Ein Bild der Niedertracht - Val McDermid - E-Book + Hörbuch

Ein Bild der Niedertracht Hörbuch

Val McDermid

4,7

Beschreibung

Kein Toter schweigt für immer: Im sechsten Cold Case der Krimi-Reihe von Bestseller-Autorin Val McDermid geben ein Toter in einer Hummerfalle und eine skelettierte Leiche in einem Wohnmobil DCI Karen Pirie aus Edinburgh Rätsel auf. Was ein Hummerfischer erst für einen besonders guten Fang hält, erweist sich als neuer Fall für DCI Karen Pirie: eine männliche Leiche. Bei dem Toten handelt es sich um den Bruder eines schottischen Politikers, der vor Jahren spurlos verschwunden ist. Zur selben Zeit stößt eine Frau in der Garage ihrer kürzlich verstorbenen Schwester auf ein Wohnmobil, von dem sie nichts wusste – und auf ein menschliches Skelett. Auch dieser Fall landet auf dem Schreibtisch von Cold-Case-Expertin Karen Pirie. Akribisch und mit untrüglichem Instinkt folgt sie auch dem kleinsten Hinweis – bis in die mondäne Welt des Kunsthandels, in der die toughe Ermittlerin sich denkbar deplatziert fühlt. Da erhält Karen eine beunruhigende Nachricht: Ein Mörder, den sie selbst überführt hatte, ist wieder auf freiem Fuß … Val McDermids sympathisch-kantige Ermittlerin Karen Pirie verbeißt sich um so hartnäckiger in einen Cold Case, je unlösbarer das Rätsel scheint. Die vielschichtige und authentische Krimi-Reihe um die Ermittlerin aus Edinburgh ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Echo einer Winternacht - Nacht unter Tag - Der lange Atem der Vergangenheit - Der Sinn des Todes - Das Grab im Moor - Ein Bild der Niedertracht

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Zeit:13 Std. 38 min

Sprecher:Wolfgang Berger
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Val McDermid

Ein Bild der Niedertracht

Ein Fall für Karen Pirie

Aus dem Englischen von Kirsten Reimers

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Eine skelettierte Leiche in einem Wohnmobil gibt Cold-Case-Expertin Karen Pirie ebenso Rätsel auf wie ein Toter in einer Hummerfalle: Bei Letzterem handelt es sich um den Bruder eines als vermisst geltenden schottischen Politikers. Akribisch folgt Karen Pirie auch dem kleinsten Hinweis – bis in die mondäne Welt des Kunsthandels, in der die toughe Ermittlerin sich denkbar deplatziert fühlt. Es scheint um Kunstfälschung und Identitätsdiebstahl zu gehen, doch der Fall nimmt immer neue Wendungen. Da erhält Karen eine beunruhigende Nachricht: Ein Mörder, den sie selbst überführt hatte, ist wieder auf freiem Fuß …

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

Danksagung

Leseprobe »Die Gabe der Lüge«

Allen Freunden und Kollegen in Neuseeland einschließlich – aber nicht ausschließlich – des Kiwi-Fanclubs des Raith RoverFC, allen Lesleys/Leslies und ihren Sidekicks sowie den Baristas der Dispensary Bar. Wir vermissen euch – und ich werde wiederkommen!!

»Wie die Liebe ist Kunst immer eine Tauschhandlung, und die kann sich höchst kompliziert gestalten und schmerzlich sein, sagt Michelangelo […].«

 

Ali Smith: Wem erzähle ich das?

Prolog

Samstag, 15. Februar 2020

Billy Watson legte ohne jede Vorahnung vom Kai ab. Mit beiläufiger Vertrautheit lenkte er das siebenundzwanzig Meter lange Boot in den Hauptkanal des östlichen Hafens. Der Morgen unterschied sich nicht von unzähligen vorherigen: Es war bitterkalt, ein scharfer Nordwind schnitt ins Fleisch und ließ seine Wangenknochen schmerzen. Aber im Grunde war es schön, und der eierschalenblaue Februarhimmel verhieß keinen Regen. Am gegenüberliegenden Ufer traten die Umrisse von Berwick Law und Bass Rock so deutlich wie auf einem Gemälde hervor. Der scharlachrote Bug der Bonnie Pearl zerteilte die kalten Wasser des Firth of Forth und hinterließ eine dünne Linie aus weißem Schaum, die ihren Weg markierte.

Billy griff nach seinem Thermobecher mit Kaffee und nippte daran; für einen richtigen Schluck war er immer noch zu heiß. Er mochte es, den Kaffee in der Mikrowelle noch mal zu erhitzen, nachdem er Milch hinzugegossen hatte, damit er so lange wie möglich kochend heiß blieb. Ein Mann brauchte jede nur erdenkliche Hilfe, um an einem Wintermorgen im Mündungsgebiet des Forth warm zu bleiben.

Sein Cousin Jackie öffnete die Tür zum Steuerhaus einen Spaltbreit, schob sich hinein und versuchte, dabei möglichst wenig Wärme entweichen zu lassen. »Herrlicher Tag dafür«, sagte er. Das war eine von Jackies wenigen und vorhersehbaren Gesprächseröffnungen. »Bisschen rau, der Tag« war eine andere. »Ziemlich nass« war seine verlässliche Reaktion auf Regen.

»Aye«, sagte Bill und drosselte den Motor etwas. Sie hatten den Schutz des Hafens verlassen und erreichten nun die kabbeligeren Gewässer hinter der Zickzacklinie des Piers, der sich ins Meer erstreckte und die Hafenmauern vor den Flutwellen beschützte, die über die Küste hinwegfegten. Eine kleine Bewegung mit dem Steuerrad, und ihr Kurs änderte sich, sodass sie nun nach Osten fuhren. Die Isle of May erhob sich trotzig am Horizont wie ein Buckelwal. Als sie auf einer Höhe mit der alten Windmühle sowie den Höhlen und Hügeln der alten Saline waren, schaltete Billy in den Leerlauf und brachte die Bonnie Pearl mit einem gekonnten Manöver neben die erste Bake.

Jackies Sohn Andy kam in Billys Blickfeld, sein rollender Gang glich die hohe Dünung aus. Mit einer erfahrungssatten Leichtigkeit langte er mit einem Bootshaken über die Reling, um die Bake heranzuholen, die das Ende der Flotte aus trichterförmigen Hummerfallen markierte; der erste Fang des Tages. Wie jeden Morgen führte er das Seil in den Flaschenzug und ließ die Winde anlaufen.

Sogar vom Steuerhaus aus konnte Billy erkennen, dass es ein Problem gab. Das Seil war straff gespannt, aber kein Hummerkorb tauchte aus dem Wasser auf. Andy kämpfte, er hatte sich übers Dollbord gelehnt und versuchte, mit dem Bootshaken etwas auszurichten. »Solltest dem Jungen lieber helfen«, sagte Billy zu Jackie, der seufzte und hinausging. Die beiden Männer rangen mit dem Seil. Etwas schien sich darin verfangen zu haben, etwas, das die Winde blockierte. Billy konnte sehen, dass Jackie wortreich fluchte, seine Worte wurden vom Wind weggerissen.

Eine heftige Welle traf den Bug und drehte das Boot um neunzig Grad – genug, um den beiden Männern die Arbeit zu erleichtern. Sie taumelten ein paar Schritte zurück und gaben Billy den Blick frei auf das, was da im Wasser war.

Für einen Moment ergab es keinen Sinn. Billys Gehirn machte aus dem seltsamen Anblick eine ramponierte weiße Boje mit schrägen Streifen. Dann rekalibrierte er seinen Blick. Keine Boje hatte jemals Hals und Schultern gehabt.

Der erste Fang des Tages war ein ertrunkener Mann.

1

Sonntag, 16. Februar 2020

Detective Sergeant Daisy Mortimer ließ sich nicht so leicht den Appetit verderben. Doch heute starrte sie ihr Brötchen mit Speck und Ei, das sie sich zum Frühstück bereitet hatte, missmutig an. In jenem entscheidenden Moment, in dem sie das Ei auf den krossen Speck gegeben hatte und bevor sie Ketchup darauf tun konnte, hatte ihr Boss angerufen. »Morgen, Daisy«, hatte DCI Charlie Todd sie munter begrüßt. Sie konnte hören, wie seine beiden Kinder sich im Hintergrund stritten.

»Morgen, Sir.« Daisy hatte seine Fröhlichkeit erwidert und um Forschheit ergänzt. Schließlich mochte sie ihren Job und auch Charlie Todd.

»Ein Hummerboot aus St. Monans hat gestern eine Leiche geborgen. Unklare Todesursache, darum müssen wir bei der Autopsie dabei sein. Kommen Sie um zehn Uhr zur Leichenhalle in Kirkcaldy. Tut mir leid, dass ich Ihnen den Sonntag verderbe.« Er gluckste. »Aber zumindest haben Sie Zeit für eine zweite Tasse Tee.«

Daisy beendete das Gespräch und starrte ihr Telefon an, ein hohles Ziehen im Magen. Ihre erste Autopsie. Ob ihr Boss das wusste? Oder ging er davon aus, dass sie schon oft genug an einem Sektionstisch gestanden hatte, um damit spielend fertigzuwerden? Sie war seit knapp sechs Monaten beim Dezernat in Fife, und in der ganzen Zeit hatte es keinen einzigen Mord gegeben. Nur einen verdächtigen Todesfall, aber das war gewesen, als sie ein verlängertes Wochenende genommen hatte, und als sie zurückkam, war er als Unfall zu den Akten gelegt worden.

Vor Fife war sie bei der Kriminalpolizei in Falkirk gewesen. Dort hatte es jede Menge Verbrechen gegeben, aber keines, das auf einem Sektionstisch endete. Sie stupste ihr Brötchen mit einem sorgfältig manikürten Finger an, die Lippen vor Widerwillen verzogen. Der Gedanke an das, was sie erwartete – die Gerüche, die Geräusche, der Anblick –, hatte jeglichen Appetit erstickt. Wenn sie bedachte, wie empfindlich sie bei Zahnarztterminen war, würde sie vermutlich eine von denen sein, über die sich alle lustig machten: eine, die sich ins Waschbecken übergab oder – schlimmer noch – ohnmächtig zu Boden sank.

Wäre der Fall anders gelagert, hätte sie sich herauswinden können, indem sie anbot, den Tatort zu beaufsichtigen. Aber da die Leiche aus dem Meer gefischt worden war, gab es keinen Tatort, den man sichern musste. Es gab keinen Ausweg. Doch irgendwann musste sie sich dem sowieso stellen. Da konnte es auch heute sein.

Sie starrte aus dem Küchenfenster ihrer Mietwohnung. Es führte über eine stark befahrene Straße hinaus auf einen Wald. Das war der einzige Aspekt der ehemaligen Sozialwohnung, der ihr gefiel, mal abgesehen von der Tatsache, dass sie sie sich leisten konnte. Doch an den meisten Morgen sah sie hinaus in den langsam heller werdenden Himmel und fühlte sich wohl in ihrem Leben. Nur heute nicht.

Daisy warf ihr Brötchen weg, ging in ihr winziges Schlafzimmer und versuchte zu verdrängen, was sie erwartete. Sie schlüpfte aus ihrem Morgenmantel und zog das an, was sie als ihre Uniform bezeichnete: eine schwarze Jeans mit geradem Bein und genügend Lycra, um jemanden im Laufschritt verfolgen zu können, eine eng anliegende Jacke aus dunkelgrauer Merinowolle und darunter einen pflaumenfarbenen Pullover, der im Einsatzraum zu Geraune über ihre Figur führte. Ein Hauch Make-up, Mascara, um das leuchtende Blau ihrer Augen zu betonen; dann bändigte sie ihr dickes, lockiges Haar mit einem Haargummi und war bereit, aufzubrechen.

Sie traf als Erste ein. Professor Jenny Carmichael prüfte ihre Instrumente, bevor sie begann. Daisy stellte sich der Rechtsmedizinerin vor, die von Kopf bis Fuß in Chirurgengrün gehüllt war; ihr feines Silberhaar lief in zwei schmalen Dreiecken vor den Ohren aus.

Die Professorin musterte sie mit einem Adlerblick und fragte: »Das erste Mal?«

Daisy nickte.

»Dacht ich mir. Aus dem Weg und da an die Wand, so weit weg wie möglich vom Schlachtgetümmel. Auf diese Weise können Sie herausfinden, ob Sie bei so was ohnmächtig werden oder nicht, ohne mir auf die Füße zu treten.«

Daisy tat wie geheißen, und Professor Carmichael konzentrierte sich wieder auf Vorbereitungen, über die Daisy lieber nicht nachdenken wollte. Die Rechtsmedizinerin blickte auf, als Charlie hereinkam, und begrüßte ihn mit einem knappen Nicken. »Weißer Mann, für sein Alter in einer ordentlichen körperlichen Verfassung«, sagte sie.

»Ich hab’s Ihnen schon mal gesagt, mit Schmeicheleien kommen Sie bei mir nicht weit.« Typisch Charlie, dachte Daisy. Immer einen Witz auf Lager, egal, ob es der richtige Moment dafür war oder nicht.

Carmichael schnaubte. »Sie sind der Schmeichler von uns beiden.«

»Und in welchem Alter ist unser heutiger Kunde?« Charlie beäugte den bleichen Körper, der vom Meerwasser aufgedunsen war.

»Neunundvierzig«, antwortete sie mit einem schnellen Seitenblick.

Daisy dachte, sie hätte ein Zwinkern gesehen, und bemerkte, dass Charlie darauf ansprang. »Normalerweise sind Sie nicht so präzise.«

»Normalerweise finden wir auch nicht den Pass und den Führerschein in der Hosentasche des Opfers.« Das kam Daisy merkwürdig vor, doch dann erinnerte sie sich, dass die Leiche vor der Küste von Fife gefunden worden war, einer beliebten Touristengegend. Niemand ließ seinen Ausweis gern offen in einem Airbnb rumliegen.

»Opfer?« Charlie konzentrierte sich auf das Schlüsselwort.

Die Rechtsmedizinerin schnalzte mit der Zunge und machte einen Schritt seitwärts, damit sie den Kopf der Leiche drehen konnte. »Eine Verletzung am Hinterkopf, ausreichend, um tödlich zu sein. Und zu wenig Wasser in seinen Lungen, als dass er ertrunken sein könnte. Er war fast tot, als er ins Wasser fiel.«

»Könnte er die Böschung runtergestürzt sein und sich dabei den Kopf angestoßen haben? Es gibt eine Menge Felsen in dem Küstenabschnitt.«

»Die Verletzung ist zu gleichmäßig dafür. Wenn Sie mir die Pistole auf die Brust setzen, würd ich auf einen Baseballschläger oder ein Stahlrohr tippen.«

»Also Mord.«

Die Professorin zog scharf die Luft ein. »Sie wissen, dass es nicht meine Aufgabe ist, solche Schlüsse zu ziehen.«

»Das war keine Frage, Jenny.« Er milderte seine Worte mit einem verlegenen Lächeln ab, dann wendete er sich DS Mortimer zu. »Der Pass?«

Sie entdeckte die Beweismittelbeutel auf dem Seitentisch und suchte die beiden entscheidenden heraus. »Es ist ein französischer Pass. Ausgestellt vor mehr als zwei Jahren auf einen Paul Allard. Wie Frau Professor bereits sagte, ist er neunundvierzig. Sein Führerschein wurde in Paris zur gleichen Zeit ausgestellt –«

»Was? Genau zur selben Zeit?«

»Gleiches Datum. Das ist komisch, oder? Ich mein, niemand hat einen Pass und einen Führerschein, die am selben Tag ausgestellt wurden, oder?«

»Steht eine Adresse auf dem Führerschein?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nur, wo er ausgestellt wurde, der Name und das Geburtsdatum.«

»Tja, das ist Ihre erste Aufgabe, Daisy. Sprechen Sie mit jemandem aus dem französischen Konsulat. Sagen Sie denen, dass wir alles wissen müssen, was sie uns über Paul Allard mitteilen können. Wie steht es mit Angehörigen? Notfallkontakten?« Charlie wendete sich wieder Professor Carmichael zu, während er sprach.

»Nichts. Er hat niemanden eingetragen.«

»Dann ist es an Ihnen, Professor. Fingerabdrücke? DNA?«

Sie sah auf. »Wir sollten Fingerabdrücke nehmen können, er war vermutlich nicht mal vierundzwanzig Stunden im Wasser. Ich muss aber trotzdem jemanden fragen, der mehr Erfahrung mit solchen Dingen hat. DNA ist kein Problem.«

»Wirklich?«

Sie verdrehte kurz die Augen. »Charlie, es ist fast zwanzig Jahre her, dass wir die DNA einer Leiche extrahieren konnten, die fünfunddreißig Jahre auf dem Grund des Holy Loch gelegen hatte. Vertrauen Sie mir, Sie haben die Ergebnisse der DNA-Analyse in wenigen Tagen. Ob sie Ihnen aber helfen, kann ich nicht sagen. Können Sie die Franzosen noch dazu bringen, etwas für Sie durch ihre Datenbanken zu schicken?«

Charlie stöhnte. »Nach dem Brexit tut uns niemand mehr einen Gefallen.«

»Vielleicht landen wir ja einen Treffer in unserer Datenbank«, sagte Daisy ermutigend. »Ich mein, Leute, die ermordet werden, sind normalerweise etwas zwielichtig, Sir.«

»Wär besser für uns«, sagte Charlie düster. »Haben Sie noch was für mich, Jenny?«

»Er hat ein Tattoo auf seinem linken Schulterblatt. Wir haben es fotografiert. Ich mail es Ihnen. Sieht aus wie eine Fackel mit sieben Flammen und einem Ring darunter.«

»Keine hilfreiche Inschrift, vermute ich?«

»Das wär zu einfach.«

Er drehte sich zu Daisy um. »Bitte sehr, Daisy, ein hübsches Rätsel. So was haben wir nicht oft, was?«

Die Rechtsmedizinerin zog die Augenbrauen hoch. »Die einzig interessante Frage ist natürlich, ob Sie es lösen können.«

2

Faule Sonntagmorgen im Bett mit Kaffee und den Sonntagszeitungen auf ihrem Tablet waren eine relativ neue Erfahrung für Detective Chief Inspector Karen Pirie. Früher war sie beizeiten aufgestanden, war spazieren gegangen, hatte die kommende Woche geplant und Strategien entworfen. Aber seit bald einem halben Jahr traf sie sich nun mit Hamish Mackenzie, und er hatte sie überzeugt, dass es keine Sünde war, sich auch mal eine Auszeit von ihrem Job als Leiterin der Historic Cases Unit der Police Scotland zu nehmen. »Überstunden werden dir nicht bezahlt«, hatte er sie erinnert. »Es tut dir nicht gut, rund um die Uhr zu arbeiten. Und wenn dir dein Job wirklich derart am Herzen liegt, dann wirst du feststellen, dass du besser arbeitest mit einem erholten Körper und einem ausgeruhten Geist.«

Karen mochte es nicht, wenn man ihr sagte, was sie zu tun hatte, aber indem er sich Gedanken machte, wie sie ihren Job am besten erledigen konnte, hatte Hamish den richtigen Ton getroffen. Wie er überhaupt in so vielerlei Hinsicht den richtigen Ton traf. Er war der erste Mann gewesen, bei dem sie überhaupt irgendeine Art von Beziehung in Erwägung gezogen hatte, seit ihr geliebter Phil im Dienst getötet worden war – das Schicksal, das jedem drohte, der einen Polizisten liebte. Irgendwie hatte Hamish ihren Schutzwall durchdrungen; und hier war sie nun, an einem Sonntagmorgen in seinem Bett, in seiner Wohnung.

Und warum auch nicht? Er war klug und witzig, gut aussehend, freundlich und rücksichtsvoll. Sie verbrachte gern Zeit mit ihm. Sie mochte seine Gegenwart, egal ob sie draußen unterwegs waren und Spaß hatten oder zu Hause abhingen und nichts taten. Sie mochte diejenigen seiner Freunde, die sie kennengelernt hatte. Sie mochte seinen Hof in Wester Ross. Aber sie fühlte sich nicht so richtig wohl in dieser großzügig geschnittenen Wohnung in der New Town mit ihrer verborgenen Dachterrasse. Wie so manches an Hamish kam sie ihr ein bisschen übertrieben vor.

Ehrlich gesagt war der Sex mit ihm aufregender und abenteuerlicher als damals mit Phil. Doch sie fühlte sich danach nie so vollständig, wie sie sich mit Phil gefühlt hatte. Nie hatte sie an der Liebe zwischen ihnen gezweifelt. Aber bei Hamish … Karen konnte nicht sagen: »Ich liebe dich.« Sie spürte, dass es ihm auf der Zunge lag, doch sie hoffte, er würde der Versuchung nicht nachgeben.

Karen merkte, dass Hamish etwas gesagt hatte, das vollständig an ihr vorbeigegangen war. »Was?«

Er blickte mit gerunzelter Stirn auf sein Tablet. »Ich sagte, ich könnte uns einen Tisch in dem Restaurant in Newport reservieren, das wir ausprobieren wollten. Die haben auch Zimmer, ich könnte nachfragen, ob wir über Nacht bleiben können.«

»Nicht heute Abend«, sagte Karen mit einer Bestimmtheit, die er hoffentlich heraushören würde.

»Warum nicht? Wenn wir mit zwei Autos fahren, kannst du morgen früh rechtzeitig bei der Arbeit sein. Und ich kann von dort weiter in den Norden.« Von Montagmorgen bis Mittwochabend arbeitete Hamish auf seinem Hof in Wester Ross. Den Rest der Woche verbrachte er in Edinburgh, wo er eine kleine Kette von Coffee Shops betrieb.

»Nicht heute Abend. Ich muss morgen früh etwas Dringendes erledigen.«

»Okay. Wie wär’s, wenn wir zum Dinner hinfahren und danach wieder zurück?«

Sie wünschte, er würde nicht so drängen. »Ich muss heute Abend allein sein, Hamish.«

Ein verletzter Ausdruck trat in seine Augen. »Hab ich dich mit irgendwas verärgert?«

»Es hat nichts mit dir zu tun.« Sie hoffte, das würde ausreichen. Aber nein, er musste nachhaken.

»Was ist es dann? Ich möchte nicht, dass wir Geheimnisse voreinander haben.«

Karen schob sich auf den Federkissen in eine aufrechtere Position. Sie wollte das nicht mit krummem Rücken diskutieren. »Morgen früh wird der Mann, der Phil getötet hat, aus dem Gefängnis entlassen. Ich will da sein.«

»Was hast du vor?« Hamish strahlte Angst aus, als wäre er eine vibrierende Stimmgabel.

»Nichts. Ich will sehen, wo er leben wird, das ist alles.« Jetzt hatte sie mehr gesagt, als sie wollte. »Und ich möchte niemanden dabeihaben.«

»Glaubst du, das ist eine gute Idee?«

Bevor Karen antworten konnte, klingelte ihr Arbeitshandy. Automatisch griff sie zum Nachttisch. »DCI Pirie, Historic Cases Unit«, meldete sie sich.

»Guten Morgen, DCI Pirie. Ich bin Sergeant Pollock aus der Barrack Street in Perth. Heute Morgen bekamen wir eine Meldung rein, die vermutlich eher in Ihr als in mein Ressort fällt. Besteht die Chance, dass Sie herkommen und uns helfen, das zu entscheiden?«

Karen fühlte das vertraute Kribbeln von erwachendem Interesse und drehte sich von Hamish weg. »Können Sie mir ein bisschen mehr darüber sagen?«

»Nun, es ist so.« Er sprach langsam, um seine Botschaft rüberzubringen. »Eine Frau kam heute zu uns, um etwas anzuzeigen. Vor ein paar Wochen starb ihre Schwester bei einem Autounfall, und sie räumt jetzt das Haus der Verstorbenen aus. In der Garage steht ein Camper, der definitiv nicht ihrer Schwester gehört hat, wie die Frau meint. Sie hat reingeschaut und skelettierte menschliche Überreste im hinteren Bereich des Vans entdeckt. Die Tatsache, dass die skelettiert sind, sagt mir und meinem Boss, dass es sich um einen Cold Case handelt. Darum dachten wir, wir kürzen das ab und beziehen Sie von Anfang an mit ein.«

»Erzählen Sie mir gerade, dass Sie noch niemanden hingeschickt haben?«

Kurzes Schweigen. »Um ehrlich zu sein, wir sind ein bisschen überlastet heute. Wir haben königlichen Besuch hier, ganz zu schweigen von einem bewaffneten Raubüberfall auf einen Club letzte Nacht.«

Karen seufzte. »Und ein Skelett ist nicht zeitkritisch, richtig?«

»Nun, es wird nicht weglaufen, oder?«

Obwohl die mangelnde Dringlichkeit sie irritierte, wollte Karen unbedingt von Anfang an dabei sein. Sie hatte immer die Leben im Blick, die durch die Verbrechen zerstört wurden, zu denen sie ermittelte. Aber das bedeutete nicht, dass sie nicht elektrisiert war bei dem Gedanken, einen neuen Fall zu lösen, ein Rätsel aufzuklären, die schmerzende Leere im Leben von Fremden mit Antworten zu füllen. »Wir treffen uns bei dem Haus«, sagte sie. »Schicken Sie die Adresse an meinen Kollegen.« Sie beendete das Gespräch und wollte gerade ein weiteres führen, als Hamish eine Hand auf ihren Arm legte.

»Du willst doch wohl nicht arbeiten?«

»Da ist ein Fall aufgetaucht, der ganz nach einem Cold Case aussieht. Ich muss mir das vor Ort ansehen.«

Hamish seufzte und ließ sich in sein Kissen sinken. »Mit den Toten kann ich nicht konkurrieren.«

Sie drehte sich zu ihm und küsste ihn. »Es ist kein Wettbewerb, es ist eine Pflicht.« Dann stand sie auf, sich ihrer Nacktheit sehr bewusst. »Ich dusch schnell, dann bin ich auch schon weg.«

Vom Bad aus rief sie Detective Constable Jason Murray an, ihren Mitarbeiter. »Morgen, Jason. Tut mir leid, dass ich Ihnen den Sonntag vermassele, aber wir haben einen neuen Fall. Wir treffen uns in zwanzig Minuten am Büro.«

»Okay. Fahren wir irgendwohin, wo’s interessant ist?«

»Perth.«

»Verdächtiger Todesfall?«

»Genau. Davon gibt es in unserer kleinbürgerlichen Hauptstadt ja nicht so viele.«

3

Die North Woodlands Crescent lag kurz hinter einem der großen Kreisverkehre, die die zweispurigen Umgehungsstraßen von Perth unterbrachen, um den Verkehr zu wichtigeren Zielen in allen vier Himmelsrichtungen zu schicken. Ordentliche weiß getünchte Bungalows hockten auf ihren akkurat abgezirkelten Parzellen hinter robusten immergrünen Hecken, die alle auf die gleiche Höhe getrimmt waren. Die Straße schien dazu bestimmt zu sein, dass nichts ihr Gleichgewicht störte. Niemand würde die Polizei rufen müssen, weil randalierende Jugendliche hier Drogen nahmen, häusliche Streitigkeiten durch die gepflegten Vordertüren nach draußen drangen oder verantwortungslose Autodiebe mit quietschenden Reifen über die sauberen Gehwege bretterten.

»Das ist so’n Ort, an dem die Leute sich total empören können wegen eines Mordes vor ihrer Haustür«, bemerkte Jason und parkte hinter einem Polizeiauto am Bordstein. »Als wäre das eine persönliche Beleidigung.«

»Wir wissen noch nicht, ob es sich um einen Mord handelt«, sagte Karen.

»Stimmt schon, Boss. Aber man versteckt normalerweise die Leiche nicht in der Garage, wenn jemand eines natürlichen Todes stirbt.«

Er wird eindeutig sowohl aufmerksamer als auch selbstbewusster, überlegte Karen. Sie erlaubte sich, kurz stolz zu sein. Phil hatte sie ermuntert, Jason dabei zu unterstützen, das Beste aus sich herauszuholen. Langsam, aber sicher machte sich der Minzdrops. Sie grinste. »Ich weiß nicht. Schließlich ist das hier Perth. Vielleicht bedeutet es das gesellschaftliche Aus, wenn man zugeben muss, dass man eine Leiche im Kofferraum hat.«

Ein uniformierter Sergeant stieg aus dem Streifenwagen und hob grüßend die Hand. Er wartete, bis sie näher kamen, und sagte dann: »DCI Pirie? Ich bin Sergeant Pollock. Wir haben miteinander telefoniert.«

»Ist immer noch keine Kriminalpolizei hier? Oder die Spurensicherung?« Offenbar liefen in Perth ein paar Dinge anders.

»Ich habe mit meinem Inspector gesprochen, er meinte, wir sollten abwarten, was Sie dazu sagen. Ist ja nicht so, dass wir mit einer heißen Verfolgungsjagd rechnen müssten oder so.«

»Es wäre vielleicht keine schlechte Idee gewesen, ein Forensikteam herzuschicken. Denn ganz egal, wessen Fall das am Ende wird: Wir brauchen eine umfassende Untersuchung des Fundorts.« Karen sagte das in einem freundlichen Tonfall, aber Pollock entging nicht ihr grimmiger Gesichtsausdruck.

»Möchten Sie, dass das zuerst geschieht? Bevor Sie einen Blick darauf werfen?«

»Rufen Sie sie. Während wir auf sie warten, werden DC Murray und ich uns umziehen und den Fundort betreten. Und dann möchten wir mit der Frau sprechen, die die Entdeckung gemacht hat. Ist sie auf dem Revier?«

Pollock schüttelte den Kopf. »Wir haben sie nach Hause gehen lassen. Wissen Sie, sie war ziemlich aufgewühlt. Ich dachte, es wäre besser, wenn sie in ihren eigenen vier Wänden wartet, statt wer weiß wie lange hier oder in einem Vernehmungsraum rumzusitzen.«

Das war nicht das, was Karen getan hätte, aber sie hatte die Botschaft verstanden, dass man in der Barrack Street definitiv anders vorging als bei der Historic Case Unit. Sie hoffte, dass sich der Umgang der Kollegen mit aktuellen Fällen mehr an den Vorschriften orientierte. »Wie lautet der Name der Eigentümerin?«

»Susan Leitch. Das ist die, die bei dem Verkehrsunfall umgekommen ist. Die Frau, die das Skelett entdeckt hat, ist ihre Schwester. Stella. Auch Leitch. Keine von ihnen ist irgendwie aktenkundig, noch nicht mal wegen zu schnellen Fahrens.«

Zehn Minuten später bahnten sich Karen und Jason in raschelnden Tyvek-Anzügen und blauen Plastiküberschuhen ihren Weg durch die Haustür und über den nichtssagenden Teppich im Korridor zu einer sauberen Küche. Karen musterte das Sortiment von Ölen und Gewürzen neben dem Herd, den Steinguttopf mit Küchenutensilien und die aufgereihten Kochbücher mit angeschlagenen Ecken und zerknickten Binderücken. Es sah aus, als wäre hier tatsächlich gekocht worden. In der gegenüberliegenden Wand war eine solide Tür, durch die es in eine Doppelgarage ging. Ihre Augen wurden von einem alten, halb abgedeckten VW-Camper angezogen, aber Karen zwang sich, sich den gesamten Raum anzusehen. Erste Eindrücke lieferten oft gute Hinweise, welche Dinge aus dem Ruder gelaufen waren.

An der Wand war ein Gestell für zwei Fahrräder befestigt, an dem aber nur ein Rad hing, ein robustes Mountainbike mit breiten Reifen und einem Aufsatz für einen Elektromotor. Am Boden darunter befand sich der Motor in einem Ladegerät und neben dem Gestell für die Fahrräder ein Regal mit einer Reihe von Dingen, die man – wie Karen vermutete – für die Instandhaltung eines Fahrrads brauchte, sofern man es nicht jedes Mal zu einem Bike Shop schieben wollte, wenn die Bremsen quietschten.

»Wissen Sie irgendwas über Räder, Jason?«, fragte sie ohne große Hoffnungen.

»Nur was über die mit Motoren, Boss.«

An der Wand gegenüber stand eine Werkbank mit allem, was man fürs Heimwerken und im Haus brauchte – Schraubenzieher, verstellbare Schraubenschlüssel, ein paar Hämmer und eine Bügelsäge; daneben ordentlich aufgestapelte Farbdosen, einige von ihnen eindeutig benutzt. Auf den ersten Blick schien Susan Leitch eine gut organisierte Frau gewesen zu sein. Keine Anzeichen für ein chaotisches Verhalten, das oft Tatorte häuslicher Gewalt kennzeichnete. Wenn es denn einer war.

Als Karen zum Camper ging, bemerkte sie, dass der Reifen, den sie sehen konnte, platt war. Nach dem schlechten Zustand des Gummis zu schließen, war er seit langer Zeit nicht mehr bewegt worden. Sie öffnete die Fahrertür mit so wenig Kontakt wie möglich. Stella Leitch hatte zweifellos alle Fingerabdrücke verwischt, die es gegeben haben mochte, aber es war nie verkehrt, den forensischen Protokollen zu folgen. Karen steckte ihren Kopf ins Innere und schnupperte. Da war der angedeutete Geruch von modrigem Zerfall, aber nicht der überwältigende Gestank einer verwesenden Leiche. Sie stellte fest, dass das Fenster auf der Beifahrerseite zwei, drei Zentimeter offen stand, was zusammen mit der verstrichenen Zeit das Fehlen des Gestanks erklärte. Die Schlüssel steckten noch im Zündschloss.

Sie spähte über den Sitz, aber sie konnte kaum etwas von der Kabine hinten erkennen. »Ich muss da rein«, sagte sie und schickte sich an, über den Fahrersitz zu klettern.

»Es gibt eine Seitentür, durch die Sie reinkönnen, Boss«, sagte Jason. »Vielleicht ist sie ja auch unverschlossen.«

Karen stieg wieder aus. »Wir sollten eigentlich auf die Spurensicherung warten. Aber die Schwester hat sowieso schon die Abdeckung verschoben.« Sie dachte einen Moment nach. »Nehmen Sie Ihr Telefon und machen Sie Fotos vom Camper von allen Seiten, damit wir dokumentieren können, wie es im Großen und Ganzen aussah, bevor die Schwester die Plane bewegt hat. Und vergessen Sie nicht die Nummernschilder.«

»Es gibt keine«, sagte Jason. »Zumindest vorne nicht.«

»Das ist interessant«, meinte Karen, trat hinter den Van und hob vorsichtig die Abdeckplane an. »Hinten auch nicht. Da hat sich jemand was dabei gedacht. Okay, dann mal los, schießen Sie die Fotos.«

Sie trat einen Schritt zurück und wartete. Eine Reihe von Klicks später schob sie vorsichtig die Plane beiseite und probierte die Klinke der Seitentür. Sie sprang problemlos auf und glitt auf gut geölten Führungsschienen zur Seite.

Auf dem Boden des Vans lagen unverbundene Knochen, der Schädel, umgeben von einer Krone aus ausgefallenem dunklen Haar, wies zum vorderen Ende hin, Fußwurzel- und Zehenknochen fanden sich versprengt Richtung Wagenende. Die Schalen verpuppter Maden waren wie makabre Coco Pops neben und zwischen den Knochen verstreut, ein Indiz, warum kein Fleisch mehr an den Knochen war. Es sah aus, als wäre das Opfer auf die Seite gefallen oder so hingelegt worden. Aber schon auf den ersten Blick war zu erkennen, dass »Opfer« das richtige Wort war. Über den Hinterkopf zog sich unübersehbar der gezackte Riss einer Impressionsfraktur. Jemand oder etwas hatte den Schädel dieser Person sehr heftig getroffen.

Die Unangemessenheit menschlicher Überreste wurde durch die Ordnung und Sauberkeit des restlichen Vans noch unterstrichen. Jedes Ding war da, wo es hingehörte; Bücher auf einem Regal, Kleidungsstücke in Plastikboxen in einer Nische, Künstlerfarben und Pinsel auf einem speziell angefertigten Wägelchen. Aquarelle von Seen und Bergen waren an einem Schrank befestigt. Für Karens ungeübtes Auge sahen sie aus wie die typischen Bilder, die man in jedem Geschäft für Kunsthandwerk aus den Highlands erhielt, in dem sie je gewesen war.

Sie zog ihren Kopf aus dem Wagen. »Wir brauchen definitiv die Spurensicherung. Und River.«

Als sie zurück in ihrem Auto war und sich aus ihrem Schutzanzug befreit hatte, griff sie zum Telefon. Zum Glück war Dr. River Wilde in ihrem Büro an der Universität in Dundee und nicht im Labor oder im Vorlesungssaal. Karen berichtete ihr von dem Fund. »Kannst du dich frei machen für einen kurzen Trip nach Perth?«, fragte sie.

»Klar, die Knochen gehören mir. Ich bin in einer Stunde da.«

Im sicheren Gefühl, dass die Knochen in den besten Händen sein würden, brachte Karen Pollock auf den neuesten Stand. »Sie sollten vielleicht ein paar Constables herbestellen, um den Fundort abzusichern und die neugierigen Nachbarn auf Abstand zu halten.«

»Nicht zu vergessen die verdammten Lokalreporter«, knurrte Pollock.

»Und bitten Sie die Techniker, die Fahrzeug-Identifikationsnummer zu suchen. Jemand hat die Nummernschilder entfernt, aber vielleicht hat er nicht an die FIN gedacht. Und selbst wenn, hat das Labor Mittel und Wege, sie wieder sichtbar zu machen. Sobald die Spurensicherung fertig ist, wird Dr. Wilde wollen, dass die Überreste zu ihrer Leichenhalle in Dundee gebracht werden«, fuhr Karen fort. »Sie wird sich deswegen mit Ihren Beamten in Verbindung setzen. Wir fahren jetzt los, um mit der Schwester zu sprechen. Danke, dass Sie uns schon so früh dazugeholt haben. Auf diese Weise fällt bei der Übergabe nichts hinten runter.«

»Ja, nun, wir haben selten einen Fall, der so eindeutig ein Cold Case ist. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie Unterstützung brauchen.«

Als sie unterwegs zu Stella Leitch waren, sagte Jason: »Das ist schon ulkig. Warum sollte man eine Leiche so lange in der Garage verstecken?«

»River sagt immer, dass Mord einfach ist. Die Leiche loszuwerden ist das Problem. Es scheint, als hätte Susan Leitch nicht gewusst, wie sie den zweiten Teil hinbekommen soll.«

»Das versteh ich, Boss. Aber inzwischen sind es nur noch Knochen. Kann man die nicht mit einem Hammer zerschlagen und dann in kleinen Tüten zum Strand mitnehmen, um sie da ins Meer zu kippen?«

»Wäre vermutlich einen Versuch wert. Aber dafür müsste man schon ganz schön kaltblütig sein. Besonders wenn einem die Person nahestand, die man getötet hat. Sogar richtige Gangster haben jemanden, der die Leichen für sie entsorgt. Man nennt sie ›Cleaner‹.«

»Sie veräppeln mich, oder?«

Karen schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, das wäre so. Es handelt sich dabei offenbar um einen Job, der besondere Fähigkeiten erfordert. Es gab da mal einen Fall vor ein paar Jahren, in England. Da wurden überall im Land Leichenteile gefunden. Ich glaube, alles in allem hat man Überreste in fünf oder sechs verschiedenen Polizeibezirken entdeckt. Schlussendlich konnten sie den Mann festnehmen, der dafür verantwortlich war, aber vor Gericht kam nicht die ganze Geschichte zur Sprache. Hinter der Tat steckte das organisierte Verbrechen. Eine Gang hatte sich mit ihrem Cleaner zerstritten, weil sie dachten, er würde zu viel Geld verlangen. Einer der Idioten aus der Gang meinte offenbar: ›Wie schwer kann das schon sein?‹, und übernahm den Job für einen Bruchteil des Honorars. Aber wie sich herausstellte, hat er Mist gebaut. Mist im Gegenwert von vierzehn Jahren Knast.«

»Ist nicht Ihr Ernst! Woher wissen Sie das?«

»Das war einer von Rivers Fällen. Als danach alle ins Pub gingen, um das Schuldurteil zu feiern, erzählte ihr einer von den Typen vom Dezernat für Schwerverbrechen die Vorgeschichte.«

Jason schüttelte den Kopf. »Wie kommt man an so einen Job?«

»Ich glaube nicht, dass die auf Karrieremessen beworben werden«, sagte Karen trocken. »Ich vermute, Susan Leitch musste feststellen, dass es nicht so leicht war, eine Leiche loszuwerden, wie sie gedacht hatte.«

4

Montag, 17. Februar 2020

Es war noch nicht mal halb sieben Uhr morgens, doch der Verkehr stadteinwärts auf der A 71, Edinburghs Hauptschlagader, stockte bereits. Detective Chief Inspector Karen Pirie war froh, dass sie in die entgegengesetzte Richtung unterwegs war – nicht gerade schnell, aber dafür stetig. Sie hatte sich ihren Weg durch die aufwachende Stadt gesucht zum Hintergrundgemurmel einer Playlist, die ihr so vertraut war wie die Straßen um sie herum. Musik war ihr nie besonders wichtig gewesen, aber als sie mit Phil zusammengezogen war, hatte er sie vorsichtig mit seinem Musikgeschmack vertraut gemacht. Wenn sie wie heute nicht im Dienst war und nicht mit einem Ohr den Funkdurchsagen lauschen musste, kehrte sie stets zu der Playlist zurück, die er auf ihr Telefon geladen hatte. Elbow, Snow Patrol, Franz Ferdinand. Die Texte hatten sie nicht so beeindruckt, aber sie summte gern die Melodien mit.

Aus Gewohnheit behielt sie ihre Umgebung links und rechts im Blick, immer darauf achtend, ob sich etwas Ungewöhnliches tat. Die Häuser zu ihrer Linken sahen nach Geld aus, aber das täuschte. Tatsächlich waren das Wohnblöcke mit jeweils vier Wohnungen, zwei oben, zwei unten, zu einer Zeit gebaut, als Sozialwohnungen noch ein öffentliches Gut waren, das als selbstverständlich angesehen wurde. Sie waren vor Jahren verkauft worden, die unterschiedlichen Farben und Stile ihrer Haustüren verwiesen darauf, dass sie sich in Privatbesitz befanden. Karen missgönnte es den Besitzern nicht, dass sie die Chance ergriffen hatten, ein eigenes Heim zu erwerben; was sie störte, war das Versagen der Politiker, für Ersatz zu sorgen. Sie hoffte, sie würden die wachsende Zahl der Wohnungslosen in der City als Mahnung verstehen, aber im Grunde zweifelte sie daran.

An einer Lücke in der Häuserreihe bog sie links in eine schmale Straße, die von dicken Hecken mit kupferbraunem Winterblattwerk gesäumt war. Geradeaus war eine moderne Fassade zu sehen, vollständig aus kugelsicherem Glas, flankiert von soliden Säulen und Zementblöcken, die so gestaltet waren, dass sie wie bearbeiteter Sandstein wirkten. Ein argloser Betrachter hätte dahinter vielleicht die Büros einer kleineren Versicherungsfirma vermutet – wenn nicht statt eines Logos der Schriftzug »HMP Edinburgh« in großen Buchstaben darauf geprangt hätte. Ein zweiter Blick, und die hohe Zementmauer, die sich bis in die tiefe Dunkelheit erstreckte, hätte ein für alle Mal klargemacht, wofür das Akronym stand: Her Majesty’s Prison.

Karen lenkte den Wagen links auf den Parkplatz. Sie war früh genug dran, dass der Platz noch frei war, den sie sich zuvor als perfekt für ihr Vorhaben ausgeguckt hatte. Sie fuhr heute Morgen ihren Privatwagen. Niemand hätte den fünf Jahre alten Nissan Juke für ein Polizeiauto gehalten, nicht einmal für eine Zivilstreife. Phil hatte sich immer über ihren fahrbaren Untersatz lustig gemacht. »Nissan Joke« hatte er ihn genannt. Aber an diesem Morgen war er die perfekte Tarnung.

Während der nächsten Minuten tröpfelten erst weitere Autos herbei, schließlich wurde ein steter Strom daraus. Bei einigen handelte es sich um Mitglieder der Gefängnisbelegschaft, die zu den ausgewiesenen Mitarbeiterparkplätzen fuhren. Andere hielten in der Nähe von Karen; sie waren aus dem gleichen Grund, aber mit anderen Zielen hergekommen. Einige Fahrer und Beifahrer stiegen aus, schlenderten in der morgendlichen Kälte auf die Gefängnisgebäude zu; Wolken warmer Atemluft mischten sich mit dem Dampf von Vaporizern und dem Rauch von Zigaretten.

Ganz offensichtlich hatten sie dies noch nie getan, dachte sie. Sieben mochte die offizielle Uhrzeit für Gefängnisentlassungen sein, aber das bedeutete nicht, dass diejenigen, auf die die Leute warteten, um Punkt sieben aus der Tür traten. Formulare mussten ausgefüllt, Medikamente ausgegeben, Besitztümer überprüft werden. Die Willkommenskomitees konnten froh sein, wenn sie ihre Lieben bis halb acht sahen. Gegen acht würden sie in einer derangierten Prozession – hauptsächlich Männer, nur wenige Frauen – in die Welt zurückkehren, schwarze Müllsäcke mit ihren Habseligkeiten umklammern und versuchen, nicht so desorientiert auszusehen, wie sie sich fühlten.

Karen hatte nichts dagegen zu warten. Sie hatte sich seit Jahren auf diesen Moment vorbereitet und überlegt, was er ihr wohl abverlangte. Wenn Rache ein Gericht war, das am besten kalt genossen wurde, dann war das Timing perfekt. Eine halbe Stunde mehr spielte da auch keine Rolle.

Sie war so konzentriert auf die Gefängnisfront, dass sie zusammenzuckte, als ihre Beifahrertür geöffnet wurde. Sie drehte sich ruckartig auf ihrem Sitz herum, die Frage, ob fliehen oder kämpfen, schoss durch ihr Reptiliengehirn. Mit klopfendem Herzen erkannte sie, wer in ihr Auto einstieg, und entspannte sich wieder. »Verdammt, Jimmy! Willst du, dass ich einen Herzinfarkt bekomme?«

»Hast du mich nicht gesehen, als ich auf dein Auto zugegangen bin? Ich hab mich nicht versteckt, Karen.« DCI Jimmy Hutton, der Leiter der Murder Prevention Unit der Police Scotland, machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem wie jemand, der sich auf eine lange Reise einrichtete. Er zog seine schwarzen Lederhandschuhe aus und knöpfte den dunklen Armeemantel auf.

»Was machst du hier?«, wollte sie wissen. Mit missmutig zusammengezogenen Augenbrauen verlagerte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Gefängnis.

»Auf dich aufpassen«, sagte er sanft.

»Was soll das denn heißen?«

»Ich hab damit gerechnet, dass du heute Morgen hier bist. Ich dachte, ich sollte vorbeischauen und dafür sorgen, dass du jemanden an deiner Seite hast. Für den Fall, dass du in Versuchung gerätst.«

»In Versuchung, was zu tun?«

»Etwas, das du bedauern würdest.«

In spöttischem Ton sagte Karen: »Ich bin kein hormongesteuerter Teenager, Jimmy. Ich werde nicht ausrasten und wie eine Todesfee mit einer Machete quer über den Parkplatz stürmen. Alles, was ich will, ist Merrick Shand mit eigenen Augen sehen. Ich will sehen, was dreieinhalb Jahre im Gefängnis aus ihm gemacht haben.«

»Wirklich? Das ist alles?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Vielleicht auch noch rauskriegen, wer hier auf ihn wartet. Und wer ihn wohin mitnimmt. Ich habe nicht vor, irgendetwas zu tun, Jimmy. Aber ich will ihn im Blick behalten. Ich muss wissen, wo er lebt, was er macht. Mir ist es egal, wenn er das mitbekommt. Mir würde das sogar gefallen.«

»Du gehst ein großes Risiko ein. Er muss dich nur bei der Dienstaufsicht wegen Belästigung anzeigen.« Jimmy drehte sich zu ihr und sah sie unverwandt an.

»Ich werde ihm keinen Anlass dazu geben. Kein Rumgestalke, keine Sorge. Nur etwas Beunruhigendes am Rande seines Gesichtsfelds. Genug, um ihn rasend zu machen, aber nicht so viel, dass ich meinen Job aufs Spiel setze.« Sie wagte es, ihn anzusehen. Sie hatte einen derart skeptischen Blick nicht mehr gesehen, seit sie ihrer Großmutter versichert hatte, dass nicht sie es gewesen war, die das ganze Glas Butter Tablet gegessen hatte, obwohl sie sich hatte übergeben müssen wie ein kranker Hund.

»Hast du dir darum Rückendeckung mitgebracht? Damit du Shand unbemerkt vom Gefängnis aus folgen kannst?«

Verwirrt warf Karen einen kurzen Seitenblick auf Jimmy, um zu sehen, ob er sie aus unerfindlichen Gründen auf den Arm nahm. Aber sie hatte ihn selten ernsthafter dreinschauen sehen. Nein, nicht ernsthaft. Angefressen. »Wovon sprichst du? Ich würde niemals den Minzdrops in das hier reinziehen.« Aus diversen Gründen war Detective Constable Jason Murray die letzte Person, die Karen an diesem Morgen hätte dabeihaben wollen.

»Ach, komm schon, Karen. Tu nicht so unschuldig. Ich rede nicht von Jason. Ich meine Captain Coffee.«

»Was?« Karen hätte eine derart empörte Entgeisterung nicht vorspielen können.

»In der Reihe hinter dir, viertes Auto links von hier. Hast du nicht gesehen, wie er seinen riesigen Verpiss-dich-Range-Rover da geparkt hat?«

Wütend blickte sie sich um und sah sofort, was ihr niemals hätte entgehen dürfen. »Ich werde ihn verdammt noch mal töten«, tobte sie und stieß die Tür so heftig auf, dass sie zurückprallte und sie an der Hüfte erwischte, als sie aus dem Auto sprang. Aber Karen war auf dem Kriegspfad und ließ sich nicht von etwas so Banalem wie Schmerz aufhalten. Sie stürmte auf den Range Rover zu, entschlossen, die eine Person abzukanzeln, die überhaupt kein Recht hatte, hier zu sein.

5

Daisy starrte auf ihren Computermonitor und versuchte, wie eine Frau auszusehen, die hoch konzentriert war. Zumindest hoffte sie, dass sie so aussah. Denn die Wahrheit war: Obwohl sie am Tag nach der Autopsie früh ins Büro gekommen war, konnte sie doch keine wirklichen Fortschritte erzielen, bis sie etwas von dem Mitarbeiter des französischen Konsulats hörte, den sie am Vortag zu bezirzen versucht hatte. Das erste Gespräch war kurz gewesen. Daisy war überzeugt, dass sie das gallische Achselzucken förmlich hatte hören können, als sie die Einzelheiten zu Paul Allard durchgab.

Darum war sie überrascht gewesen, als er innerhalb einer Stunde zurückgerufen und wie ein anderer Mensch geklungen hatte. »Sergeant Mortimer«, hatte er zur Begrüßung trompetet. »Ich habe sehr interessante Informationen für Sie.«

»Das freut mich zu hören. Danke, dass Sie zurückrufen.«

»Nein, nicht dafür! Ich habe Folgendes herausgefunden: Paul Allard ist Jazzmusiker. Er spielt Saxofon in einem Quintett. Comme des Étrangers. Nicht so richtig mein Ding, aber ich habe gehört, dass sie ziemlich gut sein sollen. Er lebt auf der Rive Gauche. Kennen Sie Paris?«

»Nein, ich muss leider gestehen, dass ich nie da war.«

»Das macht nichts, es wird immer noch da sein, wenn Sie sich zu einem Besuch entschließen. Monsieur Allard wohnt – wohnte, sollte ich wohl sagen – im Sechsten Arrondissement in einer der kleinen Straßen, die auf das Odéon zuführen. Das ist eine hübsche Gegend, aber wenn ich mir seine Adresse so ansehe, dann vermute ich, dass er ein kleines Apartment unter dem Dach hatte.«

»Nun, das ist ein Anfang. Können Sie jemanden von der Polizei vor Ort hinschicken und an seine Tür klopfen lassen, um zu sehen, ob dort noch jemand lebt? Oder vielleicht können die sogar einen Durchsuchungsbeschluss beantragen, um zu prüfen, ob sich in seinem Apartment irgendetwas findet, das uns einen Hinweis darauf gibt, was er in East Neuk of Fife gemacht hat?«

Er gab ein unbestimmtes Geräusch von sich. »Ich glaube, Sie brauchen dafür einen Durchsuchungsbeschluss von einem Ihrer Gerichte.«

Daisy unterdrückte ein Seufzen. »Okay, schicken Sie mir die Adresse, und ich seh mal, was ich hier erreichen kann.« Wer wusste, durch welche Reifen sie heutzutage für so etwas springen musste?

»Natürlich, aber nicht so schnell. Ich hab noch was viel Interessanteres. Es gibt nämlich keine Unterlagen zu Paul Allard, bevor der Pass und der Führerschein auf ihn ausgestellt wurden. Als hätte er nie existiert.«

»Was?«

»Ja, ich weiß. Ich hatte überlegt, ob er im Zeugenschutz oder was Ähnlichem gewesen sein könnte. Darum habe ich mit einer Kollegin gesprochen, aber die sagt Nein. Wenn er in einem Zeugenschutzprogramm gewesen wäre, hätte er eine ordentliche Papierspur hinterlassen. Wir hätten zwar die ganzen Unterlagen nicht einsehen können, aber wir wüssten, dass es sie gibt.«

Daisy hatte sich auf ihrem Stuhl aufgerichtet, das Kribbeln der Aufregung im Nacken. »Stimmt. Eine Legende.«

»Ah, wir haben den gleichen Ausdruck dafür. Meine Kollegin meint, er hat vielleicht seinen Namen geändert. Das würde die Sackgasse erklären.«

»Und? Hat er?«

»Das weiß ich bisher noch nicht. Ich habe eine dringende Anfrage an das Ministerium des Inneren geschickt, aber um ehrlich zu sein: Ich hab keine Ahnung, wie lang es dauert, bis die antworten. Wenn man allerdings in Frankreich offiziell seinen Namen ändert, muss man das im Journal Officiel de la République Française bekannt machen. Ich schau mal, ob sich das online durchsuchen lässt. Das wäre vielleicht eine Abkürzung.«

»Eine hervorragende Idee. Ich sehe, was ich hier meinerseits bewirken kann. Vielen Dank. Ich weiß Ihre Hilfe wirklich zu schätzen. Und denken Sie bitte dran, mir die Adresse zu schicken.«

Das war wirklich aufregend gewesen. DCI Todd hatte viel zurückhaltender reagiert und kaum zur Kenntnis genommen, was sie herausgefunden hatte. »Lassen Sie uns abwarten, was Inspector Clouseau ausgräbt, bevor wir uns zu sehr echauffieren«, hatte er gesagt. Er hatte sich weggedreht, um einen der Detective Constables anzufahren. »Haben Sie was von der Küstenwache gehört? Ist schon klar, wo die Leiche ins Wasser geworfen wurde?«

Kurz nach sechs hatte Todd sie dann nach Hause geschickt. Er gehörte nicht zu den Vorgesetzten, die glaubten, dass man die Arbeitsstunden im Büro absitzen und dabei Beschäftigung vortäuschen musste. Als Daisy in seiner Abteilung angefangen hatte, hatte er sie in ein unerwartet gemütliches Café in einem Industriegebiet am Rand von Kirkcaldy mitgenommen und bei hausgemachten Kirsch-Scones und Earl Grey seine Philosophie dargelegt. »Es gibt keine Überstunden beim CID. Wenn wir in einem Fall ermitteln, arbeiten wir so viel, wie erforderlich ist. Aber so ein Fall kommt ins Stocken. Sie warten auf eine Adresse oder auf eine wichtige Information, die notwendig ist für den nächsten Schritt. Darauf können Sie genauso gut zu Hause warten. Meistens können Sie außerhalb der Bürozeiten sowieso nicht auf wichtige Unterlagen zugreifen. Da können Sie stattdessen dann auch auf Ihrem Sofa sitzen und eine Serie schauen. Wenn Sie auf diese Weise sechsunddreißig statt achtundvierzig Stunden arbeiten, sind Sie nicht völlig erschöpft. Bringen Sie sich voll ein, wenn es an der Zeit ist, und ich werde mich nicht beschweren. Aber gnade Ihnen Gott, wenn ich Sie beim Blaumachen erwische, wenn Sie gebraucht werden.«

Er hätte sich nicht klarer ausdrücken können. Aber Daisy hatte immer noch ein Problem damit, spät ins Büro zu kommen und früh wieder zu gehen. Darum war sie am nächsten Morgen die Erste. Sie wickelte ihre Sausage Roll aus, die sie sich an einem Imbisswagen am Straßenrand gekauft hatte, und aß sie, während sie die Akten durchging und sich Notizen machte. Als ihr Telefon klingelte und das Display die Nummer des französischen Konsulats zeigte, stieß sie vor lauter Aufregung mit der Spitze ihres Stifts ein Loch in ihr Notizbuch. »DS Mortimer«, rief sie regelrecht in den Hörer.

»Guten Morgen, Sergeant. Mein Name ist Guillaume Verancourt. Ich glaube, Sie haben gestern mit meinem Kollegen von der französischen Botschaft gesprochen?« Er klang eher wie aus Edinburgh als aus Paris.

»Das stimmt. Und Sie –«

»Er hat Ihre Anfrage an mich weitergeleitet. Ich stehe in Verbindung mit dem Innenministerium.«

War das ein Code dafür, dass er ein Spion war? Oder nur ein Bürokrat? Daisy begann zu fürchten, dass ihr das Ganze über den Kopf wachsen könnte. »Und, haben Sie irgendwas für mich?«

»Ich habe ein paar Informationen, ja. Aber bevor ich sie Ihnen gebe, möchte ich klarstellen, dass die Verantwortung für die Untersuchung des Todes eines französischen Staatsbürgers in den Händen der französischen Behörden liegt. Wir sind gern bereit, mit der Police Scotland zu kooperieren, aber wir müssen uns sicher sein, dass Sie ebenso bereit sind, mit uns zusammenzuarbeiten. Und Informationen zu teilen. Sind Sie in einer Position, mir das zuzusichern?«

Daisy überlegte fieberhaft. Sie wusste, dass sie dies lieber an höhere Stellen weiterleiten sollte, aber sie war sich verdammt sicher, dass niemand die Forderung der Franzosen zurückweisen würde. Nicht, wenn ansonsten die Ermittlung in einer Sackgasse enden würde, bevor sie richtig begonnen hatte. »Der Tote mag französischer Staatsbürger gewesen sein, Monsieur Verancourt, aber er wurde hier in Schottland getötet. Es liegt in unser beider Interesse, zusammenzuarbeiten.«

»Dann werden Sie mir also die Berichte schicken, die Sie bislang haben? Und Sie werden das auch künftig tun?«

Daisy atmete tief ein. Sie war fest entschlossen, sich mit diesem Fall einen Stein im Brett zu verdienen, aber der sollte sich nicht als Stolperstein erweisen. Andererseits musste sie Fortschritte machen. »Ich will ehrlich sein. Wir haben bislang nicht besonders viel, aber wir teilen Ihnen das wenige gern mit. Und Sie lassen uns zukommen, was Sie haben?«

»Ich sende Ihnen eine E-Mail mit dem, was ich entdeckt habe, aber ich denke, es wäre sinnvoll, es zunächst mündlich durchzugehen. Für den Fall, dass irgendetwas unklar ist. Unsere Berichte sind natürlich auf Französisch.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.« So gewann sie Zeit, ihre Französischkenntnisse erst später zu offenbaren, falls es denn notwendig wäre. »Okay, was haben Sie herausgefunden?«

»Sie wissen ja bereits, dass Paul Allard offiziell erst seit zwei Jahren existiert. Der Grund dafür ist eine Namensänderung.«

»Können Sie mir sagen, wie er vorher hieß?«

»Nun, da wird es kompliziert. Vor ungefähr zehn Jahren trat ein Mann der französischen Fremdenlegion bei, der sich Paul Allard nannte. Das war nicht sein richtiger Name, aber die Legion erlaubt ihren Rekruten, sich beim Eintritt in die Armee ihren Namen selbst auszusuchen. In der Regel sollte der Nachname mit dem gleichen Buchstaben beginnen wie der frühere Nachname, aber das ist die einzige Verbindung zu ihrer Vergangenheit.«

»Sie machen Witze, oder? Das klingt wie aus einem Abenteuer-Comic. Wollen Sie damit sagen, dass Leute tatsächlich der Fremdenlegion beitreten, um alles hinter sich zu lassen?«

Verancourt räusperte sich. »Das ist eine Tradition. Da ist nichts Komisches dran, glauben Sie mir. Paul Allards Militärdienst dürfte in keiner Weise spaßig gewesen sein. Und wie jeder, der eintritt, wird er verpflichtet gewesen sein, seine wahre Identität nachzuweisen, damit wir überprüfen konnten, dass er kein verurteilter Krimineller war oder dass kein Haftbefehl wegen eines schweren Verbrechens gegen ihn vorlag. Wenn die Bewerber sauber sind, können sie den Namen wählen, unter dem sie ihren Dienst ableisten wollen. Unter diesen Voraussetzungen verpflichtete sich der Mann, der Paul Allard genannt werden wollte. Er war ein begabter Musiker, darum wurde er der Regimentskapelle zugeteilt, die zum Ersten Fremdenregiment gehört. Er erreichte einen Rang, der dem eines Corporals in Ihrer Armee entspricht.«

»Das ist alles sehr interessant. Aber ganz offensichtlich war er nicht mehr in der Legion. Er lebte in einer Wohnung in Paris und spielte Jazz.«

»Korrekt. Er hat die Legion nach sieben Jahren verlassen. Wegen seines Militärdienstes war er berechtigt, die französische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Dabei gibt es jedoch einen Pferdefuß für jemanden, der eigentlich unsichtbar bleiben möchte: Um den Antrag stellen zu können, muss er seine ursprüngliche Identität wieder annehmen. Darum musste Corporal Paul Allard zu seinem Status als Bürger von Großbritannien und seinem früheren Namen zurückkehren.« Er machte eine Pause und genoss ganz eindeutig diesen dramatischen Moment.

»Und der war?«

»James Auld.« Er buchstabierte den Nachnamen. »Das ist ein schottischer Name, nicht wahr?«

»Ist es«, sagte Daisy und schlug eine neue Seite in ihrem Notizbuch auf. »Ganz sicher sogar. Aber wenn das der Fall ist, wie kommt es dann, dass er einen Pass und einen Führerschein auf seinen Namen bei der Fremdenlegion hatte?«

»Er hat sofort beantragt, den Namen ganz offiziell in Paul Allard zu ändern.«

»Und das hat geklappt? Einfach so?«

Verancourt gluckste. »Nein, Sergeant Mortimer. Nicht ›einfach so‹. Den Namen zu ändern, ist in Frankreich nicht so leicht wie in Großbritannien. Es gibt strenge Bestimmungen. Aber der Mann erfüllte eine davon ohne Probleme. Weil er seinen Lebensunterhalt als Musiker verdiente und sich einen Ruf als Paul Allard erworben hatte, gab er als Argument an, dass auch sein amtlicher Name Paul Allard lauten musste, um Probleme in Finanzfragen und bei Steuerzahlungen zu vermeiden. Und darum wurde aus ihm vor zwei Jahren offiziell der französische Staatsbürger Paul Allard.«

Es ging doch nichts über eine Bürokratie, die auf jedes ü-Tüdelchen achtete. »Aber das Geburtsdatum ist dasselbe? James Auld wurde am selben Tag geboren wie Paul Allard?«

»Ohne jeden Zweifel. Wir gestatten nur die Namensänderung. Wie ich schon sagte, ich schicke Ihnen die Details per E-Mail, aber ich denke, das ist die einzig wichtige Information für Ihre Zwecke.«

»Es ist noch zu früh, um das zu sagen«, erwiderte Daisy bedächtig. »Der Mann wurde ermordet. Es könnte sein, dass das Motiv in seiner Zeit im Militärdienst liegt.«

Verancourt machte ein unbestimmtes Geräusch. »Es könnte möglicherweise ein Problem werden, allzu viele Informationen darüber zu bekommen. Die Legion ist nicht dafür bekannt, bereitwillig Auskunft über ihre Operationen zu geben.«

»Toll.« Daisy seufzte.

»Und Sie schicken mir Ihre Unterlagen? Den Autopsiebericht und was Sie sonst noch haben?«

»Das werde ich. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Unter Umständen melde ich mich noch mal bei Ihnen, ja? Zum Beispiel, wenn wir in sein Apartment wollen?«

»Dafür müssen Sie sich an die Polizei in Paris wenden und an einen juge d’instruction. Aber ich sollte Ihnen dabei helfen können. Leben Sie fürs Erste wohl, Sergeant Mortimer.«

In dem Moment, in dem Verancourt auflegte, betrat Charlie Todd das Büro. Daisy stand auf und sah ihn an. »Der tote Mann, Chef? Er ist ausgebüxt, um der französischen Fremdenlegion beizutreten.«

6

Als Karen etwas später an diesem Morgen die Duke Street entlangging, war sie immer noch wütend, eine unversöhnliche Frau auf dem Kriegspfad. Bis zum Betreten des Aleppo, des syrischen Cafés, in dem sie sich mit einer Freundin verabredet hatte, hatte sie sich so in ihre Rage hineingesteigert, dass sie es kaum schaffte, Amena zur Begrüßung zuzunicken; diese hingegen nahm sich die Zeit, Karen mit einem Strahlen willkommen zu heißen.

Karen marschierte direkt auf die Frau zu, die am hintersten Tisch saß, weit weg von der Tür. Sie kannte Giorsal Kennedy seit der Schulzeit, hatte sie aber zwischenzeitlich fünfzehn Jahre lang nicht gesehen, da die Sozialarbeiterin im Süden gearbeitet hatte. Bei einem nicht allzu weit zurückliegenden Fall hatten sie sich wiedergetroffen; inzwischen waren sie enger befreundet als zu ihrer Teenagerzeit. Karen ließ sich auf einen Stuhl fallen und seufzte.

»Ich seh schon, die Dinge laufen nicht so, wie sie sollen«, sagte Giorsal mit einer Freundlichkeit, die sie sich durch die jahrelange Sozialarbeit angeeignet hatte.

»Das kann man wohl sagen.« Karen drehte sich halb herum, um Amenas Aufmerksamkeit zu erregen, aber das war gar nicht mehr nötig. Die Syrerin war schon unterwegs zu ihrem Tisch mit einer kleinen Tasse mit starkem Kardamomkaffee, den Karen so schätzen gelernt hatte.

»Du zählst hier als Mitglied des Königshauses«, sagte Giorsal, als Amena wieder gegangen war.

»Das ist total peinlich. Ich darf immer noch nicht für meinen Kaffee bezahlen.«

»Aber du steckst immer Geld in die Trinkgeldkasse. Ich hab dich dabei beobachtet. Davon mal abgesehen: Sie schulden dir was. Wenn du nicht gewesen wärst –«

»Dann hätten sie jemand anders gefunden, der ihnen geholfen hätte.« Karen rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum; es war ihr unangenehm, daran erinnert zu werden, dass sie den Geflüchteten aus Syrien geholfen hatte, einen Raum für ihr Café zu finden. »Aber das spielt jetzt keine Rolle. Ich bin total wütend, Gus.«

»Was ist passiert? Du hast mir gesagt, du willst Merrick Shand nur im Blick behalten. Ihm nachfahren, damit du weißt, wo er wohnt. Und das wär’s dann. Du hast es versprochen, Karen.«

»Und das war auch alles, was ich vorhatte. Bis sich dieser verdammte Hamish eingemischt hat.« Sie nahm einen Schluck Kaffee und spürte, wie sehr sie dessen Intensität gebraucht hatte.

»Hamish? Was hat denn Hamish damit zu tun?«

»Überhaupt nichts, das ist es ja. Ich Dussel – ich weiß, man soll sich Sachen erzählen, wenn man … ich weiß nicht, wenn man eine Beziehung eingeht. Aber ich finde nicht, dass ihm das das Recht gibt, seine Nase in meine Angelegenheiten zu stecken.«

Giorsal runzelte die Stirn. »Du musst mir schon ein bisschen mehr erzählen, damit ich was damit anfangen kann, Karen.«

Karen nahm noch einen Schluck. »Ich hab ihm gestern gesagt, dass ich nicht über Nacht bei ihm bleiben kann, weil Merrick Shand an diesem Morgen aus dem Gefängnis entlassen wird. Ich musste in aller Herrgottsfrühe aufstehen, um sicherzugehen, dass ich ihn abpassen und mich an ihn dranhängen konnte.«

»Er weiß, wer Merrick Shand ist?«

Karen seufzte erschöpft. »Er weiß, dass Shand das Monster ist, das Phil mit seinem Auto absichtlich zermalmt hat. Ja.«

»Und was dann? Wollte Hamish dich aufhalten?«

»Nein, so dumm ist er nicht. Obwohl das noch zu verstehen gewesen wäre. Ich glaube, insgeheim denkt er, ich sollte die Vergangenheit hinter mir lassen und nach vorn sehen. Aber alles, was er gesagt hat, war: ›Hältst du das für eine gute Idee?‹, und ich habe geantwortet, nicht unbedingt, aber dass ich es trotzdem tun muss. Und dabei haben wir es belassen.«

»Ich vermute, das ist noch nicht das Ende der Geschichte.«

»Stimmt. Spulen wir vor bis heute Morgen. Ich sitze im Auto auf dem Parkplatz, die Augen auf die Tür geheftet, und warte darauf, dass Merrick Shand unter seinem Stein hervorkriecht. Ich bin fast aus der Haut gefahren, als Jimmy Hutton die Beifahrertür geöffnet hat und eingestiegen ist.«

»Vermutlich, um dich von etwas abzuhalten, das du hinterher bedauern würdest?«

»Ganz genau.« Sie verdrehte die Augen. »Gus, du kennst mich schon lange. Hältst du mich für jemanden, die bei der leisesten Provokation die Fassung verliert und Amok läuft?«

Giorsal konnte sich angesichts von Karens Empörung kaum das Lachen verkneifen. »Nein«, brachte sie heraus. »Nein, du bist mehr der Typ, der sich von hinten anschleicht, wenn man es am wenigsten erwartet.«

»Warum kommen dann diese beiden Männer, die es besser wissen sollten, auf die Idee, dass ich einen Aufpasser brauche?«

»Ich vermute, Jimmy war um seiner selbst willen da, Karen. Er hat Phil geliebt wie einen Sohn. Und es war seine Operation, die schiefging und Phil das Leben kostete. Er trägt diese Schuld mit sich.«

Karen dachte darüber nach. »Okay, du hast recht. Ich war nicht fair Jimmy gegenüber. Aber Hamish? Das ist was anderes. Also, wie ich schon sagte, Jimmy steigt in mein Auto ein und erwähnt beiläufig, dass er Hamish gesehen hat und dass der in der Reihe hinter mir parkt. Er vermutete, ich hätte ihn gebeten, mir zu helfen, Shand zu verfolgen, wenn der losfährt. Ich mein, ernsthaft? Ich? Warum sollte irgendjemand, der mich kennt, denken, ich bräuchte Hilfe bei was derart Kinderleichtem? Und selbst wenn, dann hätte ich keinen Zivilisten darum gebeten, dessen einzige Erfahrung mit Verfolgungsjagden darin besteht, dass er L. A. Noire spielt!« Sie unterbrach sich, um Luft zu holen und einen Schluck Kaffee zu trinken.

»Was hat er getan?«

»Er hat nichts getan. Als er mich kommen sah, war er so klug, aus seinem Auto auszusteigen, bevor ich ihn herauszerren konnte. Ich habe ihn so zusammengestaucht, dass ihm Hören und Sehen vergangen sein muss, und dann hab ich gewartet, bis er in sein Auto gestiegen und weggefahren ist.« Karens Seufzer kam von sehr tief unten. »Und währenddessen ist Merrick Shand aus dem Gefängnis spaziert und wurde abgeholt.«

»Oh nein! Sag mir, dass Jimmy ihm gefolgt ist.«

Karen schüttelte den Kopf. »Darum war er nicht da. Aber er hat zumindest das Kennzeichen aufgeschrieben, sodass ich dem nachgehen kann. Aber Hamish? Wie kann ich ihm jetzt noch trauen?« Unnachgiebig zog sie die Augenbrauen zusammen.

»Bist du nicht ein bisschen zu streng? Für mich klingt das so, als hätte Hamish gedacht, er täte das Richtige, indem er dir Rückendeckung gibt, weil du ihm wichtig bist.« Giorsal zuckte mit den Schultern. »Darauf steht nicht gerade die Todesstrafe.«

Karen hantierte mit ihrer Kaffeetasse herum, um ihre Freundin nicht ansehen zu müssen. »Es ist aber ein weiterer Punkt, der mich dazu bringt, mich zu fragen …«

»Dich was zu fragen? Karen, Phil hätte vielleicht genau das Gleiche gemacht.«

»Vergleich ihn nicht mit Phil. Er ist überhaupt nicht wie Phil. Phil und ich, wir waren wie zwei Seiten einer Münze. Mit Hamish ist es nicht dasselbe.«

»Vielleicht nicht, aber Hamish ist einer von den Guten. Er hat Geld, er ist Single, er ist sexy, und soweit ich das beurteilen kann, ist er ziemlich verschossen in dich. Was willst du denn mehr?«

Karen seufzte. »Er ist nicht … aufrichtig. Erinnerst du dich, wie ich ihn das erste Mal gesehen hab? Auf seinem Hof, bei dem Fall oben in Wester Ross? Er hat auf niedlicher Highland-Bauer gemacht, und zwar perfekt. Kilt und große Stiefel und Schafe auf dem Hügel und das alles. Und erst Tage später ist er damit herausgerückt, dass er eigentlich von den Coffee Shops hier in Edinburgh lebt.«

»Ich fand das lustig, Karen.«

»Ich anfangs auch. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich glaube, Hamish hat immer auch im Blick, wie er auf andere wirkt. Wie bei meinem Geburtstag.«

Giorsal lachte. »Du beschwerst dich wegen deines Geburtstags? Er hat dich als Überraschung für ein langes Wochenende nach Venedig entführt, Karen. In ein Hotel, von dem sogar ich schon mal gehört hab.«

»Er hatte mich gefragt, was ich mir so vorstelle für meinen Geburtstag, und ich sagte, ich würde gern das Wochenende auf seinem Hof verbringen.« Karens Kinn hatte sich eigensinnig verkantet. »Es war nicht das, was ich wollte, es war das, von dem er dachte, dass ich es wollen sollte. Nichts ist ganz schlicht und einfach mit Hamish, immer muss es Tamtam sein. Sogar sein verdammtes Porridge.«

»Sein Porridge?«, fragte Giorsal belustigt.

»Wie machst du Porridge?«, wollte Karen wissen.

»Haferflocken, Magermilch, einen Löffel Honig. Warum?«

»Hamish macht Haferflocken rein, außerdem Buchweizenflocken, eine Mischung aus geschroteten Leinsamen, Paranüsse und CoQ10, dann eine Prise Chai-Gewürze, einen Löffel Mandelbutter, eine Handvoll Blaubeeren und eine Mischung aus laktosefreier Weizenmilch und Kokoswasser. Wie in Gottes Namen kann man so etwas Porridge nennen, wenn fast keine Haferflocken drin sind?«

Giorsal kicherte wie ein Teenager. »Ich kann nicht glauben, dass du ihn wegen seines Porridges verurteilst.«