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Der siebzehnjährige Kilian wird von seinen Eltern, die eine Geschäftsreise antreten, kurzerhand die letzten Wochen der Sommerferien zu seiner Großmutter verfrachtet, die er seit neun Jahren nicht mehr gesehen hat. Er fühlt sich abgeschoben und richtet sich lustlos auf die vermeintlich langweiligsten zwei Wochen seines Lebens ein, bis ein Unfall mit Fahrerflucht alles ändert und seine Ferien zu einem echten Abenteuerurlaub werden.
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Seitenzahl: 167
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Sabine Kulinski
Ein Fall vonFerien
© 2019 Sabine Kulinski
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7482-9698-0
Hardcover:
978-3-7482-9699-7
e-Book:
978-3-7482-9700-0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Die Handlung sowie die Menschen, die in dieser Geschichte vorkommen, sind frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.
Ein Fall von Ferien
Die Vorbereitungen
„Herrje, Junge, hast du etwa noch immer nicht gepackt?”, warf Brigitte im Vorbeilaufen ihrem siebzehnjährigen Filius nervös an den Kopf, während dieser sich zusehends bemühte, dieses Level seines Computerspiels nicht schon wieder von vorn beginnen zu müssen. Der Versuch, seine Zimmertür einfach zu schließen und so zu tun, als hätte er mit der ganzen Packerei seiner Mutter nichts zu tun, war schon einige Male daran gescheitert, dass sie ihn zu oft gebeten hatte ihr beim Suchen diverser Dinge zu helfen. Nach kurzer Zeit hatten sie sich von selbst aber wieder angefunden, worauf sie erfreut feststellte: „Alles in Ordnung, Kilian, ich hab‘s gefunden!“ Resigniert ließ er seither die Zimmertür offenstehen und hoffte, dass sie ihn im ganzen Trubel einfach vergessen würde.
Sein Vater war im Umgang mit der Mutter erfolgreicher. Hanno Schliemann hatte es immer schon gut verstanden seine Interessen Brigitte so zu verkaufen, dass diese unbemerkt die Richtung einschlug, die für Hanno die angenehmste war. Allerdings musste er dafür auch manchmal Opfer bringen, damit sie ihm nicht auf die Schliche kam.
Mit der Begründung noch ein paar Akten für den bevorstehenden Kongress sichten zu müssen, schaffte er es also von Brigittes „Packeifer“ unbehelligt zu bleiben; seine Tür blieb verschlossen.
Dieser Kongress in Italien war auch der Grund für diese Hektik, die sich im Hause Schliemann ausbreitete. Denn Mutter Brigitte war, genau wie die Gattinnen der anderen Teilnehmer, in diesem Jahr nämlich auch zum Kongress eingeladen worden. Die Firma, für die Kilians Vater arbeitete, wollte sich auf diesem Wege bei den Frauen ihrer leitenden Angestellten bedanken, „weil sie ihren Männern so erfolgreich den Rücken stärken.“ So stand es tatsächlich auf der Einladung!
Brigitte, sonst eher Hobbyfeministin, die zum Beispiel schon bei der Eheschließung auf einen Doppelnamen bestanden hatte und meistens sehr sensibel auf Formulierungen, die als frauenfeindlich ausgelegt werden konnten reagierte, verdrängte diesen nun eher lästigen Gedanken und freute sich auf den organisierten Tapetenwechsel mit Programm. Außerdem bestand sie darauf, gemeinsam mit Hanno anschließend noch für eine weitere Woche nach Rom zu reisen, denn es lag ja nur zwei Autostunden vom Ort des Kongresses entfernt. Sie hatte das Gefühl, dass er ihr durch die vielen Überstunden, die er nun mal machen musste, diesen Wunsch nicht abschlagen konnte – so viel zu Hannos Opferbereitschaft. Zum Glück hatte Kilian Ferien, sodass sich Brigitte ihrer mütterlichen Pflichten auch relativ leichten Herzens entledigen konnte.
Beim Vorübereilen warf sie im Flur schnell noch einen prüfenden Blick in den Spiegel. Die neue Kurzhaarfrisur, die sie sich extra für diese Reise zugelegt hatte, um auch bei eventuell schlechtem Wetter gut auszusehen, verlieh ihr eine betont sportliche Note. Brigitte war zwar Mitglied im Tennisclub, doch erstreckten sich ihre Ambitionen dort eher auf die Reduzierung des Gewichts durch Aufnahme gesunder, vitaminreicher Getränke, auf Saunabesuche und die soziale Kontaktpflege mit ihren Freundinnen – anstatt auf körperliche Ertüchtigungen.
Sie strich mit der Hand den Rock in der Bauchgegend – ihrer Problemzone – noch einmal glatt und ging ins Schlafzimmer, wo sie sich der vielen leeren Taschen annahm, die darauf warteten, mit etlichen und teils überflüssigen Dingen gefüllt zu werden.
Ja, und wie sah es nun mit Kilian aus? Auf die Kinder der leitenden Angestellten, denen durch die langen Arbeitstage ihrer Väter eine problematische Vater-Kind-Beziehung bescheinigt wurde und die unter Umständen auf der Couch eines Psychotherapeuten landen würden, hatte die Firma leider keine Rücksicht genommen und somit auch kein Programm im Angebot. So wurde entschieden, dass Kilian die nächsten zwei Wochen bei Oma Martha, Brigittes Mutter, verbringen sollte. Kilian hatte nicht nur keine Lust zu seiner Oma zu fahren, er fühlte sich von seinen Eltern regelrecht abgeschoben. Zuletzt war er bei seiner Oma mit acht Jahren gewesen. Seit der Zeit waren sich Brigitte und ihre Mutter erfolgreich aus dem Weg gegangen. Warum – das wusste er nicht. Er hatte auch nicht danach gefragt, denn er wollte dort ja auch gar nicht mehr hin.
Leider gab es auch keine anderen Verwandten, denn sowohl Brigitte, wie auch Hanno waren Einzelkinder. Hannos Eltern waren beide schon verstorben, da blieb eben nur noch Oma Martha übrig. Kilian hoffte insgeheim, dass sie vielleicht krank werden würde, oder vielleicht noch Schlimmeres. Er wollte ums Verrecken dort nicht hin. Darum hatte er auch nicht gepackt.
„Also Kilian, wenn du jetzt nicht packst, dann packe ich für dich!“, drohte Brigitte nun ernsthaft.
„Was soll ich denn bei Oma Martha? Kann ich nicht einfach hier zu Hause bleiben und Blumen gießen?“, fragte er resigniert. „Darüber haben wir doch schon gesprochen“, winkte Brigitte ab. „Nur Pizza und Computer, das ist nicht drin.“ „Die Oma freut sich doch schon auf dich“, setzte sie wenig überzeugend hinzu. „Die hat bestimmt noch nicht mal WLAN“, versuchte er es noch mal. „Es kann bestimmt nicht schaden, wenn du mal nicht Computer spielen kannst, sondern dich auf andere Dinge konzentrierst.“ „Worauf soll ich mich denn konzentrieren? Ich habe doch Ferien“, erwiderte er trotzig. „Nächstes Jahr bin ich achtzehn, dann kannst du mich nicht mehr zu Oma verfrachten!“, brach es ärgerlich aus ihm heraus. „Ja“, erwiderte Brigitte um Haltung ringend, „nächstes Jahr!“
„Ich habe jetzt weder Lust noch Zeit, mich mit dir zu streiten“, beendete sie mit einer hilflosen Geste die Konversation. Sie hatte noch so viel zu tun; auch die Auswahl der Schuhe musste sie noch treffen, die sie mitnehmen wollte.
Kilian holte widerstrebend seinen Wanderrucksack aus dem Kleiderschrank und nahm ein paar T-Shirts und Socken aus dem Schrank. Wenn die glauben, dass ich da geschniegelt auftauche, dann haben die sich aber getäuscht, dachte er. Unterhosen und zwei Jeans landeten noch im Rucksack, und ließen noch genügend Platz für die wichtigsten Computerspiele und seinen Laptop. Da Jugendliche in Kilians Alter bekanntermaßen nicht besonders viel Wert auf das regelmäßige Wechseln von Kleidung, geschweige denn auf zeitaufwendige Körperpflege legen, war der Rucksack schnell gepackt. Gerade, als Brigitte wieder ins Zimmer stürmen und ihn ermahnen wollte, sah sie das fertige Endprodukt neben dem Bett stehen. „Hast du auch noch Platz für deine Kulturtasche gelassen?“, fragte sie. „Klar, und wenn nicht, dann packe ich die Sachen eben einzeln ein – da, wo Platz ist.“ Brigitte nickte zufrieden und entschwand. Kilian legte sich auf sein Bett, verschränkte trotzig die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke.
Ich werde genügend Geld mitnehmen, damit ich zur Not nach Hause fahren kann, überlegte er. Vielleicht konnte er ja auch mit Oma Martha einen Deal machen. Wenn er ihr nur gehörig auf die Nerven fallen würde, wäre sie vielleicht ganz froh, ihn wieder los zu sein. Die Eltern brauchten ja nichts davon zu erfahren. Mit einem überlegenen Lächeln streckte er sich wohlig auf dem Bett aus „Oma, ich komme!“
Erste Annäherung
Während der Fahrt drehte sich Brigitte immer wieder unsicher zu Kilian um, der schweigend auf der Rückbank saß. “Vielleicht findest du ja in Omas Nachbarschaft ein paar Freunde“, versuchte sie ihn aufzuheitern. Kilian blickte düster vor sich hin. „Von Oma kann man in nur zwanzig Minuten in Kiel sein“, versuchte sie es wieder. „Da gibt es Kinos und viele Geschäfte.“ Was sollte Kilian in Kiel? Ihm gefiel Bremen sehr gut. Dort hatte er seine Freunde und von zu Hause brauchte er nur fünfzehn Minuten ins Kino. Er sah die graue Landschaft an sich vorüberziehen und beobachtete sein Gesicht in der Fensterscheibe. Er schob die Brille höher auf die Nase seines schmalen Gesichts und versuchte die Haarsträhnen, die eigentlich sein Pony sein sollten, über die von Akne etwas in Mitleidenschaft gezogene Stirn zu ziehen. Leider sprangen sie dank eines Wirbels immer wieder in ihre alte Position zurück, worauf Kilian das Unterfangen mit einem Seufzer beendete. Brigitte deutete Kilians Seufzer als einen Ausdruck seines Selbstmitleids und versuchte dies zu ignorieren, da sie selbst das schlechte Gewissen etwas plagte.
Die Autofahrt dauerte gute zwei Stunden – und da am Sonntag ohnehin meist nur Ausflügler unterwegs waren, kamen sie auch zügig durch den Verkehr. Es regnete leicht und das Wetter spiegelte Kilians Laune wider. Während er gestern Abend noch guter Dinge gewesen war, seine Oma nerven zu werden, dass sie ihn mit Freude nach Hause ziehen lassen würde, kamen ihm langsam erste Zweifel. Was, wenn sie die Verantwortung für ihn so ernst nahm, dass sie ihn nicht gehen lassen würde? Erwachsene nahmen die Sache mit der Verantwortung ja bekanntlich ziemlich ernst. Er konnte sich an Oma Martha gar nicht mehr gut erinnern, nur an ihren Butterkuchen, den sie jeden Samstag buk.
Kurz nach Neumünster rissen die Wolken plötzlich auf und die Sonne meldete ihren Anspruch an. „Na, wenn das kein gutes Zeichen ist!“, versuchte Brigitte die Stimmung zu heben – aber Kilian und Hanno blieben stumm.
Nachdem sie von der Autobahn abgebogen waren, ging es noch ein paar Kilometer die Landstraße entlang, bis sie schließlich vor Oma Marthas Haus stoppten.
Kilian hatte das Haus und den Garten viel größer in Erinnerung. Sie blieben alle im Auto sitzen, so als ob sie darauf warteten, dass Oma Martha ihnen, wie ein Hotelangestellter, die Wagentüren öffnen würde. Brigitte atmete tief ein und öffnete als erste die Autotür. In der Haustür erschien Oma Martha nun endlich. Hanno und Kilian stiegen ebenfalls aus und alle drei gingen gemeinsam auf das Haus zu. Kilian hatte Oma Martha auch viel größer in Erinnerung.
„Schön, dass ihr es schon geschafft habt“, begrüßte Oma Martha sie alle und gab ihnen die Hand. Brigitte schien etwas unsicher zu sein: „Wir sind auch rechtzeitig losgefahren. Wir müssen ja auch gleich wieder nach Hamburg zum Flughafen“, erklärte sie schnell. „Ach, dann habt ihr wohl gar keine Zeit für eine Tasse Kaffee und ein Stück Butterkuchen?“, fragte Oma Martha enttäuscht. „Eine Tasse Kaffee nehmen wir gern“, lenkte Brigitte zögernd mit einem Blick auf Hanno ein. „Na, dann kommt mal rein!“, forderte Oma Martha sie auf und ging ihnen voran ins Haus.
Kilian stellte seinen Rucksack in den Flur und sah sich neugierig um. Er entdeckte ein paar Bilder wieder, an die er sich erinnern konnte, auch an die Küchenbank, in der Oma immer die Kehrschaufel und den Besen aufbewahrte.
Oma Martha hatte einen pfiffigen Kurzhaarschnitt, fast wie Brigitte. Sie war kleiner als Kilian und wirkte vital, doch auch zerbrechlich. Ihre blauen Augen aber hatten noch immer den Glanz eines jungen Mädchens.
Während die anderen sich schon an den Kaffeetisch setzten sah Kilian sich noch im Flur um. Die Bilder an der Wand zeigten Szenen aus der Nachkriegszeit. Es waren Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die eine Stadt in Trümmern zeigte. Die Menschen, die anscheinend dort arbeiteten, sahen jedoch fröhlich aus. Vielleicht, weil der Krieg vorbei war?
Der Tisch im Wohnzimmer war gedeckt und Oma Martha goss gerade den Kaffee ein, als Kilian hereinkam. „Trinkst du den Kaffee schwarz oder mit Milch, mein Junge?“, fragte sie ihn. „Danke, aber ich trinke keinen Kaffee“, erwiderte er. „Oh, was kann ich dir denn dann anbieten?“, wollte sie wissen. „Danke, aber ich habe gerade keinen Durst“, antwortete Kilian mit distanzierter Höflichkeit. „Aber ein Stück Kuchen nimmst du doch?“, fragte sie ihn und noch bevor er es ausschlagen konnte, hatte Oma Martha ihm ein Stück auf seinen Teller gelegt. „Kannst ihn auch in die Hand nehmen“, schlug sie vor. Nun saßen sie alle vier um den Tisch und tranken schweigend den Kaffee. „Das ist wirklich nett von dir, dass Kilian bei dir bleiben kann“, bemühte sich Brigitte, das Schweigen zu unterbrechen. „Och, da nich‘ für“, erwiderte Oma Martha und nahm sich ein weiteres Stück vom Butterkuchen.
„Oma, hast du eigentlich WLAN“, wagte sich Kilian vor, während Oma Martha sich Milch in den Kaffee schenkte. „Nein, mein Junge“, erwiderte sie nachdenklich, ohne aufzublicken. „Ich hab‘s nur manchmal im Rücken und auf meinen Blutdruck muss ich aufpassen. Das reicht mir schon, da brauch ich nicht noch so neumodische Krankheiten“, überlegte sie und schüttelte den Kopf. „Was es nicht alles gibt“, murmelte sie vor sich hin. Kilian warf seiner Mutter einen vorwurfsvollen Blick zu. Brigitte nahm dies zum Anlass, ihren Mann zum Aufbruch zu mahnen, denn man wollte ja das Flugzeug nicht verpassen.
Nachdem sie Kilian– überflüssigerweise – noch einmal an ein paar Verhaltensregeln erinnert hatte, die dieser mit dem typischen Augenrollen eines Pubertierenden zur Kenntnis nahm, verabschiedeten Hanno und Brigitte sich und überließen Kilian und Oma Martha ihrem Schicksal.
Als sie nun sich selbst überlassen im Flur standen, deutete Oma Martha auf Kilians Rucksack. „Ich zeige dir, wo du den auspacken kannst.“ Kilian nahm den Rucksack und folgte Oma Martha ins Obergeschoss. An dieses Zimmer konnte er sich noch gut erinnern. „Hier hab‘ ich früher auch immer geschlafen“, stellte er fest. „Naja, es war anders. Eigentlich solltest du hier schlafen, aber du bist abends immer in mein Bett gekommen“, berichtigte Oma Martha mit einem verschmitzten Lächeln. Kilian war es unangenehm daran erinnert zu werden. Ihm stieg die Röte ins Gesicht und er wandte sich ab. „Das muss dir ja nicht peinlich sein, Junge. Ich nehme doch stark an, dass du diesmal in dem Bett hier oben schlafen wirst.“ Kilian nickte. „Ja, natürlich“, sagte er hastig. „Na, dann ist ja alles klar“, schloss Oma Martha lächelnd. „Wenn du ausgepackt hast, dann kannst du dich ja draußen ein bisschen umsehen. Für mich wird es Zeit für mein Nickerchen“, sagte sie und stapfte die Treppe hinunter, während sie Kilian sich selbst überließ.
Gefährliche Nachbarschaft
Kilian hatte seine Regenjacke geschnappt und sich in den Garten begeben. Dieser Sommer war ziemlich verregnet. Es schien, dass das Jahr den Sommer ganz aus dem Kalender gestrichen hatte und dafür eine Art „lauwarmen Herbst“ als Ersatz anbot – auch ein Grund, warum Brigitte so sehr nach Italien wollte.
Der Rasen war noch nass und von den Bäumen tropfte ihm Wasser auf den Kopf. Na, das sind ja schöne Aussichten, bemitleidete er sich selbst. Er ging zur Pforte und sah die Straße hinunter. Kein Mensch war zu sehen. In dem Haus gegenüber bewegte sich die Gardine im Obergeschoss verdächtig. Kilian hatte keine Lust, sich von neugierigen Nachbarn begaffen zu lassen. Er verließ das Grundstück und schlenderte, die Hände in den Taschen, gelangweilt die Straße entlang. Plötzlich schreckte ihn ein aufgeregtes Bellen auf, dass immer näher kam und bedrohlich klang. Kilian sah sich um, konnte aber nichts sehen. Doch noch bevor er ausmachen konnte, woher das Bellen kam, schoss vom Nachbargrundstück eine Art Terrier auf ihn zu, der die Form einer Fleischwurst auf Beinen hatte. Kilian war von dem Anblick so erschrocken, dass er nichts anderes tun konnte, als bewegungslos dazustehen und den Hund ungläubig anzustarren. Diese Haltung wiederum verunsicherte den Hund, der es ja darauf abgesehen hatte einen Zweibeiner zu jagen, um ihn dann genüsslich in die Wade zu zwicken. So stand der Hund in einigem Abstand zu Kilian auf dem Bürgersteig und versuchte, durch bedrohliches Knurren Eindruck zu schinden. Kilian hatte das Gefühl den Hund von irgendwoher zu kennen und dachte angestrengt nach. „Natürlich“, fiel es ihm ein, er hatte so ein Wesen in einem seiner Computerspiele jagen und erschießen müssen. Dieses Wesen jetzt leibhaftig vor sich zu sehen, war ein seltsames Gefühl. Der Hund ließ nun auch das Knurren bleiben, denn dieser Zweibeiner schien sich durch nichts beeindrucken zu lassen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als noch mal demonstrativ das Bein zu heben, um sein Revier zu markieren, damit der Zweibeiner wenigstens wusste, wer hier der Chef war, und dann lief er, so schnell sein Körpergewicht es zuließ, wieder zurück aufs Nachbargrundstück.
„Na, wenn das mal nicht der Kilian ist“, hörte er eine Stimme durch die Hecke des Hundegrundstücks dringen. Kilian drehte seinen Kopf. Ein älterer Mann tauchte aus dem Gestrüpp auf. Er trug eine Art Strohhut und hatte eine Gartenschere in der Hand.
Sein Hemd spannte sich über seinem gut genährten Bauch und seine Augen kniff er leicht zusammen, was seinem Gesicht einen heiteren Ausdruck verlieh. „Na, meinem Rufus hast du’s ja ganz schön gegeben“, lachte er anerkennend. „Der wird jetzt bestimmt schmollen“, mutmaßte er. „Guckst dich wohl ein bisschen um?“, fragte der ältere Herr. „Oma hat sich hingelegt“, erklärte Kilian knapp. „Ja, aber meistens ist sie nach einer halben Stunde wieder auf den Beinen“, klärte der Nachbar Kilian auf, „deine Oma ist immer aktiv, nicht kleinzukriegen, die Gute“, schob er noch anerkennend mit einem glucksenden Lachen nach. Kilian nickte nur. „Wenn du gerade nichts zu tun hast: willst du mir vielleicht helfen, die oberen Zweige zu beschneiden? Ich komme dort so schwer ran“, erklärte er. Kilian wollte gern helfen und ging in den Garten. Der Hund, der auf seinem Kissen lag, bellte noch einmal beleidigt; aber da sein eigenes Herrchen den fremden Zweibeiner anscheinend eingeladen hatte, kam dieser als Beute sowieso nicht mehr infrage – auch Hunde haben ihre Prinzipien.
Kilian stellte sich überaus geschickt an und nachdem sie zusammen alle Äste beschnitten hatten, lud der ältere Herr Kilian zu einem Erfrischungsgetränk ein.
Sie setzten sich auf die Terrasse und der Nachbar, der sich als Hinrich Grawig vorstellte, füllte zwei Gläser mit einer rötlichen Flüssigkeit. „Hab‘ ich selbst gemacht“, verkündete er stolz und stieß mit Kilian munter an. „Zum Wohl!“
Obwohl es nur ein kleines Glas war, hinterließ die Flüssigkeit ein Brennen in Kilians Hals bis hinunter in seinen Magen. „Na, ist das nicht ein gutes Tröpfchen?“, fragte Herr Grawig fröhlich. Kilian nickte, denn das Sprechen fiel ihm gerade etwas schwer. Herr Grawig goss noch einmal nach. „Zum Wohl!“, wünschte er und nachdem das Klingen der Gläser verklungen war, konnte die Flüssigkeit wieder in die Kehlen entlassen werden. Kilian erfasste eine Leichtigkeit und freudig hielt er sein Glas Herrn Grawig entgegen, der es anstandslos und lachend erneut füllte.
„Hinrich!“, ertönte plötzlich eine Stimme, die Kilian irgendwie vertraut vorkam, aber aus einer anderen Galaxie zu kommen schien. Kilian musste lachen, aber alles was er zustande bekam, klang wie das Gackern eines Huhnes. Nun musste auch Herr Grawig lachen. Plötzlich stand Oma Martha am Tisch. „Hinrich! Ich kann nicht glauben, dass du meinen minderjährigen Enkel hier abfüllst“, schimpfte sie. „Er hat doch nur ein paar kleine Gläser getrunken“, beschwichtigte Herr Grawig leicht beschwingt. „Ja, aber ich kenne deinen Selbstgebrannten“, entgegnete Oma Martha unerbittlich. Sie hakte Kilian unter und brachte ihn, mit einiger Verzögerung, wieder nach Hause. „Geh‘ du erst mal hoch und leg‘ dich hin!“, befahl Oma Martha. Kilian hatte das Gefühl auf Kartoffeln zu laufen und fand das sehr amüsant. Als er endlich auf dem Bett lag, kam Oma Martha schon mit einem Glas weißer Flüssigkeit. „Trink das!“, forderte sie ihn auf. Kilian tat, wie ihm geheißen und legte sich, nachdem er das Glas geleert hatte, im Bett gemütlich zurecht. „Erzählst du mir noch eine Geschichte, Oma?“, fragte er, bevor er traumlos in den Schlaf versank.
Versuchter Totschlag
Als Kilian aufwachte, war es schon später Morgen. Er hatte ein leichtes Schwindelgefühl und auch sein Appetit hielt sich in Grenzen. Oma Martha hatte den Frühstückstisch schon abgedeckt, aber noch ein Kännchen Tee und eine Tasse für Kilian stehen lassen. Kilian kam gerade herunter, als Oma Martha im Mantel vor dem Spiegel stand und ihren grauen Filzhut aufsetzte. „Na, geht es dir einigermaßen?“, fragte sie besorgt. Kilian nickte, „Wohin willst du denn?“, fragte er neugierig. Ich muss zum Einkaufen und noch zur Bücherei“, antwortete sie. „Kann ich mitkommen?“, fragte Kilian, der schon jetzt Angst hatte vor Langeweile zu sterben oder wieder Herrn Grawig mit dessen Selbstgebranntem in die Hände zu fallen. „Ja, aber dann beeile dich, die Bücherei macht in einer halben Stunde zu.“ So verließen Kilian und Oma Martha das Haus um Einkäufe zu erledigen und die literarische Welt zu erobern.