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Sind es nur die ganz großen Gefühle wie Rache oder Eifersucht, die zum Mord führen? Gibt es böse Vorahnungen, die jedem Mord vorausgehen? Und wie gefühlvoll kann man sich ans Töten machen? Die 25 besten Beiträge zum Agatha-Christie-Krimipreis 2012, ausgewählt aus über 600 Einsendungen, überraschen durch raffinierte Morde und tiefe Gefühle und lassen den Leser immer wieder gespannt erschauern. Das Krimifestival München, Hugendubel, FOCUS Online und der Fischer Taschenbuch Verlag haben den Agatha-Christie-Krimipreis ausgeschrieben und präsentieren in dieser Ebook-Originalausgabe die Endauswahl unter dem emotionalen Motto »Ein Gefühl für Mord«.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 281
Ein Gefühl für Mord
Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2012
Herausgegeben von Cordelia Borchardt und Andreas Hoh
Fischer e-books
Originalausgabe
»Seit Lucrezia Borgia bin ich die Frau,
die am meisten Menschen umgebracht hat,
allerdings mit der Schreibmaschine.«
Agatha Christie
Vor über 60 Jahren erschienen bei Scherz die ersten Taschenbücher des deutschsprachigen Buchmarkts: 1943 kreierte Alfred Scherz die berühmte Krimireihe mit den drei Streifen – mit Büchern der »Queen of Crime« Agatha Christie. Aus diesem Anlass schrieb der Scherz Verlag 2003 erstmals den Agatha-Christie-Krimipreis aus. Er wird verliehen für die besten deutschsprachigen Kurzkrimis. Inzwischen erscheint das Werk von Agatha Christie auch im Fischer Taschenbuch Verlag, der deshalb zusammen mit dem Krimifestival München, der Buchhandlungskette Hugendubel und FOCUS Online die Ausschreibung übernahm. Hier sind sie: die Gewinner und alle Nominierten des Agatha-Christie-Krimipreises 2012.
Die Jury:
Dr. Cordelia Borchardt, Lektorin für die Verlage Krüger, Scherz und Fischer Taschenbuch
Andreas Hoh, Geschäftsführer des Krimifestivals München
Nina Hugendubel, Leiterin der gleichnamigen Buchhandlungskette
Harry Luck, stellvertretender Nachrichtenchef bei FOCUS Online
Jutta Speidel, Schauspielerin in bekannten deutschen Serien
Man lebt, wie man träumt. Allein.
Joseph Conrad
Seit der Sache mit Torrini hat man sechsmal versucht, mich zu töten. Vermutlich gibt es nur wenige Menschen, die das von sich behaupten können, mit Ausnahme einiger Diktatoren, Mafiabosse und Drogenbarone, die sich jedoch nicht mit mir vergleichen lassen, denn sie umgeben sich meist mit einer Armee von Leibwächtern, ich dagegen bin völlig auf mich gestellt.
Um mich zu töten, braucht es nicht viel. Keine langwierigen Vorbereitungen, keine Autobombe, keinen verblendeten Selbstmordattentäter. Ich bin ein verwundbares Ziel. Eine kleinkalibrige Pistole, ein Messer oder etwas Gift reichen völlig aus, um Torrinis Weisung in die Tat umzusetzen. Aus der simplen Tatsache, dass ich Ihnen jetzt davon berichte, werden Sie jedoch unschwer ableiten können, dass sämtliche Versuche, mich ins Jenseits zu befördern, dennoch erfolglos waren. Auf dieses Detail bin ich stolz, und obwohl ich mir ein Leben ohne Angst längst nicht mehr vorstellen kann, tröste ich mich seit Jahren mit dem Gedanken an seine Wut, mich noch immer nicht zur Strecke gebracht zu haben.
Anfangs hätte er es fast geschafft. Eingelullt von den Versprechungen des Zeugenschutzprogramms hatte ich nicht mehr damit gerechnet, mich seinem Zorn eines Tages doch noch stellen zu müssen. Nach Monaten völliger Ereignislosigkeit hatte ich mich fast schon sicher gefühlt, bis zu jenem Tag in einem Café in Alkmaar, als sein langer Arm erstmals nach mir zu greifen versuchte. Damals hatte ich einfach nur Glück. Bis zu dem Moment, als er die Waffe zog, hatte ich den Killer nicht einmal bemerkt. Warum er mir nicht in den Kopf schoss, ist mir bis heute ein Rätsel, denn in Filmen schießen dir Profis immer in den Kopf. Er aber zielte auf die Brust, erwischte mit der ersten Kugel die linke Lunge und mit der zweiten, da ich getroffen nach hinten kippte, nur noch den Schulterknochen. Als mein Hinterkopf auf dem Parkett aufschlug, hielt ich den Atem an. Ich lag bewegungslos auf dem Rücken und starrte schweigend hinauf zur Decke, von wo mir die Tentakel eines Kronleuchters verschlungen entgegenragten. Wenn Sie auf den Tod warten, steht die Zeit plötzlich still. Ich wartete endlos lange. Auf sein Gesicht, das über mir auftauchen würde, auf eine hämische Nachricht (Ein Freund lässt dich grüßen) und auf den Schuss in die Stirn. Ich dachte an Katja. An den Vorwurf in ihren Augen. Als sie erfahren hatte, dass ich aussagen würde, war sie außer sich gewesen. »Du machst alles kaputt!«, schrie sie mich an, und ich wusste, sie hatte recht. Aber ich hatte keine Wahl. Sie hat es niemals verstehen können. Ich nehme es ihr nicht übel. Sie hat nicht gesehen, was ich gesehen habe. Man kann jahrelang zusammenleben, in dem Glauben, man würde sich kennen, und ein einziges Bild, welches man nicht miteinander teilt, schafft zwischen dem, der es sah, und dem, dem es erspart blieb, eine tiefe Kluft, die sich durch nichts mehr überbrücken lässt. Am Morgen, bevor ich eine neue Identität erhielt, bin ich Katja ein letztes Mal begegnet. Sie saß müde in der Küche und sprach kein einziges Wort. »Lass mich bitte nicht allein«, sagte ich, aber sie schüttelte nur den Kopf. Während ich auf dem Rücken liegend den Messingkraken musterte, wurde mir klar, wie sehr sie mir immer noch fehlte, und diese Erkenntnis war weit schlimmer als die Atemnot und der pochende Schmerz. Dann hörte ich davoneilende Schritte, und eine Tür wurde aufgerissen und fiel wieder zu. Ein Luftstrom streifte zart mein Gesicht, und dann sah ich plötzlich in die Augen einer Frau, die sich vorsichtig über mich beugte, so als zögerte sie noch, ob sie sich meinen Anblick wirklich zumuten wollte. Sie flüsterte mir mit zittriger Stimme etwas zu, in einer Sprache, die ich nicht verstand. Das mag jetzt pathetisch klingen, aber seit diesem Tag bin ich tot. Das Leben danach – nur noch Verlängerung in einem längst abgepfiffenen Spiel. Der Täter wurde nie gefasst, aber Torrini dürfte von seiner Leistung kaum begeistert gewesen sein, und wenn Torrini tobt, nimmt das meist kein gutes Ende.
Die nächsten Wochen verbrachte ich streng bewacht in einem Bundeswehrkrankenhaus. Ich verließ es mit einem neuen Namen, Wagner statt Fischer statt Kuhn, nicht unbedingt ein Aufstieg, wie ich fand. Doch das ist lange her. Mein wahrer Name ist mir allmählich fremd geworden, und auch mein früheres Leben wirkt ausgedacht – wie eine Möglichkeit von vielen.
Nach dem Anschlag in Alkmaar änderte sich alles. Ich begriff, dass ich mich nie mehr sicher fühlen konnte, und meine einzige Chance zu überleben, fortan darin bestünde, selbst kleinste Hinweise auf eine Bedrohung frühzeitig wahrzunehmen. Fleischer, der mich betreute, schärfte mir ein, wachsam zu sein, und ihn beim geringsten Verdacht umgehend anzurufen. Also tat ich von nun an das, was ich bislang versäumt hatte: Ich beobachtete meine Umgebung. Besonders die Menschen. Ihre Bewegungen. Ihre Mimik. Ihren Blick. Mit jedem Tag sah ich mehr. Entdeckte Details, die ich zuvor übersehen hatte. Wusste sie zu deuten. Konnte Dinge voraussagen, noch bevor sie geschehen waren. Entwickelte ein feines Gespür. Den wachen Instinkt eines Beutetiers.
Beim zweiten Mal war ich gewarnt. Beim zweiten Mal lief alles ganz anders.
Ich traf ihn nahe von Avignon. An einer Tankstelle. Er sprach mich lächelnd an, aber er konnte mir nichts vormachen, denn da war irgendetwas in seinen Augen, das ihn sofort verriet. Ob ich Tourist wäre, wollte er wissen, und mein Puls raste, aber ich blieb freundlich und bejahte seine Frage. An den Zapfsäulen herrschte um diese Zeit reger Betrieb, was ihn zwang abzuwarten. Wie mir Frankreich gefiele, setzte er nach. Ich behauptete, erst vor einigen Tagen angekommen zu sein. Er gab sich erstaunt und lobte mein flüssiges Französisch, ein Kompliment, das ich durchaus annehmen konnte, denn innerhalb weniger Monate hatte ich mir die Sprache selbst beigebracht. Wenn man allein lebt wie ich, hat man jede Menge Zeit. Wo in Deutschland ich wohnte, fragte er noch. Stuttgart, log ich ihn an, und er gab achselzuckend zu, niemals dort gewesen zu sein. Kein großer Verlust, tröstete ich ihn, und er versprach, er würde es sich merken. Als ich in meinen Wagen stieg, wünschte er mir lachend eine angenehme Zeit. Selbst als ich losfuhr, tat er weiterhin so, als wäre er nicht in Eile, aber ich war mir sicher, dass ich ihn schon bald darauf wieder treffen würde. Sobald ich die Tankstelle hinter mir gelassen hatte, drückte ich aufs Gas. Er fuhr einen Alfa Romeo, ich dagegen nur einen Corsa, und wenn er es darauf anlegte, würde er mich problemlos einholen können. Bei der nächsten Gelegenheit bog ich rechts ab, kurz darauf wieder links und einige Kilometer weiter nochmals rechts. Nach einer halben Stunde hatte ich fast schon die Hoffnung, ihn abgehängt zu haben, aber dann tauchte er als kleiner Punkt im Rückspiegel auf, und ich erschrak und fragte mich verwirrt, wie um alles in der Welt er das geschafft haben konnte. Meine Versuche, ihn Haken schlagend loszuwerden, hatten uns auf eine abgelegene Nebenstraße geführt, und mir war klar, was gleich folgen würde. Entweder er würde versuchen, mich von der Straße zu drängen, oder aber er würde aus dem Wagen heraus auf mich schießen. Sollte er sich für die zweite Möglichkeit entscheiden, musste er das Fenster auf der Beifahrerseite öffnen. Schon kurz darauf hatte er mich eingeholt. Indem er den Blinker setzte, scherte er seitlich aus und setzte zum Überholen an. Mit einem Mal konnte ich meinen Herzschlag hören, und meine Atmung geriet ins Stocken. Als unsere Wagen auf gleicher Höhe waren, schaute ich zur Seite. Das Beifahrerfenster war nur noch ein Rahmen ohne Scheibe, aber ich sah keine Waffe. Er grinste mich an und rief mir etwas zu, aber mein Fenster war geschlossen, sodass ich ihn nicht verstand. Meine Hände umklammerten das Lenkrad, so fest, dass sich die Knöchel weiß verfärbten. Wo war die verfluchte Waffe? Er schaute spöttisch zu mir herüber, und seine Hand verschwand nach unten, in Richtung Beifahrersitz. Noch bevor sie wieder zum Vorschein kam, riss ich das Steuer nach links. Als ich mit voller Wucht seinen Kotflügel rammte, schaute er mich immer noch an. Die Verwunderung in seinem Blick habe ich bis heute nicht vergessen. Aber ich hatte keine Wahl. Mit nur einer Hand am Steuer blieb ihm nicht der Hauch einer Chance. Der Alfa driftete abrupt nach links und schoss mit rund achtzig Stundenkilometern die Böschung hinab, auf eine unscheinbare Erhebung zu, kein ernst zu nehmendes Hindernis, nur eine kleine Bodenwelle, über die er spielend hätte hinwegspringen können wie die Wagen in einer Fernsehserie, nicht allzu bedrohlich, schon tausendmal gesehen, aber er sprang nicht, sondern bohrte sich stattdessen in die Erde, unerklärlich, aufgehalten von einem winzigen Hügelchen, und mit einem Mal wurde seine Energie in eine brutale Drehbewegung umgelenkt, und während er sich überschlug, einmal, zweimal, dreimal, wahnsinnig schnell und in Zeitlupe, lösten sich ständig Teile von ihm ab, mit jeder Drehung mehr, so als werfe er Ballast ab: Metallteile, Scheiben, Räder. Das Ganze mit Musikbegleitung, einem Song von Robbie Williams, der aus meinem Autoradio drang. Wie ein Stummfilm in Farbe.
Gegen Mittag rief ich Fleischer an. Er reagierte bestürzt. »Sind Sie sich wirklich sicher?«, fragte er, so als hätte ich mir die Sache zu leicht gemacht. »Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, wie er Sie aufgespürt haben soll. Ein Zufall kommt wohl kaum in Frage. Sie sehen derart verändert aus, dass selbst Ihre Mutter Sie nicht wiedererkennen würde.«
»Vielleicht gibt es ja eine undichte Stelle?«, erwiderte ich kühl.
»Bei uns? Im Zeugenschutzprogramm? Sind Sie verrückt geworden? Momentan wissen nur zwei Personen von Ihrer Identität, und zwar ich und mein Chef. Und Sie nehmen doch hoffentlich nicht an, dass einer von uns Sie an Torrini ausliefern würde?«
Anstatt zu antworten, legte ich auf. Ich fuhr noch zwanzig Kilometer nach Norden, wählte die Auskunft, legte wortlos auf und warf das Handy in einen Fluss. Anschließend kehrte ich um und nahm die Straße nach Süden.
Seitdem habe ich den Kontakt zu Fleischer abgebrochen. Im Grunde genommen hatte er recht. Dass mich jemand rein zufällig erkannt haben könnte, war nahezu ausgeschlossen. Also konnte ich nur verraten worden sein. Ob von Fleischer selbst oder von seinem Chef, weiß ich bis heute nicht zu sagen. Aber von diesem Tag an hielt ich es für ratsam, mich allein durchzuschlagen. Und der Erfolg gibt mir recht. Obwohl es ihnen dennoch gelang, mich immer wieder aufzustöbern.
Schon ein halbes Jahr später war der Nächste hinter mir her.
Zu diesem Zeitpunkt lebte ich auf Kreta. In Rethymno. Schon am Mittag hatte mich das Gefühl beschlichen, beobachtet zu werden. Das Gefühl lässt sich nur schwer beschreiben. Nur eine vage Empfindung, dass etwas nicht passt. Und ein merkwürdiges Kribbeln weit oben im Genick. Ich bemerkte ihn in einer Boutique. Als ich mich vorsichtig umschaute, tat er so, als wäre er auf der Suche nach einem Hemd. Trotz der Hitze trug er ein Sakko, und als er meinen Blick wahrnahm, nickte er mir zu. Nachdem ich gezahlt hatte, verließ ich den Laden. Ich schaute mich mehrmals um, aber er folgte mir nicht. Täuschte Desinteresse vor. Fast hätte er mich überzeugt. Am nächsten Tag aber entdeckte ich ihn erneut. Er lief fünfzig Meter hinter mir, und als ich mich zu ihm umdrehte, wich sein Blick mir aus. Damit war ich mir sicher. Es würde erneut passieren. Die Frage war nur noch, wann. Am Abend schlenderte ich lange durch die Gassen. Um ihn aus der Reserve zu locken. Am ersten Abend blieb alles ruhig, aber tags darauf war es dann so weit. Als ich kurz nach Mitternacht durch eine dunkle Nebenstraße torkelte, den Betrunkenen spielend, um Hilflosigkeit vorzutäuschen, kam er mir entgegen. Zuerst war ich überrascht, denn er war nicht allein, sondern in Begleitung eines anderen, weit größeren Mannes. Ich begriff schlagartig, auf was er seit Tagen gewartet hatte, und wie dumm ich gewesen war. Auch meine Verfolger torkelten, auch sie versuchten, ihre Absichten zu verbergen. Als sie näher kamen, sprachen sie Russisch. Dass Torrini Russen beauftragte, passte zu ihm! Als uns nur noch wenige Schritte trennten, bewegte der Große sich lallend auf mich zu und tat so, als wollte er mich umarmen. Was ich natürlich nicht zulassen konnte. Hätte er mich erst einmal umklammert, wäre es für seinen Begleiter ein Leichtes gewesen, meine Wehrlosigkeit auszunutzen und mir in den Rücken zu fallen. Bevor es so weit kam, stach ich auch schon zu. Seit der Sache in Südfrankreich gehe ich nicht mehr ohne Springmesser aus dem Haus. Unbewaffnet fühle ich mich nackt. Die schmale Klinge drang ohne Widerstand ein. Der Russe riss die Augen auf, fasste erstaunt an seine Brust und fiel wie ein Sack zu Boden. Es ging unglaublich schnell. Der andere, der mich seit Tagen beschattet hatte, glotzte mich fassungslos an, rief mehrmals »Njet« und wich zitternd zurück. Während ich noch unschlüssig war, wie ich mich verhalten sollte, griff er in die Innentasche seines Sakkos. So schnell, wie ich nur konnte, sprang ich nach vorn und rammte ihm das Messer mit voller Wucht in den Hals. Er röchelte und verdrehte die Augen, aber er fiel nicht um, sondern blieb einfach nur stehen. Heftig atmend streckte er seinen Arm nach mir aus, so als wollte er mich etwas fragen oder mich ein letztes Mal berühren, aber ich machte kehrt und lief in Panik davon. Zurück im Hotel, durchquerte ich die menschenleere Lobby und nahm den Weg über die Treppe. Nachdem ich mich mehrmals übergeben hatte, stand ich lange unter der Dusche, dachte an die entsetzten Gesichter der Killer und fragte mich weinend, was aus mir geworden war.
Heute frage ich mich das längst nicht mehr. Heute denke ich nur noch an mich. Denn ich bin im Recht. Und ich darf nicht zögern. Wenn ich zögere, bin ich tot. Inzwischen ist es fast schon Routine. Meist kann ich die Gefahr schon frühzeitig spüren. Das ist mein ganzes Kapital. Denn wie gesagt: Ich bin ein verwundbares Ziel. Alles, was mir hilft, ist Tempo und Instinkt. Ich kann nur überleben, indem ich meinen Verfolgern zuvorkomme.
Den vierten überraschte ich abends in meiner Wohnung in Florenz. Er hatte eine Scheibe eingeschlagen und war durch die Tür zur Veranda eingedrungen. Danach hatte er meine Habseligkeiten durchwühlt. Hätte ich keinen Verdacht geschöpft und wie üblich den Vordereingang genommen, hätte er meinen Tod vermutlich als Raubmord getarnt. In der Innentasche seiner Jacke fand ich eine Pistole. Als ich völlig unerwartet hinter ihm stand, schrie er erschrocken auf und vergaß in Panik, nach ihr zu greifen. Tags darauf flüchtete ich nach Norden, warf die Leiche unterwegs in einen Tümpel und fuhr weiter bis in die Alpen, wo ich mir einen Rucksack und Wanderschuhe besorgte und mich in einer kleinen Pension einmietete. Als schon zwei Wochen später Killer Nummer fünf anreiste, spielte ich anfangs mit dem Gedanken, erneut zu fliehen, aber dann dachte ich an die Pistole und beschloss trotzig, eine Entscheidung zu erzwingen. Auf der Suche nach einem Höhenweg, dessen Beschreibung die Wörter trittsicher und schwindelfrei enthielt, stieß ich in meinem Wanderführer auf eine Strecke, die mir besonders geeignet erschien. Ich brach schon frühmorgens auf. Unterwegs legte ich immer wieder Pausen ein, um ihm die Chance zu geben, mich einzuholen. Als er schließlich auftauchte, beschleunigte ich mein Tempo. Nur um sicherzugehen, dass ich nicht doch einem Irrtum unterlag. Aber er kam beständig näher. An einer Stelle, an welcher der Weg besonders schmal und daher zusätzlich mit Stahlseilen gesichert war, holte er mich ein. Danach ging alles ganz schnell. Im selben Moment, als ich die Waffe zog, verlor er den Halt und stürzte schreiend in die Tiefe.
Nummer sechs griff mich in einer Männertoilette in London an. Er betrat den Raum und schubste mich heftig gegen die Wand. Noch bevor ich reagieren konnte, schlug er mir zweimal ins Gesicht, und ich biss mir auf die Zunge und alles schmeckte nach Blut. Ich befürchtete schon, das Bewusstsein zu verlieren, doch dann riss ich mit letzter Kraft das Knie nach oben und erwischte seine Hoden. Als er sich stöhnend nach vorn beugte, griff ich wütend nach seinen Haaren und knallte seinen Kopf mehrmals gegen die blau geflieste Wand, so lange, bis er aufhörte zu stöhnen und seine Muskeln in sich zusammenfielen, als verlören sie Luft. Wenn man den Zeitungsberichten glaubt, hat er dennoch überlebt.
Gestern habe ich Katja angerufen. Es war nicht leicht, sie zu finden, aber wie ich bereits erwähnte: Ich habe jede Menge Zeit. Als sie meine Stimme hörte, war sie geschockt, aber sie klang auch erleichtert. Ihr ginge es gut, versicherte sie mir, und sie habe eine Nachricht von Fleischer, der mich schon seit Jahren zu erreichen versuche.
»Fleischer?«, fragte ich misstrauisch. »Was hat er gewollt?«
»Du sollst ihn dringend anrufen. Torrini ist tot. Vor vier Monaten hat man ihn erhängt in seiner Zelle aufgefunden. Es gibt wohl keinen Nachfolger, und Fleischer glaubt, es sei vorbei.«
»Erhängt? Torrini? Machst du Witze? Das kann nicht sein.«
»Doch, es ist die Wahrheit. Laut Fleischer litt er an Leberkrebs. Er sagte, du bräuchtest dir keine Sorgen mehr zu machen, und du solltest endlich aufhören – er meinte, du wüsstest, womit.«
Ich war sprachlos, denn das ergibt keinen Sinn. Die Sache in London liegt nur wenige Wochen zurück, und in die Wohnung über mir ist erst gestern ein Italiener eingezogen. Nicht unsympathisch. Er hat mich sofort in ein Gespräch verwickelt und mich zum Essen in seine Wohnung eingeladen. Aber er konnte mich nicht täuschen. Denn ich hatte es im Gefühl. Dieses Kribbeln in der Nackengegend. Entweder Torrinis Auftrag wurde noch nicht storniert, oder aber Fleischer ist doch korrupt und versucht, mich aus der Deckung zu locken.
Aber vielleicht täusche ich mich ja auch. Vielleicht ist mein Nachbar tatsächlich harmlos, und meine Flucht ist endlich vorbei. Das wäre schön. Vor einem Jahr ging mir das Geld aus. Irgendwann hatte Fleischer mein Konto aufgelöst, und am Ende wusste ich mir nicht mehr zu helfen und überfiel eine Bank. Tiefer kann man kaum noch sinken, aber einmal mehr hatte ich keine Wahl. Ich bin gezwungen, mich anzupassen. Nicht nur Torrini hat damals seine Freiheit verloren, sondern mit ihm auch ich.
Also werde ich die Einladung für morgen Abend annehmen. Was habe ich schon zu verlieren? Ich werde wie immer auf mein Gefühl vertrauen. Und dann wird man sehen.
Hannes Lohmayer saß nur mit Unterwäsche bekleidet am Frühstückstisch und blickte ungeduldig auf die stehen gebliebene Wanduhr. Ein leises Knurren kroch aus seiner frisch rasierten Kehle. Er prüfte die Anzeige seiner Armbanduhr, ein Geschenk seiner Frau Ada zum 50. Geburtstag. Die Uhr war zwar schön, für die nachlassende Sehkraft eines Mannes seines Alters jedoch denkbar ungeeignet. Hannes blinzelte. Der kleine Zeiger wies auf die Acht. Eindeutig.
Aus dem Knurren wurde ein Brüllen. »Ada.« Er horchte in Richtung Tür. »Ada, verdammt, ich muss los!«
Hannes stand ruckartig auf und blieb mit seinem stattlichen Bauch an der Tischkante hängen. Fluchend rannte er in den Keller, wohin seine Frau vor über 20 Minuten verschwunden war. Vor der Waschküche blieb er stehen, um kurz Luft zu holen. Dann erst öffnete er die Tür.
Die Hitze im Raum war drückend. Ada stand im Morgenmantel am Bügelbrett und bearbeitete eine moosgrüne Hose. Winzige Schweißtropfen perlten über ihr dezent geschminktes Gesicht, doch sie wirkte eher bemüht als gestresst.
»Ada, es reicht.« Hannes’ Ton klang warnend.
Ada bügelte weiter, ohne ihren Mann anzusehen. Dampf schoss aus dem Bügeleisen und hüllte sie in feinen Nebel.
»Nur noch die Bügelfalten«, murmelte sie.
Hannes riss die Hose vom Bügelbrett. »Ich sitze den ganzen Tag, das gibt genug Falten.« Er entdeckte das beige Hemd und die grüne Jacke im Wäschekorb, griff danach und verließ wortlos den Raum. Mit dem zischenden Bügeleisen in der Hand blickte Ada ihrem Mann nach.
Es hatte gewiss Vorteile, mit einem Polizisten verheiratet zu sein. Aber aus dieser Uniform ein ansehnliches Kleidungsstück zu machen, war eine Qual. Ada zog den Stecker aus der Steckdose, blies den heißen Dampf vom Bügeleisen und stellte es in die Halterung. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und seufzte. Aber was macht man nicht alles aus Liebe.
Ich fürchte mich. Vor der Einsamkeit. Und vor der Leere, die sich im Innern ausbreitet. Eine Leere, die erst haltmacht, wenn die Seele keinen Platz mehr findet, aufgibt und einfach abhaut.
Ja, davor fürchte ich mich. Zu Tode. Und deshalb betäube ich das Leben. Und mit ihm die Angst.
Der Mann sah grauenvoll aus. Schweiß verklebte das strähnige schwarze Haar im Nacken, die Jeanshose war steif vor Dreck und die Lederjacke hing wie eine abgestreifte Schlangenhaut über seinen knochigen Schultern. Er war mittelgroß, wog aber Adas Schätzung nach keine 60 Kilo. Sein Blick irrte ziellos durch den Raum, wie nach einem Anker suchend. Er saß auf einem Stuhl und seine Füße schabten auf dem Teppichboden. Vor und zurück.
Ada lehnte am Türrahmen und beobachtete den Mann durch den Türspalt. »Ein Prachtstück, nicht wahr?« Ada zuckte zusammen. Adas junge Kollegin Rosie stand hinter ihr. Sie schmunzelte. »Du kannst ihn gerne haben. Ich steh nicht so auf Junkies.« »Pssst, nicht so laut.« Ada schloss leise die Tür. »Ach, der ist so zugedröhnt, der hört nichts.«
Rosie hielt eine Akte in der einen, ihr Mobiltelefon in der anderen Hand. Es klingelte. Sie sah auf das Display und strahlte. »Hier, halt mal. Bin gleich wieder da.« Sie gab Ada die Akte und verschwand ins Büro nebenan. Ada konnte hören, wie Rosies Stimme weicher wurde. Sie presste ihr Ohr an die Tür. Dabei begutachtete sie das Türschild. Adelheid Lohmayer, Leistungsabteilung ALG II. Ada hauchte das Schild an und polierte es mit ihrem Ärmel.
Als Rosie laut kicherte, musste Ada lächeln. So klingt sie. Die Liebe. Wenn sie jung und neu ist. Ada seufzte. Wenn sie mit Hannes telefonierte, ging es um reinen Informationsaustausch. »Es wird spät, bin noch beim Stammtisch« oder »Vergiss nicht, meine Dienstmütze in die Reinigung zu bringen«. So klingt sie. Die Liebe. Wenn sie alt und verbraucht ist.
Ada sah sich die Akte an. Christian Metzler. 25 Jahre. Sie hatte den Mann gut zehn Jahre älter geschätzt. »Die Sucht lässt einen altern, aber nicht alt werden,« dachte sie.
Die Tür ging auf. Rosies hübsches Gesicht hatte eine zart-rosa Tönung angenommen und ihre blauen Augen funkelten. Sie nahm Metzlers Akte. »Ich muss mich beeilen. Tom holt mich in einer halben Stunde ab.« »Soll ich den da für dich übernehmen?« Ada tippte gegen den Aktendeckel. »Nein, schon gut.« Rosie drückte den Türgriff hinunter und senkte ihre Stimme. »Dieser Fall«, sie tippte ebenfalls gegen den Aktendeckel, »klingt interessant.« Rosie zwinkerte ihr zu. »Aber vielen Dank fürs Angebot.« Ada nickte.
Als Rosie in ihr Büro ging, konnte Ada für einen kurzen Moment das Gesicht des Mannes sehen. Seine Augen flackerten wild. Das Schwarz der erweiterten Pupillen verlieh ihnen eine bedrohliche Härte. Rosie begrüßte ihn und die Härte wich einem überraschten Ausdruck. Der Mann musterte die junge Frau und ein lüsternes Grinsen verzog seine rissigen Lippen. Sein Blick irrte nicht länger ziellos umher. Er hatte einen Anker gefunden.
Die Tür fiel langsam zu und Ada konnte noch sehen, wie das Grinsen des Mannes zur Fratze wurde. Eine Fratze, die sie bis in ihre Träume verfolgen würde. Und darüber hinaus.
Die Seele ist unsterblich. Je nachdem, wie schwer die Taten sind, mit denen wir sie beladen, fliegt sie nach oben oder stürzt nach unten. Himmel oder Hölle.
Wird meine Seele fliegen oder wird sie fallen?
Er hatte in den letzten Jahren stattliche 20 Kilo zugenommen. Der Hosenbund kniff und die Uniform ließ sich nicht mehr schließen. Hannes saß an seinem Schreibtisch und versuchte, den Bauch einzuziehen. Er war wütend auf Ada. Weil sie so gut kochte. Er aß aber nicht nur, weil es ihm schmeckte, sondern weil er nicht wusste, worüber er mit seiner Frau reden sollte. Die silberne Hochzeit nahte und ihm war alles andere als nach Feiern. Ada plante bereits ein großes Fest mit Sektempfang, Buffet und Tanz. Hannes aber war mehr nach Schweinsbraten, Bier und Fernsehen.
Er betrachtete seinen wuchtigen Bauch und seufzte. Langeweile machte sich in seinem Leben breit wie das Fett in seinem Körper. Er mochte den kleinen Ort im Allgäu, in dem Ada und er geboren und aufgewachsen waren, aber es passierte nichts. Nichts. Seit Jahren hoffte er auf einen interessanten Fall. Oder eine Beförderung. Und seine Ehe? Was konnte er von einer Frau erwarten, die ihre Leidenschaft beim Putzen auslebte und die meiste Zeit bügelnd im Keller verbrachte? Ada und er hatten kaum noch Gemeinsamkeiten. Und er hatte keine Lust, neue zu schaffen.
Das Telefon klingelte. Zögerlich griff Hannes zum Hörer. Wahrscheinlich hatte die alte Höflingerin wieder Gespenster auf ihrem Hof gesehen.
»Lohmayer?« Hannes bemühte sich, die Gereiztheit in seiner Stimme zu unterdrücken. Es war Ada. Hannes wurde aufmerksamer und nach wenigen Sekunden wich die Farbe aus seinem Gesicht. »Ich komme sofort.« Er schmiss den Hörer auf die Gabel, packte sein Halfter mit der Dienstwaffe und eilte aus dem Raum.
In dem kleinen Ort im Allgäu passierte nie etwas. Heute aber war das anders.
Die Blumen in der Vase waren nicht mehr frisch. Ada nahm sie heraus und suchte nach einem Mülleimer, fand aber keinen. Wie unordentlich es hier war. Wenigstens musste Rosie ihr Zimmer nicht mit anderen Patientinnen teilen. Sie brauchte Ruhe. Viel Ruhe.
Sie bekam starke Beruhigungsmittel und die Wunden würden heilen. Was aber geschah mit ihrer Seele?
Ada setzte sich ans Bett und streichelte Rosies blasse Wange. »Alles wird gut«, flüsterte sie. Sie beugte sich vor, küsste Rosies Stirn und verließ das Krankenzimmer. Die verwelkten Blumen nahm sie mit.
»Es gibt keinen Christian Metzler. Der Ausweis war gefälscht.« Hannes stopfte sich einen halben Knödel in den Mund, kaute zügig und spülte den Rest mit einem Schluck Bier hinunter. »Die Beschreibung passt aber auf einen gewissen Robert Meierhofer aus München. Er wird gesucht wegen diverser Betrugsdelikte und gefährlichem Raubüberfall mit Todesfolge. Er hat einer Rentnerin den Schädel zertrümmert. Zwei Tage nach dem Überfall ist sie gestorben.«
Ada hatte ihr Essen kaum angerührt. Neben dem Teller lagen vier Tabletten. Sie nahm eine davon und schluckte sie ohne Flüssigkeit hinunter. Hannes blickte vom Essen auf. »Nimmst du immer noch diese Hormone? Ich dachte, die Hitze hättest du hinter dir?« Ada schüttelte den Kopf.
Hannes fuhr fort. »Die Fahndung läuft. Der Kerl versteckt sich in der Nähe, das spüre ich. Wenn ich ihn finde, ist mir die Beförderung sicher. Und wer weiß, vielleicht interessiert sich auch die Presse für den Fall.«
Ada stand auf und holte den Nachtisch aus dem Kühlschrank. »Heute lieber nicht.« Hannes klopfte auf seinen Bauch. Verwundert stellte Ada die Schüssel ab.
Hannes erhob sich und gab seiner Frau einen zaghaften Kuss auf die Wange. Ada wich ein wenig zurück. Doch dann blitzte Freude in ihren Augen auf. »Danke. Es war sehr lecker.« Hannes grinste und ging pfeifend aus der Küche. Ada hielt die Hand vor den Mund, so als ob sie das Lächeln darunter festhalten wollte wie einen seltenen Schmetterling.
Um das Leben in seiner Grausamkeit ertragen zu können, muss man es all seiner Empfindungen berauben.
Die alte Frau war einsam. Und verloren. Ihr Tod bedeutet Erlösung. Diese Tat beschwert die Seele nicht. Sie hat das Gewicht einer Feder, die aus Engelsflügeln stammt.
Wie viel aber wiegt der Tod der jungen Frau?
Egal, wie schwer er ist, ihn werde ich ertragen müssen. Denn er bedeutet Leben. Ein junges Leben für die Ewigkeit. Ein neues Leben für mich.
Die duftenden Blumen fielen zu Boden. Ada rang nach Luft. Dann erst kam der Schrei. In ihren Ohren klang er wie ein heiseres Flüstern. Ärzte und Schwestern eilten herbei und drängten sie zur Seite.
Rosie schien sich wieder zu bewegen. Das vermeintliche Leben entsprang jedoch nur den beinahe brutalen Berührungen von Händen, die versuchten, das Leben zurückzuholen. Doch Rosies Körper war tot. Und ihre Seele fort.
Ada sank zu Boden. Sie holte tief Luft und blickte um sich. Vor ihr lag eine einzelne Blume, eine Lilie. Sie nahm sie in ihre zitternde Hand, stand auf und ging aus dem Zimmer. Die Blüte hatte die Farbe von Rosies Wangen an dem Tag des Überfalls. Bevor ihr die Bestie all das nahm, was einer Frau niemals genommen werden darf. Das Vertrauen als Liebende, die Würde ihrer Weiblichkeit und das Versprechen der Jugend an ein Leben voller Hoffnung.
Ada betrachtete die Lilie. Sie wollte sie aufbewahren. Und mit ihr einen Teil von Rosies Liebe, Würde und Hoffnung. Der Rest würde verwelken, vertrocknen und schließlich zu Staub zerfallen.
»Das Motiv ist klar: Nur Rosie hätte ihn belasten können. Du konntest ihn ja nicht genau sehen, als er aus dem Büro gerannt kam. Und weder im Amt noch im Krankenhaus hat ihn jemand beobachtet.« Hannes hielt seine Frau im Arm und seufzte schwer. »23 Jahre jung … verdammter Mist.«
Er liebkoste die weiche Stelle hinter Adas Ohr. Dort, wo sie besonders empfindsam war. Dort, wo ihr Mann sie seit Jahren nicht mehr berührt hatte. »Müssen wir jetzt darüber reden?« Ada erhob sich vom Sofa.
Hannes betrachtete seine Frau wie er sie schon lange nicht mehr betrachtet hatte. Sie war schlank und sportlich. Ada sah gut aus mit ihren 50 Jahren. Sie war eine schöne Frau, bemerkte er mit Stolz. Seine Frau.
»Wo gehst du hin?« Er richtete sich auf. Sie lächelte. »Ich muss noch deine neue Uniform bügeln. Die brauchst du doch bald.« Hannes verdrehte mit gespielter Entrüstung die Augen. »Du tust gerade so, als ob die Beförderung sicher sei.« »Ist sie das denn nicht?« Adas Augen verengten sich. »Wenn ich Rosies Mörder fasse, zweifellos.« »Die Indizien sind doch klar, oder?« Ada klang besorgt. »Die Überdosis Heroin in Rosies Blut, die übereinstimmenden Fingerabdrücke in ihrem Büro und in der Wohnung der toten Rentnerin, das fremde schwarze Haar auf dem Kopfkissen …« »Ja«, Hannes stand auf und nahm seine Frau in den Arm, »mir wäre dennoch wohler, wir hätten den Kerl.«
Adas Augen blickten nun sanfter und sie küsste ihn. Hannes erwiderte den Kuss mit einem wohligen Knurren. Zögerlich machte sich Ada frei, klopfte zärtlich seinen Bauch und verließ den Raum.
Hannes lachte. Fünf Kilo weniger in einer Woche. Seine Beförderungsurkunde konnte er in geschlossener Uniform entgegennehmen. Und ob man im Fernsehen tatsächlich dicker wirkte, war ihm egal. Hauptsache, er konnte es so bald wie möglich selbst herausfinden.
Der Teufel hat meine Ängste mit in seine Träume genommen. Sie sollen ihn begleiten, wie sie mich begleitet haben. Ein Leben lang.
Der Wunsch, mein Leben zu betäuben, wird kleiner. Und die Hoffnung, dass meine Seele unbeschwert bleibt, größer.
Ich habe den Teufel besiegt und mit ihm die Sucht.
Wiegt das die Schuld auf?
Ada zog den Stecker aus der Steckdose, blies den heißen Dampf vom Bügeleisen und stellte es in die Halterung. Gekonnt faltete sie das T-Shirt zusammen. Zufrieden mit dem Ergebnis legte sie es zu den anderen Kleidungsstücken in den Wäschekorb.
Ada hatte nur sein T-Shirt gewaschen – es hatte furchtbar gestunken. Nach Rauch, Schweiß und Gift. Jeanshose und Lederjacke blieben unberührt. An ihnen gab es wertvolle Spuren. Haare, zum Beispiel. Strähnige, schwarze Haare. Und Rosies Blut.
Nachdem Ada ihm den Stuhl auf den Rücken geschmettert hatte, war Robert Meierhofer über der bewusstlosen Rosie zusammengebrochen. Warum sie den Mann zunächst in ihr Büro geschleift hat und dann erst um Hilfe rief, wusste Ada nicht mehr. Vielleicht der Schock. Vielleicht ahnte sie aber auch, dass er zu einfach davonkommen würde.
Ada hatte ihn, als das Gebäude leer war, in den Heizkeller eingesperrt, wohin sich im Sommer kein Mensch verirrte. Dort schmorte er nun in der eigenen Hölle seines Entzugs. Nackt, wie der Teufel ihn geschaffen hatte. Sie hatte das Heroin an sich genommen und dafür gesorgt, dass er überlebte. Denn seine Strafe, hatte Ada beschlossen, war nicht der Tod, sondern das Leben.
Ada packte die Kleider in eine Plastiktüte und legte die Spritze mit dem Beruhigungsmittel dazu. Sie hatte es geschafft, ihre Medikamente seit Tagen nicht anzurühren. Die Angst wurde weniger, die Hoffnung wuchs und die Sucht nahm Abschied.
Abschied. Rosies Seele war unbeschwert in den Himmel geflogen. Ada hatte sie gesehen, als die Wirkung des Heroins einsetzte. All der Schmerz, all die Furcht und all die Last eines gelebten Lebens blieben zurück in ihrem jungen Körper, der nun niemals die Einsamkeit des Alters ertragen musste und das Verbrechen mit sich begrub. Liebe, Würde und Hoffnung hingegen nahm sie mit.
Ada griff nach der Plastiktüte, löschte das Licht und eilte die Treppe hinauf. Hannes saß schon am Frühstückstisch und sie wollte ihn nicht länger warten lassen.
Jede Sekunde trägt den Wert eines ganzen Lebens. Und wer weiß, wie lange die Zukunft dauert.
Morgen früh wird die alte Höflingerin einen mit Drogen vollgepumpten Mörder in ihrem Garten finden und sofort die Polizei rufen. Hannes Lohmayer wird ihn verhaften und für die Verurteilung des Mörders Sorge tragen. Er wird in seiner neuen Uniform befördert und im Fernsehen eine gute Figur machen.
Ada Lohmayer wird mit ihrem Mann silberne Hochzeit feiern, auf die nächsten 25