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Er kann sehen, was du nicht siehst …
Bereits seit einem Jahr arbeitet Tammo nicht mehr für die Kriminalpolizei Hamburg. Seit jenem Tag, der sein Leben für immer veränderte. Doch dann steht Jens, sein früherer Vorgesetzter, wieder vor seiner Tür und bittet ihn um Hilfe. Eine Frauenleiche wurde aufgefunden und eine weitere Frau wird vermisst. Jens weiß, dass er Tammos besondere Fähigkeiten braucht, um die Vermisste zu retten. Durch eine Erkrankung in Kindertagen hat Tammo zwar einen Großteil seines Gehörs verloren, doch seine Augen können Menschen umso besser lesen …
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Seitenzahl: 373
Das Buch
Bereits seit einem Jahr arbeitet Tammo nicht mehr für die Kriminalpolizei Hamburg. Seit jenem Tag, der sein Leben für immer veränderte. Doch dann steht Jens, sein früherer Vorgesetzter, wieder vor seiner Tür und bittet ihn um Hilfe. Eine Frauenleiche wurde aufgefunden, und eine weitere Frau wird vermisst. Jens weiß, dass er Tammos besondere Fähigkeiten braucht, um die Vermisste zu retten. Durch eine Erkrankung in Kindertagen hat Tammo zwar einen Großteil seines Gehörs verloren, doch seine Augen können Menschen umso besser lesen …
Die Autorin
Anne Wolf, geboren und aufgewachsen in Hamburg, arbeitete als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Inspirationen für ihre Romane holt sie sich beim Joggen an der Elbe. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Eimsbüttel.
ANNE WOLF
EIN GANZ
NORMALER
MÖRDER
KRIMINALROMAN
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
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Originalausgabe 12/2018
Copyright © 2018 by Anne Wolf
Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Steffi Korda
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design / Margit Memminger,unter Verwendung von © Shutterstock / Christian Horz
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN: 978-3-641-22628-2V002
www.heyne.de
Was du liebst, lass frei.
Kommt es zurück, gehört es dir – für immer.
KONFUZIUS
Prolog
Das Geräusch riss sie genau in dem Augenblick aus ihren Gedanken, in dem ihr Körper anfing wie von allein zu laufen. Es mussten jetzt drei Kilometer sein, die sie hinter sich gebracht hatte. Drei Kilometer, das war der Punkt, an dem alles anfing, sich zu entspannen. Der Kopf, der Körper. Der Moment, in dem das Adrenalin ihr das Gefühl gab, alles schaffen zu können. Egal, was es war.
Schwer atmend blieb Katinka stehen und strich sich ein paar einzelne Strähnen, die sich aus dem Zopf gelöst hatten, aus dem Gesicht. Ihr Brustkorb hob und senkte sich, während sie ihre Kopfhörer rausnahm und sich im Wald umsah. Aber da war nichts, was das Geräusch erklärt hätte. Sie öffnete den kleinen Reißverschluss hinten, auf der Rückseite ihrer Laufhose, zog ihr Handy raus und sah auf das Display. 3,2 Kilometer. Gut geschätzt, dachte sie und steckte es zurück.
In der Sekunde hörte sie es erneut. Diesmal klarer. Katinka drehte sich um.
Durch die Baumkronen schien an diesem kalten Morgen Sonnenlicht in gebündelten Strahlen auf die dichte Blätterdecke am Boden. Und dort, im Dickicht, von wo das Geräusch plötzlich wieder klar und deutlich zu hören war: das Schreien eines Babys. Bildete sie sich das alles nur ein? War es ein kreischender Vogel?
Sie lauschte einen Moment, während sie schwer ein- und ausatmete. Nein, sie hatte sich nicht geirrt. Sie folgte dem Schreien, ging ein Stück zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war, und verließ den Weg.
Dann entdeckte sie ihn. Der Kinderwagen stand hinter einer riesigen alten Eiche. Dunkelblau, silbernes Gestell, große Räder. Ein älteres Modell.
Sie spürte den Schweiß auf Stirn und Rücken kalt werden. Langsam ging sie auf den Kinderwagen zu, aus dem jetzt wieder das Schreien kam.
Katinka sah sich noch einmal um. Sie war allein.
Wie konnte man ein Baby einfach im Wald abstellen, fragte sie sich fassungslos, und spürte Wut in sich aufsteigen.
Drei, vier Schritte noch. Jetzt stand sie direkt vor dem Wagen, beugte sich über die Decke, die sich wie ein großes Kissen wölbte, und schob sie etwas zurück.
Doch in dem Wagen lag kein Kind. Dort, wo sie das kleine Köpfchen vermutet hatte, lag etwas anderes. Ein handflächengroßes, dunkles Smartphone.
Noch bevor Katinka sich wundern konnte, hörte sie ein Rascheln direkt hinter sich. Es ging viel zu schnell. Eine Hand, die ein weißes Tuch auf ihr Gesicht drückte, war das Letzte, was sie sah. Mit aller Macht versuchte sie sich zu wehren, aber nur kurz. Das Tuch war stärker. Dieses kleine Stück Stoff nahm ihr die Kraft, die Sicht, den Willen.
Und Katinka spürte, wie sie fiel.
1.
Eine Woche später
Es war dunkel geworden, bevor es hell wurde.
Den ganzen Tag über hatte ein nasser, dichter Nebel über der ganzen Stadt gehangen. Er war in seine Haare gekrochen, seine Jacke, seinen Kopf. Dort, wo es sowieso schon grau war und nie wieder hell werden würde. Dort, wo die Schuld wohnte. Seit mehr als einem Jahr.
Tammo Berg saß in seinem Wohnzimmer in dem alten Ledersessel, in dem schon sein Vater gesessen hatte, und sah aus dem Fenster. In den Altbauwohnungen im Haus gegenüber brannte Licht. In seiner eigenen Wohnung nicht. Wozu auch? Die Bilder von Lenny, die im Regal standen, von Weihnachten, von ihren Urlauben in Schweden, von seinem vierten Geburtstag, seinem letzten, sah er auch so. Wenn er die Augen schloss, wenn er sie öffnete, wenn er im Dunkeln saß. So wie jetzt.
Der Herbst war in diesem Jahr spät gekommen. Bis Ende September war es so warm gewesen, dass man auf dem Balkon zu Abend hätte essen können. Die Leute hatten auf den Stühlen der Bistros, die auf den Fußgängerwegen standen, bis spät in die Nacht gesessen, etwas getrunken und gelacht.
Letztes Jahr war der Herbst früher gekommen. Es war kalt gewesen an diesem verregneten Montagmorgen, Anfang Oktober, der ihm alles genommen hatte. Die Blätter hatten wie eine braun-rötliche, nasse Decke auf dem Weg gelegen. Und dort, wo der Wagen des Mannes hätte halten sollen. Wo er nicht gehalten hatte – trotz des Stopp-Schildes. Dort, wo alles innerhalb von Sekunden vorbei gewesen war.
Der Mann hatte auf sein Handy geschaut. Nicht auf die Straße. Er hatte das Schild nicht gesehen. Und auch nicht den Wagen, in dem Tammo mit Lenny gesessen hatte, der nicht angeschnallt gewesen war.
Die Klingel der Wohnungstür riss ihn aus seinen Erinnerungen. Doch er rührte sich nicht.
Es klingelte erneut. »Tammo, mach auf. Ich weiß, du bist da. Also komm, mach schon auf!«
Jens, sein Chef. Tammo fragte sich, wie er ins Treppenhaus gekommen war. Hatte die Neue aus dem Zweiten wieder die Tür offen stehen lassen?
Es klingelte noch einmal. Dann ein energisches Klopfen. Tammo überlegte, die Audioprozessoren seiner Hörprothesen abzunehmen, um es nicht mehr hören zu müssen. Kein Klopfen, kein Atemgeräusch, keine Vögel draußen, kein Leben drinnen. Einfach alles abstellen.
Er wusste, was Jens ihm sagen wollte. Das, was er jedes Mal sagte, wenn er herkam. Er solle zurückkommen. Er wäre der Beste. Sein Stuhl würde leer bleiben, bis er wiederkäme.
So leer wie Lennys Bett, dachte Tammo.
Es war seine Schuld. Er hatte es eilig gehabt an diesem Morgen. Lena hatte sich schlecht gefühlt und war nicht aus dem Bett gekommen. Irgendein Infekt, hatte sie gemeint. Tammo hatte angeboten, Lenny in den Kindergarten zu fahren, obwohl er wusste, dass er dann vermutlich zu spät kommen würde. Dabei sollte er ausgerechnet an diesem Tag auf alle Fälle pünktlich sein, um das Schießtraining zu absolvieren, das er schon vor Wochen hätte machen müssen. Jens hatte ihn immer wieder darauf hingewiesen.
Es klopfte erneut. Diesmal stärker.
Tammo holte tief Luft und stand auf. Langsam ging er zur Haustür, drehte den Schlüsselbund zweimal nach links und öffnete sie.
Jens lächelte ihn erleichtert an. Wasser tropfte ihm von seinen Haaren ins Gesicht, über seine Brillengläser. »Hey!«
»Hallo.«
»Ich dachte schon, du hast wieder deine Empfänger abgenommen«, meinte Jens und zwinkerte Tammo zu. Er war der Einzige, der Tammos Audioprozessoren, die Teil seiner Cochlea-Implantate waren, welche sich hinter seinen Ohren unter der Haut befanden, so nannte: Empfänger.
Jens ging einen Schritt auf ihn zu, nahm ihn kurz zur Begrüßung in den Arm, klopfte ihm auf den Rücken, so, wie sie es immer machten.
Die gleiche Umarmung, das gleiche Klopfen, und doch war es anders. Es fühlte sich seit Lennys Tod wie ein Aufmuntern an, als wollte Jens ihm sagen: Du schaffst das! Nicht aufgeben! Aber vielleicht bildete Tammo sich das auch nur ein.
Er nahm seine freie Hand und erwiderte die Begrüßung.
»Hast du einen Moment? Ich wollte dir etwas zeigen«, fragte Jens.
Tammo machte einen Schritt zur Seite. »Komm rein!«
Jens trat in den dunklen Flur und blieb stehen. Wasser tropfte ihm von der Hose auf den Boden und hinterließ kleine Pfützen. Offenbar hatte er keinen Parkplatz direkt vorm Haus gefunden.
»Wollen wir nicht … das Licht anmachen?«, fragte er, während er die pitschnassen Schuhe abstreifte.
Tammo ging vor ins Wohnzimmer und drückte auf den Schalter an der Wand. Dann ging er weiter, durch den großen Raum und setzte sich wieder zurück in seinen Ledersessel.
Jens öffnete den Reißverschluss seines nassen Parka, zog eine Mappe raus und legte sie auf den Couchtisch neben das kleine schwarze Notizbuch, auf dem sich der Staub sammelte. Sein Notizbuch, ohne das er früher nie aus der Wohnung gegangen war. In dem er immer alles festgehalten hatte, als Zeichnungen und Notizen: feine schwarze Linien auf beigem Papier.
Jens zog seinen Parka aus, hängte ihn über die Türklinke, trocknete seine Brille an seinem Sweatshirt, setzte sich und sah ihn nachdenklich an.
Einen kurzen Moment erinnerte Tammo die Situation an die Zeit, als sie noch zusammengearbeitet hatten.
Er hatte unzählige Verhöre mit Menschen geführt, die nicht sprechen wollten. Das waren die Situationen, in denen er geholt wurde. Er sah, was andere nicht erkannten. Das war der Grund, warum Jens ihn brauchte: Er brachte Schweigende zum Reden.
Jetzt war er es, der nicht reden wollte. Warum auch? Was gab es schon zu reden? Nichts.
»Wir haben ein Problem«, erklärte Jens nun und beugte sich vor. »Vielleicht hast du es schon gelesen. In einem Waldstück am Stadtrand wurde eine Frauenleiche entdeckt. Eine weitere Frau aus der Umgebung wird vermisst. Aber das ist noch nicht alles. Ich glaube, dass es eine Verbindung zu einem alten Fall gibt.« Er hatte seine Ellenbogen auf den Knien abgestützt und sah Tammo erwartungsvoll an.
Er war offenbar davon ausgegangen, dass Tammo darauf anspringen würde. So hatte er es sich bestimmt auf dem Weg vom Revier hierher vorgestellt. Während er sich ganz sicher im Auto einen Burger reingestopft hatte, weil er es wieder den ganzen Tag nicht geschafft hatte, irgendetwas zu essen.
Mit dem Ärmel seines Sweatshirts fuhr Jens sich über das Gesicht.
Tammo blickte ihn ausdruckslos an. Was wollte er? Einen depressiven Mann, der um seinen toten Sohn trauerte, mit einem neuen Fall ablenken?
Darauf konnte auch nur Jens kommen. Er war einfach noch nie gut in solchen Sachen gewesen, in Gefühlsdingen. Möglicherweise war das auch der Grund dafür, dass er mit Ende vierzig noch Single war. Vielleicht war es ganz gut, dass er es bisher nicht geschafft hatte, dass eine Frau länger als ein paar Nächte bei ihm geblieben war. Diesen Verlust konnte er abends locker mit ein paar Bier wegtrinken, dachte Tammo.
Sein eigener Verlust ließ sich nicht wegtrinken. Er hatte es mehrfach versucht.
Jens wartete noch einen Augenblick, dann stand er auf. »Okay, ich glaube, das war keine gute Idee. Ich dachte, ich …«
»Warum ist es nur ein Problem?«, fragte Tammo, während er aus dem Fenster sah.
Jens hielt kurz in der Bewegung inne, dann setzte er sich wieder. »Wie …?«
»Eine Tote, eine Vermisste und eine Verbindung zu einem alten Fall«, zählte Tammo auf und sah Jens jetzt flüchtig an.
»Ach, so. Ja, also, der Fundort der Toten und der Wohnort der Vermissten liegen nur ein paar Kilometer voneinander entfernt. Und es gibt noch etwas. Sie sehen sich verdammt ähnlich. Sarah ist es zuerst aufgefallen. Sie hat ja einen Blick für so was. Aber jetzt kommt es: Sie sehen Sabine Wendlich ähnlich«, Jens machte eine Pause, »unserer Vermissten. Rissen ist zwar ganz am anderen Ende der Stadt, aber es kann trotzdem sein, dass es da eine Verbindung gibt.«
Unsere Vermisste, dachte Tammo.
Seine Vermisste hatte einen anderen Namen. Lena. Er sah auf seine Hand und den Ring. Wie lange war es jetzt her, dass sie gegangen war? Zwölf Wochen? Oder mehr? Tammo schloss die Augen.
Es hatte an dem Tag geregnet, so wie jetzt, und er hatte nichts getan, nur aus dem Fenster gesehen, bis er irgendwann gehört hatte, wie die Tür ins Schloss fiel.
Er sah Lena vor sich, wie sie ihn angesehen hatte. Dieser andere Blick. Sie hatte es einfach nicht mehr ausgehalten – ihn, sein Schweigen, seine Schuld.
Es war damals alles so schnell gegangen, vor ein paar Jahren. Die neue Wohnung, Lenas Übelkeit, der Schwangerschaftstest, Lennys Geburt.
Der Unfall.
Jens nahm die Mappe und schlug sie vor sich auf dem Couchtisch auf. »Die Tote lebte in Kiel. Merle Jansen, 28 Jahre alt, vor drei Wochen von ihren Eltern als vermisst gemeldet worden. Sie hat zwar nicht mehr bei ihnen gewohnt, kam aber regelmäßig sonntags zum Brunch nach Hause. So ’ne Art Tradition. Als sie nicht erschien und auch nicht mehr ans Telefon ging, haben die Eltern bei der Arbeit angerufen, einer Klinik. Da wurde sie auch schon zwei Tage vermisst, die Kollegen hatten aber bis dato nichts unternommen. Vielleicht hatten sie die Nummer der Eltern nicht … keine Ahnung. Die sind jedenfalls daraufhin zu ihrer Wohnung gefahren – sie haben Ersatzschlüssel. Aber dort war sie auch nicht.«
Eltern vermissen ihr Kind, dachte Tammo. Und es wird nicht wiederkommen. Nie wieder.
»Die Kollegen aus Kiel haben das Übliche unternommen, sie aber nicht gefunden. Was ja auch kein Wunder ist, wie wir jetzt wissen.« Jens nahm seine Brille ab und strich sich mit der Hand in wellenförmiger Bewegung über die Stirn. Von links nach rechts und wieder zurück. So als wolle er die Anspannung des Tages wegstreichen.
Die feinen Linien um die Augen, den Mundwinkel, waren tiefer geworden. Die Haut sah trocken aus, in seinem Blick lag etwas Schweres, eine Müdigkeit, die Tammo kannte. Erschöpfung, die nicht weniger wurde, egal, wie viel man schlief. Jens machte den Eindruck, als fehle ihm etwas, dachte Tammo, während er ihn betrachtete.
»Der Hund eines Spaziergängers hat sie gestern entdeckt. Sie lag in einem Waldstück kurz vor Volksdorf. Vermutlich hat sie dort schon eine ganze Weile gelegen, Bernd geht jedenfalls davon aus.« Er setzte seine Brille wieder auf, holte Fotos vom Fundort aus einer Klarsichtfolie und legte sie nebeneinander vor sich auf den Couchtisch. »Sie hat ein Brautkleid getragen. Kein neues Modell, eher älter. Die Eltern haben ausgesagt, dass sie das Kleid noch nie gesehen haben. Sarah ist gerade dabei rauszufinden, wo es herkommt. Keine Anzeichen von äußerer Gewalteinwirkung. Die Leiche ist noch bei Bernd in der Gerichtsmedizin. Da sie, wie es aussieht, erst nach ihrem Tod dort abgelegt wurde, gehen wir aktuell nicht von Selbstmord aus.«
Tammo drehte sich ein Stück zur Seite. Das Brautkleid war es, das in ihm etwas bewegt hatte. Der schönste Tag im Leben. Der Ring an seiner Hand.
»Hat sie einen Ring getragen?«
Jens hielt in der Bewegung inne, sah auf die Bilder. »Ähm … warte mal. Nein. Ich glaube nicht.«
Tammo rückte ein Stück näher, betrachtete die Tote. Sie sah Sabine Wendlich wirklich ähnlich, obwohl sie viel jünger war. Aber sie erinnerte ihn noch an etwas anderes, wie sie da lag. Ein Gemälde. Das blasse, ovale Gesicht, die längeren Haare, der Blumenkranz auf ihrem Kopf, das weiße Spitzenkleid, die Blumenkette um ihren Hals. Liebevoll, zart, zerbrechlich. Ja, genau. Gustav Klimt.
»Und das hier ist die Vermisste.« Jens blätterte ein paar Seiten weiter und holte ein weiteres Foto aus einer Folie. »Sie ist morgens in der Feldmark, vermutlich in der Nähe von Stapelfeld, joggen gegangen und vermutlich von ihrer Runde nicht wiedergekommen. Ihr Ehemann war eine Woche auf Klassenfahrt. Er ist Lehrer an einer privaten Grundschule und war mit der Klasse irgendwo an der Nordsee. Sankt Peter-Ording, glaube ich. Als er zurückkam, war sie jedenfalls nicht da. Ihr Wagen steht in der Garage. Das Handy ist ausgeschaltet. Wir haben allerdings Kopfhörer gefunden, von denen ihr Mann meint, dass sie genau solche besitzt. Er hat ausgesagt, dass sie immer Musik hört, wenn sie läuft. Sie sind kaputt. Das Kabel ist an der einen Seite gerissen. Außerdem ist einer der beiden Kopfhörer plattgetreten. Sieht nach einem Kampf aus. Der DNA-Abgleich wird gerade gemacht. Es sind nicht irgendwelche Kopfhörer, sondern strahlungsarme, die mit Luftdruck arbeiten, daher ist ihr Mann sich absolut sicher, dass es ihre sind. Gibt es nicht an jeder Ecke zu kaufen.«
Jens sah sich im Wohnzimmer um. Tammo wusste, ohne hinzusehen, dass er in dieser Sekunde die Bilder von Lenny, von Lena und von ihnen drei zusammen, ansah. Lenny, der nächstes Jahr eingeschult worden wäre.
»Sie ähnelt doch Sabine Wendlich, oder? Bei der wir nicht weiterkamen. Weißt du noch?«, hakte Jens nach.
Natürlich wusste er es. Schließlich hatten sie Monate mit der Suche verbracht. Doch am Ende hatten sie keinen Erfolg gehabt. Obwohl sie mehrmals die Hundertschaft eingesetzt hatten, die Hundestaffel, Hubschrauber, Wärmebildkamera, das ganze Programm. Eine Frau in den Fünfzigern, ein Mittelreihenhaus aus den Sechzigern, Laufband im Keller, Solaranlage auf dem Dach, ein normales Leben.
Nachbarn, Kollegen, Freunde, alle hatten das Gleiche ausgesagt. Die beiden waren glücklich gewesen. Es hatte keinen Ärger gegeben, keine Schulden, keine Sorgen, keinen Grund zu verschwinden.
Und trotzdem war sie eines Tages weg gewesen.
Sabine Wendlich, die mit ihrem Mann eine Reise nach Südafrika geplant hatte, die Koffer waren bereits gepackt gewesen. Die Tickets lagen im Flur auf einem kleinen Regal neben dem Schlüsselbund.
Tammo erinnerte sich noch genau an die Flugtickets, die er im Vorbeigehen gesehen hatte, nachdem Herr Wendlich ihnen die Tür geöffnet hatte. Zwei leere Sitze in einem vollbesetzten Flieger, hatte Tammo gedacht, während er weiter durch den schmalen Flur in das Wohnzimmer gegangen war. Sabine Wendlichs Schwester hatte dort gesessen, auf dem braunen Ledersofa, und den Kopf geschüttelt. Eine gleichmäßige, langsame Bewegung. Den Blick auf den Boden gerichtet, ohne ihn zu sehen. »Ich verstehe das nicht. Sie muss doch irgendwo sein. Ich verstehe das einfach nicht«, hatte sie immer wieder gesagt.
»Wir werden Ihre Schwester finden.«
Diesen Satz, das Versprechen, das er nicht hatte halten können, trug er immer noch mit sich.
Der Fall war zu den Akten gelegt worden. Es hatte keine Spuren oder Hinweise gegeben. Dem Ehemann hatte man nichts nachweisen können.
Doch Tammo hatte das Ganze nicht losgelassen. Irgendwann hatte er nicht mehr schlafen können. Weil er es nicht sah. Zum ersten Mal. Er sah nicht, was los war, was sie übersehen hatten.
Jetzt blickte er Jens an, der so tat, als würden sie im Büro bei einer Teambesprechung sitzen. Es fehlten nur die Kaffeebecher, die Kollegen und der Geruch des Polizeipräsidiums, das gerade renoviert wurde.
»Die Vermisste heißt Katinka Kühn«, fuhr Jens fort.
Dem Opfer einen Namen geben, es zu einem Menschen werden lassen. Schlau, dachte Tammo. Er will mich unbedingt zurückhaben. Er will, dass ich sie finde. Jetzt wird er gleich auf die emotionale Ebene gehen.
»Ihr Mann hat sie vor drei Tagen als vermisst gemeldet, sie ist aber eventuell schon acht Tage weg, seit Mittwoch vergangener Woche. Sie leben am anderen Ende der Stadt. In Rahlstedt, knapp zehn Kilometer vom Fundort der Leiche entfernt. In einem sehr modernen Einfamilienhaus.« Jens zog die Nase hoch. »Fetter Klotz«, ergänzte er. »Keine Kinder … Der Mann ist, wie gesagt, Grundschullehrer.« Jens blätterte kurz, dann fuhr er fort: »Er hat seine Frau am Tag seiner Abfahrt morgens das letzte Mal gesehen, bevor sie loslief. Sie haben sich verabschiedet, dann hat auch er das Haus verlassen. Katinka Kühn ist Architektin. Sie hatte nachmittags einen wichtigen Abgabetermin oder wie man das nennt. Sie sollte einen Entwurf vorstellen. Es passt jedenfalls nicht zu ihr, zu diesem Termin nicht zu erscheinen und sich auch nicht abzumelden. Sie hatte sich sogar sehr darauf gefreut. Das Projekt hat ihr viel Spaß gemacht, sagt ihr Mann. Es ging dabei um die Umsetzung eines neuen Modells von Kindergärten. Mama & Me. Bürokomplex mit integrierter Kita. Selbstständige Mütter können da Büroplätze oder Räume anmieten und arbeiten, während die Kinder betreut werden. Na ja. Sie soll jedenfalls sehr zuverlässig sein. Ehestreitigkeiten hatte es laut seiner Aussage nicht gegeben. Auch die Kollegen, die wir befragt haben, konnten dazu nichts sagen.«
Wir. Das Team. Ohne ihn.
»Ach ja, die Putzfrau hatte Herrn Kühn übrigens angerufen, weil sie vor der Tür stand und niemand aufmachte. Sie kommt immer mittwochs, recht früh, bevor die beiden das Haus verlassen. Sie hat keinen eigenen Schlüssel. Frau Kühn war nicht da, obwohl sie sonst immer da ist oder ihr andernfalls per WhatsApp absagt, wenn sie einen Termin hat, im Urlaub ist oder was auch immer …« Jens sah gedankenverloren auf die Papiere vor sich. »Auf jeden Fall scheint mir ein Zusammenhang zwischen den Fällen wahrscheinlich«, meinte er nachdenklich.
Tammo hob den Kopf ein wenig. Die Frauen hatten wirklich Ähnlichkeit miteinander. Aber der zeitliche Abstand zwischen den Fällen war groß. Wie groß eigentlich? Er versuchte sich daran zu erinnern, wann sie die SOKO »Sabine« gegründet hatten.
Er rechnete zurück. Vor einem Jahr war Lenny gestorben. Vor fünf Jahren war er zur Welt gekommen, im Sommer. Es musste noch davor gewesen sein.
»Wenn es wirklich einen Zusammenhang geben sollte, dann wäre das eine Chance, den Fall Sabine Wendlich endlich aufzuklären!«
Jens versuchte krampfhaft, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn Tammos Erscheinungsbild ängstigte. Dabei wusste Tammo selbst ganz genau, wie er aussah. Er hatte seit dem letzten Treffen vor zwei Wochen abgenommen. Seinen Bart hätte man als cool durchgehen lassen können, wenn man nicht wusste, warum er sich nicht rasierte. Jens hatte offensichtliche Mühe, so zu tun, als wäre Tammo schon immer in einer ausgebeulten Jogginghose und einem offenen Karohemd rumgelaufen.
»Hast du eine Zigarette?«, fragte Tammo unvermittelt.
»Du rauchst?!«
»Ich habe überlegt anzufangen.«
»Hm …«
»Und?«
»Unten im Auto.«
Lena hatte nicht geraucht. Nie. Nicht zu ihren alten Partyzeiten, als sie jedes Wochenende auf dem Kiez waren, im Mojo-Club, in der Mandarine-Bar, in der Amphore, die ganze Palette. Und auch nicht später, als Lenny da war, sie sich lieber hier mit Freunden trafen, zusammen kochten, Wein tranken, darüber lachten, dass sie es nur noch maximal bis Mitternacht schafften, wach zu bleiben.
Tammo hatte jahrelang geraucht. Eigentlich seitdem er von zu Hause ausgezogen war. Und dann hatte er aufgehört. Einfach so. Es war dieser Moment, als er Lennys Herz zum ersten Mal hatte schlagen sehen – auf dem Monitor während der Ultraschalluntersuchung. Ein winzig kleines Herz, eine Erbse, die pochte.
»Ich weiß, ich nerve dich damit, aber überleg doch noch mal, ob du nicht mit jemandem über …«, Jens holte tief Luft, »über Lennys Tod sprechen möchtest. Es könnte dir helfen, glaub mir!«
Tammo sah aus dem Fenster. Wie oft hatte er das schon gehört? Warum sollte er mit jemandem sprechen? Irgendeiner wildfremden Person?
»Worte bringen kein Leben zurück«, erklärte er.
»Nicht Lennys Leben, aber deins!« Jetzt stand Jens auf, ging ein paar Schritte Richtung Esstisch, blieb stehen und sah Tammo an. Das machte er immer, wenn es ernst wurde.
Jens hatte auch eine Familie verloren. Tammos Familie. Für ihn war das hier mal sein zweites Zuhause gewesen. Abgesehen von der Eineinhalb-Zimmer-Wohnung mit den Billyregalen und dem Schlafsofa, das er sich hin und wieder mit Sarah teilte. Oder irgendwelchen Frauen, von denen Tammo aufgehört hatte, sich die Namen zu merken.
»Hör auf, nach Erinnerungen zu suchen. Hilf mir diese Frau zu finden. Sie braucht dich! Ich brauche dich.«
Eine fremde Frau brauchte ihn. Wenn sie noch lebte.
»Ich soll eine Fremde finden, um mich selbst zu vergessen?«
Jens verschränkte die Arme, lehnte sich gegen den Esstisch, an dem sie so oft abends gesessen hatten. Zu dritt. Manchmal zu viert, wenn er jemanden mitgebracht hatte.
»Du sollst das Leben nicht vergessen, Mann! Du bist 44. Willst du hier sitzen, bis dir irgendeine Pflegerin den Po abwischt?«
Ein Lächeln huschte über Tammos Gesicht.
Einen Augenblick war es still.
»Warum merkt der Mann erst nach der Klassenfahrt, dass seine Frau nicht da ist?« Tammo war auf die Kante des Sessels vorgerutscht, hatte seinen Rücken etwas gerader gemacht. Er hatte es sofort gemerkt, als Lena verschwunden war.
Jens ging zurück zum Sofa und setzte sich wieder, diesmal dichter an Tammo. »Genau das habe ich mich auch gefragt!«
2.
Während er Jens in die Küche gehen und die Kühlschranktür öffnen hörte, kam Tammo der Gedanke, dass der Inhalt des Kühlschranks im Grunde nichts anderes war als ein Spiegelbild seines Zustandes. Verwahrlost, vernachlässigt, einsam.
Eine angebrochene, kleine Packung Toastbrot, eine fast komplett ausgedrückte Tube scharfer Senf, ein Marmeladenglas, das in den Glascontainer gehörte, eine verschrumpelte Ingwerknolle, Knoblauch, H-Milch, fettarm. Und ein paar Flaschen Bier – im Gemüsefach.
Jens kam mit zwei geöffneten Bierflaschen aus der Küche zurück. Die eine stellte er auf den Couchtisch, für Tammo, aus der anderen nahm er einen Schluck, der deutlich machte, dass er Durst hatte. Dann wischte er sich über den Mund und stellte seine Flasche ebenfalls auf den Tisch, neben die Mappe.
»Wann vermisst man seine Frau?«, fragte Jens und ärgerte sich wohl im selben Moment über seine unüberlegte Frage, denn er brach ab. »Spätestens, wenn man sich abends ins Bett legt, oder?«, versuchte er es noch einmal.
Tammo griff nach der geöffneten grünen Flasche und nahm einen Schluck.
»Normalerweise schreibt man sich doch mal eine Nachricht oder telefoniert miteinander, wenn man eine Woche weg ist«, überlegte Jens laut. »Es sei denn …«
»Man vermisst nichts«, beendete Tammo den Satz.
»Ja. Genau«, stimmte Jens ihm zu. »Das Haus sieht nach ’ner Menge Asche aus. Vor allem die Möbel. Richtig geil. Skandinavisch. Fenster, die bis zum Boden runtergehen, Betonfußboden und so. Man hat das Gefühl, durch eine von diesen Design-Zeitschriften zu gehen. Egal. Wir checken gerade die Finanzen. Entweder hat einer von denen geerbt oder eine Bank ausgeraubt – so wie die leben. Wie geht so etwas sonst?«
Tammo sah geradeaus, auf den Boden unter die Heizung, dorthin, wo sich der Staub zu einer handballengroßen Wolke gesammelt hatte. Ja, wie ging so was?
»Sarah meinte, es sähe im Haus alles so gewollt aus. Na ja, kein Wunder. Katinka Kühn ist Architektin. Die wird sich sicher einiges dabei gedacht haben, als sie ihr Haus eingerichtet hat.« Jens hielt kurze inne. »Ihr Mann hat was gesagt von Eigenentwurf. Aber da war noch was. Es war … wie hatte Sarah es noch ausgedrückt?« Jens überlegte. »Diese gewollte Ordnung steht in einem Kontrast zu dem Fehlen der Frau. Es ist wie der Einbruch von Chaos in eine geordnete Welt. Ich glaube, so hat sie es formuliert. Oder so ähnlich. Du kennst sie ja«, meinte Jens und zwinkerte Tammo zu.
Ja, Sarah war eine Meisterin der Wortfindung. Tammo kam es immer so vor, als wäre sie nicht von dieser Welt. So, als gehöre sie eigentlich woanders hin. Nicht im esoterischen Sinne, das definitiv nicht, sondern … einfach so. Mit ihrer schmalen, zierlichen Figur und durch ihre ganze Art sich zu bewegen, zu reden, zu denken, hatte er immer den Eindruck, als wäre sie noch gar nicht richtig gelandet auf diesem Planeten. Sarah war für ihn ein Rätsel. Er konnte sie nicht fassen, nicht einordnen. Immer wenn er glaubte zu wissen, was sie dachte, überraschte sie ihn wieder. Er hatte schon lange den Verdacht, dass sie die Intelligenteste von ihnen allen war – aber er hatte es nie gesagt. Das war es auch nicht, was zählte. Sarah war wichtig für das Team, weil sie so anders war. So anders dachte.
Tammo nahm noch einen Schluck. Er hatte kein Abendbrot gegessen, das merkte er jetzt. Das Bier ließ alles leichter werden. Seit Wochen hatte er keinen Alkohol mehr getrunken.
Nachdem Lena gegangen war, hatte er jeden Abend etwas getrunken. Irgendwann ging es nicht mehr. Der Gin war alle gewesen, und ihm hatte die Kraft gefehlt, neuen zu kaufen. Weißwein schlug ihm auf den Magen. Rotwein haute ihn emotional um. Bier, ja, Bier ging noch.
»Apropos Fehlen. Von ihren persönlichen Gegenständen fehlt nichts bis auf das Handy. Und das lässt sich nicht orten«, ergänzte Jens.
»Wie hat der Mann gewirkt?«, wollte Tammo wissen, während er seine Flasche neben sich auf den Boden stellte.
Jens lächelte sein schiefes Lächeln. Tammo wusste, was er dachte. Dass jeder andere gefragt hätte, was er gesagt habe.
Er räusperte sich. »Moritz Kühn. Schwer einzuschätzen. So ein Typ Mensch, der an dir vorbeigeht, und du kriegst es nicht mit. Ein …« Er überlegte. »So ein völlig … normales, unauffälliges Gesicht irgendwie. Nichts, was besonders raussticht.«
Tammo war sich sicher, dass er mehr gesehen hätte in dem Gesicht von Moritz Kühn. Er hatte diese Fähigkeit, die Gesichter der Menschen zu lesen. Jens hatte das immer bewundert. Wie Tammo in einen Verhörraum kam und alles Unwichtige auszublenden schien. Selbst kaum etwas sagte. Und dann, ein Satz. Kurz und knapp. Ruhig ausgesprochen, so, als würde er fragen, ob sein Gegenüber noch etwas trinken wollte.
Tammo sah aus dem Fenster und spürte Jens’ Blick. Aber da war noch mehr. Er meinte die Angst spüren zu können, die Sorge, er könne genau diese Fähigkeit verlieren. So, wie alles andere, das er verloren hatte.
Jens holte tief Luft und sah wieder auf die Akte vor sich. »Ich weiß ja nicht, ob er sonst auch so eine Schlaftablette ist, aber dafür, dass seine Frau verschwunden ist, finde ich ihn etwas zu ruhig.« Er schüttelte den Kopf. »Du weißt ja, wie die Leute ausflippen können, wenn jemand weg ist. Ob sie nun komplett lethargisch werden, nervös oder hysterisch und uns mal wieder vorwerfen, wir würden nichts unternehmen … Aber dieser Moritz Kühn … der ist … gefühlsneutral.« Jens verstellte seine Stimme und machte Moritz Kühn nach. »Darf ich Ihnen etwas anbieten? Cappuccino? Möchten Sie sich setzen? Ich hole auch gerne Wasser ohne Kohlensäure.« Dann machte er eine Handbewegung nach, die Tammo interessanter fand als alles, was Jens über den Mann der Vermissten erzählt hatte.
»Hat er so gemacht?«, wollte Tammo wissen, hob seine Hand in die Luft, als würde sie schweben, und ließ sie weich zur Seite fallen, sodass jetzt die Handinnenfläche nach oben zeigte.
»Ja. Warum?«
»Hm«, machte Tammo, nickte kurz und sah wieder aus dem Fenster.
»Na ja, jedenfalls war er, um es kurz zu machen, genauso aufgeräumt wie alles in diesem Kasten. Ich weiß, meine Bude ist kein Vergleich, aber das wirkte schon alles sehr … unbewohnt, wenn du weißt, was ich meine. Das hättest du echt sehen müssen!«
Ein Haus ohne Leben. Er wusste, was Jens meinte.
»Mich stört einfach diese eine Woche, in der er auf Klassenfahrt ist, seine Frau angeblich anruft, nicht erreicht, sich nicht wundert, keine Nachbarn fragt, ob sie mal nach ihr gucken könnten.« Jens schüttelte den Kopf. »Dann ihr Handy, das offenbar ausgeschaltet ist. Kein Abschiedsbrief. Und eben dieser Abgabetermin für den Entwurf. Möller & Partner heißt das Architektenbüro übrigens. Sitzen in der Hafencity. Sie hat allerdings auch ein Arbeitszimmer bei sich im Haus. Ihr Mann meinte, dass sie ihre Arbeit liebt. Es hätte zwar in letzter Zeit Ärger gegeben, aber das sei nicht weiter wild. Auf alle Fälle kein Grund, vom Erdboden zu verschwinden.« Jens nahm den letzten Schluck, dann stellte er die leere Flasche auf den Couchtisch, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Ich glaube, es hat ihn mehr gewundert, dass sie nicht zu diesem Abgabetermin erschienen ist, als die Tatsache, dass sie nicht zu Hause war, als er von der Klassenfahrt zurückgekommen ist«, stellte er fest.
»Woher weiß er, dass sie laufen war, wenn er nicht da war?«
»Sie hatte sich ihre Laufsachen angezogen und war gerade dabei, irgend so eine App auf ihrem Handy einzustellen, als er losmusste. Sie läuft regelmäßig. Momentan eher morgens, vor der Arbeit, weil es abends so schnell dunkel wird. Als er zurückkam, war sie, wie gesagt, nicht da und kam auch nicht später oder nachts nach Hause … Daraufhin hat er irgendwann nach ihren Laufschuhen geguckt und sie nicht gefunden.« Jens hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Dann hat er in ihrem Büro angerufen, erfahren, dass sie schon die ganze Woche nicht da war, was aber nicht unbedingt ungewöhnlich ist, da sie eben viel von zu Hause aus macht. Wäre da nicht dieser Abgabetermin. Danach ist er jedenfalls zur nächsten Dienststelle und hat sie als vermisst gemeldet.« Er machte eine kurze Pause. »Wir haben heute die Gegend abgesucht, in der sie gelaufen sein könnte. Nichts. Bis auf die Kopfhörer.« Er stand auf und griff nach der Flasche. »Du auch?«
Tammo schüttelte den Kopf. Er sah Jens hinterher, der durch den dunklen Flur zur Küche ging. Es tat gut, dachte Tammo. Das Bier in seinem leeren Magen und die anderen Gedanken in seinem vollen Kopf.
»Sarah meinte, sie musste sofort an Sabine Wendlich denken, als sie das Foto von Katinka Kühn gesehen hat. Ich muss zugeben, sofort kam mir der Gedanke nicht, aber nachdem sie das meinte, habe ich mir die Bilder noch mal in Ruhe angesehen. Und ich finde, sie hat recht«, erklärte Jens und sah sich im Raum um, während er zurück zum Sofa ging.
In der Ecke lagen Klamotten, die Pflanze auf der Fensterbank war schon lange vertrocknet, auf dem Holzfußboden neben Tammos Sessel standen leere Kaffeebecher.
Er stand auf und öffnete das Fenster, um frische Luft ins Zimmer zu lassen. Es hatte aufgehört zu regnen.
»Tja, und dann ist da eben noch die Tote. Ein Spaziergänger hat sie gefunden«, erzählte er weiter. »In einem Waldstück, neben der B75, wenn man aus der Stadt raus Richtung Ahrensburg fährt und dann links nach Volksdorf abbiegt. Es gibt einen Weg, der ein Stück weit parallel zur Straße verläuft, dazwischen ist ein Graben. Auf der anderen Seite, also in dem Wald, dort, wo sie lag, ist es extrem dicht. Total schwer zugänglich, da muss man sich schon auskennen. Und Kraft haben. Wir haben keine Spuren gefunden von einer Schubkarre oder sonst irgendwas, womit man sie geschoben haben könnte. Allerdings gibt es Fußabdrücke. Größe 47. Wir gehen also von einer kräftigen, männlichen Person als Täter aus«, erklärte Jens.
Er wollte nicht, dass man sie findet, dachte Tammo. Er wollte sie für sich allein.
3.
Eine Woche zuvor
Katinka öffnete die Augen und sah nichts.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriff, dass es dunkel war.
Ich bin nicht tot. Das war das Allererste, was sie dachte, als ihr Gehirn unter Schmerzen wieder anfing zu arbeiten. Langsam, wie nach einer Narkose.
Ihr war übel. Aber am schlimmsten waren die Kopfschmerzen. Sie lag auf der Seite. Und sie hörte etwas. Ein leises Klackern, ein monotones Geräusch, das von irgendwoher kam.
Wo war sie? Warum war es so dunkel? Was war das gewesen … im Wald?
In ihrem Kopf explodierte etwas. Der Schmerz war unerträglich.
Vorsichtig tastete sie mit ihren Fingern ihren Hinterkopf ab. Links hinter dem Ohr war etwas, eine golfballgroße Beule.
Sie ließ ihre Hand wieder neben sich fallen und versuchte, etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Doch da war nichts.
Bis auf den Schmerz.
4.
Die Herbstsonne schien Tammo ins Gesicht. Er stellte seinen Kaffeebecher neben den Ledersessel auf den Holzfußboden, griff nach den Armlehnen und schob den Sessel einen halben Meter nach hinten. Dorthin, wo die Sonne ihn nicht erreichte. Dann beugte er sich vor und griff nach dem Kaffeebecher. Er wusste nicht, wann Jens gegangen war. Er wusste nur, dass es spät gewesen war.
»Überleg es dir doch noch mal«, hatte Jens an der Tür gesagt. So wie immer, wenn er ging. »Mach doch eine BEM. Kommst ein paar Stunden rum, wir reden über die Fälle. So wie eben. Das lenkt dich sicher etwas ab. Versuch’s doch einfach mal!«
Es waren drei Buchstaben, die ihm helfen sollten, wieder weiterzumachen – als wäre nichts gewesen. BEM. Betriebliche Eingliederungsmaßnahme. Das klang schon so scheiße! Allein das war ein Grund, es nicht zu tun.
Er wollte nicht. Das verstand nur keiner. Nicht Lena, nicht seine Eltern, niemand. Jens auch nicht. Aber er war von allen derjenige, der am hartnäckigsten war. Der ihm immer wieder sagte, was alle anderen nur noch dachten. Der so lange klingelte, bis Tammo öffnete und ihn daran erinnerte, dass er nicht allein war, dass er ihn brauchte, nicht nur bei der Arbeit, dass es ein Leben gab, trotz allem. Und manchmal erinnerte er ihn auch einfach nur daran, dass er etwas essen musste. »Mann Alter! Du siehst demnächst aus wie Kate Moss mit Bart!«, hatte er bei einem seiner letzten Besuche gesagt.
Jens gab nicht auf. Obwohl er selbst es schon längst getan hatte.
Tammo nahm den Becher, trank einen Schluck des frisch aufgebrühten Kaffees und sah gedankenverloren auf den Fußboden. Die Sonne schien bis knapp vor seine Zehenspitzen, berührte sie aber nicht. Direkt vor seinen Füßen verlief die Linie. Hell. Dunkel.
Einen langen Augenblick sah er auf dieses Bild. Ihm kam der Gedanke, dass es vielleicht genau so war. Dass er sich nur ein kleines Stück bewegen musste. Und schon wäre er wieder da, wo es hell war.
Er lehnte sich zurück, sah auf den Becher in seiner Hand und wusste genau in dieser Sekunde, dass es nie so leicht sein würde.
Der Becher. Als er den Küchenschrank über der Spüle geöffnet hatte, war es ihm nicht aufgefallen. Er hatte einfach irgendeinen der vielen bunten Becher, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hatten, rausgezogen. Wie jeden Morgen.
Aber dieser hier war nicht irgendeiner. Es war der Becher, den Lenny ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Tammo versuchte, sich daran zu erinnern, was er als Letztes mit Lenny gemacht hatte, was sie unternommen hatten. Sie hatten immer irgendetwas unternommen, wenn er am Wochenende keinen Dienst gehabt hatte. Runter an den Elbstrand, Schiffe gucken, warmen Kakao mit Sahne trinken, Lennys Lieblingsgetränk Nummer eins. An die Ostsee, Timmendorf, Frühstücken, Sandburgen bauen. Oder ins Schwimmbad. Das mit den Wellen. Immer zur vollen Stunde Seegang. Immer zur vollen Stunde ein Kind, das ausflippte vor Freude. Das nichts anderes wollte, als »Da rein!«.
Er sah all das vor sich. Er sah nur nicht, was sie gemacht hatten an dem letzten Wochenende, das sie zu dritt verlebt hatten. Er ahnte, dass er es einmal gewusst hatte. Und das machte ihn fertig.
Langsam stand er auf und schlurfte zu dem Sideboard im Flur, auf dem immer sein Kalender lag. Ach, nein, das war ja der falsche, fiel ihm ein. Er ging zurück, ins Wohnzimmer, zum Regal. Es war ja letztes Jahr. Warum hatte er nicht daran gedacht? Vermutlich, weil es sich nicht so anfühlte.
Er griff nach einer der weißen Kisten, zog sie aus dem quadratischen Regalfach und wühlte darin, bis er hatte, was er suchte: Die Filofaxblätter des letzten Jahres. Während er das Gummiband abnahm, das er um die Blätter gewickelt hatte, setzte er sich aufs Sofa. April, Mai … August, September. Jetzt blätterte er langsamer, bis er das Wochenende, das in seiner Erinnerung fehlte, gefunden hatte.
Kein Eintrag. Tammo sah aus dem Fenster über das Dach des gegenüberliegenden Hauses hinweg in einen wolkenfreien, kalten Himmel.
Er sah Lenny vor sich, immer wieder, wie er ihn anlachte, seine großen Augen, die dunklen, langen Wimpern.
Tammo ließ die Blätter neben sich auf dem Sofa liegen und stand auf, ging wieder in den Flur, stellte sich mit gesenktem Blick vor den Spiegel, der über dem Sideboard hing.
Er spürte das beginnende Beben in seiner Brust, versuchte, den Weinkrampf zu unterdrücken, schaute auf seine Strümpfe, auf die vom Sitzen völlig ausgebeulte Jogginghose, die er seit Wochen trug, den alten Norwegerpulli über dem Karohemd, von dem er nicht wusste, wann er ihn zuletzt gewaschen hatte.
Langsam hob er den Kopf – und sah jemanden, den er nicht kannte.
Er sah aus wie ein abgemagerter Drogenabhängiger. Wie jemand, der dringend Hilfe brauchte, der sich nicht selbst helfen konnte. Da war nichts mehr von dem smarten, introvertierten Typen mit den dunkelbraunen Haaren, auf den die Frauen mal reihenweise gestanden hatten.
»Wer bist du?!«, schrie er sein Gegenüber an.
Er versuchte, seinem eigenen Blick standzuhalten, aber es gelang ihm nicht.
»Es muss aufhören. Es muss einfach endlich aufhören«, dachte er laut, griff sich seine grüne Fjäll-Raven-Jacke vom Garderobenhaken, setzte die blaue Wollmütze auf, schlüpfte in die Stiefel, zog den Schlüsselbund aus dem Türschloss und verließ die Wohnung.
Das Lenkrad des alten Volvo war kalt. Der Motor lief, die Lüftung stand auf höchster Stufe. Die Scheibe war beschlagen. Tammo griff in seine Jackentasche und zog ein altes Taschentuch heraus. Es wurde nicht besser. Sobald er über das Glas gewischt hatte, beschlug es sofort wieder.
Er beugte sich zur rechten Seite vor und öffnete das Handschuhfach, in der Hoffnung, dort diesen Schwamm zu finden, mit dem er sonst immer die Feuchtigkeit im Wagen bekämpft hatte. Mit der rechten Hand wühlte er in dem Fach, bis er etwas Kleines, Rundes fühlte. Er griff danach, lehnte sich wieder zurück und sah hinunter auf seine Hand. Eine Kastanie. Er schloss die Hand wieder und starrte auf die Scheibe, die langsam klarer wurde.
Sie waren im Sachsenwald spazieren gegangen. Die Sonne hatte geschienen. Lena hatte den Bollerwagen mitnehmen wollen, ihm war es zu anstrengend gewesen, das schwere Ding vom Dachboden zu holen und ins Auto zu tragen. Im Wald hatte Lenny irgendwann nicht mehr gehen wollen. Lena hatte gesagt: »Jetzt weißt du, warum ich den Bollerwagen mitnehmen wollte.« Und er hatte gesagt, dass er lieber Lenny durch den Wald zurücktrüge als den blöden Wagen durchs Treppenhaus. Lena hatte die Augenbrauen hochgezogen und die Kastanien, die sie gefunden und auf einem Baumstumpf gesammelt hatten, in den kleinen Eimer geworfen.
Tammo strich mit dem Daumen über die Schale der Kastanie. Hinter ihm hupte jemand. Langsam steckte er die Kastanie in die rechte Jackentasche.
Die Scheibe war frei. Er legte den Gang ein und fuhr los.
Während der Fahrt blickte Tammo immer wieder in den Rückspiegel. Zu der leeren Rückbank.
Lenny hatte seine Zipfelmütze aufgehabt, die graue mit der kleinen roten Rakete an der Seite. Ja, es war ein schöner Tag gewesen. Einer, von dem er erst jetzt wusste, wie besonders er gewesen war.
Als er wieder nach vorn auf die Straße schaute, war es zu spät. Die roten Rücklichter des Wagens direkt vor ihm fuhren nicht, sie standen. In letzter Sekunde riss Tammo das Lenkrad zur Seite, nach rechts. Im Augenwinkel sah er eine Bewegung. Ein dumpfes Geräusch. Ein Fahrradfahrer? Sein Herz raste.
Irgendjemand stand an seinem Fenster, links neben ihm, und klopfte gegen die Scheibe.
»Alles in Ordnung?« Ein junger Typ auf einem Rennrad in Sportkleidung. Vermutlich ein Fahrradkurier.
Tammo holte tief Luft, sah sich um und nickte. »Ja, danke«, sagte er schließlich, obwohl er wusste, dass der Mann es nicht mehr hören konnte. Er war längst weg.
Dann öffnete er die Tür und stieg aus. Ein paar Leute waren stehen geblieben und betrachteten das, was einmal sein rechtes Vorderlicht gewesen war. Er hatte den Wagen gegen einen der unzähligen Metallbügel gesetzt, die die Straße vom Bürgersteig trennten.
Kein Mensch. Nur Metall und Plastik. Er stieg wieder ein, setzte ein Stück zurück und fuhr weiter.
Es musste etwas passieren. Egal, was. Das Leben, er, das, was geschehen war – das ging alles nicht mehr. Vollbremsung oder Gas geben. Etwas anderes war nicht möglich. Und für beides hatte Tammo keine Kraft.
Also fuhr er einfach weiter. Irgendwohin.
Man konnte sich sehr lange treiben lassen, mitten in diesem verrückten Verkehr. Doch irgendwann musste man sich entscheiden. Es sei denn, es war einem egal, dass man auf die Autobahn Richtung Berlin fuhr. Tammo war es egal. Trotzdem fuhr er so lange im Horner Kreisel herum, bis er das Gefühl hatte, ihm würde übel.
Tammo bog ab. Nicht auf die Autobahn. Auf eine vierspurige Straße mit alten Bäumen.
Die Kastanie. Der Spaziergang. Der Wald. Die Frau, die joggen gegangen war.
Tammo wusste, wo er hinwollte. Auf der Wandsbeker Chaussee bog er nach rechts ab.
Die Stadt hörte einfach auf. Ohne große Vorankündigungen. »Schleswig-Holstein« stand auf einem Schild mit Landesflagge, an dem er vorbeifuhr. Dahinter lagen ein Ponyhof und Felder. Rechts und links plötzlich Natur. Dann, etwas später, ein Ortseingangsschild.
Tammo bog nach ein paar Grundstücken intuitiv rechts ab. Er hatte sich die Strecke, die Katinka Kühn eventuell gelaufen war, am Abend zuvor auf der Karte auf seinem Handy angesehen. Sie musste sich irgendwo hier befinden. Zwischen Dorf und Stadt. Mitten in der Idylle.
Jens war schon lange weg gewesen, als Tammos Blick an der Mappe hängen geblieben war, die vor ihm auf dem Couchtisch gelegen hatte.
Er hatte sie nicht angerührt, war in die dunkle Küche gegangen, die Lena eigentlich hatte streichen wollen. Vor einem Jahr. Unter der Fensterbank, auf der kleine Plastiktöpfe mit vertrocknetem Basilikum und Petersilie standen, lagen noch die unausgepackten Folien, Pinsel in verschiedenen Stärken, eine Farbrolle und zwei Eimer mit weißer Farbe, die sie hatte anmischen wollen. Hellblau. Wie der Himmel, wenn die Sonne scheint, hatte sie gesagt.
Er hatte sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank geholt, das vorletzte, und sich wieder in seinen Ledersessel gesetzt. Als die Flasche leer war, hatte er sie gegen die Mappe getauscht.