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Die Weihnachtsgeschichten in diesem Buch handeln von Verschwörungen, Wrestling und elektronischen Predigern. Sie spielen im Wilden Westen, in Transsilvanien und in der Psychiatrie. Ihre Helden sind kleinwüchsige Wrestlingmanager, christliche Softwareentwickler, Vampire und desertierte Weihnachtselfen, deren garstige und sonderbare Geschichten nicht nur außerordentlich amüsant sind, sondern für den Leser auch noch eine Reihe verstörend vergnüglicher Wahrheiten über den Weihnachtsmann bereithalten. Sie ahnen es bereits: diese Weihnachtsgeschichten sind anders. Sogar anders als andere andere Weihnachtsgeschichten.
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Seitenzahl: 162
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1. Auflage Oktober 2017
Copyright © 2017 by Edition Roter Drache.
Edition Roter Drache, Holger Kliemannel, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel; [email protected]; www.roterdrache.org
Umschlaggestaltung und Illustrationen: benSwerk, www.benswerk.de
Buchgestaltung: Holger Kliemannel
Lektorat: Hanka Jobke, www.lektographem.de
Gesamtherstellung: Wonka Druck, Deutschland
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.
ISBN 978-3-964260-36-9
Cover
Titel
Impressum
DIE ROTE HORDE
Eine weihnachtliche Geschichte in klassischen Kostümen
OH TANNENBAUM
KARPATENWEIHNACHT
oder: Das schlechteste Geschäft meines Lebens
NUR EIN PATIENT
EIN GESCHENK VON AUßERORDENTLICHER GRÖßE
christmas makes the world go round
FRÖHLICHE BLEINACHTEN
eine wundersame Wild-West-Weihnachtsgeschichte
NEUE WEGE
Die Zukunft der Religionstechnik nach dem Weihnachtsdebakel
EINES NACHTS IM DEZEMBER
oder: Wie es mir, aller widrigen Umstände zum Trotz, gelang, das Weihnachtsfest zu retten
XMAS BASH
wie Big Bad Bob und General Jihad das Weihnachtsfest retteten
DAS PROTOKOLL
Autor / Illustrator
Zum Mittag des 24. Dezembers war die Cantina Capone miserabel besucht. Rocco Grimaldi, den Betreiber des Restaurants, wunderte das allerdings wenig, denn die Cantina war weniger dafür da, schwarze Zahlen zu schreiben, als vielmehr die Geschäfte zu verschleiern, die in ihrem Hinterzimmer getätigt wurden. Bei besagtem Hinterzimmer handelte es sich aufgrund architektonischer Einschränkungen um die Küche. Grimaldi hatte die komplette Gastroeinrichtung auf den Schrott schaffen lassen und der Akt des Kochens oblag seitdem einigen Mikrowellen. Anstelle von Ofen, Herd und Spüle beherbergte die Küche der Cantina Capone nunmehr einige Druckerpressen und die größte Fälscherwerkstatt der Stadt.
Während Rocco Grimaldi sich im Kellneroutfit um die Mikrowellen und die wenigen Gäste gekümmert hatte, war Grimaldis rechte Hand, Tertio Gamba, am Mittag dieses 24. Dezembers in der Stadt gewesen, um dort ihren Informanten Luigi „das Frettchen“ Freneto zu treffen.
Zwischen Tagliatelle al forno und Spaghetti alla carbonara hatte Grimaldi in der ehemaligen Küche nebenbei das Verhör Sergej Wokalenkos, eines russischen Kleinkriminellen, in die Hand genommen, und als Tertio Gamba gegen 12.30 Uhr aufgeregt durch die Cantina hastete, saß Wokalenko, geknebelt und an einen Stuhl gefesselt, zwischen den Druckmaschinen. Grimaldi stand gerade im Begriff, seinem Gegenüber mit einer Geflügelschere (einem der wenigen Küchenwerkzeuge, das sie behalten hatten) einen kleinen Finger abzuschneiden.
„Hör zu, Russe, du weißt, dass ich das nicht gerne tue, weil ich eigentlich ein friedlicher und ruhiger Mensch bin …“ Grimaldi schob seinen Zigarrenstummel von einem Mundwinkel in den anderen.
Wokalenko stand Schweiß auf der Stirn. Mit schreckensweiten Augen starrte er auf die Geflügelschere und seinen Finger, der, einem tollkühnen Fremdkörper gleich, zitternd zwischen den beiden Schneiden herausragte.
„Also, wenn ich mich recht entsinne, schuldest du uns fünfzehntausend. Und das, mein Freund, tust du nun schon so lange, dass wir das heute irgendwie begleichen müssen. Wenn ich dein Auto, deine Uhr und deine Anteile an Glogovs Pferdewetten abziehe, bleiben noch fünf. Und damit du die nicht vergisst, muss ich dir quasi einen Knoten ins Taschentuch machen. Bedauerlicherweise hast du aber kein Taschentuch dabei …“
Wokalenko schluckte. Grimaldi schloss grinsend die Schere. Der Finger purzelte zu Boden und kullerte Richtung Tür.
In diesem Moment stürzte Gamba in die Küche. „Boss, du musst verschwinden.“ Er rang nach Luft. „Irgendjemand hat gesungen, die Bullen werden …“
Grimaldi funkelte ihn an: „Kann ich das hier bitte noch kurz zu Ende bringen?“ Er wies auf Wokalenko, der mit flackernden Augenlidern auf seinem Suhl saß.
Gamba betrachtete den Russen, seine Hand, folgte mit den Blicken dem Blut, und dann sah er ihn: den Finger. Eine der Mikrowellen machte leise Pling.
Grimaldi sprang fluchend auf, warf die Geflügelschere beiseite und spuckte seinen Zigarrenstummel aus, um einen Teller Fettuccine al Tucci ins Restaurant zu tragen.
Mitleidig betrachtete Gamba den Russen und nickte in Richtung Tür. „Du weißt ja, wie er ist.“ Als seine aufmunternden Worte ihre Wirkung verfehlten, holte er noch etwas weiter aus. „Ist ja nicht persönlich gemeint.“ Doch Wokalenkos Stimmung schien sich nicht zu verbessern. Da öffnete Gamba einen Kühlschrank, zog eine offene Packung Tiefkühlkräuter hervor und bückte sich nach dem Finger. „Weißt du, wenn du ihn gut kühlst, kriegen die ihn im Krankenhaus innerhalb der nächsten zwei Stunden wieder drangenäht.“ Lächelnd hob er seine Hand und ließ den Russen die Narbe sehen, die an der Wurzel seines eigenen kleinen Fingers entlanglief. „Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche.“ Dann ließ er Wokalenkos Finger in die Kräuterpackung fallen, knüllte diese zusammen und schob sie ihm in die Gesäßtasche. „Wir sind ja keine Unmenschen. Fröhliche Weihnachten!“ Er knuffte den Russen in die Schulter, und Wokalenko verlor das Bewusstsein.
Grimaldi kam zurück, schob sich seinen Zigarrenstumpen zurück in den Mund und eilte zum Kühlschrank, um eine weitere Mahlzeit in die Mikrowelle zu schieben. Dann blickte er Gamba fragend an. „Also, was ist jetzt mit den Bullen?“
„Sie kommen. Heute Nachmittag.“ Gamba blickte sich um. Er schaute von den ordentlich gestapelten Geldbündeln an der Wand hinüber zu den Maschinen und zuckte mit den Schultern. „Das Zeug werden wir in der Zeit kaum rausschaffen können. Aber zumindest du solltest verschwinden. Mit dem Geld. Und den Druckplatten.“
Grimaldi runzelte ungläubig die Stirn. „Verschwinden? Ich? Rocco Grimaldi? Dem die Hälfte dieser verschissenen Stadt gehört, der mit dem Bürgermeister golft, mit dem Staatsanwalt diniert und jedes Jahr so viel für die Wohlfahrt stiftet, dass die Leute ihn fast für einen Heiligen halten? Stronzo! Man kennt mich! Wie sollte ich unerkannt aus der Stadt verschwinden, du blöder Itaker, hm?“
Gamba starrte ihn an. Er wirkte etwas gekränkt, war er doch eigentlich davon ausgegangen, dass Grimaldi ihm für die Warnung dankbar sein würde. Viel weiter hatte er nicht gedacht.
Grimaldi fluchte leise und Gamba entdeckte Wokalenkos Sachen. Sie hatten ihn mit zwei großen Plastiktüten an einer Straßenecke aufgegriffen und sich gewundert, was ein russischer Gauner mit einem Weihnachtsmannkostüm vorhatte. In diesem Moment jedoch erschien es Gamba plötzlich wie ein Wink des Himmels.
„Mach dir keine Sorgen Boss. Ich hab eine Idee.“ Mit diesen Worten zog er lächelnd das Weihnachtsmannkostüm und einen großen Jutesack aus den Tüten hervor.
Missmutig musterte Grimaldi den roten Mantel, den weißen Rauschebart und die klobigen Stiefel. Sein Blick ließ dabei keinerlei Begeisterung erahnen. Und das tat er auch nicht, als Gamba ihm das Kostüm zuwarf und dann eilig begann, die falschen Hunderter in den Sack zu stopfen.
Eine der Mikrowellen machte erneut Pling und Grimaldi begann sich missmutig auszuziehen.
Der Metzgermeister Günther Perlberg lebte seit gut dreißig Jahren zusammen mit seiner Frau am Rand der Stadt in einer geschmacklosen Neubausiedlung. Hier hatten die Perlbergs jedes Weihnachtsfest auf die gleiche Weise wie das vorherige verbracht: Jedes Jahr war er in sein Weihnachtsmannkostüm geschlüpft und hatte versucht, sich mit alten Keksen, matschigen Mandarinen und Lebkuchen vom Vorjahr bei der Nachbarschaft beliebt zu machen. Seine Frau hatte sich währenddessen zuhause mit Sherry betrunken, und abends hatten sie dann gemeinsam Karpfen gegessen.
Günther Perlberg liebte seine Frau. Dass er es tat, war unbestreitbar, da keiner, der sie nicht liebte, es so lange mit ihr ausgehalten hätte. Und weil Günter Perlberg seine Frau wahrhaftig geliebt hatte, erschlug er sie erst nach dreißig Jahren Ehe gegen Mittag des 24. Dezembers und mit einem tiefgefrorenen Karpfen. Bis dahin hatten ihn ein guter Therapeut und eine Reihe starker Psychopharmaka davon abgehalten. Letztere hatte er jedoch Anfang November abgesetzt, nachdem sein Dackel Boromir gestorben war. Von da an hatte es für Perlberg keinen Grund mehr gegeben, die Illusion einer heilen Familie aufrechtzuerhalten.
Und so lag seine tote Frau nun also vor ihm, direkt unter dem Weihnachtsbaum, in einer Lache billigen Sherrys. Perlberg im Weihnachtsmannkostüm ließ seinen Sack fallen und wankte zur Musikanlage hinüber, legte eine CD ein und lauschte andächtig den Weihnachtsliedern eines manischen finnischen Kinderchors. Dann ging er in die Küche hinüber, um kurz darauf mit einem großen Messer zurückzukommen und sich leise summend über seine Frau zu beugen.
Ralf Kreidler und Dubo „der Hammer“ Svopcic waren harte Kerle, mit denen nicht zu spaßen war und deren gemeinsames Vorstrafenregister für eine mittlere Kleinstadt ausgereicht hätte.
Am frühen Nachmittag des 24. Dezember saßen sie gegenüber einer Bank auf dem Rücksitz eines geklauten Volvos und warteten seit zwei Stunden auf niemand Geringeren als Sergej Wokalenko. Nach Ablauf dieser Zeit beschlossen sie, es ohne ihn zu tun. Auch wenn Wokalenko die Idee gehabt und die Bank ausgekundschaftet hatte, weil er es gewesen war, der das Geld so dringend brauchte. Wokalenko hatte die Kostüme und die Waffen besorgt, sie dann aber warten lassen. Doch eine solche Möglichkeit konnten weder Svopcic noch Kreidler sich entgehen lassen: Diese Bank, an diesem Tag, in diesen Kostümen, war eine reelle Chance, sich für ein paar Jahre zu sanieren. Und dafür war es verdammt noch einmal Zeit.
Beide hatten große Träume: Svopcic etwa spielte mit dem Gedanken, sich mit dem Geld ein paar seltene thailändische Krebse zuzulegen: Poo-Kai, sogenannte Chicken Crabs. Verrückte Viecher, die auf Bäume klettern und wie kleine Küken gackern konnten. Svopcics Deutsch war allerdings miserabel, weshalb Kreidler glaubte, dass er Krebs hatte und das Geld für irgendeine kostspielige Therapie brauchte, die nur in Thailand angeboten wurde. Kreidler hatte Mitleid mit seinem Freund und hatte sich vor allem zu diesem Banküberfall hinreißen lassen, um seinem alten Kumpel Dubo etwas Hoffnung zu geben.
Kreidler selbst träumte seit drei Jahren schon – seit er einen gesehen hatte – von einen 1932er-Ritchley-Parkinson-Cabrio. Seit die beiden Männer sich kannten, schwärmte er von diesem Oldtimer. Und seit sie sich kannten, verstand Svopcic Alzheimer. Und natürlich Parkinson. Darum hatte er auch immenses Mitleid mit Kreidler. So viel, dass er sich zu dieser Aktion hinreißen ließ.
Beide Männer saßen noch einen Moment im Wagen, dann blickte Kreidler auf seine Uhr und nickte Svopcic zu. Wortlos nahmen sie zwei Plastiktüten vom Rücksitz, deren Inhalt den Volvo als Fluchtwagen überflüssig machen würden. Mit den darin befindlichen Kostümen würden sie in wenigen Minuten, mit einem Sack voll Bargeld über der Schulter, inmitten zahlloser Weihnachtsmänner untertauchen.
Kreidler war es, der, kaum dass er den Bart angelegt hatte und kurz bevor er den Gürtel schloss, das Schweigen brach: „Weißt du, Dubo, ich hoffe wirklich, dass das bei dir mit Thailand klappt, wenn wir das hier hinter uns haben. Wünsch ich dir von Herzen. Wegen dem Krebs und so. Frohe Weihnachten.“
Dubo nickte, während er den Rucksack öffnete, seine Uzi hervorzog und sie mühsam unter das Kostüm schnallte. In gebrochenem Deutsch antwortete er: „Ich wünsche dir auch Bestes. Für Parkinson und Olzimer. Dich auch fröhlichem Weihnachten.“
Einen Moment lang schauten die Männer einander an. Dann schlossen sie einander in die Arme und drückten sich so sehr, dass beinahe die Maschinenpistolen losgegangen wären. Dann erinnerten sie sich daran, was für harte Kerle sie waren, und verließen mit grimmen Blicken den Wagen, um die Bank mit aller gebotenen Härte zu überfallen.
Timon Peltzer studierte Forstwissenschaften – in einem Tempo, dass zu befürchten stand, dass es zu dem Zeitpunkt, da er sein Studium beendete, keine Wälder mehr gab. Aber er wollte dieses Studium um jeden Preis beenden. Er wollte es schaffen, wollte raus aus der Welt der Verlierer, aus den Plattenbauten, in denen seine Familie seit Generationen vor sich hinvegetierte. Sein Vater und sein Onkel waren Gauner. Der eine war im Knast und der andere untergetaucht, und das schon seit Jahren. Timon hatte mit seiner Familie schon lange nichts mehr zu tun. Genau genommen seit sein kleiner Bruder Ulf eine Gang gegründet und begonnen hatte, ihn regelmäßig zu verprügeln.
Doch Gangs und Plattenbauten – das war das Gesicht der Stadt. Und eben darum wollte Timon Peltzer in den Wald, und der Schlüssel zum Wald waren die Forstwissenschaften. Aufgrund eines psychologischen Gutachtens hatte er es bis ins 32. Semester geschafft und seinen Professoren irgendwie vermitteln können, dass es ihm noch immer ernst war mit den Laub- und Nadelhölzern seiner Heimat. Und natürlich dem Gingkobaum, der nicht nur ein lebendes Fossil, sondern auch seit drei Jahren Gegenstand seiner Diplomarbeit war.
In dieser Zeit hatte Timon unter anderem herausgefunden, dass das Rauchen von Gingkoblättern keine nennenswert bewusstseinserweiternden Effekte hatte, und dass Katzen ihm so ziemlich jede andere Pflanze vorzogen. Eben erst hatte er beobachten können, bei welchen Temperaturen ein Gingkobaum einging. Seit Mitte Dezember war die Heizung in seiner Wohnung ausgefallen und für seine beiden Gingkos hatte eine Woche bei -3 Grad Celsius gereicht. Als Nächstes würde er wahrscheinlich rausfinden, wie viel Grad die Katze brauchte.
Am frühen Nachmittag des 24. Dezembers hatte er seine Wohnung verlassen, um der Einführungsveranstaltung der studentischen Weihnachtsmannvermittlung beizuwohnen. Am frühen Abend würde er vermutlich an irgendeiner Straßenecke stehen, um dort den Geist der Weihnacht zu verbreiten. Timon kam eine gute Viertelstunde zu spät zu der Veranstaltung und platzte mit seinem Kostüm über dem Arm in den Vortrag des Oberweihnachtsmannes, den er trotz seines Bartes erkannte: Es war der BWL-Student Klaas Honebloom, quasi ein Weihnachtsmannveteran, der bei dieser Veranstaltung seit Jahren den festlichen Einpeitscher machte. Timon war es peinlich, inmitten von zweihundert Weihnachtsmännern der Einzige in zivil zu sein, weshalb er sich, eine unverständliche Entschuldigung mit Gingkos und Katzen murmelnd, auf einen leeren Platz fallen ließ.
Der Oberweihnachtsmann bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick und fuhr dann in seiner Rede fort: „Ich erinnere Sie, meine Herrschaften, an die Notwendigkeit pädagogischen Basiswissens, das sich sowohl auf die Kinder als auch ihre Eltern bezieht. Gerade diejenigen unter Ihnen, die heute Abend im Wohnumfeld bildungsferner Schichten zum Einsatz kommen, müssen dort jederzeit mit Angriffen rechnen. Vergangenes Jahr hatten wir ein halbes Dutzend Weihnachtsmänner an sozialen Brennpunkten im Einsatz. Diese wurden überwiegend dorthin bestellt, um von organisierten Jugendbanden ausgeraubt zu werden.
Die Vermittlung sieht es allerdings nicht gern, wenn Sie – und sei es auch zum Zwecke der Selbstverteidigung – Teleskopschlagstöcke oder Reizgas unter Ihren Mänteln mitführen. Sollten Sie im Rahmen einer Kampfhandlung mit derlei angetroffen werden, wird die studentische Weihnachtsmannvermittlung jede Kenntnis Ihrer Person oder Ihres Auftrages abstreiten. Diese Firmenpolitik hat sich in den vergangenen Jahren bewährt, wenn es darum ging, weihnachtlichen Überreaktionen entgegenzuwirken. Verlassen Sie sich stattdessen auf ihren Bart und gewisse Softskills: Gelassenheit, Geduld und Langmut, die Sie Hektik, Gedränge und Kindergeschrei sowie Klappmessern und Baseballschlägern entgegensetzen können. Für den Einsatz außerhalb der Familien gelten gesonderte Regeln, über die Sie vor Antritt Ihres Einsatzes in Kenntnis gesetzt werden. In diesem Sinne: Fröhliche Weihnachten!“
Und aus den Reihen der Weihnachtsmänner tönte es geschlossen zurück: „Fröhliche Weihnachten!“
Timon, der gerade seinen Bart zurechtrückte, gelang es, zumindest in das „…nachten!“ einzustimmen.
Eine halbe Stunde später stand er bei der Auftragsvergabe kurz davor, mit dem Waldstraßenviertel ein weihnachtliches Trinkgeldsahneschnittchen zu bekommen, als er Honebloom wehenden Schrittes näherkommen sah. „Ich denke nicht, dass Herr Peltzer bereit für den Familieneinsatz ist.“
Timon schwante Übles. Ganz ähnlich hatte der Weihnachtscapo auch letztes Jahr angefangen, bevor er ihn dann vor einer Zoohandlung mit Katzenstreupröbchen gefüllte Christbaumkugeln hatte verteilen lassen. Dieses Mal würde er ihn womöglich an eine Straßenkreuzung stellen, an der einige Weihnachtsmänner den Leuten die weihnachtlichen Werbegeschenke eines Sportladens, einer Erotikboutique und eines Waffenladens aufnötigen sollten.
Wenig später schwärmten die Weihnachtsmänner singend aus. Von Dutzenden Männerstimmen intoniert, hallte ein besinnliches Kling, Glöckchen, klingelingeling durch die Straßen der Stadt. Weihnachten hatte begonnen.
Rocco Grimaldi stand unweit der Cantina Capone und steckte sich gerade eine Zigarre an. Sein Sack lehnte neben ihm an der Wand.
Er beobachtete das Restaurant über seinen buschigen Bart hinweg mit zusammengekniffenen Augen, griff unauffällig in seinen roten Mantel und fühlte beruhigt den kühlen Griff seiner Beretta. Gerade schafften sie Wokalenko in Handschellen aus dem Laden. Sie hatten ihm eine Decke über die Schulter geworfen, er sah elend aus, und die tropfende Packung Tiefkühlkräuter in seiner Hand schien niemanden zu interessieren.
Grimaldi kniff die Augen zusammen. Für Wokalenko war das Zehnfingersystem seit heute passé. Wahrscheinlich war er sauer und würde den Bullen von dem Kostüm erzählen. Es war einer jener keinesfalls seltenen Momente, in denen ein Italiener nicht wusste, ob er beten oder fluchen sollte. Bevor Rocco Grimaldi sich aber für eine dieser beiden Möglichkeiten entscheiden konnte, schwappte eine rot-weiße Welle studentischer Weihnachtsmänner durch die Straße. Der Italiener zögerte keine Sekunde, und im nächsten Augenblick hatten die Studenten ihn bereits fortgeschwemmt, und er stimmte ein in den weihnachtlichen Choral.
Günther Perlberg war mit dem Wagen und den Resten seiner Frau im Kofferraum in die Stadt gefahren. Den größten Teil hatte er daheim filetiert, den Rest in der Metzgerei verarbeitet. Knochen und Knorpel hatte er schließlich in einem Sack an die Straße gestellt und die letzten beiden Stunden damit zugebracht, das Fleisch abzupacken und zu etikettieren, um es später auf der Straße an diejenigen zu verschenken, die versäumt hatten, Karpfen, Gans oder einen anderen Festtagsbraten zu erwerben.
Zeitlebens hatte seine Frau mit Sicherheit niemanden glücklich gemacht, das würde Günther Perlberg nun ändern. Gerade als er mit der Arbeit fertig war und die gut vierzig Pakete in einen anderen Sack gesteckt hatte, sah er draußen vor der Tür eine Herde Weihnachtsmänner vorbeitraben. Ohne zu zögern schulterte er das Fleisch, öffnete die Ladentür, fing an zu singen und tauchte in das rot-weiße Meer weihnachtlicher Nächstenliebe ein.
Svopcic und Kreidler hatten dieses Mal nicht einmal jemanden anschießen müssen. Sie hatten sogar den Eindruck gehabt, dass selbst die Bankangestellten – so eilig, wie sie ihnen das Geld überlassen hatten – irgendwie vom Geist der Weihnacht beseelt gewesen waren. Es war beileibe nicht ihr erster Bankraub, aber mit Abstand der harmonischste gewesen.
Nachdem sie sich von den Bankangestellten verabschiedet hatten, verließen sie die Bank mit einem prall gefüllten Sack Geld. Überwiegend Hunderter. Und wie gut das Schicksal es wirklich mit ihnen meinte, merkten sie im nächsten Moment, als Kreidler am Straßenrand einen vollen Jutesack auflas, der der verräterischen Tatsache ein Ende setzte, dass nur einer von ihnen einen Sack über der Schulter trug.
Das Schicksal aber meinte es sogar noch besser mit ihnen, denn wenig später schon gerieten sie auf der Straße in den ausschwärmenden Weihnachstmannmob und waren im nächsten Moment inmitten roter Mäntel, Säcke und Bärte verschwunden.
Das Gros der Weihnachtsmänner strebte zunächst in eine Richtung. Eine massive rot-weiße Wand, geballte Besinnlichkeit, der sich nichts und niemand an diesem Tag entgegenstellen konnte.
Timon Peltzer trabte im Gleichschritt mit. Er ärgerte sich darüber, das Waldstraßenviertel nicht bekommen zu haben. Und auch über das, was er stattdessen bekommen hatte. Honebloom hatte ihm den Sexshopjob gegeben. Den Rest des Tages würde Timon also damit verbringen, billig verarbeitete grüne Plastikpimmel in Weihnachtsbaumform zu verteilen und den Leuten ein geiles Fest zu wünschen.
Er fühlte sich schmutzig. Unweihnachtlich. Wie eine weihnächtliche Rauschebartprostituierte im Dienste des Kapitals. Und obwohl all die Leute um ihn herum doch nichts anderes waren, hatten sie mit Sicherheit Besinnlicheres in ihren Säcken.
Was immer sie aber auch mit sich trugen, sie alle schritten gemeinsam. Eine geschlossene Weihnachtsmannarmee, bereit, ein wenig Freude, ihre Beute in Sicherheit und die Überreste ihrer Frau an den Mann zu bringen.
Nachdenklich betrachtete Kommissar Krampus die Monitore. Sie alle zeigten, wie jedes Jahr zu dieser Zeit, das gleiche Bild: Weihnachtsmänner. Dutzende. Hunderte. Dies war der Moment, in dem die Studenten ausschwärmten und sich mit anderen marodierenden Weihnachtsmännern mischten, um die Stadt auf das Besinnlichste zu überrennen.
Aber nicht alle von ihnen waren ausgezogen, den Menschen das Bewusstsein um die Wunder der christlichen Nächstenliebe unter den Baum zu zaubern. Unter dem roten Deckmäntelchen der Weihnachtsmännlichkeit ließ sich auch allerlei Schindluder treiben. Studien hatten ergeben, dass statistisch gesehen jeder zehnte Weihnachtsmann Dreck an der Rute hatte.
Das SEK Weihnachtsmann war bestens vorbereitet auf die Situation. Man hatte bereits einige Jahre Erfahrung und inzwischen genügend Überwachungskameras in der Stadt installiert, um heimlich in jeden erdenklichen Sack zu schauen. Im vergangenen Jahr hatten sie zwar einen Rückschlag hinnehmen müssen, als man ihnen kurz vor Weihnachten einen Großteil der Überwachungskameras geklaut hatte, aber jetzt wurde jede Kamera von einer weiteren überwacht, sodass derlei nicht noch einmal passieren würde.