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Im Zentrum dieses Briefes steht der Genius Dr. Erwin Sternhammers, eines Mannes, dessen schulmedizinische Karriere gegen Ende der 60'er Jahre des vergangenen Jahrhunderts durch "unangemessene" Experimente an lebenden Objekten ein plötzliches Ende fand. In seinen Schriften aber leben die Gedanken des "Frankenstein von Marburg" weiter. Nicht zuletzt weil sein Werk jungen Medizinern auch heute noch eine Chance verheißt, die prosaische Chirurgie der Gegenwart mit tieferen spirituellen Inhalten zu verbinden. Beeindruckt von Sternhammers Visionen beginnt der Autor des vorliegenden Briefes sein Praktikum in einer entlegenen, vom engsten Stab Dr. Sternhammers geleiteten Klinik am Keilerstein.
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Seitenzahl: 100
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Illustriert von
Holger Much
Grimma
Buchheim Verlag
2019
Impressum
Neuausgabe März 2019
ISBN: 978-3-946330-09-7
© Buchheim Verlag, Olaf Buchheim, Grimma
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagzeichnung & Illustrationen: Holger Much
Lektorat: Hanka Leo
eISBN 978-3-946330-10-3
www.buchheim-verlag.de
Lieber Thomas,
ich möchte mich aufrichtig bei Dir dafür entschuldigen, dass Du so lange nichts von mir gehört hast. Aber während des letzten Jahres ist einfach zu viel geschehen …
Dein Anruf hat mir sehr viel bedeutet, gerade jetzt, und auch wenn ich bemüht war, unser Gespräch kurz zu halten, möchte ich Dich doch wissen lassen, dass mir unsere Freundschaft sehr viel bedeutet hat. Wir haben zu viel zusammen durchgestanden. Zu viele Tage, Nächte und Frauen, als dass ich all das vergessen könnte! Ich weiß, dass nichts an unserem letzten Gespräch darauf hindeutete, ja, dass es vielmehr klang, als ob zwei völlig fremde Menschen sich bemühten, ein Gespräch miteinander zu führen. Aber bitte glaube mir, dafür gibt es Gründe. Zwingende Gründe.
Eingedenk unserer langjährigen Freundschaft habe ich beschlossen, Dir diesen Brief zu schreiben: den Versuch einer Erklärung, einer Reflexion, damit Du verstehst und begreifst, warum ich mich so lange nicht gemeldet habe.
Bevor Du aufgelegt hast, stelltest Du fest, dass ich mich verändert habe. Du kannst mir glauben, dass das angesichts meiner Erlebnisse hier nicht verwunderlich ist. Es ist möglich, nein, sogar sehr wahrscheinlich, dass ich tatsächlich ein anderer Mensch geworden bin.
Ich will versuchen, Dir von den aufwühlenden Geschehnissen zu berichten, die mich während der letzten Monate so erstaunt, verwirrt, in Schrecken versetzt und geprägt haben. Ich denke, dass ich es Dir schuldig bin. Dir als einem Menschen, der mir nahestand und immer wieder versucht hat, sich ernsthaft mit mir und meinen Gedanken auseinanderzusetzen.
Ich will dort beginnen, wo ich euch verlassen habe.
Du erinnerst Dich gewiss an unsere kleine Abschiedsfeier, als ich in Spendierlaune war und Dir und den anderen großmütig einen ausgeben wollte. Wie wir die halbe Nacht in dieser Cocktailbar in der Altstadt verbrachten und ich am Ende mein Geld vergessen hatte. Wie ihr zusammen nicht einmal die Hälfte der Drinks hättet bezahlen können, sodass wir schließlich alle nacheinander durch Tür und Toilettenfenster abgehauen sind …
Diese Geschichte ist sicher kaum etwas Besonderes, nichts, das nicht jeder schon einmal so oder ähnlich erlebt hat. Aber mir ist diese Geschichte sehr wichtig. Denn sie ist eine der letzten unbeschwerten Erinnerungen an eine Welt, in der Freunde und gemeinsame Abende mich noch zu bewegen und mein Innerstes zu erwärmen vermochten.
Ich hatte mich damals schon entschieden, einen Weg zu beschreiten, der mich von euch fortführen sollte. Das Ziel aber, an das dieser Weg mich letztendlich führt, hatte ich damals beim besten Willen nicht erahnen können. Auf diesem Weg, lieber Thomas, habe ich Dinge gesehen, die alles verändert haben: meine Sicht auf diesen Beruf, den ich mehr als alles andere ausüben wollte, das Studium, das hinter mir lag, und selbst die Dinge, die vor mir liegen.
Aber wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass da der leise Wunsch ist, mich nicht entschieden zu haben. Der Wunsch, noch immer Teil jener Welt und jenes Umfeldes zu sein, das ich samt Dir und den anderen verlassen habe.
Am darauffolgenden Tag war ich nach vier Stunden schlechtem Schlaf zwischen meinen gepackten Koffern bereits um neun am Bahnhof, um dort jenen Zug zu besteigen, der mich an das hinterste Ende des Schwarzwaldes, nach Schwarzach und an den Keilerstein bringen sollte, wo ich, wie Du ja weißt, mein ärztliches Praktikum antreten wollte.
Du erinnerst Dich sicherlich auch noch, dass ich nach Berlin, Frankfurt oder Konstanz hätte gehen können, an renommierte Kliniken, die mich in Anbetracht meiner Zeugnisse mit Kusshand genommen hätten. Ihr alle habt euch gewundert, weshalb ich meine AiP-Stelle in einer kleinen unbedeutenden und hinterwäldlerischen Klinik antreten und mir meine ersten chirurgischen Sporen irgendwo im medizinischen Niemandsland unter einem namenlosen Chefarzt verdienen wollte.
Ich habe euch nie gesagt, warum.
Der Grund war Sternhammer.
Wir beide wissen, wie Du reagiert hättest, wenn Du das vorher gewusst hättest. Ich jedenfalls erinnere mich noch sehr genau, wie meine Schwärmereien für ihn Dir bereits lange vor dem Schwarzwald auf die Nerven gingen, dass dieser Mann für Dich nicht mehr als ein Blender und seine Bücher allenfalls zweitklassig waren.
Mich aber faszinierten und berührten seine Worte auf eine ganz besondere Art, die ich Dir bis heute nicht zu erklären vermag. Dabei waren es vor allem seine letzten vier Bücher, die mich, alle in einem vollkommen verschiedenen Stil geschrieben und dabei doch offenbar einem einzigen Geist entsprungen, letztendlich zu meiner Entscheidung für den Keilerstein bewegten.
Es war der Geist Dr. Erwin Sternhammers, der – was immer auch Deine Meinung sein mag – mein Studium geprägt hat. In meinen Augen war er immer schon der Arzt gewesen, der die Chirurgie der Moderne mit wahrhaftigem Inhalt zu füllen verstand, der sie nicht um ihres Selbstzwecks willen betrieb, sondern sich in seiner Arbeit bemühte, ihr einen philosophischen, ja sogar spirituellen Überbau zu schaffen!
Dieser Versuch ist seit jeher das zentrale Thema von Sternhammers Schriften und der Grund für mehr als einen Streit zwischen Dir und mir gewesen. Aber dieser Überbau war genau das, wonach ich suchte, das, was mir während des Studiums gefehlt hat.
Wir beide stritten letztendlich ja auch deshalb, weil Sternhammer dieses Thema, diese Forderung nach Spiritualisierung der Schulmedizin zwar immer wieder anreißt, aber an keiner Stelle einen konstruktiven Ansatz präsentiert – obwohl sein Subtext erahnen lässt, dass er einen solchen kennt.
Dieser passive Ansatz hat ihn freilich oft ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik gerückt. Die Schulmediziner haben ihn immer schon gehasst. Und natürlich musste sein Verhalten, sein Verlassen der ausgetretenen Pfade, Missverständnisse hervorrufen, Kollegen provozieren und diejenigen in Beunruhigung versetzen, deren Horizont nicht über den Tellerrand der Schulmedizin hinausreicht.
Ich aber habe seine Bücher mit anderen Augen gelesen, seine Vorträge mit anderen Ohren gehört, mich von seiner Idee, dass der Chirurgie eine höhere Aufgabe als Erhalt und Regeneration des menschlichen Organismus innewohnt, begeistern lassen!
Und ebenso begeistert wie ich waren zunächst auch andere.
Ohne dass er im Geiste der einen oder der anderen geschrieben hätte, missverstanden und feierten ihn damals Esoteriker und alternative Mediziner. Zumindest so lange, bis er sich kurz nach seiner Marburger Zeit beide Gruppen mit seiner Schmähschrift Alternative Narreteien – eine esotopische Gegenwartsgeschichte zu erbitterten Feinden machte. Von diesem Zeitpunkt an hassten sie ihn alle.
Sie hassten, aber lasen ihn.
Und während dieser Zeit suchte er Zuflucht am Keilerstein, wo er sich mit Menschen umgab, die seines Geistes waren. Als ich mich auf den Weg dorthin machte, hatte ich schon sehr lange gespürt, dass wahrscheinlich auch ich ein solcher Mensch war.
Mir ist sehr wohl bewusst, dass Sternhammer ein Fanatiker ist. Ein Mann, dessen Fokus das Individuum zugunsten von etwas Größerem vernachlässigt. Aber, seien wir ehrlich, Thomas, wie sonst hätte er die Chirurgie des 20. Jahrhunderts derart nachhaltig prägen können?
Gewiss wirst Du Dich an dieser Stelle fragen, wie genau dieser Dr. Erwin Sternhammer, der Frankenstein von Marburg, wie die Presse ihn damals getauft hat, dem vor fünf Jahren aufgrund »unangemessener Experimente an lebenden Objekten« die Approbation entzogen worden war und dessen nunmehr indizierte Bücher vor Jahren noch Standardwerke der Chirurgie und Pflichtlektüre der angehenden Ärzteschaft gewesen waren, der Grund für meine Ortswahl sein konnte.
Nun, die Wahrheit ist, ich habe ihm geschrieben.
Ich hatte bereits kurz nach unserem Studienbeginn Kontakt zu ihm gesucht: Nach der Lektüre seines Goldenen Schnittes, nach dem Lesen des Mysterium Leib und nach seinem Vortrag über die Vergänglichkeit des Fleisches schrieb ich an die Adresse seines damaligen Verlages, mit der Bitte um Weiterleitung, jedoch ohne jemals eine Antwort zu bekommen.
Zunächst ging es mir auch nicht wirklich darum. Ich wusste schließlich nicht einmal, ob Sternhammer überhaupt noch lebte. Wenn, dann musste er inzwischen weit über achtzig sein. In meinen Briefen reflektierte ich mein Studium, meine Gedanken, meine medizinische Entwicklung und machte Sternhammer damit zu einem Teil meines Reifeprozesses.
Und dann plötzlich erhielt ich eine Antwort.
Es war ein kurzer Brief, der mich drei Tage nach dem Ausgang des letzten von mir geschriebenen erreichte, ein unscheinbares maschinenbeschriebenes Kuvert, in dessen Innerem sich eine kurze Notiz befand, mit der mich ein gewisser Dr. Eiseneck darum bat, mein Praktikum im Schwarzwald, in der Klinik am Keilerstein anzutreten.
Diese Bitte hätte mich wenig geschert, wenn Eiseneck sie mir nicht im Auftrag Dr. Erwin Sternhammers gestellt hätte. Sternhammer sei, seinen Worten zufolge, die graue Eminenz besagter Klinik und habe meine anregenden Gedankengänge seit Jahren mit Freude verfolgt.
Diese wenigen Zeilen, Thomas, beflügelten mich bereits! Und die Aussicht, inmitten einer von ihm, meinem Vorbild, ausgewählten Ärzteschaft in einer exklusiven kleinen Privatklinik arbeiten zu können, schien mir eine der wichtigsten Chancen meines Lebens zu sein. Gleichsam natürlich eine, von der ich, da Sternhammer mich durch Eiseneck eindringlich darum bat, weder Dir noch irgendjemandem sonst erzählen konnte.
Damals aber brannte ich vor allem darauf, Dr. Erwin Sternhammer gegenüberzutreten, mit ihm zu reden, ihm zu assistieren. Er war der Lehrer, den ich mir selbst erwählt hatte, der Mann, der hinter jener kleinen Klinik am Keilerstein stand, in der ich schließlich – vor inzwischen über einem Jahr – mein Praktikum antreten sollte.
Ich erreichte die nächstgelegene Ortschaft am Abend nach unserem Abschied mit einem dieser Züge, die an jedem Briefkasten zu halten scheinen. Auch Schwarzach war ein besserer Briefkasten, ein verschlafenes Funkloch von mittlerer Größe, dessen Einwohner überwiegend im nahe gelegenen Sägewerk oder dem angrenzenden Industriegebiet arbeiteten. Jenes Dorf – in dem es übrigens tatsächlich kein Mobilfunknetz gab, weshalb ich mich in den ersten Monaten über jeden verschissenen Cent meiner Grundgebühr ärgern durfte – lag in einer von Bäumen umsäumten Senke. Ein malerischer Ort, dem einerseits anzusehen war, dass er wahrscheinlich einer der friedlichsten überhaupt war, aber andererseits auch, dass es keiner seiner Bewohner weit gebracht hatte.
Hier schien es nichts zu geben, das gelohnt hätte, die Klinik an freien Tagen zu verlassen. Da war lediglich Der rote Keiler, ein Dorfgasthof, in dem die Sägewerksveteranen ihre Erinnerungen mit Bier heraufbeschworen, um sie mit Schnaps wieder hinunterzuspülen. Es gab dort noch einen Flipperautomaten, den man vor vierzig Jahren wahrscheinlich für die Dorfjugend aufgestellt hatte, um die es inzwischen nicht sonderlich gut bestellt war. Das hatte ich bereits auf den wenigen Metern, die ich vom Bahnhof bis zum Roten Keiler zurücklegte, bemerkt. Auf diesem Weg hatte ich fünf Menschen getroffen, keiner davon jünger als fünfzig. Und die Gesichter, die sich im Inneren der Schänke in dichten Schwaden billigen Tabaks verbargen, hoben das geschätzte Durchschnittsalter der Anwohner auf sechzig.
In meiner Vorstellung avancierte Sternhammer bereits zum legitimen Nachfahren Victor Frankensteins, dessen Labor am Rande der Welt das feindselige Misstrauen der einfachen Dorfleute heraufbeschwor, sodass ich, nach dem Keilerstein fragend, bereits böse Blicke und sich hektisch bekreuzigende Menschen zu sehen fürchtete.
Doch nichts davon.
Stattdessen schienen jene in ihrem eigenen Rauch konservierten Greise sogar äußerst dankbar für die Klinik am Keilerstein. Derjenige, der mich schließlich zur Klinik, die ein wenig weiter oben inmitten des Waldes lag, hinauffuhr, erklärte mir, dass die Ärzte dort erfreulich unbürokratisch seien. Er selbst habe noch bis vor einigen Jahren ebenfalls im Sägewerk gearbeitet, bis ein Unfall ihn erst seine Hand, dann seine Arbeit und schließlich beinahe auch das Leben gekostet hätte …
Diese Erzählung, deren Leidtragender mir lachend offenbarte, wie er die Hälfte seines eigenen Armes hatte wegfliegen sehen, war meine erste Konfrontation mit Sternhammers Tätigkeit am Keilerstein. Es sei aber nicht weiter wild gewesen, erzählte mir mein Fahrer, Sternhammer und seine Kollegen hätten ihn wieder zusammengeflickt. Und mit diesen Worten griff er mit der Linken nach dem rechten Ärmel seines Holzfällerhemdes, streifte ihn mit einem Ruck bis zum Ellenbogen und enthüllte knapp darunter eine wulstige dunkle Narbe, die einmal rund um seinen Arm lief.