Ein dunkler Moment - Rabea Edel - E-Book

Ein dunkler Moment E-Book

Rabea Edel

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  • Herausgeber: Luchterhand
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Von der geheimen Faszination des Bösen

Auf unheimliche Weise ist die Amerikanerin Amanda in zwei elf Jahre auseinander liegende Morde verwickelt. Angelehnt an zwei reale Fälle geht Rabea Edel dieser Verbindung nach und löst Schritt für Schritt das Geflecht von scheinbaren Zufällen und verborgenen Zusammenhängen. In bestechend klaren Bildern erzählt sie die spannende Geschichte eines Mordes und seiner späten Konsequenzen und wirft dabei ein Licht auf die Momente, in denen das Dunkle, Unfassbare aus einem Menschen hervorbricht – und sei es nur für einen kurzen, verhängnisvollen Augenblick.

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Seitenzahl: 184

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Inhaltsverzeichnis

Inschrift1998 – 1999
Sonntag, 5. April 1998. - Carnation City. 17:00.Sonntag, 5. April 1998. - Rom. Trastevere. 20:00.Montag, 6. April 1998. - Carnation City. 05:30.Montag, 6. April 1998. - Rom. Trastevere. 9:00.Montag, 6. April 1998. - Carnation City. 13:00.Montag, 6. April 1998. - Olma. 23:00.Donnerstag, 9. April 1998. - Carnation City. 10:00.Dienstag, 6. April 1999. - Rom. Testaccio. 6.00.Mittwoch, 7.April 1999. - Rom. Testaccio.12:00Freitag, 7. Mai 1999. - Rom. Piramide.16:00.Freitag, 7. Mai 1999. - Carnation City.Mittwoch, 5. Oktober 1999. - Rom.19:45.
2009
Sonntag, 5. April 2009. - Rom. Via St. Lucia. 17:10.Sonntag, 5. April 2009. - Rom. Via Sannino. 17:00.Sonntag, 5. April 2009. - Rom. Trastevere. 19:30.Sonntag, 5. April 2009. Rom. 23:58.Montag, 6. April 2009. - Rom. Via St. Lucia. 7:00.Montag, 6. April 2009. - Rom. Trastevere. 17:00.Dienstag, 7. April 2009. - Rom. Trastevere. 6:00.Dienstag, 7. April 2009. - Rom. Trastevere. 8:00.Dienstag, 7. April 2009. - Rom. Ponte Mammolo. 09:25.
2000 – 2008
Freitag, 5. April 2000. - King County Jail. 15:00.Mittwoch, 5. September 2001. - Ilawoh. 12:30.
2009
Dienstag, 7. April 2009. - Olma. 23:00.Mittwoch, 8. April 2009. - City-Night-Line 484. Roma Termini – München Hbf. (via Fir.*SMNBologna C.le*Verona P. N.*Brennero*Kufstein). 00:30.Mittwoch, 8. April 2009. Rom. Trastevere. 16:00.Mittwoch, 8. April 2009. - München. 18:00.Donnerstag, 9. April 2009. - München. 9:50.Donnerstag, 9. April 2009. - Rom. Volpe. 21:00.Freitag, 10. April 2009. - Olma. 8:30.Freitag, 10. April 2009. - Rom. 9:00.Samstag, 11.April 2009. - Olma. 19:00.Sonntag, 12. April 2009. - Rom. Trastevere. 11:00.Montag, 13. April 2009. - Rom. 14:00.14. April 2009 - Rom. Trastevere. 10:00.
DANKECopyright

»Die einzige Wahrheit ist, dass ich mir der Wahrheit nicht sicher bin. Ich war nicht dort.«

[Amanda Knox]

Ich hatte die Augen geschlossen, als sie sich neben mich auf das Bett setzte, sehr vorsichtig die Hand unter meinen Nacken schob, ihn festhielt und mit einer schnellen Bewegung das Messer von links nach rechts durch meinen Hals zog. Ein roter Sprühregen, der zu einem Fluss auf das Laken wurde, als sie zurückzuckte, das Messer aus der Wunde nahm, und ich die Augen öffnete. Mein Blick traf ihren Blick. Der Schnitt klaffte auf, Luft wurde ins Herz gepumpt, Blut geriet in Nase und Mund. Ich tastete nach meinem Hals, mein Körper krampfte, meine Hand schlug zur Seite und traf sie hart ins Gesicht. Ich sah sie an und mein Blick wurde starr.

Sie wartete, bis ich ruhig lag. Dann bettete sie meinen Kopf auf das Kissen, stand auf und zog ihr Kleid zurecht. Atmete ein und aus. Spürte das Senken der Lider über den Augäpfeln, das Zusammenstoßen der Wimpern, ein Zittern in den Knien. Wie die Haut den Stoff ihrer Kleidung berührte, und die Luft ihre nackte Haut. Das leichte Schwanken des Körpers, als sie das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Mein Blut körperwarm auf ihren Unterarmen, an den Fingern und im Gesicht. Meine Beine waren verdreht, mein Kopf war zur Seite gekippt.

Noch eine Weile stand sie vor dem Bett und sah zu, wie die dunklen Flecken auf dem Laken wuchsen, und in diesem Moment ähnelte sie Dir, Billy, mehr als mir.

Vorsichtig, wie, um mich nicht zu wecken, nahm sie unser T-Shirt vom Boden auf, wickelte das Messer darin ein und ging hinaus.

Im Bad wusch sie sich das Blut von den Händen und aus dem Gesicht, spülte sorgfältig das Porzellanrund des Beckens nach, betrachtete ihr Spiegelbild und erkannte sich nicht. Sie nahm meine Haarbürste aus der Kosmetiktasche, und kämmte ein paar meiner Haare mit in den strammen Zopf, den sie sich hoch auf dem Hinterkopf band. Dann tauschte sie ihr dunkles Kleid gegen mein weißes ein, das ich am frühen Nachmittag ausgezogen und für sie über die Duschstange gehängt hatte, malte mit meinem Lippenstift ihren Mund rot, drehte sich um und zog die Lederjacke an, nahm das eingewickelte Messer und steckte es in die linke Innentasche, faltete ihr Kleid zusammen und schob es in die rechte Innentasche, band sich die Schuhe zu.

Ein kurzer Blick aus dem Küchenfenster. Ein paar Vögel in den Ästen der Zitronenbäume auf dem schmalen Rasenstück vor dem Haus. An der Straßenecke ein Mann, der von der Ladefläche seines Wagens herunter Erdbeeren verkaufte. Der graue Bogen der Tangente, die auf Stelzen aufgebockt hinter der Wohnsiedlung in die Stadt mündete, die tiefstehende Sonne, die von den Blechkarosserien und Fenstern der Autos zurückgeworfen wurde.

Noch einmal tastete sie nach dem Messer, das Päckchen auf Herzhöhe, nahm dann meinen Pass und den Wohnungsschlüssel, die, wie zuvor verabredet, auf dem Küchentisch lagen. Der Erdbeermann stapelte die letzten Steigen aufeinander und sprang von der Ladefläche. Zwei Kinder mit Palmkätzchen in der Hand rannten an ihm vorbei. Sie wartete, bis sich die Straße vor dem Haus geleert hatte. Dann trat sie hinaus, sah nach rechts und links, und zog die Haustür hinter sich zu.

Du wirst sie mögen, Billy, sie wird alles anders machen als ich: Sie wird Dir schreiben und sie wird Dich besuchen, ich habe ihr ein Flugticket gekauft. Es ist der fünfte April zweitausendundneun, kurz nach fünf Uhr am Nachmittag. Ab jetzt wird alles wieder gut.

1998 – 1999

Sonntag, 5. April 1998.

Carnation City. 17:00.

Der Hund hatte den niedrigen Gartenzaun erreicht und sprang mit einem Satz hinüber. Erst auf der Straße blieb er stehen und sah sich nach dem Jungen um, der im flachen Wasser des aufblasbaren Schwimmbeckens saß, den zweiten Stein fallen gelassen hatte und beide Hände auf die Ohren presste. Im hinteren Teil des Gartens sirrte ein Rasensprenger. Die Blätter der Platanen warfen Schatten auf das Gesicht des Jungen. Der Hund stellte die Ohren auf. Das Geräusch eines Dodge Nitro, der in die Straße einbog und langsam auf ihn zufuhr, während er das Schienbein nach vorne streckte und etwas aus dem Fell biss, sich dann noch einmal umdrehte und die Straße hinabsah, bevor er den Hügel hinauf humpelte und hinter der Kuppe verschwand, von der man bis zu Joe’s Liquor und zur Tankstelle hinuntersehen konnte.

Auf der anderen Seite des Hügels lag das Feld mit den Trailern. Von Weitem glichen die großen, beigelackierten Wagen einer Herde grasender Büffel. Neben dem Platz zweigte ein Weg von der Hauptstraße ab, führte durch ein einzeln stehendes Eisentor und schnitt eine gerade Linie in die Ebene. Mauerreste ragten aus dem Buschwerk hervor, ein Schilderpfahl mit einem letzten verbliebenen Pfeil, der in Richtung des Horizonts wies. Die Schrift war verwittert, das Holz vom Winterregen ausgewaschen.

Der Hund hatte die Tankstelle erreicht, hob das Bein gegen eine Säule, dann bog er hinter dem Trailerpark auf einen schmalen Feldweg ab, der sich fast unsichtbar durch das Gebüsch schlängelte. Noch einmal drehte er den Kopf in Richtung des Hügels, hinter dem der Junge im Schwimmbecken saß und vorsichtig erst die linke, dann die rechte Hand von den Ohren nahm, den Kopf schüttelte, mit der Faust einmal, zweimal hart ins Wasser schlug, so dass es glitzernd im Licht aufspritzte. Dann verschwand das Tier im Buschwerk neben dem Pfad.

Billy stand auf, griff in die Hosentasche, wartete, bis die Wasseroberfläche glatt war, dann ließ er einen Stein ins Wasser fallen und betrachtete die Kreise. Ließ einen zweiten Stein ins Wasser fallen, sah zu, wie die Kreise sich überschnitten. Lief im durchnässten Baseballtrikot zum Zaun hinüber. Der Wind auf der nassen Haut. Die ausgeblichenen Partygirlanden, die seit dem Barbecue im letzten Sommer zwischen dem Hauseingang und den zwei großen Platanen gespannt waren, knatterten. Billy griff mit den Händen um den Zaunpfahl, bis die Knöchel weiß hervortraten, und sah dem Auto entgegen.

Der Hund hatte sich zwischen den Mauerresten im Schutz der Büsche zusammengerollt und biss die Wunden am Rücken und an den Hinterläufen sauber. Billys Steine hatten scharfe Kanten. Über der Schnauze rann ein dünner roter Faden in seine feuchte Nase, aus dem Ohr blutete es stärker. Der Schwanz war eingeknickt, als wäre er gebrochen, und lag bewegungslos neben ihm auf dem trockenen Boden.

Die Mutter öffnete die Autotür und stieg umständlich aus, lief mit einem Kleidersack über dem Arm ins Haus hinein, ohne Billy zu beachten, der am Rand des Grundstücks stand und in die Luft starrte. Plötzlich hielt Amanda mit dem Fahrrad vor ihm und ließ die Klingel aufschnarren.

Seine Schwester stieg ab und ließ das Rad gegen den Zaun sinken. »Was ist los?«, fragte sie, kniff die Augen gegen die Sonne zusammen und musterte ihren Bruder, streckte die Hand aus, griff in seine Hosentasche und nahm die zwei letzten Steine heraus. »Wo ist Mom?« Billy machte eine Kopfbewegung in Richtung des Hauses und bückte sich nach dem Baseballschläger, der im Gras lag. »Heute Nacht, Amanda«, sagte er. Seine Schwester schleuderte die Steine auf die Straße, einer sprang hoch, prallte gegen die Beifahrertür des Dodge und hinterließ einen Kratzer im Lack. Sie drehte sich um und lief die Straße hinunter, an den Vorgärten und Autos der Nachbarn vorbei. »Heute Nacht. Du wirst schon sehen!«, rief Billy ihr hinterher. Er sah zu, wie Amanda den Hügel hinaufging und, wie zuvor schon der Hund, hinter der Kuppe verschwand.

In der Küche räumte seine Mutter leere Schnapsflaschen in Papiertüten, versprühte Raumduft Zitrone-Ananas, wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Oberlippe. Der unterste Knopf ihrer Bluse war aufgesprungen, darunter kam das weiche helle Fleisch ihres Bauches zum Vorschein. Billy drehte sich angewidert um, als seine Mutter aufsah und ihn gedankenverloren anlächelte. Auf der Bistrotheke tauten zwei Steaks an, das wässrige Blut sammelte sich auf der weißen Plastikunterlage.

Billy wog den Baseballschläger in der Hand und ging auf sein Zimmer. Das regelmäßige Tocken des Schlägers am Handlauf, das jedem Schritt nachklang, während Amanda sich im Feld neben dem Hund zusammenrollte, ihm über das räudige Fell strich, über das verkrustete Blut am Wundrand, an Schnauze und Ohr. Billy schloss die Augen, hielt die Luft an, setzte einen Schritt über den anderen, ließ den Schläger gegen das Holz federn, ein Geräusch, als treffe er auf Knochen. Der Rhythmus ersetzte das Atmen, die Luft staute sich in den Lungen, Tock, Tock, Tock, nach jedem Schritt ein Schlag, dann plötzlich Stille, als der Schläger ins Leere schwang. Seine Füße versackten im Teppichboden.

In der Küche klopfte seine Mutter die Steaks, rührte Marinade an, das Klappern des Plastiklöffels im Glas, dazu das Auf und Ab ihrer Stimme, sie telefonierte wie immer mit Lautsprecher.

Billy ging am ersten Zimmer vorbei, das der Treppe gegenüber lag. Seine kleine Schwester saß auf dem Bett. Sie hatte die Fingerknöchel im Mund. Billy sah sie nicht, ging, ohne die Augen zu öffnen, auch am zweiten und dritten Zimmer vorbei. Beharrlich flutete die Stimme der Mutter durch die Decke. Am Ende des Flures blieb er stehen und stieß die angehaltene Luft aus. Das Bild eines zerspringenden Schädels. Etwas, das plötzlich in zwei Teile barst, ohne ein Geräusch und in Zeitlupe.

Im Feld hob der Hund träge den Kopf, leckte sich mit der Zunge über die verkrustete Nase, sprang plötzlich auf und fiel jaulend neben Amanda zurück auf die Seite. Das verletzte Hinterbein knickte einfach unter ihm weg. Amanda spürte, wie der Tag sich um sie herum zusammenzog, zu einem Kokon wurde. Sie bemerkte die Steine nicht, die sich durch den Stoff der Kleidung drückten, den Sand nicht, der überall klebte, zwischen den Zähnen, im Haar, in den Augenbrauen. Da war nur der Atem des Hundes, nah an ihrem Gesicht, der faulige Geruch nach altem Tier. Der Hund hatte die Augen geschlossen und gab nur ab und zu einen tiefen Laut von sich. Wenn Amanda den Kopf hob, sah sie die vereinzelten Lichter der Trailer, die zwischen ihr und dem Hügel standen.

Nach dem Abendessen saß Billy an Amandas Schreibtisch und blätterte in ihrem Notizbuch. Ein Nachtfalter stieß dumpf gegen das Fenster. Billy las und tippte nervös mit dem Fuß gegen das Stuhlbein, suchte, ob sie etwas über ihn geschrieben hatte, blätterte immer weiter, während das Insekt gegen die Scheibe stieß, aber er kam im Leben seiner Schwester nicht vor.

Billy sprach einzelne Sätze laut: »Erst muss unsere Seele heil werden, dann kann unser Körper folgen.«

Auf der nächsten Seite: »Liebe Amanda, vielen Dank für die Einsendung Deiner Fotos und Deiner Bewerbung für den Showteil des New Mickey Mouse Club. Da im Showteil nur Kinder auftreten, die außerordentliches Können als Sänger, Tänzer oder Musiker mitbringen und eine ausgeprägte Bühnenpräsenz haben, konnten wir Dich leider nicht berücksichtigen. Trotzdem wünschen wir Dir alles Gute, und hoffen, dass Du auch in Zukunft Freude daran hast, Deine Talente mit anderen zu teilen.«

Billy überblätterte ein paar Seiten. »Und dann ist Mutter durchgedreht und hat mich ins Camp Kiwi geschickt, so ein Camp von bekennenden Christen«, las Billy und erinnerte sich an nichts davon. Weder an das Camp noch an das schlechte Video, das seine Schwester tatsächlich mit der Kamera des Vaters aufgenommen hatte, und auf dem sie einfach nur in der Mitte ihres Zimmers zu sehen ist und geradeaus schaut, ohne zu tanzen oder zu singen oder etwas über sich zu erzählen.

Weiter hinten: »Es wird Frühling. Die Kirschblüten sind so hübsch. Wenn ich keine Scheiße baue, darf ich zurück nach Hause. Und so etwas wie Liebe unter Mädchen gibt es nicht, weil alle Mädchen knallhart konkurrierende Fotzen sind. Trotzdem will ich, dass meine Freundin hier übernachten darf. Sie ist so schön.«

Billy überblätterte die nächsten Seiten. Schließlich der letzte Eintrag: »Billy und ich haben eine lange seltsame Reise vor uns. Wir sind erstens aus Reinheit geboren und zweitens und noch wichtiger aus Verzweiflung. Aber ich will innerlich sauber sein und äußerlich blitzblank und rein. Mein Gesicht in Fliederblüten oder Kirschblüten oder Sonstwasfürblüten vergraben. Und ich muss mich beeilen.« Der Nachtfalter hatte sich an den unteren Rand des Fensterrahmens gesetzt.

»Ich will innerlich sauber sein und äußerlich blitzblank und rein«, wiederholte Billy und klappte das Buch zu, »ich will innerlich sauber sein und äußerlich blitzblankrein.«

Der Baseballschläger lag hinter ihm auf Amandas Bett. Seine kleine Schwester schlief. Seine Mutter saß vor dem Schminkspiegel und rieb mit ölgetränkten Wattepads in ihrem Gesicht herum. Der Vater las die Zeitung im Bett.

Amanda stand auf, als das Reklameschild der Tankstelle aufflackerte, dahinter das Logo von Joe’s Liquor und die Coca-Cola-Werbung.

Der Hund hatte die Augen geschlossen. Vom Boden kroch jetzt Kälte in die Knochen, sein Fell war dünn. In einigen Metern Entfernung öffnete sich das Gestrüpp zu einem kreisrunden Platz. Der Boden dort war grob gepflastert, ringsum niedrige Büsche mit kahlen Zweigen. Irgendwo im Dunkeln der Horizont. In ihrem Rücken, zwei Kilometer entfernt, das Haus.

Sie hörte, wie der Hund versuchte aufzustehen und ihr nachzukommen, hörte das dumpfe Geräusch, mit dem der Körper zurück auf die Erde fiel, ein Schnaufen, dann die Stille, die sie und das Tier umgab.

Amanda drehte sich um, lief zurück, ein Licht von der Straße verirrte sich und schimmerte hell auf der feuchten Nase des Tieres. Sie kniete sich hin und vergrub das Gesicht in seinem harten Fell, spürte ein Zittern, schob dem Hund die Hand ins offene Maul. »Beiß zu«, flüsterte sie, »nun mach schon, beiß endlich zu.« Der Hund öffnete die Augen auch jetzt nicht. Er schnaufte, ein zäher Speichelfaden floss aus dem Maul und an ihrem Handgelenk hinab. Amanda zog ihren Arm aus der Schnauze des Hundes, kniete sich vor ihm hin, tastete nach einem Steinbrocken, griff in die Dornen der Büsche, stand auf, weil sie nichts fand, lief einmal um das Tier herum. Ihre Augen brannten, sie zog die Nase hoch, nahm schließlich einen der Steine, der von der Wegbefestigung übrig geblieben war, und holte mit beiden Händen weit über dem Kopf Schwung. Der Kokon verschluckte das Geräusch.

Kurz nach Mitternacht lief Amanda den Hügel hinauf, vorbei an den Trailern, vorbei an der Tankstelle und Joe’s Liquor, zurück nach Hause. Unter den Fingernägeln hatte sie Erde, ein paar dünne Zweige im Haar. Der Hund lag unter einem Haufen aus Ästen und Steinen, die sie auf dem schlaffen Körper übereinander geschichtet hatte.

Das Blaulicht des Rettungswagens schnitt die Dunkelheit in Kreise. Im Wagen standen zwei Tragen mit roten Decken, zwei hektische Sanitäter riefen sich gegenseitig Anweisungen zu. Amanda lief an ihnen vorbei ins Haus. In der Küche spielte das Radio. Billy saß ganz ruhig auf einem der Barhocker davor, den linken Ellenbogen auf den Küchentresen gestützt, die Hände auf die Ohren gepresst. Als Amanda hineinkam, hob er den Kopf und sah sie an.

Sonntag, 5. April 1998.

Rom. Trastevere. 20:00.

Andrea Landolfi vernähte den letzten Zentimeter, schnitt den grauen Faden ab und legte die Nadel neben den Oberschenkel der Toten, als die Vögel endlich ihre Schlafplätze in den Baumkronen am Tiberufer wiedergefunden hatten. Die Pathologie lag nur eine Straße entfernt vom Ufer, im Souterrain des Polizeigebäudes in Trastevere. Wenn der Wind günstig stand, hörte Landolfi die durch das Megaphon verzerrten Rabenstimmen, mit denen ein Mann im Regencape jeden Abend die Stare zu vertreiben versuchte, die als flirrende Wolke zwischen der rechten und linken Tiberseite hin und her pendelten. Die parkenden Autos, die Brücke und das Pflaster waren weiß vom Vogelkot.

Landolfi lehnte sich gegen den zweiten leeren Tisch und betrachtete die Fremde, die vor ihm im Neonlicht auf dem blanken Metall lag. Sie hatte braunes Haar bis zum Kinn, eine Ansammlung von Leberflecken rund um den Bauchnabel, an beiden Oberarmen Druckmale, ihre Brüste fielen leicht zur Seite, und wenn er vorsichtig die Oberlippe hochzog, sah er einen abgebrochenen Schneidezahn. Ansonsten hatte sie keine sichtbaren Verletzungen, und abgesehen vom Grau des Fadens, lag sie wieder so vor ihm wie zuvor. Die Lüftung war am Morgen für eine halbe Stunde ausgefallen, seitdem stand ein süßer Geruch in den weiß gekachelten Räumen.

Das Telefon klingelte. Auf dem Display blinkte die Nummer des Fotolabors. Als Landolfi nach dem fünften oder sechsten Läuten abnahm, hatte Claudia bereits aufgelegt. Landolfi drückte die Kurzwahltaste, griff nach der Dose Lemon Soda, die neben dem PC stand, und betrachtete das neongelbe Logo auf schwarzem Grund. Jetzt nahm Claudia nicht ab. Sie waren für den Abend zum Essen verabredet, aber Landolfi hatte keine Lust mehr, sie zu sehen. Er legte auf und las sich seine Notizen durch: Todeszeitpunkt zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht des vorigen Tages; Name und Geburtsdatum, wie sie in der offiziellen Akte standen. Sternzeichen Widder errechnete er und stellte sich die gebogenen Hörner vor, das Geräusch, wenn die Tiere während der Brunftzeit im Kampf um ein Schaf gegeneinanderrannten.

Der Staatsanwalt wartete auf den Bericht. Seit dem Morgen schon hatte Landolfi diese Arbeit vor sich hergeschoben, es war bereits die zweite Tote in dieser Woche, das waren zwei zu viel. Am frühen Abend hatte er sich schließlich dazu durchgerungen, das Skalpell anzusetzen und die Frau zu öffnen. Immer wieder machte er Pausen, trank Limonade, ein Kopfschmerz breitete sich hinter seiner Stirn aus. Landolfi rauchte gegen den schalen Geschmack im Mund an, blies den Rauch aus den vergitterten Fenstern im Vorzimmer hinaus, während auf Kopfhöhe Menschen an ihm vorbei über den Innenhof des Polizeigebäudes liefen.

Anstatt das Herz, die Lunge und alle anderen Organe zu untersuchen, hatte er sich jedoch über die Computertastatur gebeugt und im Stehen ein paar Sätze in das Formular getippt, Herzversagen, eine nicht ganz abwegige Diagnose, dann hatte er etwas über koronare Erkrankung, SCD und Blutwerte hinzugefügt, und die Frau so schnell wie möglich wieder zugemacht.

Früher hatte er routiniert und schnell die Körper geöffnet und wieder verschlossen, hatte sorgfältig gearbeitet. Seit einigen Wochen wurde ihm jedoch schlecht, wenn er das Laken zurückschlug und anstelle eines warmen intakten Körpers den kalten Körper vorfand. Oft musste er jetzt das Skalpell aus der Hand legen, gegen Schwindel und Übelkeit ankämpfen, selten schaffte er es weiter als bis zum T-Schnitt.

Im Kopf überschlug er die Wochen bis zur Sommerpause, neun, die Jahre bis zur Pensionierung, fünfundzwanzig, die Minuten bis zum nächsten Termin, fünfzig. Obwohl es erst April war, lag die Stadt seit Tagen unter einer feuchten Wärmeglocke, die Landolfi abwechselnd aggressiv oder träge machte. Er speicherte die Datei und fuhr den PC herunter, nahm das Tuch und deckte die Tote bis zum Hals zu, löste die Sperre der Räder und schob die Frau in die Kühlungsräume hinüber. Ihr Kopf kippte zur Seite, als er die Bahre über eine unebene Fliese rollte. Landolfi zog die Tür des Schranks auf, der die ganze Längsseite des ersten Raumes einnahm. Vorsichtig legte er den Kopf der Toten gerade, schob sie mit den Füßen voran nur bis zur Hälfte in ihr Fach und betrachtete ihr Gesicht. Er hätte sich nicht gewundert, wenn sie plötzlich die Augen geöffnet und ihn angesehen hätte. Er beugte sich vor, der Kopfschmerz breitete sich weiter hinter seiner Stirn aus und verschleierte ihm den Blick. Das Gesicht vor ihm war nur noch ein verschwommener Schatten. Landolfi blinzelte, tastete nach der Tischkante, fand stattdessen die Schulter der Toten, hielt sie fest und sah sich selbst reglos auf der Bahre liegen, kniff noch einmal die Augen zusammen, schüttelte den Kopf, fasste das Gesicht der Toten mit beiden Händen und presste seine pochende Stirn auf ihre kalte Haut. Der Schädelknochen, die leichten Einbuchtungen an den Schläfen, gaben unter dem Druck seiner Hände kaum merklich nach. Er versuchte, sich Claudia vorzustellen. Wie sie im Schein der Rotlichtlampen im Fotolabor stand und die Bilder, die sie für seine Obduktionsberichte anfertigte, an Trockenleinen über ihrem Kopf befestigte. Wie er eine Hand um ihren Hinterkopf legen, die Finger in ihr kurzes Haar schieben, ihr Gesicht zu sich heranziehen und mit der anderen Hand nach ihrer Brust greifen würde. Schob dabei die Hände unter das grüne Tuch, mit dem er die Leiche zugedeckt hatte, und legte sie auf die kalten Brüste der Frau. Sah Claudia, die sich nach ihm umdrehte, beugte sich noch ein Stück weiter nach vorne und drückte seinen halb geöffneten Mund auf den der Toten. Die Lippen waren kalt. Landolfi zuckte zurück, sah auf. Auch im Fotolabor waren die Gesichter der Toten, ihre Wunden und Verstümmelungen; er entkam ihnen nicht, und Claudias Gesicht entzog sich ihm.

Landolfi stieß die Liege ins Fach hinein. Es krachte, Metall an Metall. Landolfi schlug die Tür zu, verriegelte die Kühlung, die Lüftung sprang an.