Ein geheimnisvolles Land öffnet seine Pforten - Mechthild Venjakob - E-Book

Ein geheimnisvolles Land öffnet seine Pforten E-Book

Mechthild Venjakob

4,9

Beschreibung

Anfang der Achtzigerjahre reiste die Autorin durch ein Land, das sich nach Jahrzehnten der Abkapselung dem Westen gegenüber gerade geöffnet hatte. Die Ära Mao Zedongs war vorüber. China befand sich im Umbruch. Die ersten Sonderwirtschaftszonen waren entstanden, kapitalistische Inseln im kommunistischen Land. Die Autorin schildert die Begegnungen mit Menschen in Zügen, auf Straßen, in Restaurants und Hotels. Sie besucht viele der großen Sehenswürdigkeiten, Zeugnisse einer der ältesten Zivilisationen der Erde. Es entsteht ein facettenreiches Bild über das Reich der Mitte, in dem der Kommunismus nur ein Teilstück ist. Der Leser erfährt in diesem Buch eine Menge über das neue und das alte China.

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Die Autorin

Mechthild Venjakob, am 29. April 1943 in Paderborn geboren, war 15 Jahre als Lehrerin im Schuldienst tätig. Zwei Jahre unterrichtete sie an der Deutschen Schule in Quito, der Hauptstadt Ecuadors. Ende 1980 kündigte sie den Schuldienst und löste ihre Wohnung auf, um sich die nächsten zwanzig Jahre dem Reisen zu widmen. Sie hielt sich überwiegend in asiatischen Ländern auf, aber auch in Australien, Neuseeland, den Vereinigten Staaten, Mittelamerika und Europa. Doch Asien mit seinen alten Kulturen und östlichen Weisheiten erkundete sie am intensivsten. Dort verbrachte sie insgesamt zehn Jahre.

Hilfsarbeiten in Australien, Neuseeland, Alaska, Colorado und England halfen ihr in den ersten zehn Jahren ihres Reiselebens über die Runden. Dann unterrichtete sie Deutsch als Fremdsprache an Instituten in Bremen und Hongkong und 1997 an der Chung-Ang-Universität in Ansong in Südkorea.

Seit 1989 reiste sie mit dem Fahrrad und machte mehrmonatige Radtouren in den USA, Südeuropa und in Asien: Sie radelte durch Indien, Thailand, Laos, Pakistan, Japan und immer wieder trieb es sie durch China. Drei Touren führten über das Qinghai-Tibet-Plateau. Im Jahr 2000 kehrte sie über Land nach Deutschland zurück. In neun Monaten legte sie 12700 Kilometer mit dem Fahrrad zurück und durchquerte dabei die Wüste Gobi in der Mongolei. Ein großartiges „Nomadendasein“ ging zu Ende. Sie ließ sich in ihrem Geburtsort Paderborn nieder, um ihre Reiseberichte zu schreiben und über ihr Leben nachzudenken, das fantastischer war als ein Traum, den manch einer träumt.

Inhalt

Landkarten und Geschichtstafel

Vorwort

Hongkong – Sprungbrett zu China

Erste Chinareise: Die Provinzen Guangdong, Guangxi und Yunnan

Kanton, alte Handelsstadt am Perlfluss

Guilin, Karstlandschaft am Li-Fluss

Kunming, die »Stadt des ewigen Frühlings«

In der Mitte Chinas: Die Provinzen Sichuan und Shaanxi

Der Klosterberg Emei Shan

Der Große Buddha von Leshan

Chengdu und das Rote Becken von Sichuan

Xi’an, uralte Kaiserstadt und östliches Ende der Seidenstraße

Durch Gansu nach Xinjiang in den Nordwesten

Lanzhou am Gelben Fluss und die Binglingsi-Grotten

Jiayuguan, am westlichen Ende der großen Mauer

Dunhuang und die Mogao-Grotten

Turfan, im »Land des Feuers«, und Ürümqi, Hauptstadt Xinjiangs

Die lange Fahrt nach Osten

Von Xinjiang in die Innere Mongolei

Die Kohlenstadt Datong, die Yungang-Grotten, das Hängende Kloster

Peking, alte Kaiserstadt und das Zentrum der Macht

Über Taiyuan nach Luoyang zu den Longmen-Grotten

Luoyang und die Longmen-Grotten

Am Jangtse, dem längsten Fluss Chinas

Die Dreischluchtenfahrt von Chongqing nach Wuhan

Wuhan und Nanjing, die Stadt Sun Yat-sens

Über Wuxi nach Suzhou, der Stadt der alten Gärten

Shanghai, das Tor zur Welt

Hangzhou und der Westsee

Ausklang der ersten Chinareise

Hongkong, Auftakt zur zweiten Chinareise

Die Reise von Kanton über Guilin nach Chengdu

Auf dem Qinghai-Tibet-Plateau

Tibet – geografisch und politisch

Lhasa mit dem Potala und dem Jokhang-Tempel

Die großen Klosterstädte Drepung, Sera und Ganden

Auf verbotenen Wegen: Mit dem Lkw von Lhasa nach Golmud

In der Provinz Qinghai

Xining, die Hauptstadt

Die Klosterstadt Kumbum (Ta’er Si)

Im Osten und Südosten Chinas

Die alte Stadt Kaifeng am Gelben Fluss

Zum Huang Shan – eine Wanderung in den Gelben Bergen

Über Shanghai und Xiamen zurück nach Hongkong

Nachwort

Anhang

China, Land und Leute

Yin und Yang

Geschichtlicher Abriss

Die legendäre Vorzeit

Chronik der Kaiserdynastien

Die »Dynastien« der Neuzeit

Mao Zedong

Deng Xiaoping

Schreibweisen

Literaturhinweise

Dank

Geschichtstafel:

Die legendäre Vorzeit

6. – 4. Jahrtausend v. Chr.: Yangshao-Kultur

Etwa 3200 – 1850 v. Chr.: Longshan- und Shandong-Kultur

Etwa 2100 – 1600 v. Chr.: Xia-Dynastie

16. – 11. Jahrhundert v. Chr.: Shang-Dynastie

1122 – 221 v. Chr.: Zhou-Dynastie

Westliche Zhou-Dynastie (1122 – 770 v. Chr.)

Östliche Zhou-Dynastie (770 – 256 v. Chr.)

Periode der Frühlings- und Herbstannalen (770 – 476 v. Chr.)

Zeit der Streitenden Reiche (476 – 221 v. Chr.)

Chronik der Kaiserdynastien

221 – 206 v. Chr.: Qin-Dynastie

206 v. Chr. – 220 n. Chr.: Han-Dynastie

222 – 581 n. Chr.: Periode der sechs Dynastien:

220 – 280: Zeit der drei Reiche

265 – 420: Jin-Dynastie

420 – 581: Nördliche und Südliche Wei-Dynastie

581 – 618: Sui-Dynastie

618 – 907: Tang-Dynastie

907 – 979: Fünf Dynastien und Zehn Königreiche

960 – 1279: Song-Dynastie

1279 – 1368: Yuan-Dynastie

1368 – 1644: Ming-Dynastie

1644 – 1911: Qing-Dynastie (Die Zeitangaben variieren je nach Quelle!)

Die Neuzeit:

1912: Sun Yat-sen, Gründer der Kuomintang, der Volkspartei, wird erster Präsident einer provisorischen Republik.

1921: Mao Zedong gründet die Kommunistische Partei. Machtkämpfe und Kriege folgen.

Am 1. Oktober 1949 ruft Mao Zedong die Volksrepublik China aus.

1966 – 1976: Die Kulturrevolution richtet sich gegen die eigene Kultur.

1976: Mao Zedong stirbt. Deng Xiaoping, sein Nachfolger, modernisiert das Land.

Vorwort

Als ich Ende August 1982 von Bangkok nach Hongkong flog, steuerte meine Asienreise auf einen Höhepunkt zu. Mich beherrschte nur noch ein Gedanke: Ich werde durch China reisen. Eine Amerikanerin, die ich in einer Herberge auf der Insel Penang in Malaysia traf, hatte mir die fantastische Neuigkeit mitgeteilt: »In Hongkong bekommst du ein Visum für China! Du musst keine Tour buchen, um in das Land einreisen zu dürfen!« Starr vor Erstaunen stand ich damals mitten im Zimmer und ließ die Botschaft ungläubig in mein Bewusstsein sinken, während sie mir den Rücken zukehrte und unbeteiligt in ihrem Rucksack kramte.

Ich konnte es kaum fassen: China sollte offen sein für Einzelreisende? Niemals hatte das Reich der Mitte – auch in meinen kühnsten Träumen nicht – auf meinem Reiseplan gestanden. Seit Jahrzehnten ließ es nur sorgfältig gewählte Besucher, die rund um die Uhr streng überwacht wurden, seine Grenzen überqueren. Nun sollte ich mich dort allein und auf eigene Faust bewegen dürfen? Was würde mir begegnen? Der »neue Mensch«, den Mao Zedong hatte formen wollen? Ein beschädigtes Land nach der Kulturrevolution, die vor sechs Jahren zu Ende ging? Maos Kampf hatte sich gegen alle Zeugnisse der Kultur gerichtet, gegen Traditionen, Sitten, Gebräuche und Religionen. War es gelungen, die Wurzeln zu kappen? Hatte ein Jahrzehnt des Vandalismus fünf Jahrtausende der Entfaltung auslöschen können?

Reiseführer in Buchform waren noch nicht auf dem Markt. Einige wenige Informationen erhielt ich von Rucksackreisenden in Hongkong, die aufgeregt aus China zurückkamen: Sie hinterließen Adressen der Touristenhotels, in denen Ausländer übernachten mussten, und gaben Auskunft über die Busse, die dorthin fuhren. In den Wechselstuben Chinas gab es Touristengeld für die Bezahlung von Hotels und Zugfahrten. Zum Besuch großer Städte wie Shanghai und Peking war ein Besucherschein erforderlich. Sobald die Formalitäten erledigt waren, durfte der Einzelreisende ausschwärmen. Einige Rucksackreisende missachteten die Bestimmungen von Anfang an. Sie fuhren ohne Permit in die Sperrzonen des Landes. Wurden sie erwischt, passierte nicht viel, die Polizei schickte sie zurück. Ich gehörte zu den Besuchern der ersten Stunde und war voller Neugier und Spannung.

Aberdeen, die schwimmende Stadt, und der Hafen von Hongkong

Hongkong – Sprungbrett zu China

Tief in der Nacht hebt die Air India in Bangkok ab und schwebt drei Stunden später über dem Flughafen Hongkongs, der inmitten des Häusergewirrs in Kowloon auf dem Festland liegt. Die Sonne ist aufgegangen, die Inseln schimmern im blauen Meer. Die Wolkenkratzer an der Küste des Festlandes wirken wie eine Mauer vor den steilen Hügeln der Landschaft in der Ferne. Der Pilot streift fast die Dächer, ehe er auf der kurzen Landebahn steil und gekonnt aufsetzt. Eine scharfe Kontrolle findet im Zoll statt.

Bus 201 bringt mich zur Nathan Road, der Hauptverkehrsader Kowloons, die sich von Süden nach Norden durch die Stadt zieht. Im Chunking Mansion in der unteren Nathan Road befindet sich im 16. Stock das Travellers Hostel für Rucksackreisende, das ich ansteuere und in dem ich unterzukommen hoffe. Im Eingangsraum liegt eine Matratze neben der anderen auf dem Boden für diejenigen, die keinen Platz mehr in den Schlafräumen finden — ungemütlich, laut und von der Öffentlichkeit nicht abgeschirmt! Denis, ein Kanadier, den ich in Bangkok kennengelernt habe, läuft mir über den Weg und wir teilen uns ein Zimmer im dritten Stock des Hochhausblocks im Princess Hotel, das auch nicht die Welt kostet.

Denis, mein Zimmergenosse, will wie ich so schnell wie möglich nach China einreisen. In zwei Reisebüros erkundigen wir uns nach den Visabedingungen. Sie behaupten, Ausländer müssten eine Tour buchen, um ein Visum zu bekommen. Allein dürften sie nicht einreisen. Vom Flug bin ich noch müde und alles nervt mich, die Hitze, die Autoströme in den Straßen, die vielen Menschen, die sich über die Bürgersteige schieben und einander anrempeln, die vor Schmutz starrenden Treppenaufgänge im Chunking Mansion, die ich benutze, wenn der kleine, ewig überlastete Aufzug nicht kommt.

Erst am Abend bessert sich meine Stimmung. Die immer noch belebten Straßen glänzen im Lichterschein. Riesige Leuchtreklamen überspannen die Nathan Road. Von der Fähre, die zwischen Kowloon und Hongkong Central im Zehnminutentakt verkehrt, der Star Ferry, blicke ich über den Hafen auf die erleuchteten Wolkenkratzer und Straßenzüge auf der anderen Seite. Die Lichter ziehen sich die Hügel hinauf bis zum 550 Meter hohen Victoria Peak, dem beliebten Aussichtspunkt der Stadt.

Mit der Star Ferry setze ich am nächsten Tag nach Hongkong Central über. Trotz der vielen Leute, die die Fähre täglich benutzen, entsteht kaum Gedränge. Sanft ergießen sich die Menschenströme auf die beiden Decks des weißgrünen Boots. Für viele Leute mag die Überfahrt der Augenblick des Verschnaufens im sonst quirligen Getriebe Hongkongs bedeuten, untermalt durch das beruhigende Tuckern der Maschine. Wir sind umhüllt von den Gerüchen des Hafens, die von Algen, vermodertem Tang und Ölflecken auf den Wellen des Hafenbeckens aufsteigen und die schwüle Luft der Subtropen durchsetzen.

Auf der Insel ragt ein Wolkenkratzer höher als der andere in den Himmel, moderne Shopping-Arkaden reihen sich aneinander. Eine alte, zweistöckige Straßenbahn quietscht die Des Voeux Road entlang. Zum Westen hin, außerhalb des Geschäftskerns, stehen die älteren Hochhäuser Hongkongs mit vor Staub blinden Fensterscheiben, die in grünen Eisenrahmen hinter Eisengittern stecken. Von den verwitterten Fassaden bröckelt der Putz, in den Fensterrillen liegt Schmutz. In den engen Seitenstraßen zwischen Des Voeux Road und Queens Road bieten chinesische Händler in Marktbuden tausenderlei Krimskrams an: Textilien, Taschen, Gürtel und Turnschuhe.

Später sitze ich im Dachgarten des YMCA in der Salisbury Road auf der Kowloon-Seite und genieße den unvergleichlichen Blick über den Hafen und auf Hongkong bei Nacht. Ich stehe auf und schlendere durch die Straßen. Plötzlich treffe ich Jim, einen Amerikaner, der seit sechs Jahren in Hongkong lebt. Er lädt mich ins feudale Regent Hotel zum Tee ein. Durch die riesigen Panoramascheiben des Restaurants schimmert das Lichtermeer der Stadt und ich komme mir vor wie in einem Planetarium, umgeben von glitzernden Sternen auf blauem Nachtgrund.

Mit der Trambahn fahre ich am nächsten Nachmittag zum Victoria Peak hinauf und blicke von oben auf die Wolkenkratzer, die wie schlanke Säulen vor den Hügelketten in der Ferne aufragen und den Hafen umranden. Das Hafenbecken geht über in das weite Chinesische Meer, das mit unzähligen Inselchen durchsetzt ist. Macao ist in der Ferne zu erkennen, die Inseln Lantau und Lamma stechen wegen ihrer Größe hervor. Frachter und chinesische Dschunken ziehen durchs Wasser, unzählige Schiffe liegen vor Anker. Dampfer tuten, Motoren brummen dumpf und Möwen kreischen. Gibt es einen schöneren Hafen? Auf der ganzen Welt nicht!

Im Peak Tower entdecke ich Restaurants, Läden und einen Dachgarten. Ich verlasse den Peak Tower und klettere auf der Mt. Austin Road zur Bergspitze hinauf. Der Sonnenuntergang beginnt. Eine blaue Dämmerung verschleiert die Sicht, dann bricht die Nacht herein: In Tausenden von Räumen gehen nach und nach die Lichter an, Hongkong erstrahlt. Um die Aussicht lange genießen zu können, laufe ich auf einer menschenleeren Panoramastraße den Berg hinunter. Der Weg zieht sich lang hin, zu lang, denn jetzt bin ich zu müde, um durch die Lichterstraßen Kowloons zu bummeln.

Die doppelstöckige Straßenbahn, die seit 1904 existiert, ruckelt nach Shankiwan im Osten der Insel. Einst war Shankiwan ein Piratenunterschlupf, heute liegt hier die zweitgrößte Fischerflotte Hongkongs. In Stanley auf der anderen Seite der Insel tummeln sich die Menschen an den Stränden der Landzunge. Ein großer Markt, den ich besuche, bildet das Textileinkaufsparadies des Ortes. Stand steht neben Stand, in den schmalen Gassen reiht sich ein Laden an den anderen. Außerhalb des Zentrums befinden sich die niedrigen Häuser der Fischer. In der Repulse Bay fallen die Hügel steil zum Wasser ab. Große und kleine Inseln ragen in einer anmutigen Meereslandschaft auf.

Im Vergnügungspark Lai Chi Kok stehen Karussells und Buden, Textil- und Essstände, Wahrsager lesen ihren Kunden aus der Hand und in einer Ecke trällern Sänger eine Geschichte für das Volk. In einem schmucklosen Saal erklingt die Musik einer chinesischen Oper. Für fünf Hongkong-Dollar sitze ich in der ersten Reihe. Ein Dreimann-Orchester spielt die für europäische Ohren eigenartige, chinesische Musik. Die Sänger zwitschern in hohen, kurzen Tönen, ihr Gesang ertönt als rufendes Schreien. Ein Liebesdrama spielt sich ab. Die verheiratete Heldin verliebt sich in einen anderen Mann. Als sie schwanger wird, muss sie in den Karzer, wie Gretchen in Goethes Faust. In den letzten beiden Akten spitzt sich das Geschehen zu. Die Kostüme der Sänger glitzern, ihre Gesichter sind wie bei Pantomimen grell und maskenhaft bemalt. Die Frisuren türmen sich hoch auf.

Die chinesische Oper entwickelte sich aus Gesang und Tanz des Volkes während der Tang-Dynastie (618 – 906). Sie vereint Instrumentalmusik, Gesang, Schauspiel, Pantomime, Tanz und Akrobatik.

Im gut gefüllten Saal geht es zwanglos zu. Jeder kommt und geht, wann er will. Es herrscht kein Dresscode. Die Leute unterhalten sich, wenn ihnen danach ist, naschen, schnabulieren und knabbern, holen sich etwas zu trinken und fläzen sich im Sessel. An den Wänden hängen Schilder: NO SMOKING! Viele rauchen, ich auch.

Am nächsten Tag komme ich auf der Star Ferry mit einem älteren Chinesen ins Gespräch, der fließend Deutsch spricht. Gemeinsam nehmen wir einen Bus nach Aberdeen, der schwimmenden Stadt der Wasserchinesen auf der Insel Hongkong. 20 000 Menschen leben dort auf Hausbooten, den Sampans. Die schmale Bucht liegt voll mit Booten. Man schüttet sie zu, um Bauland zu gewinnen. Auf dem Festland rundum erheben sich eckige Wolkenkratzer mit Sozialwohnungen. Wir laufen die Marktstraßen entlang zum Aberdeen Square, überqueren die große Brücke und schlendern auf der anderen Seite durch die schmalen Gassen, die von baufälligen, einfach zusammengeschusterten Hütten gesäumt sind. In einigen befinden sich Werkstätten, andere sind bewohnt. Mein Begleiter zeigt mir das »Visa Office of China« in der Nähe von Aberdeen. Das gibt es also! Ich nähere mich meinem Ziel! China rückt näher! Vergnügt nehme ich die Straßenbahn zur Star Ferry zurück und falle im Hotel todmüde ins Bett.

Am nächsten Tag erkundige ich mich im Visa-Büro und verlasse es zutiefst enttäuscht: Es bietet nur Touren zu gesalzenen Preisen an. »Gehen Sie zu ›China International Travel Service‹ (CITS), Floor M, 2025 East Wing, Hotel Miramar, 134 Nathan Road in Kowloon«, empfiehlt die Angestellte. CITS, das Reisebüro, das es auch in allen großen Städten Chinas gibt, liegt in der Nähe meines Hotels. Gespannt frage ich dort nach. Ja, hier bin ich endlich richtig!

Man wird mir unter zwei Bedingungen ein Visum ausstellen: In der ersten Stadt meines Aufenthalts muss ich mich mit einem Reiseführer treffen und die Zugfahrkarte zur ersten Stadt meines Aufenthalts muss ich hier, bei CITS, kaufen.

Zurück im Hotel, durchstöbere ich Prospekte und Bücher: Wohin will ich überhaupt in diesem riesigen Land? Wie heißt mein erstes Ziel? Wie werde ich den lästigen Fremdenführer möglichst schnell los? Selten war die Planung einer Reise so spannend. Meine Wahl fällt schließlich auf Guangzhou, auf Kanton am Perlfluss. Die alte Handelsstadt, in der sich europäische Kaufleute im 19. Jahrhundert niederließen, liegt in der Nähe Hongkongs und soll der Ausgangspunkt für eine Reise nach Norden sein. Ich beantrage das Visum. Es gilt für 20 Tage und kostet 60 Hongkong-Dollar. Außerdem zahle ich 60 Hongkong-Dollar Buchungsgebühren, 52 Hongkong-Dollar für den Reiseführer in Kanton und 120 Hongkong-Dollar für die Zugfahrt, macht zusammen 292 Hongkong-Dollar, insgesamt etwa 70 Euro. Die Zugfahrten in China sind für Ausländer aus dem reichen Westen 75 Prozent teurer als für Einheimische. Mein Einreisetag ist der 15. September 1982. Ein Tag zum Jubeln!

Neben Kanton muss ich ein weiteres Reiseziel angeben und wähle Guilin, das inmitten bizarrer Kalksteinformationen liegen soll. Für diese beiden Orte bekomme ich ein Permit. Besucherscheine für andere Städte wie Peking, Shanghai und Xian würden anstandslos in China ausgestellt, sagt die freundliche Angestellte und zerstreut geduldig meine Bedenken. Außerdem könne ich zweimal eine Verlängerung von je zwei Wochen für das Visum beantragen. Bloß 48 Tage habe ich Zeit für ein Land, das fast so groß ist wie Europa. Aber Hauptsache, ich darf auf eigene Faust reisen!

China geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Stunden verbringe ich in Bücherläden und durchstöbere englischsprachige Bücher über das Land. Ich blättere in Fotobänden und mache mir Notizen: Soviel gibt es zu sehen, die Orte liegen weit auseinander, meine Liste wird lang und länger. Da sind Peking und Shanghai, auf der Großen Mauer möchte ich spazieren gehen. Die Dreischluchtenfahrt auf dem Jangtse sollte ein Besucher nicht versäumen, die alte Kaiserstadt Xian wartet mit ihren Pagoden und ihrer Terrakotta-Armee. Gern würde ich einen Abstecher in den fernen Nordwesten Chinas nach Turfan in der großen Taklamakan-Wüste machen. Alles möchte ich sehen. Meine Reiselust, meine Neugier wächst ins Unendliche.

Zum Mittagessen gehe ich in das Yung-Kee-Restaurant, welches laut Fortune Magazin als eines der besten zehn Restaurants der Welt gilt. Es ist brechend voll. Die Chinesen sitzen in Gruppen von sechs oder sieben Leuten an den Rundtischen, auf denen viele Platten mit verschiedenen Gerichten stehen. Sie lassen die Essstäbchen über den Leckereien kreisen und greifen mal hier und mal dort zu. Eine der schönsten chinesischen Sitten beobachte ich, die auf den Gemeinsinn und die Einigkeit einer Tafelrunde hinweist. Ich bestelle »Dim Sum«, Häppchen. Die Kellnerin serviert mir schmackhafte Frühlingsröllchen und Krabbenbällchen, dazu noch süße Snacks.

Nachmittags hole ich meinen Pass mit dem Visum für China ab, kaufe Reiseschecks im American-Express-Büro und Diafilme in einem der vielen Fotoläden. Der Einreisetag naht, über alle Maßen neugierig breche ich auf ins Reich der Mitte.

Kanton am Perlfluss, China

Erste Chinareise:

Die Provinzen Guangdong, Guangxi und Yunnan

Kanton, alte Handelsstadt am Perlfluss

Am 15. September 1982 gehe ich mittags zum Bahnhof von Kowloon, um meine erste große Reise nach China anzutreten. Viele Gruppen drängen sich auf dem Bahnsteig, hauptsächlich Hongkong-Chinesen, die ihr Mutterland kennenlernen wollen. Auf der Brust tragen sie eine Nummer, damit niemand verloren geht. Um 13.00 Uhr fährt der Zug ab.

Ich sitze, wie alle Besucher des Landes, in der ersten Klasse. Der Zug ist klimatisiert. Spitzengardinen und hellblaue Samtvorhänge zieren die Fenster. Wir bummeln auf Schienen durch die New Territories. Plötzlich entsteht Bewegung im Abteil. Die Passagiere springen auf, zücken die Kamera und knipsen einen hohen Zaun – die Grenze zu China, über die der Zug nun rollt. Um 16.00 Uhr erreichen wir Guangzhou, die Stadt Kanton. Die Grenzformalitäten, die normalerweise am Grenzübergang Luwu — Shenzen erledigt werden, bringe ich schnell hinter mich. Schon bei der Zollkontrolle erscheint mein Reiseführer und spricht mich auf Englisch an: Geld brauchte ich auf dem Bahnhof nicht zu tauschen, das könne ich im Hotel tun, informiert er mich. Er hat es wohl eilig!

Draußen steht ein Taxi bereit. Es regnet in Strömen. Ich lade Jean ein, mitzufahren, einen Franzosen, den ich im Zug kennengelernt habe. Meinem Führer passt das gar nicht, er lässt es nur widerwillig zu. Wir fahren einmal um den großen Bahnhofsvorplatz auf die gegenüberliegende Seite zum Liu Hua Hotel und steigen aus. Das war er dann, der Dienst des Fremdenführers! Er verabschiedet sich.

Im Hotel tausche ich 100 US-Dollar (dem damaligen Umrechnungskurs nach etwa 120 DM, entspricht heute circa 60 Euro) bekomme dafür 193 Yuan Touristengeld. Für sechs Yuan ziehe ich in einen riesigen Schlafsaal mit sechs Betten. So viel Raum! Der Enge Hongkongs bin ich entronnen. An der Wand steht zwischen zwei Sesseln ein Tischchen, darauf ein Tablett mit Tassen, einer Dose mit grünem Tee und einer Thermoskanne voll heißen Wassers. Neben der Sitzecke lädt ein Schreibtisch zum Schreiben des Tagebuchs ein. Ich bin allein, setze mich in den Sessel, trinke eine Tasse Tee und mache mich sodann auf den Weg.

In der Empfangshalle des Hotels treffe ich Jean wieder. Zusammen marschieren wir in die Stadt. Auf den breiten Asphaltstraßen radelt ein Heer von Fahrradfahrern. Zwischen deren durchdringendem Klingeln dröhnen die Hupen von Bussen und Lastwagen. Nicht einen einzigen Pkw sehe ich, kaum ein Motorrad. Die Fahrräder aus Stahl haben keine Gangschaltung und keine Beleuchtung, weder einen Scheinwerfer noch ein Schlusslicht.

Wir laufen am Liu-Hua-Seen-Park vorbei, den eine Mauer umgibt, dann durch viele schmale Gassen. Am Ende einer Marktstraße stehen wir am Ufer des Perlflusses. Die immer noch stark belebten Straßen sind nur spärlich beleuchtet. Eine Frau unter einer Laterne hält uns einen Packen Geldscheine entgegen: Change money? – Wir möchten sicher unser Touristengeld gegen das echte Geld des Landes eintauschen. Unsere Gebärden sind eindeutig, wir kommen ohne Worte aus: Die Frau gesteht uns einen Gewinn von zehn Prozent zu. Sie drückt uns ihr gesamtes Geldbündel in die Hand, wir zählen ab, was uns zusteht und überreichen ihr unser Touristengeld und ihre restlichen Scheine.

Auf einer Wiese vollführt eine Gruppe älterer Männer und Frauen Tai Chi, das chinesische Schattenboxen. Die Gymnastik wirkt mit ihren fließenden Bewegungen wie eine Mischung aus Ballett und Karate. Der geistige Vater dieser Kampfkunst soll der taoistische Mönch Zhang Sanfeng sein, der zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert in den Wudang-Bergen lebte. In vereinfachter Form entwickelte sich Tai Chi zum Volkssport. Die Anhänger nehmen den im Körper zirkulierenden Energiefluss wahr und lösen Blockaden in Körper und Geist auf. Tai Chi ist der sanfte Weg zur Kraft. Anmutig und mit großem Ernst führen die Menschen im Zeitlupentempo ihre Übungen aus. In diesem Augenblick sind sie Bindeglied zwischen Himmel und Erde und spiegeln für uns das alte China wider. Müde vom Laufen nehmen wir den Bus zurück zum Hotel.

Eine Stadtkarte und Prospekte mit Informationen über die Geschichte Kantons gibt es an der Rezeption. Guangzhou, wie die Chinesen Kanton nennen, die Hauptstadt der Provinz Guangdong im Süden Chinas, ist seit 2000 Jahren eine Handelsstadt. Der Hafen markierte den Anfang der »Seidenstraße der Meere«, die durch Südostasien nach Indien und Arabien verlief. Den ersten europäischen Einfluss brachten die Portugiesen 1514, die ihre Handelsniederlassung auf Macao im Delta des Perlflusses errichten durften. Spanier, Holländer und Briten kamen nach und Letztere eröffneten 1699 ihr Handelskontor in Guangzhou. Die Engländer kauften Tee, Rohseide, Porzellan und andere chinesische Produkte und bestachen die Chinesen mit Opium, als ihnen das Silber als Zahlungsmittel ausging. Es kam zu zwei Opiumkriegen. Im Jahr 1840 griff Großbritannien China mit über 40 Kriegsschiffen an und siegte. In den ungleichen Verträgen trat China Hongkong für 99 Jahre an die Briten ab und verlor damit einen Teil seiner politischen Unabhängigkeit. Bis zu diesem Zeitpunkt war Kanton der einzige Handelshafen auf dem chinesischen Festland, zu dem die ausländischen Händler Zutritt hatten. Auf der Insel Shamian im Perlfluss bauten sie ihre Villen und errichteten eine europäische Siedlung.

Der erste Versuch am nächsten Morgen, mit dem Bus zur Insel Shamian zu kommen, misslingt. Der Bus fährt zur Stadt heraus statt zum Perlfluss. Trotz des chinesisch-englischen Phrasenbuchs ist es schwierig, sich verständlich zu machen. Jean und ich sind umgeben vom Singsang der Chinesen. Die Bedeutung eines Wortes ändert sich mit der Betonung einer Silbe. »Shamian« – wie wird das Wort ausgesprochen? Wir singen es in allen Variationen, betonen die erste, die zweite, dann die dritte Silbe, rufen es und fragen: Shamian! Shamian? Schließlich verstehen uns die Leute.

Am Perlfluss steigen wir aus und betreten über eine kleine Brücke die Insel. Die großen, alten Gebäude wirken heruntergekommen, von den einst bunten Fassaden bröckelt der Putz, trotzdem künden die Villen von einer reichen, kolonialen Vergangenheit. Sie liegen im Schatten hoher Bäume und sind von Parks umgeben. Palmen und Akazien heben sich von rostroten Fassaden ab, Gummibäume blühen. Die Uferpromenade am Perlfluss ist belebt. Die Menschen, sommerlich gekleidet, viele Männer mit offenem Hemd, spazieren unter dem dichten Laubdach der Bäume. Wenn Bekannte sich treffen, gehen sie in die Hocke und unterhalten sich. Diesen Brauch gibt es auch in Indien.

In Reichweite der Insel Shamian fängt in einer Gasse der Qingping-Markt an, ein Fleisch- und Medizinmarkt. Seltsame Sachen gibt es im medizinischen Viertel zu kaufen, zum Beispiel getrocknete Schlangen, Seepferdchen und Fische, die hohe Gläser füllen. Sie werden zerrieben und Arzneimitteln zufügt, um ihre heilende Wirkung zu entfalten. Seepferdchen und Schlangen gehören zu den potenzsteigernden Mitteln. Neben Kräutern und Pilzen steht Baumrinde im Angebot. Wurzeln und gedörrte Geckos schwimmen in einem Sud, der Rheuma und Erkältungen heilen soll. Eine Frau hockt neben einer Kiste, diese enthält schwarze, sogenannte hundertjährige Enteneier. Sie hat sie einhundert Tage lang in Lehm, Asche, Kiefernnadeln und Spelzen eingepackt. Jetzt präsentieren sich Eiweiß und Eidotter geleeartig, dunkelgrün und schwärzlich. Auf dem Fleischmarkt nebenan sehen lebende Tiere ihrem Tod entgegen: Hühner und Hähne, Kaninchen, Hunde, Schildkröten und Frösche. »Die Kantonesen essen alles, was schwimmt, fliegt oder vier Beine hat, außer U-Booten, Flugzeugen und Tischen«, heißt es.

Wir machen unsere erste Bekanntschaft mit den öffentlichen Toiletten Chinas. Als Toilette ist diese Einrichtung kaum zu bezeichnen, eher als Abtritt, am besten aber mit einem Wort, das nicht salonfähig ist. Man betritt einen betonierten Raum, in dessen Boden ein paar Schlitze über einer Grube eingelassen sind. Wenn überhaupt, gibt es Trennwände, aber keine Türen. Chinesinnen, die die Einrichtung zur selben Zeit wie ich benutzen, kommen gelaufen, umringen voll Staunen die Ausländerin und gucken zu, wie sie ihr Geschäft verrichtet. Ansonsten erledigen sie ihr eigenes und halten mit der Nachbarin ein Schwätzchen. Die Häuser beträte ich am liebsten nur mit Gummistiefeln. Die chinesischen Schriftzeichen für Damen und Herren lerne ich sofort und vergesse sie nie wieder! Ein Lebtag nicht!

Schon gestern Abend kamen wir durch das Viertel, in dem inmitten des Gassengewirrs der buddhistische Tempel der Sechs Banyan-Bäume liegt. Er wurde im Jahr 537 gegründet. In der Großen Halle bewundern wir drei sechs Meter hohe Buddha-Statuen aus Messing. Shakyamuni, der historische Buddha, sitzt in der Mitte, rechts neben ihm Maitreya, der Buddha der Zukunft, und zu seiner Linken Amitabha, der Buddha des Unendlichen Lichts. Hinter der Großen Halle ragt die achteckige und neunstöckige Pagode der 1000 Buddhas aus dem 11. Jahrhundert auf. Jede Ebene ist einem Heiligen geweiht. Wir klettern bis ins oberste Stockwerk und blicken über das Häusermeer Kantons.

Einer Legende nach befinden wir uns in der »Stadt der Ziegen«: Fünf Unsterbliche schwebten einst, Getreideähren in der Hand, auf Ziegen vom Himmel herab, um die Menschen vor einer Hungersnot zu retten. Die Bauern nahmen das Korn, säten es und das Volk der Frühzeit erlitt nie wieder Hunger. Im Yuexiu-Park, der aus mehreren Seen zwischen sieben Hügeln besteht, kommen wir am Wahrzeichen der Stadt, den fünf in Stein gehauenen Ziegen, vorbei. Auf einem Hügel in der Ferne erhebt sich das riesige Stadtmuseum, ein fünfstöckiges, weinrotes Gebäude aus der Ming Dynastie (1368 — 1644). Es war Teil der alten Stadtmauer. Marco Polo bezeichnete es als „roten Turm über dem Meer“.

Jean und ich gehen zum Public Security Bureau, dem Amt für öffentliche Sicherheit und beantragen ein Permit für den Besuch von Kunming, Shanghai und Peking. Wir bekommen die Besucherscheine sofort. Jean fliegt am späten Nachmittag nach Guilin.

Ich will mit dem Zug nach Guilin fahren und gehe zum Bahnhof. Wie in Indien drängen sich lange Schlangen vor den Schaltern und füllen die Halle. Im Hotel habe ich mir vorsorglich alle Angaben in chinesischen Schriftzeichen auf einen Zettel schreiben lassen. Und wer besorgt mir nun die Fahrkarte zum Preis, den Einheimische zahlen? Der Mann vor mir sieht nett aus. Mittels Phrasenbuch nehme ich Kontakt zu ihm auf: »How much is it?« Mit der Zeit versteht er, was ich will. Ich drücke ihm ein paar Scheine in die Hand, damit er das Ticket kaufen kann. Nach etwa 45 Minuten haben wir es fast geschafft. Je näher wir nach vorne rücken, umso mehr drücken und schubsen die Leute. Chinesen können nicht anstehen und warten, lerne ich sofort. Wildes Gedränge und Gekreisch herrschen direkt vor dem Schalter. Die Hände von drei Personen schieben gleichzeitig Geld durch das Fensterloch, das der Schalterbeamte zurückfeuert.

Mein chinesischer Beistand kämpft sich zum Schalter durch und erhält seine Fahrkarte. Er schickt sich an, meine zu kaufen. Die Leute hinter uns puffen uns in den Rücken, schieben und schreien. Mein Freund zeigt auf mich und erklärt seine Absicht: Er wolle eine Fahrkarte für eine Touristin besorgen. Der Schalterbeamte guckt zu mir herüber und macht sich an die Arbeit. Es dauert eine Weile, bis er meinen Touristenfahrschein ausgefüllt hat. Die Menge schweigt und gafft und steht ganz still. Statt 25 Yuan zahle ich 43 Yuan. Kaum habe ich das Ticket in der Hand, ist wieder der Teufel los, die Massen wogen und toben. Ich wühle mich aus der Meute hinaus, nass geschwitzt von dem Theater und der Hitze.

Im Hotel dusche ich und esse schnell im Restaurant. Am besten mundet die große Kanne Tee. Sie rettet mich vor dem Verdursten. Dann gehe ich zum Bahnhof. Der Bahnsteig ist wie leer gefegt und blitzt vor Sauberkeit. Um 21.00 Uhr fährt der Zug ab. Ich habe einen bequemen Platz im Liegewagen, im »Hard Sleeper«. Die Schaffnerin, die für den Waggon zuständig ist, will mir mein teures Ticket wegnehmen. Wir ziehen beide daran. Endlich verstehe ich, dass ich es morgen früh wiederbekomme, wenn ich umsteigen muss.

In den Sechserabteilen bekommt jeder Passagier ein Kissen und eine Decke für die Nacht. Unter dem Fenstertischchen steht eine Thermoskanne mit heißem Wasser. Meine Mitreisenden leihen mir eine große Blechtasse, damit ich mir Tee zubereiten kann. Wir unterhalten uns mittels meines Phrasenbuchs und haben alle Spaß. In Guilin werde ich eine dieser praktischen Blechtassen mit Deckel kaufen, damit ich die künftigen, langen Zugfahrten mit frisch zubereitetem gebrühtem grünem Tee besser überstehe. Schwarzen Tee gibt es nicht in China.