die Polizei später nur ein Exemplar von Derridas Grammatologie finden wird. Das Buch dient einerseits dazu, dem Aktenkoffer ein glaubwürdiges Gewicht zu verleihen, vor allem aber sollte man, wenn man schon einen Hinweis zurücklässt, ihn so verwirrend und bedeutungslos wie möglich halten.

Ich verlasse das Zimmer.

 

Am Waschbecken betrachte ich mein Gesicht.

Männer aus meiner Branche – Frauen nicht, bei Frauen ist es anders – erkenne ich meilenweit gegen den Wind. Manchmal liegt es an der Breite ihrer Schultern, die den Rücken des Sakkos zusammenzieht. An ihrem soldatischen Gang. Manchmal auch an etwas Subtilem wie einem Gurtband oder etwas so Offensichtlichem wie einer gebrochenen Nase. Manchmal sind es der herausgewachsene Armee-Haarschnitt oder die Bartstoppeln und toten Augen des Söldners, der ein bisschen zu viel Spaß daran hatte, auf staubigen Nebenstraßen Zentralasiens die Kehlen von Teenagern aufzuschlitzen. Einige, und das sind die Gefährlichsten, umgibt eine Stille, die verstörend wirken kann. Wenn Sie auf die Hände dieser Männer schauen, werden Sie feststellen, dass sie kaum Ringe tragen. Wenn Sie den Grund wissen wollen und einen starken Magen haben, googeln Sie «Décollement».

Bei mir gibt es keins dieser Hinweiszeichen.

Ich wirke weniger kräftig, als ich bin, meine Kleidung ist für viel Geld so geschneidert, dass sie meine Muskeln verbirgt. Bei meiner Frisur würden Sie schwören, dass meine Haare nie Bekanntschaft mit dem Rasierer eines Ausbildungslagers gemacht haben. Ich bin groß genug, um Ihnen in die Augen zu schauen, ohne bedrohlich zu wirken – es sei denn, ich will es so. Sie würden nie darauf kommen, dass meine Nase dreimal gebrochen war, weil ich sie mir jedes Mal für teures Geld von einem Mann aus Beverly Hills habe richten lassen. Ich benutze Feuchtigkeitscreme, nicht aus Eitelkeit – von der ich mich nicht freisprechen will –, sondern um die Auswirkungen von Wüstensonne und arktischen Winden auf meiner Haut zu kaschieren.

Am Mittelfinger meiner rechten Hand steckt ein silberner Ring mit einer Gravur auf der Innenseite.

Wenn wir uns ein bisschen besser kennen, verrate ich Ihnen vielleicht, wie sie lautet.

 

Ich greife unter mein Sakko und ziehe meine Pistole aus dem verborgenen Halfter.

5

Amateurfotografen lieben es, über Kameras zu reden. Profis scheren sich in der Regel nicht darum. Ich meine, klar haben sie ihre Vorlieben, aber einem Profifotografen gelingt die Aufnahme auch mit einer aus einer Blechbüchse gebastelten Lochkamera. Das Foto wird immer noch besser sein als alles, was Amateure wie Sie mit der teuersten Kamera der Welt zustande bringen.

Aber wenn Sie ein bisschen tiefer schürfen, entdecken Sie, dass es für jeden dieser Profis eine Kamera gibt, die immer noch eine Magie ausstrahlt. Es mag die Leica M2 mit einem 1:1,4/35 prä-asphärischen Summilux-Objektiv für den speziellen Cartier-Bresson-Glanz sein. Vielleicht auch eine ramponierte alte Rolleiflex TLR, wie Hitler sie benutzt hat. Oder eine Widelux, deren Räderwerk die Linse horizontal über einen 150-Grad-Winkel schwenkt und eine Panoramaaufnahme ermöglicht. Oder … na ja, Sie verstehen, worauf ich hinauswill.

Was ist der gemeinsame Nenner all dieser Modelle?

Sie funktionieren mechanisch. Nichts passiert automatisch. Sie machen, was man ihnen sagt, nicht mehr und nicht weniger. Die Schaltgetriebe der Kamerawelt.

Was mich auf die B&T VP9 Welrod 9 mm bringt.

Die in der Schweiz produzierte, handbetätigte Pistole mit Kammerverschluss zählt zu den wenigen schallgedämpften Modellen, die tatsächlich leise sind. Hollywoodmäßig leise. VP steht für «Veterinärpistole», denn sie war ursprünglich für Tierärzte gedacht, die Tieren den Gnadenschuss geben wollten, ohne die Nachbarn zu erschrecken. Mein Gott, wie das Ding sich anfühlt. Nichts ist Show, nichts soll beeindrucken. Sie ist einfach da, schwarz und makellos glatt, und sie flüstert einem zu: Ich weiß, was du tun musst, und ich werde es tun, und ich werde dich dafür nicht verurteilen.

Wenn ich Fotos machen würde, dann erstklassige.

6

Ich verlasse die Toilette. Ich weiß, wo der Konferenzraum ist, nicht nur, weil Bashir mich gerade an ihm vorbeigeführt hat, sondern weil ich mich sechs Wochen lang mit den Plänen des Gebäudes vertraut machen konnte und jeden Quadratzentimeter auf jeder einzelnen Etage kenne. Als ich mich auf den Weg mache, atme ich tief in den Bauch: ein – Luft anhalten – aus durch den Mund. Ich will, dass mein Puls so niedrig wie möglich ist.

An einem guten Tag kann ich ihn problemlos auf fünfzig absenken.

Ich taste mit den Fingern am Handgelenk nach dem Puls. Zehn Sekunden. Acht Schläge.

Achtundvierzig.

Ich drücke die Mattglastür auf.

Ich weiß, wer im Raum ist, und dank des Organigramms auf der Website habe ich eine grobe Vorstellung davon, wer auf welchem Platz sitzt. Erfreulicherweise zeigt dieses Organigramm nur Fotos der Führungskräfte. Vor langer Zeit hat mir mal jemand gesagt, man solle nett zu den Assistenten sein, und dazu gehört auch, dass man sie nur im absoluten Notfall tötet.

Ich weiß auch, dass ich nicht auf Sicherheitsleute stoßen werde. Warum? Weil das hier ein Heimspiel ist.

 

Sie wissen sicher, wie Geld – richtiges Geld, Scheiß-auf-dich-Geld, die Art Geld, die auf den Konten von Schweizer Privatbanken herumliegt, also Erträge aus Waffengeschäften und staatlich sanktionierten Fischzügen, das Geld, das niemals gewaschen werden muss, weil es dank Matroschka-ähnlicher Kapitalgesellschaften nie auf dem Radar von irgendwelchen Leuten aus den Finanz- oder Strafverfolgungsbehörden auftaucht –, wie dieses Geld sich durch die Welt bewegt?

Ich rede nicht von Bitcoins.

Es funktioniert so: Sie, ein Milliardär mit Blut an den Händen, möchten Geld von A nach B bewegen. Sie treffen sich mit einem Ihrer Leute in einem SCIF, was für Secure Compartmented Intelligence Facility steht: einen Raum in einem Faraday’schen Käfig, abgeschirmt gegen elektromagnetische Strahlung, akustisch, elektrisch und atmosphärisch isoliert. Glauben Sie mir, Sie als Milliardär haben so ein Ding.

Sie geben Anweisungen. Ihre Leute rufen in Zürich an, ein Gnom im Anzug setzt sich in einen Privatjet, und zwölf Stunden später steht Ihr privater Banker mit Ihnen im SCIF. Sie sagen ihm, Sie wollen Geld von A nach B bewegen, und nennen ihm die Summe. Er fliegt mit seinem Privatjet zurück nach Zürich und führt die Transaktion über das vom neuesten technischen Stand geschützte Computersystem aus, mit dem Ihr Konto verwaltet wird.

Es ist die Art Verschlüsselung, die kein Hacker jemals knacken wird, weil es nichts zu knacken gibt.

Bloß dass es einen Schwachpunkt gibt.

Den Gnom. Er ist gerade auf dem Weg vom Flughafen Zürich zu seinem Büro, als seine Limousine gerammt wird. Maskierte Männer schleppen ihn in ein Lagerhaus, wo sie eine Methode anwenden, die in der Branche als «Gummischlauch-Kryptografie» bezeichnet wird. Denn sie läuft in ihrer simpelsten Form darauf hinaus, dass die Zielperson mit einem Gummischlauch geschlagen wird, bis sie das Passwort verrät.

Das ist schnell, gewalttätig und extrem effektiv.

So wie ich.

Was ich sagen will: Wenn Sie der Milliardär sind, gehen Sie keine Risiken ein. Ihr Arbeitsplatz, Ihr Turm aus Stahl und Glas, ist Ihr Refugium.

Ihr Zuhause, Ihr sogenanntes Zuhause, ist voll missratener Söhne und Töchter, deren größte Sorge darin besteht, wer wann was erben wird. Dazu eine Gattin, die Sie aus gutem Grund verachtet, aber durch die Bedingungen des Ehevertrags gebunden ist und sich im Augenblick besessen an der Frage abarbeitet, welche Sorte Ziegel sie für das Dach des Südflügels aus Italien importieren soll.

Kurz gesagt, es ist ein Kriegsschauplatz.

Sie beginnen, sich zu entspannen, wenn Sie sich in das weiche schwarze Leder Ihrer gepanzerten Limousine fallen lassen, aber richtig sicher fühlen Sie sich erst, wenn Sie in den Schlund der Tiefgarage eintauchen und – ah! – im privaten Aufzug ins Shangri-La Ihres riesigen Penthouse-Büros fahren. Das mit einem geschmacklosen Cocobolo-Schreibtisch aufwartet, mit ironischem Pseudo-Jetsons-Ramsch aus der Jahrhundertmitte, vergoldetem Diktator-Chic oder was auch immer Ihnen hilft, sich wichtig oder jünger zu fühlen.

Es ist Ihr Schloss, Ihr Hof, Ihr Reich, der Ort, an dem Sie König sind, an dem Ihr Wort Gesetz ist.

Hin und wieder kommen Sie aus einer Vorstandssitzung oder einer Verhandlung, und die Bauern senken ihre Häupter, wenn Sie vorbeigehen. Dann fühlen Sie sich gewollt. Geliebt.

Und genau deshalb lässt Ihre Wachsamkeit nach.

So mag ich es.

7

Wie sich herausstellt, steht doch ein Sicherheitsmann vor dem Saal. Er muss eben, als ich vorbeigekommen bin, kurz drinnen gewesen sein.

Kein Problem. Mir gefällt es, wenn sich zeigt, dass ich mich geirrt habe.

Der Kerl ist ein Riese, ein Berg aus Muskeln und Testosteron in einem Anzug, der eine Nummer zu klein ist. Seine Haare sind kurz geschoren, auf seinen rosa Schweinsöhrchen sitzt eine dieser grässlichen «taktischen Sonnenbrillen», die alle Sicherheitstypen für obligatorisch halten, die aber laut Erektionsstörung rufen und in geschlossenen Räumen bloß die Sicht mindern, wenn man es plötzlich mit Leuten wie mir zu tun bekommt.

Im Saal sitzen sechs Zielpersonen, und das Magazin der VP9 fasst nur fünf Patronen, daher hätte ich sowieso nachladen müssen. Ich gehe an dem Kerl vorbei, bleibe dann stehen und sage «Hey!» zu jemandem, der mir im Gang folgt. Der Sicherheitstyp dreht sich um, weil er sehen will, mit wem ich rede. Dummerweise ist niemand da, und ich jage ihm eine Kugel in die Schläfe. Ein blutiger Rorschach-Klecks spritzt auf das Rauchglas der Konferenzraumtür. Ein Teil von mir bedauert ihn, aber wenn man mitspielt, spielt man mit.

Ich muss über seine Leiche steigen, um in den Konferenzraum zu gelangen, wo die Ersten schon in Panik aufgestanden sind.

Noch vier Schüsse.

Von den drei männlichen Bereichsleitern in den Dreißigern dürfte die größte physische Bedrohung ausgehen. Es ist die Art Typ, die mit Mountainbike und CrossFit gegen die Auswirkungen der endlosen Abendessen und Cocktails ankämpft. Und Kunden ihr Geld oder Frauen, mit denen sie nicht verheiratet sind, die Unterwäsche abschwatzt. Oder beides gleichzeitig.

Plop, plop, plop. Erledigt, erledigt, erledigt.

Am Rand meines Gesichtsfelds kriecht ein Mittzwanziger an der Wand entlang Richtung Ausgang. Er zittert vor Angst. Ich schieße eine Kugel in die Wand, gleich neben seinem Kopf, um ihm klarzumachen, dass er ein verdammter Idiot ist. Und weil ich sowieso nachladen muss. Er sieht seinen Fehler ein und rollt sich in Fötushaltung zusammen.

Guter Junge.

Ich lade nach, mit Bewegungen, die mir so in Fleisch und Blut übergegangen sind, dass ich sie im Schlaf ausführen könnte. Hin und wieder tue ich das auch, wie mir Leute versichert haben, die es wissen müssen.

Ich arbeite mich im Organigramm weiter nach oben. Die Controllerin ist eine Frau in den Fünfzigern mit tantenhafter Ausstrahlung. Sie zu töten würde mir schwerer fallen, wenn ich nicht wüsste, dass die Zahlungen und Bilanztricks, mit denen sie jongliert, der Finanzierung von Panzern, Hubschraubern und automatischen Waffen dienen, die über Dritte und mit gefälschten Ausfuhrbescheinigungen an Regime geliefert werden, denen die Interessen und das Wohlergehen ihrer Bürger aus Prinzip gleichgültig sind.

Ich will mich nicht als Wohltäter im öffentlichen Interesse aufspielen, aber jedes Tun hat Konsequenzen.

Der Hauptgeschäftsführer ist Anfang sechzig. Er sieht aus, als hätte er gerade einen Herzinfarkt erlitten, was dann sein fünfter oder sechster sein dürfte. Aufgrund meiner Recherchen weiß ich, dass eine brasilianische Mine, die er mitfinanziert hat, ungefähr hundert indigene Arbeiter das Leben gekostet hat. Ihn mit einer Veterinärpistole einzuschläfern, kommt mir auf seltsame Weise passend vor.

Sodass nur noch der alte Mann übrig bleibt.

Ich meine, fast bewundere ich diesen Typen.

Sie erinnern sich bestimmt an Adnan Khashoggi. Den Waffenhändler, der in den 1980ern vier Milliarden Dollar besessen hat? In einer Zeit, als vier Milliarden noch richtig Geld waren. Er hat geholfen, den Iran-Contra-Deal einzufädeln, und war dick befreundet mit Imelda Marcos. Bei seinem Tod hatte er keinen Penny mehr. Wo ist das ganze Geld hingekommen?, werden Sie fragen.

Die Antwort steht vor mir.

Er ist über achtzig und hat nicht mal Angst. Dass dieser Moment kommen würde, ist ihm seit Jahren klar, wahrscheinlich seit Jahrzehnten.

Er lächelt, seine Zähne sind krumm und gelb. Man sieht das oft bei reichen Männern, die aus armen Verhältnissen stammen. Die schlechten Zähne sind Ausdruck von Stolz, eine Erinnerung daran, woher sie stammen, ein Scheiß-auf-dich für alle, die sich ein Urteil über sie erlauben.

«Junger Mann», sagt er auf Deutsch. «Was immer man Ihnen bezahlt …»

Bevor er den Satz beenden kann, schieße ich ihm zweimal in die Brust.

Aus irgendeinem verrückten Grund reicht das nicht.

Er bewegt sich noch immer, Blut rinnt ihm aus dem Mund.

Die letzte Kugel schieße ich ihm in den Kopf.

8

Das alles dauert keine zehn Sekunden. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und fotografiere die Toten. Während ich das tue, registriere ich das Heulen und Wimmern derer, die ich am Leben gelassen habe. Dann gehe ich hinaus.

Leute kommen aus ihren Büros. Hinter mir schreit jemand, dem gerade bewusst geworden ist, was passiert ist. Ich halte die Pistole deutlich sichtbar, aber auf den Boden gerichtet. Niemand versucht, einen Mann mit einer Waffe aufzuhalten, der gerade sechs Leute umgebracht hat – nein, Moment, sieben. Ich komme am Büro von Gerhard vorbei, der mich verständnislos anstarrt. Bashir, der Gute, kommt mir aus der Küche mit dem Espresso macchiato entgegen. Ich könnte ihn wahrhaftig gebrauchen, aber das Timing ist schlecht. Zielstrebig gehe ich auf den Lastenaufzug zu, nicht weil ich ihn benutzen will, sondern weil direkt daneben eine Fluchttreppe liegt, der beste Weg nach unten.

Abgesehen von dem unerwarteten Sicherheitsmann ist bis jetzt alles exakt nach Plan verlaufen.

Was mich zwangsläufig nervös macht.

Und dann passiert es. Ich höre etwas – eine Frauenstimme, die Du Bastard brüllt. Ich drehe mich um und sehe sie auf mich zulaufen. Sie ist mit dem Blut anderer Menschen bespritzt, eine wagnerianische Furie im Businesskostüm. In der Hand hält sie etwas, das ich zuerst nicht richtig erkennen kann. Dann sehe ich, dass es sich um ein Freisprechtelefon aus dem Konferenzsaal handelt, das sie buchstäblich vom Tisch losgerissen hat. Im Kopf spiele ich die Szene von eben noch einmal durch. Sie saß links neben einem der CrossFit-Typen. Als ich reinkam, lächelte sie ihn gerade an. Ihre linke Hand war nicht zu sehen. Scheiße.

Sie muss auf seinem Oberschenkel gelegen haben.

Ich habe ihren Lover direkt vor ihren Augen erschossen.

Profitipp: So etwas sollte man grundsätzlich vermeiden.

Sie hat mich jetzt beinahe eingeholt. Instinktiv hebe ich die Pistole, aber sie ist Zivilistin, und um einen Grund zu finden, sie zu hassen und mich so von der Schuld freizusprechen, fehlt mir die Zeit. Notwehr kommt nicht infrage, wo sie nur mit einem Freisprechtelefon und ihrer nachvollziehbaren Wut bewaffnet ist.

Abgesehen davon ist mein Magazin leer. Ich hatte geplant, drei Schüsse in Reserve zu behalten, normalerweise ist das mehr als genug, aber einen habe ich für den Sicherheitsmann gebraucht, einen in die Wand gejagt und den dritten in den alten Mann.

Ich tue das Einzige, was mir einfällt. Als ich an der Küche vorbeikomme, schnappe ich mir die Kaffeekanne und werfe damit nach der Frau. Praktisch im selben Moment schleudert sie mir das Telefon entgegen. Die beiden Gegenstände fliegen aneinander vorbei. Die Kaffeekanne trifft sie genau auf die Brust, die Flüssigkeit läuft an ihrer Kostümjacke herunter. Da es sich um Bürokaffee handelt, dürfte sie keine schweren Verbrennungen davontragen.

Das Freisprechtelefon dagegen … Ich weiß nicht, woher zum Teufel die Frau diese Kraft nimmt, aber Wut und Kummer haben ihr einen Arm verliehen, mit dem sie für jede Baseballmannschaft ein Gewinn wäre. Das Gerät fliegt mit wild herumwirbelnden Kabeln auf mich zu wie eine Art überdimensionierter Wurfstern. Und trifft mich mitten auf die Stirn.

Nach einer Sekunde komme ich wieder zu mir, aber da bin ich schon zu Boden gegangen, und aus allen möglichen Richtungen laufen Leute auf mich zu. Sie sehen mich nicht mehr als skrupellosen Attentäter, sondern als einen Schwächling, der mit lauwarmem Kaffee nach Karrierefrauen wirft.

Mühsam komme ich auf die Beine. Die Treppe kommt jetzt nicht mehr infrage, also ergreife ich die einzige Möglichkeit: in den Lastenaufzug treten, den Knopf drücken, die VP9 heben und hoffen, dass niemand a) mitgezählt hat und b) weiß, wie viele Schüsse das Magazin einer VP9 hat.

Meine Verfolger sehen die Waffe und bleiben vor der Tür stehen. Es ist eine Pattsituation. Niemand weiß genau, was er tun soll.

Warum gehen die verdammten Türen nicht zu? Noch einmal drücke ich den Knopf.

Dann höre ich eine Stimme hinten aus dem ängstlichen, wütenden Mob. Irgendein schwachköpfiger aknegeplagter Poststellenassistent.

«Das ist eine VP9», sagt er auf Deutsch. «Die hat nur fünf Schuss. Ich habe zehn gezählt.»

Sie wollen sich auf mich stürzen.

Und prallen gegen die sich schließenden Türen.

9

Ich verlasse das Haus in einem gestohlenen Hausmeister-Overall, dabei tupfe ich mir mit einem blauen Papiertuch das Blut von der Stirn. Die deutsche Polizei und Antiterroreinheiten sind mit heulenden Sirenen auf dem Weg zum Potsdamer Platz.

In manchen Situationen ist Sicherheit durch Unsichtbarkeit trotz allem die erste Wahl.

Der Auftritt gerade war keine Sternstunde. Aber die Zielpersonen sind tot, Zivilisten nicht zu Schaden gekommen – es sei denn, Sie zählen den Sicherheitsmann dazu, was ich nicht tue, und die drei CrossFit-Jungs, die ich, offen gesagt, aus ihrem Elend erlöst habe. Ich prüfe meinen Puls. Neunzig mit Tendenz nach unten.

Alles wird gut.

Ich male mir schon das Hotelzimmer aus, die Dusche, die frische Kleidung, die ich unterwegs kaufe, das Abendessen, die Bar, die Vergnügungen und Abenteuer, die der Abend noch bieten könnte. In diesem Moment klingelt mein Telefon. Ich muss keinen Blick auf die Nummer des Anrufers werfen, denn es gibt nur eine Person auf der Welt, die diese Nummer hat. Das Problem ist, dass er mich wirklich, wirklich, wirklich nicht anrufen sollte.

Ich gehe dran.

«Was ist los, verdammt? Du weißt, dass du mich nicht …»

«Halt den Mund und hör zu», sagt Handler. Und das tue ich, denn wenn Handler Mundhalten sagt, meint er es auch so. «Wo bist du?»

«Berlin.»

Ich antworte bewusst vage. Zwar habe ich ein Wegwerfhandy, erst gestern gekauft. Und ich hatte es die ganze Zeit ausgeschaltet, bis ich das Gebäude verlassen habe. Niemand ist in der Lage, mich über das Handy aufzuspüren. Aber man kann nie vorsichtig genug sein.

«Dass du verdammt noch mal in Berlin bist, weiß ich. Wo in Berlin?»

«Mitte.»

«Gut», sagt Handler. «Wir haben einen neuen Auftrag. Ist gerade reingekommen.»

«Wer?»

«Als würde das etwas ausmachen.»

«Nein, ich meine …»

«Wir haben keine vollständige Beschreibung. Männlich, Bart, eins fünfundsiebzig. Ethnische Zugehörigkeit unklar.»

«Das schränkt die Auswahl natürlich ein», sage ich. «Dann lege ich gleich los.»

«Es geht um eine kurze Übergabe im Tiergarten, zwischen 18:00 und 19:00 Uhr Ortszeit.»

«Übergibt oder übernimmt er?»

«Letzteres.»

«Ware?»

«Unbekannt. Jedenfalls hat der Klient mir nichts darüber gesagt.»

«Irgendwelche Informationen über die andere Partei?»

«Eine Frau. Sie schiebt einen Kinderwagen mit Zwillingen. Auf dem Starbucks-Becher im Halter steht ein Name, der mit N anfängt.»

Ich halte kurz inne und sehe mich um. Nichts deutet darauf hin, dass mir jemand folgt. Soweit ich sehen kann, ist die Luft rein. Trotzdem läuten in meinem Kopf die Alarmglocken.

«Komm schon, Handler», sage ich. «Das ist Bockmist.» Denn das ist offensichtlich. «Wir leben nicht im Jahr 1985. Eine Übergabe im Vorübergehen in Berlin, so eine richtig altmodische Spionagenummer? Vielleicht sollten wir es dann besser gleich bei Nebel am Checkpoint Charlie durchziehen, mit Musik von Visage.»

Am anderen Ende der Leitung herrscht Schweigen. Ich nerve ihn. Und wenn schon.

«Willst du den Job oder willst du ihn nicht?»

«Eigentlich nicht.»

«Soll ich dir sagen, wie viel er einbringt?»

Das tut er, und ich erlebe etwas, das ich nur als einen Augenblick intensiver Gefühle bezeichnen kann.

«Bist du noch da?», fragt er.

«Wie lauten die Vorgaben?»

«Der Klient will die Ware. Ende.»

Er legt auf. Ich schaue auf die Uhr. Es ist schon 17:30.

10

Der Tiergarten ist riesig, einer dieser weitläufigen herrschaftlichen Freizeitparks wie auch der Buen Retiro in Madrid, wo gekrönte Häupter ihre Neurosen ausleben und statt des gemeinen Volkes einfach Hirsche zur Strecke bringen konnten. Sich dort mit jemandem zu verabreden ist ungefähr so, als würde man sagen: «Wir treffen uns in Ohio.»

Ein sogenannter «Brush Pass» ist allerdings nicht gänzlich ohne physischen Kontakt möglich. Zwei Leute stoßen sich im Vorübergehen an, eine Notiz oder ein Gegenstand wird in eine Tasche geschoben, ein Aktenkoffer übergeben. Es funktioniert nur da, wo auch andere Menschen sind – eine Menge Menschen, die in verschiedene Richtungen gehen. Nur so erweckt ein kurzer körperlicher Kontakt keine Aufmerksamkeit.

Im Park gibt es zwei offensichtliche Möglichkeiten. Die eine ist der Zoologische Garten. Mittags wimmelt es dort von Schulkindern, geführten Gruppen, Liebespaaren und älteren Berlinern mit Saisonkarten. Es gibt viele kleine Nischen und dunkle Orte, Gehege und Schlangenhäuser, wo eine ungestörte Übergabe möglich ist. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto weniger verlockend erscheint es mir. Der Zoo hat bis halb sieben geöffnet, ab sechs beginnt die tote Zeit, wo alle gehen, schon zu Hause beim Essen sitzen oder in einer Bar, um auf ein Date zu warten. Wenn man unter Beobachtung steht – und nur dann ergibt ein «Brush Pass» Sinn – ist es keine gute Idee, ausgerechnet dann in den Zoo zu gehen, wenn alle anderen sich aus dem Staub machen.

«Na, Sergej, wir sind dir den ganzen Tag gefolgt. Und stell dir vor: Du bist in den Zoo gegangen. Du, dem die Natur ansonsten scheißegal ist, hast plötzlich beschlossen, von deinem üblichen Heimweg abzuweichen und um sechs Uhr abends den Berliner Zoo zu besuchen. Wir haben uns deinen Internet-Suchverlauf angeschaut und festgestellt, dass die einzige Seite, die dich interessiert hat, die mit den Öffnungszeiten war. Bitte erklär uns das.»

Natürlich hast du eine Tarngeschichte parat. Trotzdem möchtest du gerne auf diese Art Unterhaltung mit den muskulösen Kerlen der Abteilung Fünf verzichten.

Der andere mögliche Ort ist die Siegessäule, der totemistische koloniale Phallus, der erigiert im Zentrum des Tiergartens steht. Auf der Spitze erhebt sich wie metaphorisches Preußensperma eine golden schimmernde Statue der römischen Siegesgöttin Victoria.

Es gibt keine Garantie, dass die Übergabe tatsächlich dort stattfinden soll, aber ich beschließe, das Risiko einzugehen.

 

Als ich die Tiergartenstraße überquere, habe ich Zeit zum Nachdenken. Warum eine physische Übergabe? Es gibt tausend digitale Möglichkeiten einer sicheren Kommunikation: ProtonMail, Tor, Signal … Himmel, sogar Zoom bietet inzwischen professionelle End-to-End-Verschlüsselung. Dennoch gibt es gute Gründe für eine altmodische Übergabe in der realen Welt.

Für einen stinknormalen Drogenhändler, Geldwäscher, Waffenhändler oder Pädophilen ist die kommerziell erhältliche Verschlüsselungstechnik wahrscheinlich ausreichend. Aber wenn Sie etwas wirklich Böses tun, etwas, das die nationale Sicherheit von wem auch immer bedroht, dann sollten Sie darauf achten, nicht auf dem Radar dieser Leute zu erscheinen – sonst geht nichts mehr. Die bittere Wahrheit lautet, dass Sie als Individuum gegen die Macht eines staatlichen Geheimdienstes nichts ausrichten können. Denn dieser verfügt über ein Milliarden-Dollar-Budget, die klügsten Köpfe einer Generation und eine Technologie, die allem, was der Markt zu bieten hat, zehn Jahre voraus ist.

Der einfachste Weg besteht darin, ein Rootkit auf Ihrem Gerät zu installieren – Ihrem Handy, Ihrem Computer, Ihrer Apple Watch – und damit heimlich die komplette Kontrolle und Zugriff auf alles zu bekommen. Oder einen komplexen Side-Channel-Exploit zu nutzen, der Informationen aufspürt, die im Datenspeicher Ihres Geräts zurückbleiben. Man kann auch einen voll funktionsfähigen, vernetzten Computer im Anschlusskabel der Tastatur unterbringen. Oder … Sagen wir einfach, ich habe die Möglichkeiten nur oberflächlich skizziert.

Ein einfacher «Brush Pass» mit einer handgeschriebenen Notiz entzieht sich alldem. Wirklich genial.

Ich habe den halben Weg hinter mir. Auch die Wahl des Tiergartens erschließt sich mir allmählich. Wie jede westliche Hauptstadt ist Berlin mit einem Netz von Überwachungskameras ausgestattet. Ein großer Teil der Aufnahmen landet in einem zentralen System, das automatisch Dinge wie Autokennzeichen und biometrische Daten erfasst. Für den zivilen Nutzen gibt es strikte Regeln, aber solche Regeln sind Geheimdiensten egal. Vielleicht glauben Sie tatsächlich, dass die NSA, die weltweit alle großen Internet-Datenautobahnen anzapft, keinen Zugriff auf sämtliche Kameras und Ihre dort festgehaltenen biometrischen Daten hat. Aber Hand aufs Herz: Würden Sie Ihr Leben darauf wetten?

Im Tiergarten gibt es praktisch keine Kameras.

Also ergibt das Ganze einen gewissen Sinn. Was bedeutet, dass diese Leute ihre Arbeit verdammt ernst nehmen. Dass das, was sie tun, möglicherweise Menschenleben bedroht, Hunderte vielleicht oder sogar Tausende von Menschenleben.

Was mich auf eine neue, noch verstörendere Frage bringt.

Warum ich?

Ja, ich bin gut. Und ich bin vor Ort. Aber ich diene keiner Nation, und Berlin ist bis heute eine der Hauptstädte der Spionage weltweit, der Inbegriff des Kalten Kriegs. Alle großen Geheimdienste unterhalten hier Stützpunkte. Es gibt mindestens acht Organisationen, die binnen zehn Minuten mit einem kompletten Team im Tiergarten anrücken könnten, drei davon mit Luftüberwachung. Ganz ohne Außenseiter wie mich.

Wenn ich an die Summe denke, die sie mir zahlen, wäre das wahrscheinlich sogar billiger.

Inzwischen bin ich fast da. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, Handler anzurufen, aber ich weiß, dass es sinnlos ist.

Der Job ist der Job ist der Job.

11

Die Siegessäule steht im Zentrum eines riesigen Kreisverkehrs, wo fünf Berliner Prachtstraßen aufeinandertreffen. Als Fußgänger gelangt man in vier unter den Straßen verlaufende Tunnel, je zwei Aufgänge führen zur östlichen und westlichen Seite der Verkehrsinsel.

Für einen «Brush Pass» lässt sich keine exakte Zeit verabreden. Beide Seiten müssen sichergehen, dass sie nicht verfolgt werden, was unbestimmte Zeit dauern kann. Immer erscheint jemand zuerst am Treffpunkt, und er braucht eine Möglichkeit, um dort zu warten, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.

Mitten in diesem Kreisel gibt es nur die Säule selbst. Teenager und Paare machen es sich auf dem Betonsockel gemütlich, Kinder laufen herum und spielen Fangen, Touristen suchen bei Tripadvisor nach einem guten Tipp fürs Abendessen.

Auch ich gehe auf die Säule zu und ziehe eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche, die ich unterwegs gekauft habe. Nicht weil ich rauche, sondern weil das Rauchen mir einen Vorwand liefert, hier herumzusitzen und mich umzuschauen. Ich trage immer noch den Hausmeister-Overall, eine von zahllosen Bremsspuren in der Unterwäsche der Großstadt.

Ich warte fünfundzwanzig Minuten und sehe Männer mit Bärten, aber sie gehen schnell vorüber, ohne sich umzusehen. Eine Frau mit Zwillingen taucht auf, aber sie sitzen nicht im Kinderwagen und sind fünf oder sechs Jahre alt. Außerdem fehlt der Starbucks-Becher, stattdessen hat sie ihren Mann dabei.

Als ich mich gerade bei der Frage ertappe, ob er überhaupt kommen wird, ist er plötzlich da. Ein Mann in den Fünfzigern, ergrauend, mit einem gepflegten Bart und Stirnfransen, irgendwie seltsam, als wäre er ein Kind oder Moe von der Komikertruppe The Three Stooges.

Er kommt direkt auf die Säule zu und setzt sich neben mich. Clever, so würde ich es auch machen. Auf die Art kann er mich abchecken, ohne dass es auffällt, und gleichzeitig verhindern, dass ich ihn gründlicher betrachte. Ich biete ihm eine Zigarette an. Er winkt ab, aber dabei kann ich ihn in Ruhe ansehen. Er ist nervös, Daumen und Zeigefinger reiben ständig aneinander. Er nimmt die Nickelbrille ab, putzt sie mit seiner Krawatte, setzt sie dann wieder auf und lässt den Blick schweifen.

Er wartet auf jemanden, den er nicht kennt.

Wir sitzen dort ungefähr zehn Minuten. Ich rauche noch zwei Zigaretten. Es schaut dreimal auf die Uhr.

Er sieht sie als Erster. Ich erkenne es daran, dass seine Finger plötzlich still halten.

Ich folge seinem Blick und entdecke sie auch, da, wo die Rampe der Unterführung ans Tageslicht kommt. Sie ist Ende zwanzig und trägt die schwarzen Haare in einem Pferdeschwanz. Sie stammt aus dem Nahen Osten oder Südeuropa, trägt ein pinkfarbenes Top mit der aus Pailletten gebildeten Aufschrift BEBE, Jeans, einen Hidschab und weiße Sneakers. In ihrem Doppelkinderwagen sitzen Zwillinge. Sie bleibt stehen, nimmt einen Kaffeebecher aus dem Halter, trinkt und hält ihn so, dass das Starbucks-Logo und der Name – Nasrin – deutlich zu sehen sind.

Moe steht auf. Er geht die Stufen hinunter, auf die Frau mit den Zwillingen zu. Ich lasse ihn gehen. Es ist gut gemacht. Sie steht mitten vor dem U-Bahn-Aufgang, sodass sie ihn mehr oder weniger blockiert und es ganz natürlich wirken muss, wenn der Mann dicht an ihr vorbeigeht. Als er das tut, nimmt er den Starbucks-Becher so schnell an sich, dass man es kaum mitbekommt, und verschwindet in der Dunkelheit der Unterführung.

Ich warte, um mich nicht zu verraten. Nach ein paar Sekunden schiebt sie den Kinderwagen weiter, ich eile die Stufen hinunter in den Tunnel. Es dauert einen Moment, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen, und ich glaube fast, ihn verloren zu haben. Dann aber sehe ich ihn Richtung Englischer Garten gehen.

Der Overall, ursprünglich als Verkleidung gedacht, wird jetzt zum Problem. Mit ein paar Minuten Vorbereitungszeit hätte ich eine Baseballkappe, eine Jacke oder irgendwasmitgebracht, das ich aus einem Rucksack oder einer Kuriertasche ziehen könnte, um in aller Eile mein Äußeres zu verändern. Aber ich habe nichts, und im Augenblick bliebe mir nichts anderes übrig, als einen Passanten wegen seiner Klamotten zu überfallen oder mich bis auf die Boxershorts auszuziehen.

Moe geht am Teehaus vorbei Richtung Norden. Ich folge ihm in gewissem Abstand. Er ist gut. Weder schaut er sich um, noch zeigt er besondere Anzeichen von Nervosität. Um etwas zu unternehmen, ist es hier viel zu belebt, aber wahrscheinlich ist er unterwegs zur S-Bahn-Station Bellevue, wo sich zahllose Möglichkeiten bieten dürften.

Als er gerade am flachen brutalistischen Quader der Akademie der Künste vorbeigeht, tut er etwas Unerwartetes. Er hält an, um Kindern an einem Klettergerüst auf dem Spielplatz zuzusehen. In Wirklichkeit gibt ihm das die Möglichkeit, nach einem Verfolger Ausschau zu halten. Ich bin knapp zweihundert Meter hinter ihm, aber der Overall, neben dem er gesessen hat, ist verräterisch. Er sieht mir in die Augen, und ich weiß auf der Stelle, dass er mich entdeckt hat.

Scheiße.

Er wendet den Blick nicht ab. Stattdessen schaut er mir direkt in die Augen, nimmt demonstrativ den Deckel des Kaffeebechers ab, trinkt ihn leer und wirft ihn in einen Mülleimer.

12

Das eigentliche Problem?

Möchtegerns.

Vollidioten, die glauben, sie hätten alles, um Eighteen werden zu können.

Diese Gedanken kommen mir in dem düsteren Loch der Bar des Boutique-Hotels, in dem ich eingecheckt habe. Ich trage von Kopf bis Fuß Gap-Klamotten – was ich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit korrigieren werde –, bin frisch gebadet, habe halbwegs anständig gegessen und lasse mich von der sanften Glut des dritten Dirty Gin Martini wärmen. Seltsam, heute Morgen war ich davon ausgegangen, dass ich mit zehn 9-mm-Patronen mein Tagewerk hinter mich gebracht hätte.

Das Foyer hat sich in einen Nachtclub verwandelt, zur hämmernden Musik eines DJs drängen sich Fußballspieler und ihre aufgedonnerte Gefolgschaft auf der Tanzfläche, darunter eine ganze Anzahl unglaublich dünner Frauen mit osteuropäischen Wangenknochen, zehn Zentimeter hohen Absätzen und Handtaschen. Durch die Tür sehe ich in die Luft gereckte, von Wunderkerzen beleuchtete Champagnerflaschen. Irgendein naiver Trottel im VIP-Bereich blättert zwei Tausenderscheine Trinkgeld hin, um seine ebenso naiven, trotteligen Freunde zu beeindrucken.

Ich will nicht herablassend klingen, so etwas habe ich selbst schon gemacht.

In der Bar ist es so dunkel, dass ich kaum meine Hände sehen kann. Inzwischen sind sie sauber. Drüben ist alles in Schwarzlicht getaucht, das Stampfen des TR-808-Drumcomputers lässt den Boden erzittern. Normalerweise setze ich mich so, dass ich den Eingang im Blick behalte, aber nach dem anstrengenden Tag habe ich mich an den Tresen gehockt.

Wenn irgendein Thronaspirant es auf mich abgesehen hat, scheiß drauf.

Sollen die Würfel fallen, wie sie fallen.

 

Der Tag war hart. Ich habe immer noch Kopfschmerzen von dem Freisprechtelefon, und aus irgendeinem Grund lassen mich der Kummer und der Hass im Gesicht der Frau nicht los, als sie mit dem Gerät nach mir geworfen hat, sosehr ich mich auch bemühe, dieses Bild abzuschütteln. Eigentlich seltsam, da wahrhaftig Schlimmeres passiert ist.

Im Safe meines Zimmers liegt ein kleiner, versiegelter, gepolsterter Umschlag mit einem Ziploc-Beutel. Im Beutel steckt eine 64-GB-Speicherkarte, so klein wie ein Fingernagel. Sie ist immer noch blutverschmiert. Und irgendwo kurz vor der Endhaltestelle der U9 zerbricht sich die deutsche Polizei jetzt den Kopf wegen einer Leiche, die auf den Schienen entdeckt wurde. Ein Mann zwischen fünfzig und sechzig mit Bart und Three-Stooges-Frisur. Ein Zug hat ihm den Kopf abgetrennt, man hätte es fast als Selbstmord abtun können, nur dass er vorher erwürgt wurde und die Eingeweide aus seinem aufgeschlitzten Bauch hingen.

Ich könnte so tun, als wäre ich es nicht gewesen, aber ich schätze, ich schulde Ihnen die Wahrheit, mehr oder weniger.

Die ganze Operation ist von vorn bis hinten irritierend. Die persönliche Übergabe. Der Anruf auf den letzten Drücker, der mir keine Zeit zum Nachdenken gelassen hat. Der Zufall, dass es ausgerechnet zu dem Zeitpunkt über die Bühne ging, als ich in Berlin war. Die aberwitzige Entschlossenheit des Mannes, mit der er die Speicherkarte geschluckt hat, obwohl ihm klar sein musste, dass er damit sein Todesurteil unterzeichnete. Der Gestank von Blut und Darmgasen, vermischt mit dem beißenden Ozongeruch der Stromschiene, als ich ihm den Bauch aufgeschlitzt und meine Hand in die noch warmen Innereien gesteckt habe. Aber was mich am meisten irritiert, ist das, was er gesagt hat, als er vor mir durch den U-Bahn-Schacht geflohen ist, das Gesicht erleuchtet vom Natriumlicht der hundert Meter hinter mir liegenden Haltestelle.

Als ich näher kam, hat er es wieder und wieder gesagt, zunehmend verzweifelt, als würde er davon ausgehen, dass ich ihn verstand.

Parachute. Parachute. Parachute.

Als ich nicht reagierte, drehte er sich um und rannte los. Ich verfolgte ihn über die Schienen und warf mich auf seine Beine. Einen Schuss konnte ich nicht riskieren, auch nicht mit der VP, denn das, was ich vorhatte, konnte eine Weile dauern, und ich durfte keine Aufmerksamkeit erwecken. Also habe ich ihn erwürgt.

Und selbst in diesem Moment noch versuchte er, mir etwas mitzuteilen.

Parachute. Parachute. Parachute.

Bis das Licht aus seinen Augen schwand.

13

Die Musik ist so laut und die Bar so dunkel, dass ich sie erst bemerke, als sie sich neben mich setzt.

Sie hat ein Businesskostüm an, ist Ende zwanzig oder Anfang dreißig und trägt eine dieser Frisuren, die so einfach und präzise sind, dass man weiß, sie hat eine mittlere dreistellige Summe dafür hingeblättert. Ihr Make-up ist unauffällig, die Hände sind schlank, ein Fingernagel ist abgekaut. Sie bestellt einen Gin Martini, sehr trocken, dirty, straight up, mit einer Olive.

«Zwei Dumme, ein Gedanke», sage ich auf Englisch und deute auf mein Glas.

«Vielleicht.» Sie hat einen mitteleuropäischen Akzent. Möglicherweise tschechisch? Aber Lust auf eine Unterhaltung hat sie definitiv nicht, vor allem mit einem Idioten wie mir, der eindeutig nur auf das Eine aus ist. Weitere Ermutigung brauche ich nicht.

«Harter Tag?»

Keine Antwort. Sie hebt ihr Glas, und ich merke, dass ihre Hand ein wenig zittert.

«Ich auch», sage ich.

Dann wende ich mich wieder meinem Drink zu.

Über der Bar hängt ein stumm geschalteter Fernseher, gerade laufen Nachrichten. Das Gebäude in der Nähe des Potsdamer Platzes ist im Bild, umringt von Krankenwagen, Polizeiautos, Pressefahrzeugen, sogar ein Kommandowagen der Antiterroreinheit ist zu sehen.

Sie sieht einen Moment hin und sagt: «Normalerweise wäre ich dort gewesen.»

«Wie bitte?»

«In dem Raum, wo die Menschen umgebracht wurden. Ich hätte dort sein sollen.»

Ich starre sie an. Ihr Gesicht sagt mir nichts, ich habe es ganz sicher auf keinem Organigramm gesehen. Anderseits ist sie keine Assistentin: Das Alter passt nicht, ihre Kleidung ist zu teuer, und ihr ganzes Auftreten schreit «Führungskraft».

«Wie das? Und warum waren Sie nicht da?»

«Ich bin gerade hierher versetzt worden. Ich sollte einem der älteren Mitarbeiter über die Schulter sehen. Aber irgendein Idiot ist auf meinen Wagen aufgefahren, als ich auf dem Weg zur Arbeit war. Ich musste mich eine Dreiviertelstunde mit der Polizei und der Versicherung herumschlagen. Als ich dann endlich ein Uber …»

Sie verstummt.

«Scheiße», sage ich. Kein Wunder, dass ihr die Hände zittern. «Haben Sie jemanden gekannt? Von den Leuten, die getötet wurden?»

Sie schüttelt den Kopf. «Ich bin erst vor ein paar Tagen aus Straßburg gekommen. Da hatten wir mit den Leuten vom Hauptsitz nicht viel zu tun.»

Gerade werden im Fernsehen Fotos der Toten mit ihren Familien gezeigt.

«Haben Sie eine Ahnung, wer diese Leute umbringen wollte?»

Sie starrt mich an.

«Der alte Mann, die Söhne … Die hatten Blut an den Händen. Natürlich haben sie selbst niemanden getötet, eigenhändig. Aber sie haben es verdient.»

«Und trotzdem arbeiten Sie da?»

«Ich habe da gearbeitet. Ich denke …»

«Dass es Gottes Art und Weise war, Ihnen eine andere Stelle nahezulegen.»

«Ich glaube nicht an Gott», sagt sie.

«Ich auch nicht.» Dann bestellen wir beide noch etwas zu trinken.

14

Sie heißt Adela und ist tatsächlich Tschechin. Ihr Nachname – Nepovim – bedeutet: «Ich werde nichts sagen.» Offenbar funktionieren tschechische Nachnamen auf diese Weise. Sie hatte mal einen Freund mit Nachnamen «Mit Dünger fahren». Da sie neugierig auf meine Arbeit ist, erzähle ich etwas von einer Tätigkeit für die Regierung, wobei ich so viel wie möglich der Fantasie überlasse.

Am Ende des Abends sagt sie, sie habe keine Lust aufs Alleinsein, also fahren wir hoch auf mein Zimmer, trinken noch etwas und gehen dann ins Bett. Nachher liegen wir eine Weile Seite an Seite in angenehmem Schweigen, und ich denke über die Bedeutung der Narbe nach, die ich am unteren Teil ihres Rückens ertastet habe.

Eine Stunde später geschieht es. Ich spüre eine leichte Bewegung auf ihrer Seite des Betts und schnappe mir ihre Hand, in der sie ein zwanzig Zentimeter langes Keramikmesser hält, das sie aus der Tasche geholt hat, als ich im Bad war. Mit meiner anderen Hand ziehe ich die Pistole unter dem Kissen hervor, wo ich sie verstaut habe, als sie zur Toilette musste. Ich drücke sie ihr gegen die Schläfe.

«Lass das Messer fallen», sage ich, aber sie hört nicht auf mich. Also verstärke ich den Druck mit der Pistole, diesmal lässt sie die Waffe los. Ich setze mich auf und dränge sie auf ihre Seite des Betts. Sie hüllt sich in das Laken, als könnte es ihr Schutz bieten.

«Name?»

«Kovacs.»

«Ausgebildet in?»

«Belarus.»

«Was, dann gehörst du zu Ostermans Leuten?»