Ein dunkles Geschenk - Nora Roberts - E-Book
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Nora Roberts

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Beschreibung

Je größer die Gefahr, desto heißer die Leidenschaft ...

Lila Emerson liebt ihren Job als Homesitterin über alles. Doch als sie eines Tages vom Fenster ihres aktuellen Apartments einen Mord mit anschließendem Suizid beobachtet, verändert sich ihr Leben auf einen Schlag, denn Ashton Archer, der Bruder des potenziellen Mörders, bittet sie um Hilfe. Lila fühlt sich von dem attraktiven Künstler mehr als angezogen, und auch Ash weiß sofort: Die Frau mit den dunklen, tiefen Augen muss er zeichnen! Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach der Wahrheit, und bald wird klar: Unschätzbar teure Kunstgegenstände scheinen im Zentrum dieses Verbrechens zu stehen – und ein Sammler, der für seine Obsession über Leichen geht …

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Seitenzahl: 820

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Nora Roberts

Ein dunkles Geschenk

Roman

Deutsch von Margarethe van Pée

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Collector« bei G. P. Putnam’s Sons, published by the Penguin Group, New York.Zitat von Johnny Mercer: St. Louis Woman, 1946

1. AuflageCopyright © der Originalausgabe 2014 by Nora RobertsPublished by Arrangement with Eleanor Wilder.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Copyright © 2015 für die deutsche Ausgabeby Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-15859-0www.blanvalet.de

In Erinnerung an meine Mutter,die alles sammelte.Und an meinen Vater,der für alles Platz schaffte.

TEIL I

Any place I hang my hat is home.

Johnny Mercer

1

Sie hatte schon gedacht, sie würden nie gehen. Kunden – vor allem neue – neigten dazu, keine Ruhe zu geben, den Abschied hinauszuzögern und in einer Endlosschleife immer wieder dieselben Anweisungen, Kontakte und Hinweise zu wiederholen, bis sie irgendwann endlich zur Tür hinaus waren. Sie konnte sie gut verstehen. Wenn sie gingen, ließen sie schließlich ihr Heim, ihren Besitz und in diesem speziellen Fall sogar ihr Haustier in den Händen einer fremden Person zurück.

Lila Emerson tat ihr Bestes, damit sie entspannt und in der Überzeugung abreisen konnten, alles in die kompetenten Hände ihres Homesitters übergeben zu haben.

Während Jason und Macey Kilderbrand sich in den kommenden drei Wochen mitsamt Familie und Freunden in Südfrankreich aufhalten würden, wohnte Lila in deren wunderschöner Wohnung in Chelsea, goss die Blumen, passte auf, dass der Kater nicht verhungerte oder verdurstete, spielte mit ihm, nahm die Post der Familie entgegen und schickte ihnen alles Wichtige nach. Sie würde Maceys hübschen Terrassengarten pflegen, das Telefon beantworten, den Kater verwöhnen und allein durch ihre Anwesenheit abschreckend auf potenzielle Einbrecher wirken.

Es würde ihr gefallen, in dem noblen Stadthaus in New York zu leben, genau wie es ihr in jener reizenden Wohnung in Rom gefallen hatte – wo sie für ein zusätzliches Honorar sogar die Küche gestrichen hatte –, und in dem weitläufigen Haus in Brooklyn mit dem verspielten Golden Retriever, dem süßen alten Boston-Terrier und einem Aquarium voller bunter Tropenfische.

In den sechs Jahren als professioneller Homesitter hatte sie New York gut kennengelernt. In den vergangenen vier Jahren hatte sie ihren Wirkungskreis sogar erweitern können, sodass sie mittlerweile auch ein bisschen von der Welt sah. Ein wirklich guter Job, sofern man Aufträge hat, dachte sie – und sie hatte Aufträge.

»Na los, Thomas!« Sie strich dem Kater vom Kopf über den langen, geschmeidigen Körper bis zur Schwanzspitze. »Dann wollen wir mal auspacken.«

Sie liebte es, sich einzurichten, und da die geräumige Wohnung über ein zweites Schlafzimmer verfügte, packte sie den ersten ihrer beiden Koffer vollständig aus, legte ihre Kleidung teils in die Spiegelkommode, teils hängte sie sie in den aufgeräumten begehbaren Kleiderschrank. Man hatte sie gewarnt: Thomas würde wahrscheinlich bei ihr im Bett schlafen wollen, aber damit hatte sie keine Schwierigkeiten. Und wie nett, dass die Kunden – vermutlich Macey – einen hübschen Strauß Freesien für sie auf den Nachttisch gestellt hatten! Lila mochte solche persönlichen Gesten – ganz gleich, ob sie ihr galten oder sie selbst sie anderen entgegenbrachte.

Sie hatte bereits beschlossen, später das große Badezimmer mit der geräumigen Dampfdusche und dem tiefen Whirlpool aufzusuchen. »Man darf mit solchen Annehmlichkeiten weder verschwenderisch noch missbräuchlich umgehen«, erklärte sie dem Kater, während sie ihre Toilettenartikel verstaute.

Da sich in ihren beiden Koffern fast ihr gesamter Besitz befand, überlegte sie sich sorgfältig, wo sie ihre Habseligkeiten am besten platzierte. Nachdem sie kurz nachgedacht hatte, richtete sie ihr Büro im Esszimmer ein, wobei sie ihren Laptop so hinstellte, dass sie New York im Blick hatte, wenn sie den Kopf hob. In einer kleineren Wohnung hätte es ihr nichts ausgemacht, dort zu arbeiten, wo sie auch schlief, aber nachdem hier reichlich Platz war, machte sie eben auch Gebrauch davon.

Sämtliche Küchengeräte, die Fernbedienungen, die Alarmanlage waren ihr erklärt worden – die Wohnung verfügte über eine technische Ausstattung, die dem Nerd in ihr regelrecht in die Karten spielte.

In der Küche fand sie eine Flasche Wein vor, eine hübsche Schale mit frischem Obst und eine gut sortierte Käseplatte. Auf Maceys Briefpapier mit Monogramm stand handschriftlich:

Viel Spaß bei uns zu Hause!

Jason, Macey und Thomas

Wie nett!, dachte Lila. Hier würde sie bestimmt viel Spaß haben.

Sie entkorkte die Flasche, schenkte sich ein Glas Wein ein, nahm einen Schluck und nickte anerkennend. Dann griff sie zu ihrem Fernglas und trat mit dem Weinglas in der anderen Hand auf die Terrasse, um die Aussicht zu bewundern.

Ihre Kunden wussten genau, wie sie den ihnen zur Verfügung stehenden Raum am besten nutzten, dachte sie: ein paar Stühle mit weichen Kissen, eine Steinbank, ein Glastisch – und Kübel voller Blühpflanzen, hübsche rote Kirschtomatenrispen, duftende Kräuter, die Lila ernten und verwenden durfte.

Sie setzte sich, zog Thomas auf ihren Schoß, nahm einen weiteren Schluck Wein und strich der Katze über das seidige Fell.

»Ich wette, sie sitzen oft hier draußen, trinken was oder frühstücken. Sie haben einen glücklichen Eindruck gemacht. Und die Wohnung vermittelt einem ein gutes Gefühl. Das merkt man.« Sie kitzelte Thomas unterm Kinn, und seine leuchtend grünen Augen bekamen einen verträumten Ausdruck. »In den ersten paar Tagen wird sie noch häufiger anrufen oder E-Mails schicken, deshalb machen wir am besten ein paar Fotos von dir, Baby, und schicken sie ihr, damit sie sieht, dass es dir gut geht.«

Sie stellte das Weinglas ab, hob das Fernglas an die Augen und ließ ihren Blick über die umliegenden Gebäude schweifen. Der Wohnkomplex nahm einen ganzen Block ein und gewährte ihr Einblicke in andere Leben.

Andere Leben faszinierten sie.

Eine große Frau etwa in Lilas Alter lief mit dem Handy am Ohr in einem kleinen Schwarzen auf und ab, das sich wie eine zweite Haut um ihren modeldünnen Körper schmiegte. Glücklich wirkt sie nicht, dachte Lila. Vielleicht eine abgesagte Verabredung. Er muss länger arbeiten, sagt er, fügte Lila in Gedanken hinzu und ließ die Szene in Gedanken Revue passieren. Und sie ist seine Ausflüchte allmählich leid.

Ein paar Stockwerke darüber saßen zwei Paare in einem Wohnzimmer – Kunst an den Wänden, schicke, moderne Möbel – und lachten über irgendwas. So wie es aussah, hatten sie ein paar Martinis vor sich stehen. Offensichtlich mochten sie die Sommerhitze nicht annähernd so gern wie Lila oder Thomas, sonst hätten sie auf der kleinen Terrasse gesessen. Alte Freunde, dachte sie, die sich oft trafen und hin und wieder sogar gemeinsam Urlaub machten.

Ein weiteres Fenster eröffnete ihr den Blick auf einen kleinen Jungen, der sich mit einem weißen Hundewelpen auf dem Boden wälzte. Die Freude der beiden lag förmlich in der Luft, und Lila musste lachen. »Er hat sich schon ewig einen kleinen Hund gewünscht – wobei in seinem Alter die Ewigkeit wahrscheinlich eher nur ein paar Monate betrug –, und heute haben seine Eltern ihn endlich überrascht. Er wird sich sein ganzes Leben lang an diesen Tag erinnern, und eines Tages wird er seinen kleinen Sohn oder seine Tochter auf die gleiche Weise überraschen.« Zufrieden, die Besichtigung mit dieser Erkenntnis abschließen zu können, setzte Lila das Fernglas wieder ab. »Okay, Thomas, jetzt gehen wir rein und arbeiten ein paar Stunden. Ich weiß, ich weiß«, fuhr sie fort, setzte ihn zu Boden und nahm das halb volle Glas Wein in die Hand, »die meisten Leute haben ihre Arbeit für heute getan. Sie gehen abendessen, treffen sich mit Freunden – oder sie zicken rum, weil sie nun doch nicht ausgehen, wie die Killerblondine in dem schwarzen Kleid. Aber es ist nun mal so …« Sie wartete, bis der Kater vor ihr in die Wohnung gehuscht war. »Ich kann meine Arbeitszeit frei einteilen. Das ist ja das Schöne.«

Aus dem Korb mit Katzenspielzeug im Küchenschrank wählte sie einen Ball – einen bewegungsgesteuerten – und ließ ihn über den Fußboden kullern. Sofort sprang Thomas darauf zu, kämpfte damit, schlug mit der Pfote danach und rannte ihm nach.

»Wenn ich eine Katze wäre«, spekulierte sie, »wäre ich auch verrückt danach.«

Während Thomas vor sich hin spielte, griff sie nach der Fernbedienung und schaltete das Radio ein. Sie notierte sich, welcher Sender lief, damit sie ihn wieder einstellen konnte, bevor die Kilderbrands zurückkamen. Dann schaltete sie von Jazz auf Pop um.

Das Homesitting bescherte ihr ein Dach über dem Kopf, und es war interessant, ja, manchmal sogar abenteuerlich. Ihren Lebensunterhalt jedoch verdiente sie mit Schreiben. In den ersten beiden Jahren in New York hatte sie sich als freiberufliche Autorin – und mit Kellnern – über Wasser gehalten. Nachdem sie aber mit dem Homesitting angefangen hatte – wobei sie es zunächst lediglich für ihre Freunde und für Freunde von Freunden gemacht hatte –, hatte sie endlich genug Zeit und Gelegenheit gefunden, um an ihrem Roman zu arbeiten.

Ganz zufällig war sie irgendwann im Haus einer Lektorin gelandet, die sofort Interesse an ihrem Manuskript gezeigt hatte. Der erste Roman, Mondaufgang,hatte sich sogar ganz anständig verkauft. Er war zwar kein Riesenbestseller gewesen, ging aber immer noch verhältnismäßig konstant über den Ladentisch und hatte ihr eine nette kleine Fangemeinde in der Zielgruppe der Vierzehn- bis Achtzehnjährigen beschert, für die sie schrieb. Der zweite Roman würde im Oktober in die Buchhandlungen kommen, und sie drückte sich selbst die Daumen, dass auch er sich gut verkaufen würde.

Im Moment allerdings musste sie sich auf Band drei der Serie konzentrieren.

Sie zwirbelte ihr langes braunes Haar am Hinterkopf zusammen und befestigte es mit einer großen Schildpattspange. Während Thomas fröhlich dem Ball hinterherjagte, setzte sie sich mit ihrem halb gefüllten Glas Wein und einem großen Glas Eiswasser hin und lauschte der Musik, die ihre Romanfigur Kaylee so gern hörte.

Kaylee war Junior an der Highschool und hatte mit sämtlichen typischen Problemen ihrer Altersgruppe zu kämpfen: Verliebtsein, Hausaufgaben, gehässige Mitschülerinnen, Intrigen, Liebeskummer und Triumphe, die in den kurzen, intensiven Highschooljahren Schlag auf Schlag erfolgten. Ein schwieriger Weg, vor allem für die Neue in der Klasse, die sie im ersten Band der Serie gewesen war, und dass alle aus Kaylees Familie Lykaner waren, machte es auch nicht gerade einfacher. Einem Mädchen, das zugleich Werwolf war, fiel es nun mal nicht leicht, bei Vollmond seinen schulischen Pflichten nachzukommen oder zum Abschlussball zu gehen.

Inzwischen – im dritten Band – befanden sich Kaylee und ihre Familie im Krieg gegen ein rivalisierendes Rudel; ein Rudel, das Menschen attackierte. Vielleicht ein bisschen blutrünstig für die jüngeren Leser, dachte sie, aber daran war nun mal nichts zu ändern. Ihre Geschichte hatte fast zwangsläufig diese Richtung eingeschlagen.

Lila setzte dort an, wo Kaylee sich mit mehreren Problemen gleichzeitig auseinandersetzen musste – dem Verrat des Jungen, den sie zu lieben glaubte, einer überfälligen Hausarbeit über die napoleonischen Kriege und der Tatsache, dass ihre schöne, blonde Widersacherin sie in den Chemieraum eingesperrt hatte. In zwanzig Minuten würde der Mond aufgehen – etwa um die gleiche Zeit, da der Chemie-Leistungskurs anfing. Sie musste sich schleunigst aus diesem Raum befreien, bevor ihre Verwandlung einsetzte.

Lila tauchte in die Handlung ein, versetzte sich in Kaylee, in deren Angst vor der Entdeckung, in den leidvollen Liebeskummer, in die Wut auf Sasha, die Cheerleaderin, Homecoming Queen und (im wahrsten Sinne des Wortes) männerverschlingende Rivalin.

Als Kaylee sich endlich befreit und in letzter Sekunde und nur mithilfe einer Rauchbombe – die einen weiteren Widersacher, nämlich den stellvertretenden Schuldirektor, auf den Plan brachte – eine ordentliche Standpauke, eine Verwarnung und den Heimweg bewältigt hatte und noch ehe die Verwandlung ihrer Heldin vollzogen war, hatte Lila drei volle Stunden durchgearbeitet. Zufrieden hob sie den Kopf und sah sich um.

Thomas hatte sich müde gespielt und lag zusammengerollt auf dem Stuhl neben ihr, und die Lichter der Stadt glitzerten und leuchteten durchs Fenster.

Exakt nach Anweisung bereitete sie Thomas’ Abendessen zu. Während er sich auf sein Fressen stürzte, zog sie mit dem Schraubenzieher ihres Leatherman ein paar Schrauben in der Speisekammer nach. Sie war der festen Überzeugung, dass lockere Schrauben der Ursprung allen Unglücks waren – für Menschen wie Gegenstände gleichermaßen.

Ihr Blick fiel auf zwei Drahtkörbe auf Schienen, die immer noch in ihrer Originalverpackung steckten. Wahrscheinlich waren sie einmal für Kartoffeln oder Zwiebeln gedacht gewesen. Sie ging in die Hocke und überflog die Montageanleitung, in der versichert wurde, die Körbe seien kinderleicht zu installieren. Im Geiste machte sie sich eine Notiz: Sie würde Macey eine E-Mail schreiben und fragen, ob sie die Körbe für sie anbringen solle, als nettes kleines Sonderprojekt sozusagen.

Sie schenkte sich noch ein Glas Wein ein und bereitete aus Obst, Käse und Crackern ein spätes Abendessen zu. Dann ließ sie sich im Esszimmer im Schneidersitz nieder, nahm Thomas auf den Schoß und aß, während sie gleichzeitig ihre E-Mails checkte, Nachrichten verschickte, ihren Blog überflog und sich ein paar Ideen für einen neuen Eintrag notierte. »Allmählich sollten wir ins Bett gehen, Thomas.« Doch er gähnte nur, als sie zur Fernbedienung griff und die Musik abstellte.

Sie hob ihn von ihrem Schoß und setzte ihn neben sich ab, sodass sie das Geschirr wegräumen und dann endlich in die erste ruhige Nacht in einer fremden, neuen Umgebung eintauchen konnte. Sie schlüpfte in Baumwollhose und Tanktop, überprüfte die Alarmanlage und ging dann erneut die Nachbarn besuchen.

Blondie war anscheinend doch noch ausgegangen. In ihrem Wohnzimmer brannte nur mehr gedämpftes Licht. Die beiden Paare waren mittlerweile ebenfalls ausgeflogen. Vielleicht zum Essen oder zu irgendeiner Abendveranstaltung, dachte Lila.

Der kleine Junge würde inzwischen gewiss tief und fest schlafen – hoffentlich mit dem Welpen im Arm. Sie sah den Lichtschein eines Fernsehers und stellte sich vor, wie Mom und Dad sich einen entspannten Abend gönnten.

Hinter einem anderen Fenster fand eine Party statt. Elegant gekleidete Menschen unterhielten sich und balancierten Drinks oder kleine Teller vor sich her. Lila beobachtete sie eine Weile. Vor allem die geflüsterte Unterhaltung einer Brünetten in einem kurzen roten Kleid mit einem braun gebrannten Gott im perlgrauen Anzug fesselte ihre Aufmerksamkeit. Lila stellte sich vor, dass die beiden eine heiße Affäre miteinander hatten: direkt vor der Nase seiner leidgeprüften Ehefrau und ihres ahnungslosen Ehemanns.

Dann schwenkte sie das Fernglas ein Stück weiter, hielt inne, nahm es für einen Moment herunter, blickte erneut hindurch. Nein, dieser gut gebaute Typ im … zwölften Stock war nicht splitternackt. Er trug einen Tanga, während er eindrucksvoll die Hüften kreisen ließ, eine Drehung vollzog und dann abrupt zu Boden sank. Der schwitzt ganz ordentlich, stellte sie fest, während der Typ den gesamten Bewegungsablauf von Neuem ausführte und weitere Schritte hinzufügte. Vielleicht ein Schauspieler oder Tänzer, dachte sie, der sich als Stripper durchschlägt, bis er endlich seine große Rolle am Broadway bekommt.

Er gefiel ihr. Sehr sogar.

Das Programm drüben hinter den Fenstern hielt sie noch eine halbe Stunde lang gefangen, dann legte sie sich aufs Bett – und tatsächlich kam Thomas sofort zu ihr. Sie schaltete den Fernseher ein und entschied sich für eine Wiederholung von NCIS, bei der sie jede einzelne Dialogzeile auswendig kannte. Zufrieden griff sie nach ihrem iPad, rief den Thriller auf, den sie im Flieger aus Rom zu lesen begonnen hatte, und machte es sich gemütlich.

In der folgenden Woche entwickelte sie eine Art Routine. Wirksamer als jeder Wecker war Thomas täglich um Punkt sieben bei ihr und verlangte lautstark nach seinem Frühstück. Dann fütterte sie ihn, kochte Kaffee, goss die Pflanzen in der Wohnung und auf der Terrasse und gönnte sich ein kleines Frühstück, während sie die Nachbarn beobachtete.

Blondie und ihr Freund – sie sahen irgendwie nicht aus, als wären sie verheiratet – stritten viel. Blondie neigte dazu, mit zerbrechlichen Gegenständen um sich zu werfen. Ihr Freund – der einen spektakulären Anblick bot – verfügte über gute Reflexe und eine Menge Charme. Die fast täglich stattfindenden Streitereien endeten meist mit einer zärtlichen Versöhnung oder in einem Ausbruch von Leidenschaft. Lila fand, dass sie gut zueinander passten. Für den Moment jedenfalls. Sie wirkten beide nicht, als wären sie an einer langfristigen Beziehung interessiert – sie mit ihrem Hang, Geschirr oder Kleidungsstücke durchs Zimmer zu schleudern, und er, der sich wegduckte, lächelte und sie verführte. Spielernaturen, dachte Lila. Sie spielen gern heiße Liebesspielchen. Sie wäre wirklich überrascht, wenn er nicht nebenbei noch etwas anderes am Laufen hätte.

Der kleine Junge und der Welpe liebten einander immer noch heiß und innig, während Mom, Dad oder die Nanny geduldig die kleinen Malheurs wegwischte. Mom und Dad verließen das Haus jeden Morgen in einer Aufmachung, die in Lilas Augen hoch dotierte Positionen verhieß.

Die Martinis, wie sie das nächste Paar insgeheim nannte, benutzten ihre kleine Terrasse kaum. Die Frau war definitiv eine jener Ladys, die Tag für Tag Verabredungen zum Lunch wahrnahmen. Sie verließ die Wohnung immer erst am späten Vormittag und kehrte für gewöhnlich nachmittags mit Einkaufstüten beladen wieder zurück.

Die Partymacher verbrachten nur selten einen Abend zu Hause. Sie schienen ihren hektischen Lebensstil zu genießen. Und Adonis trainierte regelmäßig seinen Hüftschwung – zu ihrer unverhohlenen Freude.

Sie gönnte sich die Show, die sich ihr darbot, und die Geschichten, die sie dazu erfand, jeden Morgen. Dann arbeitete sie bis zum Nachmittag, machte eine Pause, um mit dem Kater zu spielen, bevor sie sich anzog und die Wohnung verließ, um für das Abendessen einzukaufen oder die Umgebung zu erkunden. Sie schickte Fotos vom glücklichen Thomas an ihre Kunden, pflückte Tomaten, sah die Post durch, erfand eine brutale Werwolfschlacht und brachte ihren Blog auf den neuesten Stand. Und sie montierte die beiden Körbe in der Speisekammer.

Am ersten Tag der zweiten Woche kaufte sie sich eine Flasche guten Barolo, füllte das Käsefach auf und stellte auch gleich noch ein paar Mini-Cupcakes aus einer fantastischen Bäckerei in der Nachbarschaft daneben. Um kurz nach sieben machte sie ihrem Partybesuch die Tür auf – ihrer besten Freundin.

»Da bist du ja!«

Julie umarmte sie – inklusive Weinflasche in der einen und einem Strauß duftender Lilien in der anderen Hand.

Mit kurvigen eins achtzig und einer üppigen roten Mähne war Julie Bryant genau das Gegenteil von Lilas eher durchschnittlicher Größe, ihrer zierlichen Gestalt und ihrem glatten braunen Haar.

»Du bist von Rom ja immer noch ganz braun gebrannt! Gott, ich könnte Sonnenschutzfaktor 500 auftragen und würde in der italienischen Sonne trotzdem sofort rot anlaufen wie ein gekochter Hummer. Du siehst fabelhaft aus!«

»Wer würde das nicht – nach zwei Wochen Italien? Allein die Pasta … Ich hab doch gesagt, ich besorge den Wein!«, fügte sie tadelnd hinzu, als Julie ihr die Flasche in die Hand drückte.

»Jetzt haben wir eben zwei. Willkommen daheim!«

»Danke.« Lila nahm die Blumen entgegen.

»Wow, das ist ja schick hier! Die Wohnung ist riesig … Und die Aussicht ist der Hammer! Was machen diese Leute?«

»Sie stammen beide aus reichem Hause …«

»Ich wollte, ich könnte das Gleiche von mir behaupten.«

»Komm mit in die Küche, ich will nur schnell die Blumen ins Wasser stellen, dann zeig ich dir die Wohnung. Er ist in der Finanzbranche – keine Ahnung … Er mag seine Arbeit und spielt lieber Tennis als Golf. Sie macht irgendwas mit Inneneinrichtung, und so wie die Wohnung aussieht, scheint sie echt gut darin zu sein. Sie denkt darüber nach, sich selbstständig zu machen, aber sie wollen irgendwann auch noch eine Familie gründen, und sie ist sich nicht ganz sicher, ob es da richtig wäre zu kündigen.«

»Sind das nicht neue Kunden von dir? Und die erzählen dir gleich solche persönlichen Dinge?«

»Was kann ich denn dafür? Anscheinend sehe ich so aus, als müsste man mir alles erzählen. Das ist übrigens Thomas.«

Julie ging in die Hocke, um den Kater zu streicheln. »Was für ein hübsches Gesicht er hat!«

»Er ist wirklich ein Süßer.« Der Blick aus Lilas dunkelbraunen Augen wurde zärtlich, als sie Julie und Thomas zusammen beobachtete. »Haustiere sind bei meinem Job nicht unbedingt immer ein Plus – Thomas schon.«

Sie nahm eine Aufziehmaus aus Thomas’ Spielzeugkorb, und Julie lachte laut auf, als die Katze darauf zuhechtete. »Oh, er ist ja ein richtiger kleiner Killer!« Dann stand sie wieder auf und lehnte sich an die steingraue Theke, während Lila die Lilien in einer Glasvase verteilte. »Und Rom war also fantastisch?«

»Ja, das war es.«

»Und, hast du einen attraktiven Italiener getroffen, mit dem du Wahnsinnssex hattest?«

»Leider nicht, aber ich glaube, der Besitzer des Obststands an der Ecke hat sich in mich verliebt. Okay, zugegeben, er war schon um die achtzig. Aber er hat mich immer una bella donna genannt und die schönsten Pfirsiche für mich ausgesucht.«

»Nicht annähernd so gut wie Sex, aber immerhin! Schade, dass ich nicht da sein konnte, als du zurückgekommen bist.«

»Danke, dass ich zwischen den beiden Aufträgen bei dir übernachten durfte!«

»Jederzeit, das weißt du doch. Ich wäre eben nur gern hier gewesen …«

»Wie war denn nun die Hochzeit?«

»Bevor ich dir auch nur einen Ton von Cousine Mellys Hamptons-Hochzeitswoche in der Hölle erzähle und warum ich offiziell als Brautjungfer zurückgetreten bin, brauche ich erst mal ein Glas Wein.«

»Deine SMS waren göttlich! Vor allem die eine hat mir gefallen: ›Die durchgeknallte Schlampenbraut meint, die Rosenblätter hätten den falschen Pinkton. Hysterischer Anfall. Im Namen des gesamten weiblichen Geschlechts muss ich sie leider abmurksen.‹«

»Es wäre fast so weit gekommen! Oh nein! Schluchzen, Zittern, Verzweiflung! Die Rosenblätter sind pink-pink! Dabei sollten sie doch rosa-pink sein, Julie! Bring das in Ordnung, Julie! In Ordnung bringen? Umbringen wäre echt die bessere Alternative gewesen!«

»War es wirklich eine halbe Tonne Blütenblätter?«

»So in etwa.«

»Du hättest sie darunter begraben sollen. Braut erstickt in Rosenblättern. Das hätte jeder für ein ironisches, wenn nicht sogar tragisches Missgeschick gehalten.«

»Wenn mir das nur eingefallen wäre! Du hast mir echt gefehlt. Es ist wirklich besser, wenn du in New York arbeitest und ich dich besuchen und Zeit mit dir verbringen kann.«

Über die Weinflasche hinweg musterte Lila ihre Freundin. »Du solltest irgendwann einfach mal mitkommen – wenn ich eine besonders tolle Wohnung hüte.«

»Ja, ja, das hast du schon zigmal gesagt.« Julie marschierte in der Küche auf und ab. »Ich weiß nur nicht, ob ich mir nicht merkwürdig vorkommen würde, wenn ich tatsächlich in … O mein Gott, sieh dir dieses Porzellan an! Das ist bestimmt antik! Es sieht fantastisch aus!«

»Es hat ihrer Urgroßmutter gehört. Aber du findest es doch auch nicht merkwürdig, hier einen Abend mit mir zu verbringen? Warum solltest du nicht einfach auch mal länger bleiben? Du steigst doch auch in Hotels ab.«

»Aber dort leben die Leute nicht.«

»Manche schon. Eloise zum Beispiel. Und ihre Nanny.«

Julie zupfte an Lilas Pferdeschwanz. »Eloise und Nanny sind Kinderbuchfiguren!«

»Auch fiktive Figuren sind Menschen – sonst wäre ihr Schicksal uns ja vollkommen egal. Komm, wir gehen auf die Terrasse. Du wirst staunen, wenn du Maceys Dachgarten siehst. Ihre Familie stammt aus Frankreich und baut dort Wein an.« Mit geübtem Griff nahm Lila das Tablett zur Hand. Nicht umsonst hatte sie jahrelang gekellnert. »Sie haben sich vor fünf Jahren kennengelernt, als sie ihre Großeltern besuchte – er war auf Reisen und hat ihr Weingut besichtigt. Liebe auf den ersten Blick, behaupten sie beide.«

»Auf den ersten Blick ist es am besten.«

»Ich würde ja sagen, das ist Fiktion, aber in diesem Fall hat die Fiktion eindeutig etwas für sich.« Sie ging voraus auf die Terrasse. »Es stellte sich natürlich im Handumdrehen heraus, dass beide in New York lebten. Er rief sie an, sie gingen miteinander aus, und achtzehn Monate später haben beide ›Ja, ich will‹ gesagt.«

»Wie im Märchen!«

»Was ich ebenfalls als fiktiv bezeichnen würde – aber ich liebe Märchen nun mal. Und die beiden wirken wirklich total glücklich miteinander. Außerdem hat sie, wie du gleich sehen wirst, einen grünen Daumen.«

Julie tippte im Vorbeigehen mit dem Finger auf Lilas Fernglas. »Spionierst du immer noch?«

Lila verzog die üppigen Lippen zu einem Schmollmund. »Also, spionieren würde ich es nicht nennen. Ich beobachte. Wenn die Leute nicht wollen, dass du ihnen in die Wohnung glotzt, sollten sie lieber ihre Vorhänge zuziehen oder die Jalousien runterlassen.«

»Oh, oh. Wow!« Julie stemmte die Hände in die Hüften und begutachtete die Terrasse. »Mit dem grünen Daumen hattest du wirklich recht!«

Die üppig blühenden, bunten Pflanzen in schlichten Terrakottatöpfen machten aus der Terrasse mitten in der Stadt regelrecht eine Oase. »Hier gibt es ja sogar Tomaten!«

»Ja, und sie schmecken wundervoll. Die Kräuter hat sie aus Samen gezogen.«

»Geht das denn?«

»Zumindest Macey kann so was. Ich hab sogar schon einmal geerntet – sie haben mich ausdrücklich dazu aufgefordert. Gestern Abend hab ich mir einen tollen, großen Salat gemacht, ihn hier draußen gegessen, ein Glas Wein dazu getrunken und mir dabei die Fenstershow angesehen.«

»Du hast wirklich ein merkwürdiges Leben … Erzähl mir von den Fensterleuten!«

Lila schenkte ihnen beiden Wein ein, dann lief sie schnell nach drinnen, um das Fernglas zu holen – man konnte ja nie wissen.

»Da gibt es eine Familie im zehnten Stock – die Eltern haben ihrem kleinen Sohn gerade einen Welpen geschenkt. Kind und Hund sind einfach unglaublich hübsch und süß! Das ist wahre Liebe – es macht einfach Spaß, ihnen zuzusehen. Im Vierzehnten wohnt eine sexy Blondine mit einem äußerst heißen Typen zusammen – sie könnten beide Models sein. Er kommt und geht, sie haben irre intensive Auseinandersetzungen, böse Streitigkeiten mit fliegendem Geschirr, gefolgt von großartigem Sex.«

»Du siehst ihnen beim Sex zu? Lila, gib mir das Fernglas!«

»Nein!« Lachend schüttelte Lila den Kopf. »Ich sehe ihnen nicht beim Sex zu. Aber ich merke doch, was los ist. Sie reden, streiten, laufen auf und ab, wobei sie ständig irgendetwas durch die Gegend schmeißt, und dann fallen sie übereinander her und fangen an, sich die Kleider vom Leib zu reißen. Im Schlafzimmer, im Wohnzimmer … Sie haben zwar keine Terrasse, aber einen kleinen Balkon vor dem Schlafzimmer, und einmal haben sie es kaum hineingeschafft, bevor sie beide nackt waren. Ach, apropos nackt, im zwölften Stock wohnt so ein Typ … Warte mal, vielleicht ist er ja da.«

Sie hob das Fernglas an die Augen und suchte die Fensterfront ab. »Oh ja, Baby … Schau ihn dir an. Zwölfter Stock, drittes Fenster von links.«

Neugierig griff Julie nach dem Fernglas und suchte so lange, bis sie das Fenster gefunden hatte. »Oh Mann! Hmm, hmm. Der kann sich echt bewegen … Wir sollten ihn anrufen und zu uns einladen.«

»Ich glaube nicht, dass wir sein Typ wären.«

»Wir beide zusammen sind der Typ jedes Mannes!«

»Schwul, Julie.«

»Das kannst du von hier aus doch gar nicht erkennen.« Stirnrunzelnd setzte Julie das Fernglas ab, dann hob sie es wieder an, um noch einmal hinzusehen. »Dein Schwulenradar reicht nicht halb so weit, wie Superman über Gebäude springen kann.«

»Er trägt einen Tanga, das sagt doch schon alles.«

»Den trägt er nur, damit er sich besser bewegen kann.«

»Tanga!«, wiederholte Lila.

»Tanzt er jeden Abend?«

»Ja, so ziemlich. Ich denke mal, er ist einer dieser zahllosen erfolglosen Schauspieler und arbeitet Teilzeit in einem Striplokal, bis er endlich seinen Durchbruch hat.«

»Er hat einen tollen Körper. David hatte auch einen tollen Körper.«

»Hatte?«

Julie legte das Fernglas ab und tat so, als zerbräche sie einen Stock in zwei Teile.

»Wann?«

»Gleich nach der Hamptons-Hochzeitswoche in der Hölle. Es war längst überfällig, aber die Hochzeit war ohnehin schon schlimm genug, da wollte ich es nicht auch noch dort beenden.«

»Das tut mir leid, Liebes!«

»Danke … Aber du konntest David ja sowieso nicht leiden.«

»Nein, das ist nicht wahr. Sowieso nicht leiden – das stimmt nun auch wieder nicht.«

»Sei’s drum. Er war zwar nett anzusehen, aber er hat einfach viel zu sehr geklammert. Wohin gehst du, wann kommst du wieder, bla, bla, bla. Ständig hat er mir SMS geschickt oder Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Wenn ich berufliche Verpflichtungen hatte oder mit dir und meinen anderen Freundinnen etwas unternommen habe, dann war er sauer und schmollte. Gott, es war fast wie mit einer Ehefrau – auf die schlimmste Art und Weise! Nichts gegen Ehefrauen, ich war ja selbst mal eine. Ich hab ihn gerade erst zwei Monate gekannt, da wollte er schon bei mir einziehen. Ich will aber nicht mit einem Mann zusammenleben.«

»Du willst nicht mit dem falschen Mann zusammenleben«, stellte Lila richtig.

»Für einen Mann, der mit mir zusammenlebt, bin ich einfach noch nicht bereit. Das mit Maxim ist noch nicht lange genug her.«

»Fünf Jahre!«

Julie schüttelte den Kopf und tätschelte Lila die Hand. »Nicht lang genug. Dieser Fremdgänger regt mich immer noch auf. Ich kann darüber einfach immer noch nicht lachen. Ich hasse Trennungen«, fügte sie hinzu. »Entweder bist du traurig – wenn du verlassen wurdest –, oder du kommst dir vor wie das Allerletzte – weil du jemanden verlassen hast.«

»Ich glaube zwar nicht, dass ich jemals jemanden verlassen hätte, aber ich denke, ich weiß, was du meinst.«

»Das liegt doch nur daran, dass du ihnen immer einredest, es wäre ihre Idee gewesen – und außerdem lässt du die Sache gar nicht erst so ernst werden, dass die Bezeichnung ›Trennung‹ gerechtfertigt wäre.«

Lila lächelte nur. »Das mit Maxim ist wirklich noch nicht lang genug her …«, sagte sie und brachte damit Julie endgültig zum Lachen. »Wir könnten uns was zu essen bestellen. Hier in der Nähe muss irgendwo ein griechisches Lokal sein, das meine Kunden mir empfohlen haben. Ich hab es allerdings noch nicht selbst ausprobiert.«

»Nur wenn es zum Nachtisch Baklava gibt.«

»Ich habe Cupcakes da.«

»Das ist ja sogar noch besser! Jetzt hab ich alles, was ich brauche: eine protzige Wohnung, guten Wein, griechisches Essen, das frei Haus geliefert wird, und meine beste Freundin. Und einen sexy … äh, verschwitzten«, fügte sie hinzu, nachdem sie noch mal durch das Fernglas gespäht hatte, »einen sexy, verschwitzten Tänzer – sexuelle Orientierung zurzeit noch nicht bestätigt.«

»Schwul«, wiederholte Lila und stand auf, um die Broschüre des Lieferservices zu holen.

Der Wein, den sie zu den Lammspießchen getrunken hatten, ging allmählich zur Neige. Gegen Mitternacht stürzten sie sich auf die Cupcakes. Vielleicht nicht die beste Kombination, dachte Lila, als sie eine leichte Übelkeit verspürte, aber genau das Richtige für eine Freundin, die die Trennung von ihrem Freund wesentlich mehr beschäftigte, als sie bereit war zuzugeben. Nicht wegen dieses Typen, dachte Lila, als sie eine letzte Runde machte, um zu kontrollieren, ob sie überall abgeschlossen hatte, sondern wegen der Trennung an sich und all der Fragen, die ihr seitdem durch den Kopf gingen.

Liegt es an mir? Warum hat es nicht funktioniert? Mit wem esse ich jetzt zu Abend?

Lebte man in einer Pärchenkultur, fühlte man sich nun mal auf gewisse Weise reduziert, wenn man keinen Partner hatte.

»Ich aber nicht«, versicherte Lila dem Kater, der sich irgendwann zwischen dem letzten Stückchen Lamm und dem ersten Cupcake in sein Körbchen gekuschelt hatte. »Ich finde es wirklich okay, Single zu sein. Ich kann gehen, wohin ich will und wann ich will, und jeden Job annehmen, den ich gut finde. Ich sehe etwas von der Welt, Thomas, und, okay, ich rede mit Katzen, aber das finde ich völlig in Ordnung.«

Trotzdem hätte sie Julie gern überredet, über Nacht zu bleiben; nicht nur, um Gesellschaft zu haben, sondern um ihrer Freundin morgen früh, wenn sie unter Garantie verkatert sein würde, zur Seite stehen zu können.

Diese Mini-Cupcakes sind wirklich Teufelszeug, dachte sie, als sie sich bettfertig machte. So süß und winzig, ach, da isst man ja praktisch gar nichts, jedenfalls sagt man sich das, bis man mindestens ein halbes Dutzend davon verdrückt hat.

Sie war immer noch aufgedreht vom Alkohol und all dem Zucker, und sie würde mit Sicherheit nicht schlafen können. Also nahm sie das Fernglas zur Hand. In ein paar Fenstern war noch Licht. Sie war also nicht die Einzige, die um – ach du lieber Himmel! – zwanzig vor zwei in der Nacht immer noch wach war. Der verschwitzte, nackte Typ war ebenfalls noch auf. Ein ebenso heiß aussehender Mann leistete ihm Gesellschaft. Zufrieden nahm Lila sich vor, Julie davon in Kenntnis zu setzen, dass ihr Schwulenradar eben doch wie Superman war.

Auch das Partypärchen hatte es immer noch nicht ins Bett geschafft; sie sahen so aus, als wären sie gerade erst nach Hause gekommen – nach ihrem Aufzug zu urteilen irgendein schicker Anlass. Lila musterte bewundernd das schimmernd orangefarbene Kleid der Frau und wünschte sich, sie könnte auch die Schuhe sehen. Und tatsächlich griff die Frau nach unten, stützte sich mit einer Hand auf der Schulter des Mannes ab und zog eine goldene, endlos hohe Riemchensandalette mit roter Sohle vom Fuß.

Hmm, Louboutins!

Lila schwenkte mit dem Fernglas ein Stück tiefer.

Blondie lag auch immer noch nicht im Bett. Sie trug wieder Schwarz – eng und kurz –, und ein paar Strähnen hatten sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst. Sie kam wohl gerade aus der Stadt, mutmaßte Lila. Und es war nicht gut gelaufen.

Sie weint, stellte Lila fest, als sie sah, wie sich die Frau beim Sprechen immer wieder mit der Hand übers Gesicht fuhr. Sie redete schnell. Erregt. Schon wieder ein heftiger Streit mit dem Freund.

Aber wo war er?

Doch auch als sie den Blickwinkel änderte, bekam sie ihn nicht zu sehen.

Jag ihn zum Teufel, flüsterte Lila ihr zu. Niemand sollte dich so unglücklich machen dürfen. Du bist wunderschön. Und ich wette, du bist auch klug und garantiert mehr wert als …

Dann fiel der Kopf der Frau nach hinten, als er von einem Schlag getroffen wurde, und Lila fuhr zusammen. »O mein Gott, er hat sie geschlagen! Der Bastard! Nicht …«

Sie schrie unwillkürlich auf, als die Frau versuchte, ihr Gesicht zu schützen, und zurückwich, als sich erneut eine Faust zum Schlag erhob.

Die Frau weinte, bettelte.

Lila machte einen Satz zum Nachttisch, wo ihr Telefon lag, schnappte es sich, sprang einen Schritt zurück.

Sie konnte ihn immer noch nicht sehen, konnte ihn in dem schwachen Licht nicht erkennen, aber jetzt wurde die Frau gegen die Fensterscheibe gedrückt.

»Es ist genug, jetzt ist es wirklich genug«, murmelte Lila und war drauf und dran, den Notruf zu wählen.

Doch dann blieb die Welt stehen.

Glas splitterte. Die Frau stürzte hinaus – mit weit ausgebreiteten Armen, die Beine traten ins Leere, das Haar wie goldene Flügel … So fiel sie vierzehn Stockwerke tief auf den harten Bürgersteig.

»O Gott. Gott. Gott.« Zitternd drückte Lila die Tasten.

»Neun-eins-eins, was für einen Notfall möchten Sie melden?«

»Er hat sie gestoßen … Er hat sie gestoßen, und sie ist aus dem Fenster gefallen!«

»Ma’am …«

»Warten Sie, warten Sie …« Sie schloss einen Moment lang die Augen und zwang sich, dreimal tief durchzuatmen. Bleib bei der Sache, befahl sie sich. Gib ihnen die Details.

»Ich heiße Lila Emerson. Ich habe soeben einen Mord beobachtet. Eine Frau ist aus einem Fenster im vierzehnten Stock gestoßen worden. Ich wohne …« Es dauerte einen Augenblick, bis ihr die Adresse der Kilderbrands wieder einfiel. »Es ist das Gebäude gegenüber … äh, westlich, westlich von mir. Glaube ich jedenfalls. Es tut mir leid, ich kann nicht klar denken! Sie ist tot. Sie muss tot sein.«

»Ich schicke sofort einen Streifenwagen los. Bleiben Sie bitte am Telefon?«

»Ja, ja, ich bleibe dran.«

Am ganzen Leib zitternd hob sie den Blick. Doch das Zimmer hinter der zerbrochenen Fensterscheibe war dunkel.

2

Sie ertappte sich tatsächlich dabei, wie sie darüber nachdachte, ob sie in eine Jeans oder Caprihose schlüpfen sollte. Das ist der Schock, sagte sie sich. Sie stand wirklich ein klein wenig unter Schock – aber das war schon in Ordnung. Sie würde sich davon erholen.

Sie lebte.

Sie entschied sich für Jeans und T-Shirt, dann lief sie mit der Katze auf dem Arm in der Wohnung auf und ab. Thomas schien zwar ein bisschen verwirrt zu sein, hatte aber im Großen und Ganzen nichts dagegen.

Sie hatte gesehen, wie die Polizei gekommen war, und auch die kleine Menge Schaulustiger bemerkt, die sich sogar morgens um zwei dort unten auf der Straße versammelte. Dann hatte sie nicht länger hinsehen können.

Das hier war schließlich nicht CSI, SVU, NCIS oder irgendeine andere Fernsehserie. Das hier war real. Die schöne Blondine, die so gern kurze schwarze Kleider getragen hatte, lag jetzt zerschmettert und blutüberströmt auf dem Bürgersteig. Der Mann mit dem welligen braunen Haar – der Mann, mit dem sie zusammengelebt hatte, mit dem sie Sex gehabt hatte, geredet, gelacht, gestritten hatte – hatte sie in den Tod gestoßen.

Sie musste jetzt Ruhe bewahren. Ruhig werden und ruhig bleiben, damit sie der Polizei erzählen konnte, was sie gesehen hatte. Und zwar mit Sinn und Verstand. Sie konnte die Vorstellung zwar kaum ertragen, alles erneut durchleben zu müssen, aber sie zwang sich, es noch einmal vor sich zu sehen: das tränenüberströmte Gesicht, das Haar, das sich löste, die Schläge. Sie stellte sich den Mann vor, wie sie ihn durchs Fenster gesehen hatte – lachend, sich duckend, streitend. Im Geiste zeichnete sie sein Gesicht, bewahrte es vor ihrem inneren Auge, damit sie ihn den Ermittlern beschreiben konnte.

Die Polizei war inzwischen im Anmarsch, rief sie sich ins Gedächtnis. Als die Klingel ertönte, zuckte sie trotzdem zusammen.

»Schon okay«, raunte sie Thomas zu. »Es ist alles in Ordnung.«

Sie warf einen Blick durch den Türspion, sah die beiden uniformierten Beamten, las aufmerksam ihre Namensschilder. Fitzhugh und Morelli, wiederholte sie bei sich, und dann öffnete sie die Tür.

»Miss Emerson?«

»Ja. Ja, kommen Sie rein.« Sie trat einen Schritt zurück, überlegte krampfhaft, was sie tun und sagen sollte. »Die Frau, sie … Sie kann den Sturz nicht überlebt haben.«

»Nein, Ma’am.« Fitzhugh – älter und dem ersten Eindruck zufolge erfahrener – übernahm die Führung. »Erzählen Sie uns bitte, was Sie gesehen haben.«

»Ja. Ich … Wir sollten uns hinsetzen. Können wir uns setzen? Ich hätte Kaffee kochen sollen. Ich könnte Ihnen einen Kaffee anbieten.«

»Machen Sie sich darüber bitte keine Gedanken. Das ist eine schöne Wohnung«, fuhr er im Plauderton fort. »Wohnen Sie dauerhaft bei den Kilderbrands?«

»Was? Oh nein. Nein, die Kilderbrands sind verreist. Nach Frankreich. Ich hüte nur ihre Wohnung. Ich wohne hier, während sie weg sind, aber ich lebe nicht hier. Müsste ich sie anrufen? Es ist …« Mit leerem Blick starrte sie auf ihre Armbanduhr. »Wie spät ist es dort jetzt? Ich kann nicht mehr klar denken.«

»Da machen Sie sich mal keine Sorgen«, sagte er und dirigierte sie zu einem Stuhl.

»Es tut mir leid … Es war so schrecklich! Er hat sie geschlagen, und dann muss er sie gestoßen haben, weil das Fenster kaputtgegangen ist, und sie … Sie ist einfach so hinausgeflogen.«

»Sie haben gesehen, wie jemand das Opfer geschlagen hat?«

»Ja. Ich …« Sie hielt Thomas noch einen Moment fest, dann setzte sie ihn auf den Boden. Sofort rannte er zu dem jüngeren Cop hinüber und sprang ihm auf den Schoß. »Oh, Entschuldigung! Ich kann ihn ins andere Zimmer bringen.«

»Ist schon okay. Nettes Tier.«

»Ja, das stimmt. Thomas ist wirklich süß. Manchmal haben meine Kunden Katzen, die eher reserviert sind oder einfach nur grässlich, und dann … Entschuldigung.« Sie nahm sich zusammen und holte zitternd Luft. »Ich fange am besten von vorn an. Ich hatte mich gerade bettfertig gemacht …«

Sie erzählte ihnen, was sie gesehen hatte, ging mit ihnen hinüber ins Schlafzimmer, um ihnen die Aussicht zu zeigen. Als Fitzhugh auf die Terrasse trat, kochte sie Kaffee, gab Thomas ein frühes Frühstück und plauderte mit Morelli, der ihr erzählte, dass er seit anderthalb Jahren verheiratet sei und dass seine Frau im Januar ihr erstes Kind erwarte. Er mochte Katzen, war aber eigentlich eher ein Hundemensch, und er stammte aus einer großen italoamerikanischen Familie. Sein Bruder betrieb eine Pizzeria in Little Italy. In seiner Freizeit spielte er Basketball.

»Sie würden eine gute Polizistin abgeben«, sagte er schließlich.

»Ach ja?«

»Sie entlocken einem Informationen. Ich habe gerade mein halbes Leben vor Ihnen ausgebreitet.«

»Ich stelle Fragen – ich kann nicht anders. Menschen interessieren mich einfach. Deshalb habe ich auch aus dem Fenster gesehen. Gott, sie hat bestimmt Familie, Eltern, Geschwister, jemanden, der sie liebt … Sie war so schön und groß – vielleicht war sie ein Model?«

»Groß?«

»Oh, als sie am Fenster stand.« Lila hob die Hände. »Sie war mindestens eins fünf- oder sechsundsiebzig.«

»Sie wären wirklich ein guter Cop! Ich mache schon auf«, sagte er, als die Klingel erneut ertönte.

Kurz darauf kam er mit einem müde aussehenden Mann von etwa vierzig Jahren und einer etwa zehn Jahre jüngeren Frau mit scharfen Gesichtszügen wieder. »Detective Waterstone und Detective Fine. Die beiden übernehmen jetzt. Passen Sie gut auf sich auf, Miss Emerson.«

»Oh, gehen Sie schon? Danke für … Also … Danke. Vielleicht gehe ich ja mal bei Ihrem Bruder Pizza essen.«

»Tun Sie das. Detectives …«

Seine Anwesenheit hatte beruhigend auf sie gewirkt. Sowie er fort war, kehrte ihre Nervosität zurück.

»Ich habe Kaffee …«

»Ich hätte nichts dagegen«, sagte Fine. Sie ging in die Knie, um Thomas zu streicheln. »Hübsche Katze.«

»Ja. Äh, wie trinken Sie Ihren Kaffee?«

»Alle beide schwarz. Sie wohnen also hier, während die Kilderbrands in Frankreich sind.«

»Ja, das stimmt.« So ist es besser, dachte Lila und hielt ihre Hände beschäftigt. »Ich bin der Homesitter.«

»Sie verdienen Geld damit, in den Häusern anderer Leute zu wohnen?«, fragte Waterstone.

»Nein, das mach ich weniger wegen des Geldes – es ist eher ein Abenteuer. Eigentlich bin ich Autorin. Davon kann ich inzwischen sogar ganz gut leben.«

»Wie lange sind Sie denn schon hier?«, fragte Waterstone.

»Eine Woche. Entschuldigung, eine Woche und zwei Tage – wir haben ja schon … Insgesamt bleibe ich drei Wochen hier, während sie mit Familie und Freunden in Frankreich Urlaub machen.«

»Haben Sie schon einmal hier gewohnt?«

»Nein, die Kilderbrands sind neue Kunden.«

»Und Ihre Adresse?«

»Eigentlich habe ich keine feste … Wenn ich nicht arbeite, schlüpfe ich bei einer Freundin unter, aber das kommt selten vor. Ich hab eigentlich immer genug zu tun.«

»Sie haben keine eigene Wohnung?«, hakte Fine nach.

»Nein. So halte ich die Kosten gering. Aber für offizielle Dinge und für die Post benutze ich die Adresse meiner Freundin Julie Bryant.« Sie nannte ihnen die Adresse in Chelsea. »Manchmal schlüpfe ich auch zwischen zwei Jobs dort unter.«

»Hmm. Zeigen Sie uns bitte, wo genau Sie sich befanden, als Sie den Vorfall beobachtet haben.«

»Hier entlang … Ich wollte eigentlich gerade zu Bett gehen, war aber immer noch ein bisschen aufgedreht. Ich sollte Ihnen vielleicht sagen, dass ich eine Freundin zu Besuch hatte – Julie. Wir haben Wein getrunken. Viel Wein, um ehrlich zu sein, und ich konnte nicht einschlafen. Deshalb hab ich mir das Fernglas geschnappt und zu den beleuchteten Fenstern rübergeschaut.«

»Fernglas«, wiederholte Waterstone.

»Das hier.« Sie trat ans Schlafzimmerfenster und hielt das Fernglas in die Höhe. »Ich nehme es überallhin mit. Ich wohne schließlich in unterschiedlichen Gegenden von New York und … na ja, eigentlich überall auf der Welt. Ich reise viel. Ich bin gerade erst von einem Job in Rom zurückgekehrt.«

»Jemand in Rom hat Sie engagiert, um auf sein Haus aufzupassen?«

»In diesem Fall eine Wohnung«, stellte Lila richtig. »Ja. Viel läuft über Mundpropaganda oder Kundenempfehlungen – und ich habe einen Blog. Ich mag es, Menschen zu beobachten, und denke mir Geschichten über sie aus. Genau genommen ist das natürlich Spionage«, gab sie freimütig zu. »Ich sehe es allerdings nicht so – ehrlich nicht! –, und es ist auch nicht meine Absicht … Aber genau genommen ist es Spionage. Es ist eben … All diese Fenster sind wie kleine Welten.«

Waterstone nahm ihr das Fernglas ab, hob es an die Augen und studierte das Gebäude gegenüber. »Sie haben eine ziemlich gute Sicht von hier aus.«

»Sie haben oft gestritten … oder hatten angeregte Gespräche. Aber sie haben sich immer wieder versöhnt.«

»Wer?«, fragte Fine.

»Blondie und Mr. Slick. Ich hab sie insgeheim so genannt. Es war ihre Wohnung, weil … Na ja, die Wohnung hat irgendwie eine weibliche Ausstrahlung, aber er ist fast immer über Nacht geblieben – jedenfalls seit ich hier wohne.«

»Können Sie ihn beschreiben?«

Sie nickte. »Ein bisschen größer als Sie – vielleicht eins fünfundachtzig? –, kräftig, muskulös, schätzungsweise knapp hundert Kilo, braune, wellige Haare. Grübchen, wenn er lächelt. Ende zwanzig vielleicht. Sehr attraktiv.«

»Was genau haben Sie heute Nacht gesehen?«

»Ich konnte sie sehen – schickes kleines Schwarzes, ein paar Haarsträhnen lösten sich aus ihrer Hochsteckfrisur. Sie weinte … Es sah aus, als ob sie weinte. Sie wischte sich immer wieder übers Gesicht und redete wahnsinnig schnell. Flehend. So sah es jedenfalls für mich aus. Und dann sah ich, wie er zuschlug.«

»Sie haben den Mann gesehen, der sie geschlagen hat?«

»Nein. Ich konnte nur die Hand sehen, die zuschlug. Er selbst stand links hinter dem Fenster. Und dann war da dieser Schlag – wie eine Art Blitz. Ein dunkler Ärmel. Ihr Kopf schnellte zurück. Sie versuchte, ihr Gesicht zu schützen, und er schlug erneut zu. Da hab ich zum Telefon gegriffen. Es stand im Ladegerät direkt hier auf dem Nachttisch. Ich wollte die Polizei anrufen, aber als ich wieder hinsah, stand sie am Fenster – mit dem Rücken zum Fenster … Ihr Körper versperrte die Sicht auf alles andere. Dann zerbrach das Glas, und sie stürzte hinaus. Es ging so schnell – eine Minute lang hab ich nur sie gesehen. Dann rief ich die Polizei, und als ich wieder zum Fenster sah, war das Licht aus. Ich konnte nichts mehr sehen.«

»Sie haben ihren Angreifer also nicht zu Gesicht bekommen?«

»Nein. Nur sie. Ich hab nur sie gesehen. Aber irgendjemand dort drüben in dem Haus muss ihn doch kennen! Oder einer von ihren Freunden, ihrer Familie … Irgendjemand muss ihn doch kennen? Er hat sie gestoßen. Vielleicht war es ja gar keine Absicht – aber er muss sie so heftig geschlagen haben, dass die Scheibe zerbrochen und sie hinuntergestürzt ist. Aber das spielt ja auch keine Rolle … Er hat sie umgebracht. Irgendjemand muss ihn einfach kennen!«

»Um wie viel Uhr haben Sie sie heute Nacht zum ersten Mal gesehen?« Waterstone legte das Fernglas beiseite.

»Das war um ein Uhr vierzig. Ich hatte gerade erst auf die Uhr geschaut, als ich ans Fenster trat, und dachte noch: Dass es schon so spät ist! Deshalb weiß ich genau, dass es ein Uhr vierzig war, vielleicht maximal eine Minute später, als ich sie sah.«

»Nachdem Sie den Notruf gewählt haben«, begann Fine, »haben Sie da irgendjemanden aus dem Gebäude gehen sehen?«

»Nein, aber ich hab auch nicht hingeschaut. Als sie hinunterstürzte, war ich minutenlang wie erstarrt.«

»Ihr Notruf ging um ein Uhr vierundvierzig ein«, warf Fine ein. »Wie lange dauerte es von dem Moment, als Sie durchs Fernglas gesehen haben, bis sie geschlagen wurde?«

»Weniger als eine Minute. Ich sah das Paar zwei Stockwerke drüber heimkommen – wie für eine elegante Dinnerparty gekleidet, und der …«

Sag jetzt bloß nicht: der sexy nackte Schwule!

»… der Mann im zwölften Stock hatte Besuch von einem Freund. Und dann sah ich sie. Da war es also wahrscheinlich eher ein Uhr zweiundvierzig oder dreiundvierzig – sofern meine Uhr richtig geht.«

Fine zog ihr Smartphone aus der Tasche, wischte darüber und hielt es ihr hin. »Erkennen Sie diesen Mann?«

Lila starrte auf das Führerscheinfoto hinab. »Das ist er! Das ist der Freund. Ich bin mir ganz sicher. Zu neunundneunzig Prozent – nein, sechsundneunzig Prozent. Sie haben ihn schon gefasst? Ich werde aussagen.« Tränen traten ihr in die Augen. »Was immer Sie brauchen. Er hatte nicht das Recht dazu, sie zu verletzen. Ich werde alles tun, was Sie von mir erwarten.«

»Vielen Dank, Miss Emerson, aber Sie brauchen nicht gegen diese Person auszusagen.«

»Aber er … Hat er gestanden?«

»Nein.« Fine steckte ihr Smartphone wieder ein. »Er ist inzwischen auf dem Weg ins Leichenschauhaus.«

»Ich verstehe nicht …«

»Es scheint, der Mann, den Sie gesehen haben, wie er das Opfer aus dem Fenster gestoßen hat, hat sich anschließend auf die Couch gesetzt, sich den Lauf einer .32er in den Mund gesteckt und abgedrückt.«

»Oh. O Gott!« Lila taumelte ein Stück rückwärts und sank dann aufs Fußende ihres Bettes. »O Gott … Er hat erst sie getötet und dann sich selbst.«

»So sieht es aus.«

»Aber warum? Warum sollte er so etwas tun?«

»Das ist eine gute Frage«, sagte Fine. »Lassen wir alles noch mal Revue passieren.«

Als die Polizei schließlich ging, war Lila seit fast vierundzwanzig Stunden auf den Beinen. Sie wollte Julie anrufen, ließ es dann aber bleiben. Warum sollte sie den Tag ihrer Freundin mit einer so schrecklichen Nachricht einläuten?

Sie dachte darüber nach, ob sie ihre Mutter anrufen sollte – die für sie immer ein Fels in Krisensituationen gewesen war –, doch dann malte sie sich aus, wie das Gespräch verlaufen würde. Zuerst wäre sie hilfsbereit und voller Mitgefühl, doch dann würde unweigerlich kommen: »Warum musst du auch in New York leben, Lila-Lou? Es ist dort so gefährlich! Komm lieber zu mir und deinem Vater – dem Lieutenant Colonel im Ruhestand – nach Juneau.« Nach Alaska.

»Ich will nicht schon wieder darüber reden. Ich ertrag es nicht, es ständig wiederholen zu müssen.«

Stattdessen warf sie sich voll bekleidet aufs Bett und drückte Thomas an sich, der sich neben sie gelegt hatte.

Und zu ihrer eigenen Überraschung war sie innerhalb von Sekunden eingeschlafen.

Sie erwachte mit heftig klopfendem Herzen. Ihre Hände umklammerten die Bettkante. Sie hatte das Gefühl gehabt zu fallen. Nur eine simple Reaktion, sagte sie sich, eine Art Projektion. Sie setzte sich im Bett auf. Sie hatte bis Mittag geschlafen.

Das musste reichen. Sie sollte sich schleunigst unter die Dusche stellen, sich umziehen und raus aus der Wohnung. Sie hatte alles getan, was sie tun konnte, und der Polizei alles erzählt, was sie gesehen hatte. Mr. Slick hatte Blondie und sich selbst getötet, hatte zwei Leben ausgelöscht, und nichts konnte daran mehr etwas ändern, erst recht nicht, wenn sie weiter darüber nachgrübelte.

Aber sie bekam es einfach nicht aus dem Kopf. Sie begann, auf ihrem iPad nach Artikeln über den Mord zu suchen.

Model stürzt in den Tod, las sie. »Ich wusste es. Sie hatte die perfekte Figur dazu.«

Sie nahm sich den letzten Cupcake – sie wusste, sie sollte es besser bleiben lassen, aber sie konnte nicht anders – und verschlang ihn, während sie den knappen Artikel über die beiden Todesfälle überflog. Sage Kendall. Sie hieß sogar wie ein Model, dachte Lila. »Und Oliver Archer. Mr. Slick hatte also auch einen richtigen Namen. Sie war erst vierundzwanzig, Thomas! Vier Jahre jünger als ich! Sie hat ein paar Werbespots gedreht. Ob ich sie wohl jemals im Fernsehen gesehen habe? Und warum macht es das irgendwie umso schlimmer?«

Nein, sie musste aufhören und genau das tun, was sie sich gerade noch selbst aufgetragen hatte: duschen und ein bisschen rausgehen.

Die Dusche half, und auch dass sie sich ein leichtes Sommerkleid überstreifte und Sandalen anzog. Das Make-up half sogar noch mehr, gestand sie sich ein. Sie war immer noch blass, und unter ihren Augen lagen dunkle Schatten.

Sie würde irgendwohin spazieren – weit weg von ihren Gedanken. Vielleicht würde sie irgendwo eine Kleinigkeit essen. Danach würde sie Julie anrufen. Vielleicht sollte sie sie bitten, noch mal vorbeizukommen, damit sie ihre Erlebnisse der vergangenen Nacht endlich auch einer mitfühlenden, unbeteiligten Person anvertrauen konnte.

»In zwei Stunden bin ich wieder da, Thomas.«

Sie verließ die Wohnung, ging aber noch einmal zurück und steckte die Karte ein, die Detective Fine ihr gegeben hatte. Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist, sagte sie sich. Und was war falsch daran, wenn die Augenzeugin in einem Mordfall den ermittelnden Detective fragte, ob sie den Fall abgeschlossen hatten?

Auf jeden Fall würde es ein kurzer, angenehmer Spaziergang werden. Vielleicht würde sie sogar kurz in den Pool springen, wenn sie zurückkäme. Theoretisch durfte sie als Nicht-Mieterin Pool und Fitnessstudio des Wohnblocks nicht benutzen, aber auch diese Klippe hatte die umsichtige Macey geschickt umschifft. Sie würde die Müdigkeit, den Stress und die Aufregung im Wasser abstreifen und dann den Tag ausklingen lassen, indem sie ihrer besten Freundin die Ohren volljammerte.

Ihre Arbeit würde sie am nächsten Morgen wieder aufnehmen. Das Leben musste schließlich weitergehen. Der Tod erinnerte einen stets daran, dass das eigene Leben weitergehen musste.

Ash leerte den Inhalt der Tasche aus. Habe nannten sie so etwas; persönliche Habe. Die Uhr, der Ring, die Brieftasche – mit viel zu viel Geld, das Kartenfach mit viel zu vielen Kreditkarten bestückt. Der silberne Schlüsselanhänger von Tiffany’s. Die Uhr und der Ring stammten vermutlich auch von dort – oder vielleicht auch von Cartier oder irgendeinem anderen Laden, den Oliver für hinreichend erlesen gehalten hatte. Das schlanke silberne Feuerzeug ebenfalls.

Der ganze glänzende Plunder, den sein Bruder am letzten Tag seines Lebens in seine Taschen gestopft hatte.

Oliver, immer auf dem Sprung zur nächsten großen Sache, zum nächsten großen Deal, dem nächsten großen Etwas. Der charmante, leichtsinnige Oliver.

Tot.

»Er besaß außerdem noch ein iPhone, das wird aber immer noch untersucht.«

»Wie bitte?« Er sah zu der Ermittlerin auf. Detective Fine – so hatte sie sich ihm vorgestellt, fiel ihm wieder ein. Detective Fine mit den sanften blauen Augen voller Geheimnisse. »Entschuldigung, was haben Sie gesagt?«

»Wir untersuchen sein iPhone noch, und sobald die Wohnung freigegeben ist, müssten Sie bitte mit uns hinfahren und feststellen, was ihm gehörte. Wie ich bereits sagte, in seinem Führerschein steht eine Adresse im West Village, aber unserer Information zufolge ist er dort bereits vor drei Monaten ausgezogen.«

»Ja, das sagten Sie bereits. Ich weiß nicht …«

»Sie haben ihn nicht mehr gesehen seit …«

Er hatte es ihr gesagt, er hatte ihr und ihrem Partner mit dem harten Gesicht alles gesagt, als sie ihn in seinem Loft aufgesucht hatten. Mitteilung, so hatten sie es genannt. Persönliche Habe, Mitteilung. So etwas kam in Romanen und Fernsehserien vor. Doch nicht im echten Leben.

»Seit ein paar Monaten vielleicht. Seit drei oder vier Monaten.«

»Aber Sie haben vor ein paar Tagen mit ihm gesprochen.«

»Er rief an und sprach davon, dass er sich mit mir auf einen Drink treffen wolle, damit wir einander mal wieder auf den letzten Stand bringen konnten. Ich hatte leider zu tun und wimmelte ihn ab und sagte, wir sollten es auf nächste Woche verschieben. Jesus …« Ash presste sich die Finger auf die Augen.

»Ich weiß, wie schwer das ist. Sie haben gesagt, sie hätten die Frau, mit der er seit über drei, fast vier Monaten zusammenlebte, nicht gekannt.«

»Nein. Aber er hat sie erwähnt, als er anrief. Hat ein bisschen angegeben – heißes Model und so. Ich bin nicht weiter darauf eingegangen. Oliver hat schon immer mit allem geprahlt, so war er nun mal.«

»Probleme zwischen ihm und diesem heißen Model hat er nicht erwähnt?«

ENDE DER LESEPROBE